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So viel schon hat Ever riskiert und verloren, um endlich mit Damen glücklich zu sein. Doch noch immer ist der Fluch, der auf ihrer Liebe lastet, nicht besiegt. Und solange der Fluch noch existiert, gibt es keine glückliche Zukunft für die beiden. Noch dazu geschehen merkwürdige Dinge im Sommerland, der Ort, wo sich Ever immer geborgen gefühlt hat. Wird es Ever schaffen, endlich den Fluch zu brechen? Und kann sie das Sommerland retten?
Das große Finale der Evermore-Serie von Alyson Noël.
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Seitenzahl: 465
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
AN MEINE LESER
AURA-FARBEN
EINS
ZWEI
DREI
VIER
FÜNF
SECHS
SIEBEN
ACHT
NEUN
ZEHN
ELF
ZWÖLF
DREIZEHN
VIERZEHN
FÜNFZEHN
SECHZEHN
SIEBZEHN
ACHTZEHN
NEUNZEHN
ZWANZIG
EINUNDZWANZIG
ZWEIUNDZWANZIG
DREIUNDZWANZIG
VIERUNDZWANZIG
FÜNFUNDZWANZIG
SECHSUNDZWANZIG
SIEBENUNDZWANZIG
ACHTUNDZWANZIG
NEUNUNDZWANZIG
DREISSIG
EINUNDDREISSIG
ZWEIUNDDREISSIG
DREIUNDREISSIG
VIERUNDDREISSIG
FÜNFUNDDREISSIG
SECHSUNDDREISSIG
SIEBENUNDDREISSIG
ACHTUNDDREISSIG
NEUNUNDDREISSIG
VIERZIG
EINUNDVIERZIG
ZWEIUNDVIERZIG
DREIUNDVIERZIG
VIERUNDVIERZIG
FÜNFUNDVIERZIG
DANKSAGUNG
Über die Autorin
Weitere Titel der Autorin
Impressum
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So viel schon hat Ever riskiert und verloren, um endlich mit Damen glücklich zu sein. Doch noch immer ist der Fluch, der auf ihrer Liebe lastet, nicht besiegt. Und solange der Fluch noch existiert, gibt es keine glückliche Zukunft für die beiden. Noch dazu geschehen merkwürdige Dinge im Sommerland, der Ort, wo sich Ever immer geborgen gefühlt hat. Wird es Ever schaffen, endlich den Fluch zu brechen? Und kann sie das Sommerland retten?
Das große Finale der Evermore-Serie von Alyson Noël.
Alyson Noël
Evermore –
Für immer und ewig
Aus dem Englischen von Ariane Böckler
Danke, dass Ihr den Weg von Ever und Damen mit mir gemeinsam gegangen seid – für Eure Begeisterung, Eure Großzügigkeit, Eure Freundlichkeit und Eure Unterstützung bin ich Euch unendlich dankbar! Ihr seid super und sagenhaft, und ohne Euch hätte ich das nie geschafft!
Darum wisst, dass ich aus der größeren Stille zurückkehren werde ... Vergesst nicht, dass ich zu euch zurückkommen werde ... Eine kleine Weile noch, ein Augenblick des Ruhens auf dem Wind, und eine andere Frau wird mich gebären.
Khalil Gibran
Rot:
Energie, Kraft, Zorn, Sexualität, Leidenschaft, Furcht, Ego
Orange:
Selbstbeherrschung, Ehrgeiz, Mut, Bedachtsamkeit, Willensschwäche, apathisch
Gelb:
Optimistisch, glücklich, intellektuell, freundlich, unschlüssig, leicht zu beeinflussen
Grün:
Friedlich, heilend, Mitgefühl, hinterlistig, eifersüchtig
Blau:
Spirituell, loyal, kreativ, empfindsam, liebenswürdig, launisch
Violett:
Hochgradig spirituelle Weisheit, Intuition
Indigo:
Wohlwollen, hochgradig intuitiv, auf der Suche
Rosa:
Liebe, Aufrichtigkeit, Freundschaft
Grau:
Depression, Traurigkeit, Erschöpfung, wenig Energie, Skepsis
Braun:
Habgier, selbstbezogen, rechthaberisch
Schwarz:
Mangelnde Energie, Krankheit, unmittelbar bevorstehender Tod
Weiss:
Vollkommenes Gleichgewicht
Ever – warte!«
Damen greift nach mir, packt mich an der Schulter und will mich aufhalten, mich zu sich zurückholen, doch ich gehe weiter, kann mir keine Verzögerung erlauben. Nicht, wenn wir so kurz davor sind, schon fast am Ziel.
Die Sorge perlt von ihm ab wie Regen von einer Windschutzscheibe, während er zu mir aufschließt und seine Finger mit meinen verflicht.
»Gehen wir lieber zurück. Hier kann es nicht sein. Hier sieht nichts auch nur ansatzweise ähnlich aus.« Er wendet sich von der befremdlichen Landschaft ab und sieht mich an.
»Du hast Recht.« Ich halte mich weiter am Rand, während ich hastig atme und mein Herz zu rasen beginnt. Kurz mustere ich meine Umgebung, ehe ich es wage, weiter vorzudringen. Ein kleiner Schritt nach dem anderen, bis meine Füße so tief in den schlammigen Boden einsinken, dass sie vollständig darin verschwinden. »Ich wusste es«, flüstere ich kaum hörbar, obwohl ich eigentlich gar nichts sagen muss, damit Damen mich versteht. Wir können genauso gut telepathisch kommunizieren. »Es ist genau wie in dem Traum. Es ist ...«
Er sieht mich an. Wartet ab.
»Also, es ist genau, wie ich es mir vorgestellt habe.« Ich schaue in seine dunkelbraunen Augen und halte seinen Blick fest, da er sehen soll, was ich sehe. »Das Ganze, alles ist irgendwie ... es ist, als hätte sich alles meinetwegen verändert.«
Er stellt sich dicht neben mich und lässt mit gespreizten Fingern langsam seine Hand über meinen Rücken kreisen. Er will mich beruhigen, alles bestreiten, was ich soeben gesagt habe, doch er spart sich die Worte. Ganz egal, was er sagt, ganz egal, wie gut und stichhaltig ein Einwand von ihm auch sein mag – er weiß, dass es zwecklos ist. Weiß nur allzu gut, dass er mich nicht umstimmen kann.
Ich habe die alte Frau gehört. Und er auch. Ich habe gesehen, wie sie mit dem Finger auf mich gezeigt, wie sie mich vorwurfsvoll angestarrt hat – und ich habe ihr unheimliches Lied mit seinem rätselhaften Text und seiner gespenstischen Melodie vernommen.
Die nur für mich gedachte Warnung.
Und jetzt das.
Seufzend blicke ich darauf herab – auf Havens Grab sozusagen. Die Stelle, an der ich erst vor wenigen Wochen ein tiefes Loch ausgehoben habe, um ihre Sachen zu begraben – die Kleider, die sie trug, als ich ihre Seele ins Schattenland schickte, das Einzige, was noch von ihr übrig war. Eine Stelle, die mir heilig war, die aber jetzt verändert, verwandelt ist. Die einst fette Erde ist nun ein nasser Sumpf ohne jegliche Spur der Blumen, die ich manifestiert habe, ohne jegliches Anzeichen von Leben. Die Luft schimmert und glänzt nicht mehr, sondern gleicht mehr oder weniger der im dunklen Teil des Sommerlands, auf den ich zuvor gestoßen bin. So düster, so dräuend in Aussehen und Wirkung, dass Damen und ich die einzigen Lebewesen sind, die sich überhaupt dort in die Nähe wagen.
Die Vögel halten sich am Rand – am Grassaum, der allmählich zusammenschrumpft, was mir Beweis genug dafür ist, dass sich all das hier meinetwegen verändert hat.
Wie Dünger, der auf eine kleine Fläche Unkraut gestreut wird, hat jede unsterbliche Seele, die ich ins Schattenland geschickt habe, das Sommerland befleckt und infiziert. Hat sein Gegenteil, sein Schattenselbst erschaffen – ein unwillkommenes Yin zum Yang des Sommerlands. Ein Ort, so finster, so trist und so abstoßend, dass Magie und Manifestieren nicht existieren können.
»Das gefällt mir nicht«, sagt Damen mit nervösem Unterton. Er blickt sich hektisch um und will eindeutig am liebsten verschwinden.
Und obwohl es mir auch nicht gefällt, obwohl auch ich am liebsten auf dem Fuße kehrtmachen und nie mehr zurückschauen möchte, ist es leider nicht so einfach.
Mein letzter Besuch liegt erst wenige Tage zurück, und obwohl ich weiß, dass ich getan habe, was ich tun musste, dass ich keine andere Wahl hatte, als meine einst beste Freundin Haven zu töten, kann ich es irgendwie nicht lassen, immer wieder hierherzukommen und um Vergebung zu bitten – Vergebung für meine Taten ebenso wie für ihre. Und dieser kurze Zeitraum genügte, um alles Helle zu vertreiben – es düster, matschig und kahl zu machen. Und das bedeutet, dass es meine Aufgabe ist, es daran zu hindern, sich immer weiter auszubreiten.
Noch schlimmer zu werden.
»Was genau hast du denn in dem Traum gesehen?«, fragt mich Damen mit ruhigerer Stimme und mustert mich aufmerksam.
Ich hole tief Luft und lasse die Hacken tiefer einsinken, sodass meine alte, abgenutzte Jeans im Schlamm hängt, aber das kümmert mich nicht. Ich kann mir eine frische, saubere manifestieren, sobald wir hier herauskommen. Meine Kleider sind angesichts all dessen meine geringste Sorge.
»Es ist kein neuer Traum.« Ich fange seinen Blick auf und sehe das Erstaunen in seiner Miene. »Ich hatte ihn schon mal. Vor langer Zeit. Kurz bevor du beschlossen hast, mich in Ruhe zu lassen, damit ich mich zwischen dir und Jude entscheiden kann.« Er schluckt schwer und fährt angesichts der unangenehmen Erinnerung kaum merklich zusammen. Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen, denn darauf wollte ich gar nicht hinaus. »Damals war ich mir sicher, dass Riley ihn geschickt hatte. Also, jedenfalls kam sie darin vor, und sie wirkte so munter und ... lebendig.« Ich schüttele den Kopf. »Und ja, gut, vielleicht war sie es, vielleicht war es aber auch nur Wunschdenken, weil ich sie so vermisse. Doch kaum hatte sie meine Aufmerksamkeit geweckt, hab ich begriffen, dass sie wollte, dass ich dich sehe. Du warst der Mittelpunkt des Traums.«
Er macht große Augen. »Und ...«, drängt er mich, während er sich auf das Schlimmste gefasst macht.
»Und ... irgendwie warst du in so einem hohen, rechteckigen Glaskäfig gefangen und hast wie ein Löwe darum gekämpft freizukommen. Doch sosehr du dich auch angestrengt hast, du hast es nicht geschafft. Obwohl ich mich bemüht habe, dir zu helfen und dich auf mich aufmerksam zu machen, damit wir es gemeinsam versuchen können, war es als ... als ob du mich nicht sehen könntest. Ich war gleich auf der anderen Seite, nur die Glasscheibe trennte uns, aber ich hätte ebenso unsichtbar sein können. Du hast mich überhaupt nicht wahrgenommen. Hast nicht gesehen, was direkt vor deiner Nase war ...«
Er nickt. Nickt auf eine Weise, die mir sagt, dass jetzt seine logische Seite, die Seite, die schlüssige Erklärungen und leichte Lösungen liebt, die Oberhand übernehmen will. »Ein klassisches Traumszenario«, sagt er und blickt erleichtert drein. »Im Ernst. Klingt für mich, als fändest du, dass ich dir nicht genug Aufmerksamkeit widme – dass ich nicht richtig zuhöre – oder vielleicht sogar ...«
Ehe er weiterreden kann, unterbreche ich ihn. »Glaub mir, es war nicht die Art Traum, die man in einem Handbuch für Traumdeutung findet. In dem Traum von heute Nacht, genau wie in dem Traum zuvor, hast du, als du begriffen hattest, dass du nicht dagegen ankommst, dass du für immer gefangen bist, einfach aufgegeben. Du hast die Fäuste sinken lassen, die Augen zugemacht und bist davongeglitten. Ins Schattenland.«
Er versucht es locker zu nehmen, aber er ist eindeutig genauso erschüttert, wie ich es war, als ich es geträumt habe.
»Und dann, direkt danach, verschwand auf einmal alles. Und mit ›alles‹ meine ich du, der Glaskäfig, der Hintergrund – einfach alles. Das Einzige, was noch übrig war, war dieses trübselige, feuchte Stückchen Erde, ganz ähnlich wie das, auf dem wir jetzt stehen.« Ich reibe die Lippen gegeneinander und sehe die Szene so plastisch vor mir, dass es ist, als steckte ich mittendrin. »Aber der letzte Teil war neu. Zumindest kam er im ursprünglichen Traum nicht vor. Auf jeden Fall habe ich in der Sekunde, als ich aufgewacht bin, gewusst, dass die beiden Träume nicht nur zusammenhängen, sondern auch mit dem Ort hier zu tun haben. Ich wusste, dass ich hierherkommen muss. Ich musste es selbst sehen. Sehen, ob ich Recht habe. Es tut mir nur leid, dass ich dich mitgeschleppt habe.«
Ich lasse den Blick über ihn schweifen, über sein zerzaustes Haar, das weiche, zerknitterte T-Shirt, die abgetragene Jeans – Kleidungsstücke, die er hastig zusammengesammelt hat, nur wenige Sekunden, bevor ich den goldenen Lichtschleier manifestiert habe, der uns beide hierhergeführt hat. Ich spüre, wie er seine starken Arme um mich schlingt, und seine Wärme erinnert mich daran, wie wir erst vor wenigen Stunden unter die Decke geschlüpft sind und uns eng umschlungen schlafen gelegt haben.
Damals, als unser einziges unmittelbares Problem Sabine war und die Frage, wie sie damit umgehen würde, dass ich nun schon die zweite Woche hintereinander nicht nach Hause gekommen bin.
Wie sie damit umgehen würde, dass ich sie beim Wort genommen habe, als sie gesagt hat, ich solle erst zurückkommen, wenn ich mir die Art von Hilfe gesucht hätte, die ich ihrer Überzeugung nach brauche.
Und obwohl ich keinen Zweifel daran hege, dass ich Hilfe brauche, vor allem angesichts all dessen, was vor mir liegt, handelt es sich dabei leider nicht um die Hilfe, die Sabine gemeint hat. Es ist nicht die Art von Hilfe, die man auf einem Rezept, auf der Couch eines Psychoanalytikers oder auch im neuesten Ratgeberbuch findet.
Es braucht etwas wesentlich Größeres als das.
Wir starren auf Havens Grab herab. Damens Gedanken verschmelzen mit meinen und erinnern mich daran, dass er – ganz egal, was die Folgen auch sein mögen, ganz egal, was vor uns liegen mag – für mich da ist. Ich hatte keine andere Wahl, als das zu tun, was ich getan habe.
Indem ich Haven getötet habe, habe ich Miles gerettet. Und mich selbst. Sie konnte mit der Macht nicht umgehen, hat jegliche Grenze überschritten. Dass ich sie unsterblich gemacht habe, hat eine ganz neue Seite an ihr zum Vorschein gebracht – eine, mit der wir nicht gerechnet hatten.
Doch da sind Damen und ich uns nicht ganz einig. Ich neige eher dazu, das zu glauben, was Miles gesagt hat, kurz nachdem ich ihn vor ihr gerettet habe. Dass an Havens dunkler Seite nichts Neues oder Überraschendes war, sondern sie seit jeher vorhanden gewesen sei und Haven schon immer entsprechende Anzeichen gezeigt habe. Als ihre Freunde haben wir uns eben bemüht, das zu ignorieren, es zu übergehen und nur das Gute zu sehen. Doch als ich ihr an jenem Abend in die Augen blickte und sah, wie sie vor Siegesgewissheit leuchteten, als sie Romans Hemd – meine letzte Hoffnung darauf, das Gegengift zu bekommen, das es Damen und mir ermöglicht, richtig zusammen zu sein – in die Flammen warf, da hatte ich keinen Zweifel mehr daran, dass ihre dunkle Seite ihre besseren Anteile komplett ausgelöscht hatte.
Und was Drinas Ableben angeht, tja, da hieß es entweder töten oder getötet werden. Ganz einfach. Roman hat allerdings wirklich Pech gehabt – das war nichts weiter als ein Unfall. Ein Missverständnis tragischster Art, dessen bin ich mir mittlerweile sicher. Ich weiß in meinem tiefsten Herzen, dass Judes katastrophales Eingreifen eine Handlung war, die er nur mir zuliebe begangen hat. Mit den besten Absichten.
Wir entfernen uns vom Grab, langsam, feierlich, und sind uns nur allzu bewusst, dass die Antworten, die wir suchen, hier nicht zu finden sind und unsere beste Chance darin besteht, in den Großen Hallen des Wissens zu suchen und zu hoffen, dass uns das weiterbringt. Wir wollen schon dorthin aufbrechen, als wir es hören. Das Lied, das uns wie erstarrt stehen bleiben lässt:
Aus dem Lehm soll es aufstehen
Sich erheben in weite Traumhöhen
Genau wie du-du-du sollst auch aufstehen ...
Damen umfasst meine Hand fester und zieht mich näher zu sich heran, ehe wir uns beide zu ihr umdrehen. Wir betrachten die langen Haarsträhnen, die sich aus dem Zopf gelöst haben, der ihr über den Rücken fällt, und nun offen um ihr uraltes, verwittertes Gesicht schweben, was fast wie ein gespenstischer, silberner Heiligenschein aussieht. Ihre wässrigen, trüben Augen fixieren die meinen.
Aus den finsteren, dunklen Tiefen
Kämpft es sich ans Licht
Sehnt sich nur nach einem
Der Wahrheit!
Der Wahrheit seines Wesens
Doch wirst du es lassen?
Wirst du es wachsen, gedeihen und blühen lassen?
Oder wirst du es in den Abgrund stoßen?
Wirst du seine müde und matte Seele verbannen?
Sie singt das Lied noch einmal und betont dabei das Ende jedes Verses. Immer lauter singt sie: »Aufstehen – Traumhöhen – sollst – Tiefen – Licht – einem – Wahrheit – Wesens – lassen – lassen – stoßen – verbannen – verbannen – verbannen« und wiederholt immer wieder den letzten Teil, während ihr Blick über mich gleitet, prüfend, beobachtend, obwohl ihre Augen blind zu sein scheinen. Dann hebt sie die knotigen, alten Hände, wölbt die Handflächen und hebt sie immer höher, ehe sie die Finger langsam senkt und Aschefontänen aus ihren Händen sprühen.
Damens Griff wird fester, und er wirft ihr einen harten, bedeutungsschwangeren Blick zu. »Nicht weitergehen«, warnt er sie. »Bleiben Sie sofort stehen. Kommen Sie nicht näher«, fügt er hinzu. Er spricht mit ruhiger und sicherer Stimme, jedoch mit einem drohenden Unterton, der nicht zu überhören ist.
Falls sie es gehört hat, so achtet sie nicht darauf. Ihre Füße halten nicht inne, schlurfen weiter, während sie den Blick auf mich fixiert hält und ununterbrochen das Lied singt. Erst kurz vor uns bleibt sie stehen, ganz am Rand des Geländes – der Stelle, wo das Gras endet und der Matsch beginnt –, und plötzlich verändert sich ihre Stimme und wird leiser. »Wir haben auf dich gewartet.« Sie verneigt sich tief vor mir, beugt sich mit erstaunlicher Geschmeidigkeit und Anmut für jemanden, der so alt ist, so ... von vorgestern.
»Das haben Sie schon gesagt«, erwidere ich zu Damens Bestürzung.
Geh nicht auf sie ein!, warnt er mich mental. Orientier dich an mir. Ich hole uns hier raus.
Ich bin sicher, dass sie seine Worte mitgehört hat, als sie den Blick auf ihn richtet. Ihre fleckigen, blassblauen Iriden rollen praktisch in den Höhlen, als sie ihn anspricht. »Damen.«
Auf der Stelle erstarrt er und bereitet sich seelisch und körperlich auf alles Mögliche vor – außer auf das, was als Nächstes kommt.
»Damen. Augustus. Notte. Esposito. Du bist der Grund.« Ihr dünnes Haar wirbelt in einer manifestierten Brise umher, die uns alle umweht. »Und Adelina die Heilung.« Sie presst die Handflächen aneinander und sieht mich eindringlich an.
Ich blicke zwischen den beiden hin und her und weiß nicht, was verstörender ist: die Tatsache, dass sie seinen Namen weiß – seinen ganzen Namen, einschließlich eines Bestandteils, den ich noch nie gehört habe, und eines anderen, den sie auf eine Art ausgesprochen hat, wie ich es noch nie gehört habe, oder die Art, wie Damen erbleicht und regelrecht erstarrt ist.
Ganz zu schweigen von der Frage, wer zum Kuckuck Adelina ist.
Doch die Antworten, die ihm durch den Kopf schwirren, ersterben, ehe sie seine Lippen erreichen, aufgehalten von ihrem Singsang, in dem sie erneut zu sprechen begonnen hat. »Acht. Acht. Dreizehn. Null. Acht. Das ist der Schlüssel. Der Schlüssel, den du brauchst.«
Ich sehe die beiden abwechselnd an und registriere, wie Damens Augen schmal werden, sich seine Kiefer verkrampfen und er mehrere unverständliche Worte murmelt. Dann umfasst er meine Hand noch fester und versucht, uns aus dem Matsch zu zerren, weg von ihr.
Trotz seiner Warnung, nicht zurückzuschauen, tue ich es doch. Ich blicke mich um und sehe direkt in diese wässrigen Augen. Die Haut der Frau ist so dünn, so durchscheinend, dass sie wie von innen erleuchtet wirkt, und erneut öffnet sie die Lippen. »Acht – acht – dreizehn – null – acht. Das ist der Anfang. Der Anfang vom Ende. Nur du kannst es entschlüsseln. Nur du – du – du – Adelina ...«
Die Worte hängen in der Luft, eindringlich, höhnisch – und jagen uns den ganzen Weg aus dem Sommerland hinaus.
Den ganzen Weg zurück auf die Erdebene.
Wir können es nicht einfach ignorieren.« Ich drehe mich um und sehe ihn an, wobei ich ebenso weiß, dass ich Recht habe, wie ich weiß, dass er das anders sehen wird.
»Klar können wir das. Mach ich ja sowieso schon.« Seine Worte kommen viel schroffer heraus als geplant und lösen die Entschuldigung aus, die sogleich in seiner Hand erblüht – eine rote Tulpe an einem grünen Stängel.
Er überreicht sie mir, und ich nehme sie rasch entgegen, hebe sie mir an die Nase und lasse mir von den weichen Blütenblättern die Lippen streicheln, während ich den kaum wahrnehmbaren Duft einatme, den er dort für mich platziert hat. Er geht mehrmals zwischen Bett und Fenster hin und her, tappt mit nackten Füßen erst über den Steinboden, dann auf den dicken Teppich, erneut auf den Steinboden und wieder zurück. Mir ist bewusst, was für ein Konflikt sich in seinem Kopf abspielt, und ich weiß, dass ich mein Anliegen schnell vorbringen muss, bevor er sich eine feste Meinung gebildet hat.
»Du kannst nicht einfach etwas ignorieren, nur weil es unheimlich oder befremdlich oder in diesem Fall krass abstoßend ist. Damen, im Ernst, glaub mir, dass ich sie genauso schaurig finde wie du. Trotzdem kann ich nicht glauben, dass es ein vernachlässigbarer, bedeutungsloser Zufall sein soll, dass sie uns immer wieder findet. Es gibt keinen Zufall, das weißt du ganz genau. Sie will mir schon seit Wochen etwas mitteilen. Da ist das Lied und das Deuten mit dem Finger und das ...« Mich fröstelt unwillkürlich, was er lieber nicht sehen soll, und so lasse ich mich aufs Bett fallen und reibe mir die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben. »Jedenfalls steht fest, dass sie uns etwas sagen, uns irgendeinen Hinweis geben will. Und ich finde, wir sollten wenigstens versuchen herauszufinden, was das sein könnte – meinst du nicht?« Ich halte inne, um ihm Gelegenheit zum Antworten zu geben, aber er gönnt mir lediglich ein abweisendes Schulterzucken, ein eckiges Kopfrucken und ein langes, lastendes Schweigen, während er mir den Rücken zuwendet und aus dem Fenster schaut. Sein Anblick zwingt mich förmlich zum Weiterreden. »Was kann es schon schaden, wenn wir der Sache nachgehen? Falls die Frau sich als so alt und verrückt und senil entpuppt, wie du glaubst, dann okay. Egal. Nichts passiert. Ich meine, warum sollen wir uns über ein paar Tage Zeitverschwendung den Kopf zerbrechen, wenn eine ganze Ewigkeit vor uns liegt? Falls sich allerdings herausstellen sollte, dass sie nicht verrückt ist, tja, dann ...«
Ich kann meinen Satz nicht beenden, als er herumwirbelt und mich mit so finsterer und aufgewühlter Miene anfunkelt, dass ich unwillkürlich zusammenzucke. »Was es schaden kann?« Sein Mund verzieht sich zu einem grimmigen Strich, während er mich mit seinem Blick förmlich durchbohrt. »Nach allem, was wir durchgemacht haben – musst du das wirklich noch fragen?«
Ich schabe mit der Schuhspitze am Teppich, während mir weitaus ernster zu Mute ist, als er begreift, weitaus ernster, als ich mir anmerken lasse. Instinktiv weiß ich in meinem tiefsten Inneren, dass die Szene, die wir soeben mit angesehen haben, weitaus mehr Bedeutung barg, als er zugeben möchte. Das Universum ist ganz und gar nicht zufällig. Es gibt einen klaren Grund für alles. Und ich hege keinerlei Zweifel in meinem Herzen, in meiner Seele, dass diese scheinbar verrückte alte Frau einen Schlüssel zu etwas anbietet, was ich wirklich wissen muss.
Nur leider habe ich keine Ahnung, wie ich Damen davon überzeugen soll.
»Möchtest du wirklich unsere Winterferien so verbringen? Dem Rätsel einer dementen Frau hinterherschnüffeln? Versuchen, eine tiefere Bedeutung aufzuspüren, die – meiner bescheidenen Meinung nach – überhaupt nicht existiert?«
Besser als die Alternative, denke ich, obwohl ich die Worte für mich behalte. Ich muss an Sabines Gesicht an dem Abend denken, als ich am frühen Morgen nach Hause gekommen bin – nur wenige Stunden, nachdem ich meine frühere beste Freundin ins Schattenland und zu der daraufhin spontan errichteten Gedenkstätte im Sommerland befördert hatte. Wie sie mich ansah, den Bademantel fest um den Körper geschlungen, der Mund farblos und verkniffen. Doch am schlimmsten waren ihre Augen – die sonst hellblauen Iriden waren von tiefvioletten Kreisen überschattet, die sich bis weit nach unten fortsetzten. Sie funkelte mich mit einer entsetzlichen Mischung aus Wut und Angst an und hielt mit barscher Stimme und in gemessenen Worten ihre einstudierte Rede, in der sie mich vor die Wahl stellte, entweder die Hilfe in Anspruch zu nehmen, von der sie glaubt, dass ich sie brauche, oder mir ein anderes Zuhause zu suchen. Natürlich war es reiner Trotz, als ich nur nickte, kehrtmachte und wieder zur Tür hinausging.
Und zu Damen fuhr, bei dem ich seither wohne.
Ich verdränge den Gedanken und schiebe ihn in eine Ecke, um die ich mich später kümmern werde. Irgendwann muss ich unsere Probleme natürlich konkret angehen, doch im Moment hat eindeutig die Sache mit der dunklen Seite von Sommerland Priorität.
Ich kann mir keine Ablenkungen erlauben, nicht, solange ich noch ein gutes Argument in der Hinterhand habe. Etwas, von dem er zweifellos gehofft hat, dass es nicht erwähnt werden würde, das sehe ich an dem Hauch von Besorgnis in seinem Gesicht.
»Sie wusste deinen Namen«, sage ich, verärgert über die Art, wie er es beiläufig abtun will.
»Sie lebt im Sommerland, einem Ort, der von Wissen überquillt. Wo man nur danach greifen muss.« Er runzelt die Stirn. »Ich wette, das findet sich alles in den Großen Hallen des Wissens, und jeder kann es sich heraussuchen.«
»Nicht jeder«, wende ich ein. »Nur die Würdigen.« Schließlich habe ich das Gegenteil davon erlebt. Ich muss an die gar nicht so lange zurückliegende Zeit denken, als man mich zu den Unwürdigen zählte und die Großen Hallen des Wissens mir den Zutritt verwehrten, bis ich mich zusammenriss und meine gute Magie – wie Jude sagen würde – wiederfand. Eine schreckliche Zeit, die ich hoffentlich nie wieder erleben muss.
Damen sieht mich an, und auch wenn offenkundig ist, dass er nicht vorhat, in absehbarer Zeit nachzugeben, ist es ebenso offenkundig, dass er einen Kompromiss finden will. Diese Art von Abwehr und Ausweichen bringt uns nicht weiter. Wir müssen handeln. Wir müssen einen Plan fassen.
»Sie wusste, dass du Esposito geheißen hast.« Ich mustere ihn aufmerksam und frage mich, wie er aus der Nummer wieder herauskommen will. »Dein Waisenname«, füge ich hinzu, indem ich mich auf den Namen beziehe, den man ihm gegeben hat, als er noch sterblich war, kurz nachdem seine Eltern ermordet worden waren und er – mutterseelenallein auf der Welt – zu einem Mündel der Kirche wurde.
Seine Antwort kommt schnell. »Auch das ist eine Information, die jeder finden kann, der sie sucht. Es ist weiter nichts als eine unglückliche Erinnerung an eine lange zurückliegende Vergangenheit, auf die ich lieber nicht näher eingehe«, sagt er seufzend, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihm mitsamt der Atemluft langsam der Kampfgeist ausgeht.
»Sie hat dich auch noch bei einem anderen Namen genannt. Notte?« Ich sehe ihn an und vermittle ihm mit meinem Blick, dass, auch wenn er am liebsten das Thema wechseln möchte, ich damit noch nicht ganz fertig bin. Ich brauche Antworten. Wahre und stichhaltige Antworten. Ein Achselzucken und ein Stirnrunzeln reichen da absolut nicht.
Er wendet sich ab, jedoch nur für einen Moment, ehe er mich erneut ansieht. Die Art, wie seine Schultern sich senken, seine Hände tief in den Taschen verschwinden und seine Kinnpartie in stiller Resignation weich wird, verursacht mir ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn so bedrängt habe. Doch das Gefühl hält nicht lange an, sondern wird schon bald von Neugier überrollt. Ich schlage die Beine übereinander, verschränke die Arme und warte auf seine Antwort.
»Notte.« Er nickt und verleiht dem Namen einen melodischen italienischen Klang, den ich beim besten Willen nicht hinbekäme. »Einer meiner Namen. Einer der vielen, vielen Nachnamen, die ich schon getragen habe.«
Ich sehe ihn an, ohne zu blinzeln, da ich kein Wort verpassen möchte.
Von oben bis unten mustere ich seinen langen, schlanken Körper, während er schluckt, sich das Kinn reibt, die Beine an den Knöcheln übereinanderschlägt und sich gegen die Fensterbank lehnt. Einen Moment lang hantiert er an den Jalousien herum, blickt auf den Pool und den vom Mond beschienenen Ozean dahinter hinaus, ehe er die Lamellen schließt und sich zu mir umwendet. »Sie hat mich auch Augustus genannt, was mein zweiter Name war – mein Mittelname. Meine Mutter bestand darauf, dass ich einen bekam, obwohl das damals noch gar nicht so verbreitet war. Und da du und ich uns im August zum ersten Mal gesehen haben, am achten August genauer gesagt, habe ich ihn später als Nachnamen angenommen und ein bisschen verändert, damit er mehr wie der Monat klingt. Für mein Gefühl steckte eine tiefere Bedeutung dahinter, die Vorstellung, dass er mich irgendwie mit dir verbindet.«
Ich fummele an dem Kristallarmband herum, das er mir an dem Tag auf der Rennbahn geschenkt hat, leicht verwirrt von einem Gefühl, mit dem ich nicht gerechnet habe.
»Aber du musst verstehen, Ever, ich lebe schon sehr lange. Ich hatte keine andere Wahl, als meine Identität immer wieder zu verändern. Ich konnte es mir nicht erlauben, irgendjemanden Wind von meiner abnorm langen Lebensdauer kriegen zu lassen oder von der Wahrheit darüber, was ich bin.«
Ich nicke, denn alles, was er bisher gesagt hat, klingt völlig logisch, aber es steckt noch wesentlich mehr dahinter, und das weiß er auch. »Und wie weit zurück reicht dann eigentlich der Name Notte?«, erkundige ich mich.
Er schließt die Augen und reibt sich die Lider. Mit geschlossenen Augen spricht er weiter. »Bis ganz zurück. Ganz zum Anfang. Es ist mein Familienname. Mein richtiger Nachname.«
Ich bemühe mich, ruhig zu atmen, entschlossen, nicht überzureagieren. In meinem Kopf überschlagen sich so viele Fragen, wobei die brennendste die ist: Woher zum Teufel wusste die alte Frau das? Schon bald gefolgt von: Wie zum Teufel konnte die alte Frau das wissen, wenn nicht einmal ich es wusste?
»Es gab keinen Grund, es zu erwähnen.« Er reagiert auf meinen unausgesprochenen Gedanken. »Die Vergangenheit ist, was sie ist – vergangen. Es gibt keinen Grund, dorthin zurückzukehren. Ich konzentriere mich viel lieber auf die Gegenwart, auf das Jetzt, auf den aktuellen Moment.« Seine Miene wird etwas heller, während er mich mit seinen braunen Augen ansieht. In ihnen leuchtet die Verheißung einer ganz neuen Idee, und er macht einen Schritt auf mich zu, voller Hoffnung, dass ich auf das Ablenkungsmanöver eingehe.
Doch ich halte ihn auf. »Du scheinst aber nichts gegen einen Besuch in der Vergangenheit zu haben, wenn wir zum Pavillon gehen.« Als ich sehe, wie er zusammenfährt, schelte ich mich innerlich selbst für meine Unfairness.
Der Pavillon, das schöne Geschenk, das er zu meinem siebzehnten Geburtstag manifestiert hat, ist der einzige Ort, wo wir wirklich zusammen sein können – na ja, zumindest innerhalb der Grenzen der jeweiligen Zeit. Jedenfalls ist es der einzige Ort, wo wir echten Hautkontakt auskosten können und keine Angst zu haben brauchen, dass er sterben muss, da wir keine Angst vor dem DNA-Fluch zu haben brauchen, der uns hier auf der Erdebene voneinander getrennt hält. Wir wählen einfach eine Szene aus einem unserer früheren Leben, blenden uns hinein und lassen uns von dem herrlichen romantischen Augenblick mitreißen. Und ich muss unumwunden zugeben, dass ich es ebenso genieße wie er.
»Tut mir leid«, setze ich an. »Ich wollte nicht ...«
Doch er winkt nur ab und nimmt seinen Posten an der Fensterbank wieder ein. »Also, was soll ich für dich tun, Ever?« Sein Blick macht in puncto Freundlichkeit wett, was seinen Worten zu fehlen scheint. »Wo soll ich jetzt anfangen? Ich bin gerne bereit, dir alles, was du wissen willst, über meine Vergangenheit zu erzählen. Ich kann dir auch einen Zeitplan geben mit jedem Namen, unter dem ich je bekannt war, eingeschlossen der Grund, warum ich ihn gewählt habe. Dazu brauchen wir keine verrückte alte Frau. Ich habe nicht die Absicht, irgendetwas vor dir geheim zu halten oder dich in irgendeiner Form zu täuschen. Der einzige Grund, warum wir das nicht schon längst besprochen haben, ist der, dass es mir so unnötig erschien. Ich blicke viel lieber nach vorn als zurück.«
Während wir einen Moment lang schweigen, reibt er sich die Augen und unterdrückt ein Gähnen. Ein rascher Blick auf seinen Wecker sagt mir, warum – es ist immer noch tiefste Nacht. Ich habe ihn vom Schlafen abgehalten.
Ich strecke ihm meine Hand entgegen und ziehe ihn erst an mich und dann in Richtung Bett. Lächelnd verfolge ich, wie sein Blick zum ersten Mal aufleuchtet, seit er hochgeschreckt ist, als ich stöhnend und strampelnd aus einem schrecklichen Albtraum aufgewacht bin. Sofort umhüllt mich seine Wärme, die kribbelnde Hitze, die nur er erzeugen kann. Er schlingt die Arme um mich und schubst mich sanft nach hinten – auf die Laken, die zerdrückten Kissen und Decken, und schon streifen seine Lippen mein Schlüsselbein und wandern zu meinem Hals.
Meine Lippen sind an seinem Ohr, und ich knabbere sacht an seinem Ohrläppchen, ehe ich zu sprechen beginne. »Du hast Recht. Das hat Zeit bis morgen. Jetzt im Moment will ich einfach nur hier sein.«
Nachdem ich zwei geschlagene Wochen lang in Damens Bett aufgewacht bin, von seinen Armen umschlungen, sollte man meinen, dass ich mittlerweile daran gewöhnt wäre.
Aber nein.
Nicht einmal ansatzweise.
Obwohl ich mich daran gewöhnen könnte.
Mich gern daran gewöhnen würde.
An die sichere Geborgenheit seines dicht an mich gekuschelten Körpers und die Wärme seines Atems an meinem Ohr ...
Doch momentan bin ich weit davon entfernt.
Zuerst bin ich ein bisschen desorientiert und brauche ein paar Augenblicke, um die neuen Umstände zu verarbeiten – mich und meine Situation neu zu verorten und zu begreifen, wie ich hierhergekommen bin.
Und es ist stets der letzte Teil, die Frage danach, wie ich hierhergekommen bin, die mich immer wieder ernüchtert.
Was nie eine gute Art ist, einen neuen Tag zu beginnen.
»Buon giorno«, flüstert Damen mit leicht belegter Stimme. Jeden Morgen beginnt er mit einer der vielen Sprachen, die er spricht, wobei er sich heute auf seine italienische Muttersprache verlegt hat. Er drückt das Gesicht in den Vorhang aus langen blonden Haaren, der mir über den Hals fällt, und atmet tief ein.
»Ebenfalls buon giorno«, sage ich mit gedämpfter Stimme in das dicke Daunenkissen hinein, in das ich mein Gesicht vergraben habe.
»Wie hast du geschlafen?«
Ich rolle mich auf den Rücken, wische mir die Haare aus den Augen und gönne mir einen genüsslichen, langen Moment, in dem ich ihn einfach nur bewundere. Das ist noch etwas, woran ich nach wie vor nicht ganz gewöhnt bin – sein Aussehen. Seine reine, unverfälschte Schönheit. Ein ziemlich umwerfender Anblick.
»Okay.« Ich schließe kurz die Augen, um mir einen minzfrischen Atem zu manifestieren, ehe ich weiterrede. »Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern – das ist doch ein gutes Zeichen, oder?«
Er richtet sich halb auf und stützt sich auf den Ellbogen, während er den Kopf in seine offene Hand legt, um mich besser zu sehen. »Du erinnerst dich nicht? An gar nichts?«, fragt er in einem lächerlich hoffnungsvollen Tonfall.
»Hm, mal sehen ...« Ich tue so, als würde ich nachdenken, und tippe mir mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Ich weiß noch, wie du das Licht ausgemacht hast und neben mir ins Bett geschlüpft bist ...« Verstohlen werfe ich ihm einen Blick zu. »Ich erinnere mich an deine Hände oder zumindest das Beinahe-Gefühl deiner Hände ...« Sein Blick verschleiert sich leicht, ein sicheres Anzeichen dafür, dass er sich auch daran erinnert. »Und irgendwie erinnere ich mich vage an das Beinahe-Gefühl deiner Lippen, aber, wie gesagt, meine Erinnerung ist ziemlich vage, also bin ich mir nicht ganz sicher ...«
»Vage?« Er grinst, und seine Augen blitzen auf eine Weise, die nur allzu klar macht, wie gern er meinem Gedächtnis auf die Sprünge helfen würde.
Ich erwidere sein Lächeln, doch es schwindet schnell wieder, als mir etwas einfällt. »Ach ja, und ich erinnere mich irgendwie an einen spätnächtlichen Spontanbesuch im Sommerland und an die verrückte Alte, bei der wir Havens Habseligkeiten vergraben haben, und dass du dich irgendwie widerwillig bereiterklärt hast, mir dabei zu helfen, den Sinn ihrer rätselhaften Botschaft zu entschlüsseln ...« Erneut fange ich seinen Blick auf, und es ist genau, wie ich dachte. Er schaut, als hätte ich ihm eine Ladung kaltes Wasser über den Kopf gegossen.
Er rollt sich auf den Rücken und starrt an die Decke. Eine ganze Weile schweigt er eisern und nachdenklich, ehe er sich wieder aufsetzt, die Beine über die Bettkante schwingt und sich die Decke von den Knien zerrt.
»Damen ...« beginne ich, unsicher, was nun folgen soll, doch das spielt keine Rolle, da er mich rasch aufklärt.
»Ich hatte gehofft, wir könnten die Winterferien mit anderen Dingen verbringen.« Er geht zum Fenster, bleibt stehen und wendet sich zu mir um.
»Was für Dinge?« Ich kneife die Augen zusammen und frage mich, was für andere Dinge es wohl geben könnte.
»Tja, zunächst einmal, findest du nicht, dass es höchste Zeit ist, mit Sabine ins Reine zu kommen?«
Ich packe das Kissen an der Seite und ziehe es mir übers Gesicht. Mir ist klar, dass das ein völlig nutzloses Unterfangen ist, ganz zu schweigen davon, wie kindisch es ist, aber das ist mir im Moment egal. Also, wenn ich nicht einmal an Sabine denken will, dann kann man wohl davon ausgehen, dass ich auch nicht über sie reden will. Und da kommt er und will mit mir über mein schlimmstes, verhasstestes und – zumindest für den Moment – unantastbarstes Problem debattieren.
»Ever ...« Er zieht an meinem Kissen, doch ich umklammere es nur umso fester. »Du kannst es nicht einfach so stehen lassen. Das ist nicht richtig. Du musst irgendwann wieder zu ihr gehen.« Er zupft noch einmal, ehe er seufzend zu seinem Platz am Fenster zurückkehrt.
»Du wirfst mich raus?« Ich schiebe das Kissen nach unten, bis auf meinen Bauch, drehe mich zur Seite und umklammere es, als müsste es mich vor dem beschützen, was als Nächstes kommt.
»Nein!« Hastig schüttelt er den Kopf. Dann fährt er sich mit den Fingern durch sein verstrubbeltes Haar und streicht es zurecht. »Warum sollte ich das tun?«, fragt er schließlich und sieht mich erstaunt an, ehe er die Hand wieder sinken lässt. »Ich liebe es, mit dir schlafen zu gehen, genauso wie ich es liebe, neben dir aufzuwachen. Ich dachte, das wüsstest du?«
»Bist du sicher?«, hake ich nach, als ich seinen bestürzten Blick sehe. »Ich meine, ist es nicht zu frustrierend für dich? Du weißt schon, wir schlafen zusammen in einem Bett, ohne dass wir wirklich miteinander schlafen können?« Ich presse die Lippen zusammen und spüre, wie mir die Hitze in die Wangen steigt.
»Das Einzige, was ich frustrierend finde, ist, dass du dich unter einem Kissen verkriechst, um nicht über Sabine reden zu müssen.«
Ich schließe die Augen, zupfe gedankenlos am Saum des Kissenüberzugs herum und merke, wie sich meine Stimmung wandelt und ins Gegenteil von seiner umschlägt. Hoffentlich kann ich das noch aufhalten, ehe es zu weit geht und uns allzu sehr voneinander trennt.
»Da gibt es nichts zu reden. Sie glaubt, ich bin verrückt. Ich glaube das nicht. Oder zumindest nicht in dem Sinn, wie sie es meint.« Ich spähe zu ihm hinüber und versuche, dem Ganzen ein wenig Leichtigkeit zu verleihen, doch das geht völlig an ihm vorbei. Er nimmt die Sache viel zu ernst. »Jedenfalls ist sie derart von ihrer Ansicht überzeugt, dass ich keine andere Wahl habe, als mich zu beugen oder zu gehen. Das sind die Alternativen, vor die sie mich gestellt hat. Und ja, auch wenn ich offen zugebe, dass es wehtut, und zwar auf eine Art, die verteufelt tief geht, sage ich mir andererseits trotzdem, dass es vielleicht besser so ist. Weißt du?«
»Nein, weiß ich nicht. Erklär’s mir doch.«
»Na ja, es ist so, wie du immer sagst: Irgendwann muss ich mich verabschieden – und zwar eher früher als später. Laut deiner Aussage ist das doch unvermeidlich, oder? Also, was hat es für einen Sinn, Frieden zu schließen und noch ein paar Monate hier herumzulungern, wenn ich sowieso bald verschwinden muss? Du hast es selbst gesagt: Es wird nicht mehr lange dauern, bevor sie es spitzkriegt – bevor alle es spitzkriegen. Sie wird merken, dass keiner von uns gealtert ist, nicht einmal um einen Tag. Und da man so was nicht logisch erklären kann und Sabine eine Frau ist, die grundsätzlich immer perfekte Schwarz-Weiß-Logik erwartet, gibt es zu dem Thema eigentlich nicht mehr viel zu sagen, oder?«
Wir wechseln einen Blick, und obwohl ich alle Punkte abgehakt habe, einschließlich derjenigen, die ursprünglich von ihm kamen, ist offenkundig, dass ihm das nicht reicht. Er sieht nach wie vor nicht ein, warum ich nicht rüberfahren und versuchen kann, mit Sabine Frieden zu schließen. Was heißt, dass er entweder unglaublich stur ist oder es mir nicht gelungen ist, meinen Standpunkt klarzumachen, oder beides.
»Also warum das Unvermeidliche aufschieben?« Ich schlucke schwer und umarme erneut das Kissen. »Vielleicht ist das alles ja nicht ohne Grund passiert. Du weißt ja, wie sehr ich den Abschied gefürchtet habe, und jetzt, da es passiert ist, macht es das vielleicht einfacher – vielleicht ist das die Lösung, nach der ich die ganze Zeit gesucht habe –, vielleicht ist es wie ein Geschenk des Himmels?« Die Worte kommen so schnell, dass ich innehalte, um nach Luft zu schnappen. Auch wenn mir ein Blick in Damens Augen genügt, um mir zu versichern, dass er nicht einer Meinung mit mir ist. Also schalte ich um, versuche es auf einem anderen Weg, in der Hoffnung, dass es so ein bisschen besser funktioniert. »Sag mir, Damen, sag mal ehrlich, in all deinen Lebensjahren, bei all deinen Ankünften und Abreisen, hast du da nie einen Streit vom Zaun gebrochen oder einen Streit als Grund zum Verschwinden genommen?«
»Doch, natürlich. Mehr als einmal, das kann ich dir sagen. Aber das heißt nicht, dass es richtig gewesen wäre.«
Ich schweige, weil mir nichts mehr einfällt. Blinzelnd verfolge ich, wie er sich umdreht und die Jalousie aufdreht, sodass ein matter Lichtstrahl hereinscheint, der auf einen sonnenlosen Tag mitten im Dezember schließen lässt.
»Vielleicht hast du Recht.« Er mustert die Landschaft vor dem Fenster. »Vielleicht sorgt das für den saubersten Schnitt. Die Wahrheit kannst du ihr nicht sagen. Das wäre Wasser auf ihre Mühlen. Sie würde es nicht akzeptieren. Und wenn sie es wundersamerweise doch täte, dann würde sie es im Handumdrehen verurteilen. Und das Schlimmste daran ist, dass sie Recht hat. Was ich getan habe – was ich aus dir gemacht habe –, ist unnatürlich. Es widerspricht jedem Naturgesetz.« Er wendet sich zu mir um, wobei ein Ausdruck tiefer Reue in seiner Miene liegt. »Wenn ich mir einer Sache sicher bin, dann dessen, dass wir nicht das Leben führen, das uns zugedacht war. Unsere Körper sind unsterblich, das stimmt, doch unsere Seelen sind es eindeutig nicht. Unsere Leben setzen sich über die grundlegendsten Naturgesetze hinweg. Wir sind das Gegenteil dessen, was wir sein müssten.«
Ich will etwas einwenden, irgendetwas sagen, wenngleich aus keinem anderen Grund als dem, dass es mir ein Gräuel ist, ihn so zu sehen. Doch er lässt mich nicht. Er ist noch lange nicht fertig. Es gibt noch ein paar Dinge, die er unbedingt aussprechen muss.
»Davon hat mich das Schattenland jedenfalls hundertprozentig überzeugt. Du warst dort, Ever, zweimal, wenn ich mich recht erinnere – das erste Mal durch mich und in jüngerer Zeit wegen Haven. Und jetzt sei ehrlich, kannst du abstreiten, was ich gesagt habe? Kannst du leugnen, dass es stimmt?«
Ich hole tief Luft und denke an den entsetzlichen Tag, als mir Haven die Faust mitten in die Kehle geschlagen hat. Mitten in meinen wunden Punkt – mein fünftes Chakra – das Zentrum für mangelndes Urteilsvermögen, irrige Verwendung von Informationen und Vertrauen gegenüber den falschen Leuten. Ein einziger harter Schlag hat ausgereicht, um mich zu töten, mich zu vernichten, mich fallend, drehend, wirbelnd in jenes grauenvolle, finstere Vergessen zu stürzen. Den Abgrund. Die Heimat für die Seelen der Unsterblichen. Ich muss daran denken, wie ich durch die Schwärze getaumelt bin, verloren in der Leere, gequält von einem endlosen Strom von Bildern aus all meinen früheren Leben. Gezwungen, die Fehler, die ich begangen habe, sämtliche Fehlentscheidungen und Irrtümer, die ich verübt habe, noch einmal zu durchleben, wobei ich das Leid der anderen ebenso intensiv empfand wie mein eigenes. Herausgefunden habe ich es erst, als letztlich die Wahrheit ans Licht kam. Verschont von einer Ewigkeit tiefer Isolation, als ich nicht mehr den geringsten Zweifel daran hegte, dass Damen der Richtige ist.
Mein Seelengefährte.
Mein Ein und Alles für alle Ewigkeit.
Die plötzliche Erkenntnis, zusammen mit meiner rückhaltlosen und umfassenden Erklärung, in der ich die Wahrheit über Damen und mich und unsere Liebe anerkannte, ist das Einzige, was mich geheilt, was mich erlöst hat.
Das Einzige, was mich von der Bürde meines schwachen Chakras befreit hat.
Der einzige Grund, aus dem ich noch hier sitze.
Ich nicke und habe nichts hinzuzufügen. Er weiß, was ich gesehen, was ich erlebt habe, und zwar so genau, als wäre er selbst dabei gewesen.
»Es gibt nur dich und mich, Ever. Wir haben nur einander. Eine Aussicht, die für mich attraktiver sein mag als für dich, aber nur, weil ich mich an das Leben als einsamer Wolf gewöhnt habe.«
»Wir haben Miles«, sage ich und erinnere Damen sogleich daran, dass Miles jetzt in unser unsterbliches Geheimnis eingeweiht ist. »Und Jude.« Mir stockt der Atem, und ich fühle mich immer noch ein bisschen seltsam dabei, ihn in Damens Gegenwart zu erwähnen, obwohl die beiden kürzlich beschlossen haben, die Vergangenheit ruhen zu lassen und neu anzufangen. »Dann stehen wir ja nicht ganz ohne Freunde da, was?«
Doch er zuckt nur die Achseln und denkt über den Teil nach, den ich geflissentlich unterschlagen habe, den Teil, der zu schmerzlich ist, um ihn anzusprechen. Die Tatsache, dass Miles und Jude eines Tages alt und grau werden, Seniorenteller bestellen und sich auf rauschende Bingo-Abende freuen werden, während Damen und ich immer exakt gleich, völlig unverändert bleiben.
»Irgendwie finde ich es einfach furchtbar, dass es zwischen Sabine und dir so enden soll«, sagt er schließlich und blickt wie ein personifizierter Seufzer drein. »Aber vielleicht hast du Recht, vielleicht ist es so nicht schlechter als anders. Da es ja ohnehin unvermeidlich ist und so.«
Ich werfe das Kissen beiseite und strecke die Arme nach Damen aus. Es ist mir zuwider, wenn er so düster wird, wenn sich seine Gedanken nach innen richten und er beginnt, sich selbst Vorwürfe zu machen. Dann tue ich alles, um das Thema zu wechseln, es komplett auszulöschen. Doch er hat sich bereits umgewandt und sieht meine Geste nicht, also lasse ich den Arm wieder fallen.
»Okay, und was fällt dir abgesehen von einem großen Kriegsrat mit Sabine sonst noch ein? Für unsere Winterferien, meine ich?«, frage ich in der Hoffnung, die dunkle Wolke zu vertreiben.
Es dauert einen Moment, bis er antwortet, bis er über seine Bedrücktheit hinwegkommt. Doch als er es tut, ist es mehr als lohnend. Das Lächeln, das sein Gesicht aufleuchten lässt, macht den bisher so tristen Tag augenblicklich heller.
»Na ja, ich habe mir gedacht, wir könnten etwas Spontanes machen, vielleicht sogar etwas ein klein wenig Verrücktes. Vielleicht könnten wir zur Abwechslung sogar mal Spaß haben. Du erinnerst dich doch an Spaß, oder?«
»Vage.« Ich nicke und mache bereitwillig bei seinem Spiel mit.
»Vielleicht könnten wir irgendwohin in Urlaub fahren ...« Er wirft mir einen schelmischen Blick zu und tappt zu dem cremefarbenen Ledersofa auf der anderen Seite des Raums hinüber. Dann greift er nach dem dunklen Seidenmorgenrock, den er letzte Nacht auf der Armlehne abgelegt hat, und schlüpft rasch hinein. Dies tut er mit so fließenden Bewegungen, dass es aussieht, als schmölze er hinein.
Ich mustere ihn aufmerksam und frage mich, ob er tatsächlich die ganze Zeit heimlich Pläne geschmiedet hat oder ob er mich nur mit einer Idee verlocken will, die ihm gerade gekommen ist.
»Aber ...« Er hält inne und bindet den Gürtel so, dass er ihm tief auf den Hüften hängt und der Morgenmantel locker und offen bleibt, sodass ein großes Stück nackte Brust und ausgeprägte Bauchmuskulatur zu bestaunen sind.
Ich rutsche hoch, lehne mich mit dem Rücken gegen das Kopfteil und ziehe mir die Decke bis ans Kinn, da mir sein Zustand fast völliger Nacktheit extrem meinen eigenen bewusst macht. Ich bin noch nicht daran gewöhnt, als Paar zu leben, so intim zusammenzuwohnen, sodass ich jeden Morgen aufs Neue entsetzlich schüchtern und gehemmt bin.
»Ever, ich weiß, wie versessen du darauf bist, allen Dingen, die dich belasten, auf den Grund zu gehen. Und, wie ich letzte Nacht schon gesagt habe, ich bin gern bereit, dir zu helfen ...«
Ich sehe ihn an und wappne mich gegen die volle Breitseite seines geschliffenen, ausgefeilten Verhandlungsgeschicks. Ja, ich sehe ihm geradezu an, wie er seine Argumentation aufbaut.
»Also, ich gebe der Sache eine Woche Zeit. Ich gebe dir eine Woche meiner ununterbrochenen, ungeteilten Aufmerksamkeit fürs Knacken des Codes der verrückten Alten, aber wenn die Woche um ist und wir nicht weitergekommen sind, bitte ich dich, die Niederlage mit Anstand zu akzeptieren, damit wir mit meinem wesentlich besseren, amüsanteren und viel spaßigeren Plan weitermachen können. Was meinst du?«
Ich kaue an der Innenseite meiner Wange und überlege kurz, ehe ich antworte. »Tja, kommt darauf an.«
Er sieht mich an und verlagert so das Gewicht, dass der Morgenmantel noch weiter aufgeht. Und die Aussicht erweitert. Ganz schön unfair.
»Kommt auf deinen Plan an.« Ich fixiere ihn mit meinem Blick. »Ich muss wissen, worauf ich mich einlasse – was du mit mir vorhast. Ich kann nicht einfach in irgendwas X-Beliebiges einwilligen. Ich habe auch meine Maßstäbe, weißt du.« Ich wende mich ab, sehe auf meine Hände herab und verweigere seinen Anblick, die gesamte Herrlichkeit seines Körpers, und konzentriere mich stattdessen auf meine Fingernägel.
Anstelle einer Antwort lacht er, und es klingt wie ein inbrünstiger Jubelschrei, der den ganzen Raum ebenso erfüllt wie mein Herz. Ich bin total erleichtert, dass der dunkle Moment von vorhin fürs Erste vergessen ist.
Er dreht sich um und macht sich auf den Weg ins Badezimmer. »Ein Urlaub«, sagt er über die Schulter. »Nur wir zwei und irgendein traumhafter exotischer Ort. Ein richtiger Urlaub, Ever. Weit weg von allem und jedem. Ein Urlaub an einem Ort meiner Wahl. Das ist alles, worauf du dich einlassen musst. Überlass mir die Einzelheiten.«
Ich lächele vor mich hin, da mir gefällt, was er sagt, und was für Bilder es in meinen Gedanken auslöst. Doch das will ich ihm nicht verraten, und so sage ich nur: »Mal sehen.« Meine Worte werden vom Rauschen seiner überdimensionalen Regendusche übertönt. »Mal sehen«, flüstere ich, versucht, mich zu ihm zu gesellen, da ich weiß, dass das genau das ist, was er will, aber da mir nur eine Woche bleibt, um das Rätsel der Alten zu lösen, setze ich mich stattdessen an seinen Laptop.
Was gefunden?« Damen rubbelt sich mit einem Handtuch durch die nassen Haare, ehe er das Tuch beiseitewirft und sich rasch mit den Fingern die Strähnen glattstreicht.
Ich stoße mich vom Schreibtisch ab, fahre ein Stück auf Damen zu und rolle mit dem Stuhl hin und her, während ich antworte. »Ich habe ein paar Suchanfragen ausprobiert. Zuerst hab ich die Zahlen eingegeben, die sie erwähnt hat, da ich dachte, es könnte ein Datum oder ein Code oder ein Link zu einer wichtigen Textpassage sein oder zu einem Kirchenlied, einem Psalm oder einem Gedicht oder ... irgendwas.« Ich zucke die Achseln. »Ich habe sogar den Namen eingegeben, den sie genannt hat, Adelina. Aber nichts gefunden. Dann hab ich die Zahlen und den Namen gemeinsam eingegeben, aber wieder Fehlanzeige. Oder zumindest nichts, was auch nur im Entferntesten mit uns zu tun haben könnte.«
Er nickt und verschwindet für einen Moment in seinem begehbaren Kleiderschrank, dann kehrt er in einer frischen Jeans und einem schwarzen Wollpullover zurück. Während ich mich für den wesentlich einfacheren und auch fauleren Ansatz entscheide, mir meine Klamotten zu manifestieren, die im Endeffekt ziemlich ähnlich ausfallen.
Außer dass mein Pullover blau ist. Er mag mich in Blau. Es bringe das Blau meiner Augen zur Geltung, sagt er.
»Also, wo fangen wir an?« Er lässt sich auf das Ledersofa sinken und schlüpft in ein Paar Schuhe – schwarze TOMS-Slipper, einer der wenigen Artikel, die er sich noch kauft –, aber nur, weil ein Teil der Einnahmen an wohltätige Zwecke geht.
Dahin sind die handgenähten italienischen Motorradstiefel, die er trug, als wir uns kennen lernten. Jetzt trägt er im Sommer billige Gummi-Flipflops und im Winter TOMS. Abgesehen von seiner protzigen, überdimensionierten Villa im Wert von vielen Millionen Dollar und dem glänzenden schwarzen BMW-M6-Coupé in seiner Garage – einem Auto, das zu remanifestieren und zu behalten ich ihn mehr oder weniger gezwungen habe – scheint er sich an seinen jüngsten Entschluss halten zu wollen, von jetzt an einfacher, weniger extravagant, dafür aber bewusster und weniger materialistisch zu leben.
»Für die nächste Woche bin ich ganz dein.« Er erhebt sich, schüttelt kurz die Beine aus und zieht seine Jeans zurecht.
»Nur für die nächste Woche?« Ich stehe vor dem hohen gerahmten Spiegel, der an der Wand lehnt, und versuche, mein Haar dazu zu überreden, etwas anderes zu tun, als nur flach auf meinem Kopf zu liegen. Doch nachdem ich ein paar Locken und Wellen manifestiert habe, die mir einfach nicht stehen, style ich es wieder so, wie es war, ergänzt nur durch einen Pferdeschwanz.
»Auch wenn du und ich kein Ablaufdatum haben, dein kleines Projekt hat ja wohl eines – wie du schon gesagt hast. Also sag, wo fangen wir an?« Er sieht mich an und wartet auf weitere Anweisungen.
Ich mustere mein Profil und streiche die vereinzelten Strähnen glatt, die seitlich noch abstehen. Irgendwie sollte ich mir etwas anderes einfallen lassen, da ich mit meinem Spiegelbild nicht ganz zufrieden bin, doch ich hole nur tief Luft und zwinge mich, es zu akzeptieren.
Wann immer ich mich ansehe, sehe ich nur Dinge, die ich ändern möchte.
Wann immer Damen mich ansieht, sieht er nur ein herrliches Geschenk des Universums.
Die Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.
»Komm schon.« Ihm zuliebe wende ich mich von meinem Spiegelbild ab, da ich weiß, dass wir keine Zeit zu verlieren haben. Eine Woche voller Arbeit, wie ich sie geplant habe, kann einem hinterher vorkommen wie ein, zwei Minuten.
Mit verschlungenen Händen stehen wir nebeneinander da und stellen uns den weichen goldenen Schleier aus schimmerndem Licht vor, der uns ins Sommerland führt.
Wir überspringen das weite, duftende Feld aus glitzernden Blumen und pulsierenden Bäumen und landen stattdessen am Fuß der breiten Treppe, die zu den Großen Hallen des Wissens führt. Einen Moment lang halten wir inne, stoppen unsere Gedanken und blicken mit großen Augen und solcher Ehrfurcht auf das Gebäude, dass uns regelrecht der Atem stockt.
Wir betrachten die herrlichen Steinornamente, das weite, geneigte Dach, die imposanten Säulen und die wuchtigen Portale – all die prächtigen Gebäudeteile, die sich permanent verändern und Bilder von den Pyramiden von Gizeh heraufbeschwören, ehe sie in den Lotustempel und dann ins Tadsch Mahal übergehen. Das Gebäude ist im steten Wandel begriffen, der sich fortsetzt, bis die größten Weltwunder in seiner bestaunenswerten Fassade abgebildet worden sind. Es lässt nur diejenigen ein, die es als das erkennen können, was es wirklich ist – ein Ehrfurcht gebietender Ort, geschaffen aus Liebe und Wissen und allem Guten.
Die Türen springen vor uns auf, und wir eilen die Treppe hinauf und betreten die weitläufige Eingangshalle, die von einem absolut strahlenden, warmen Licht erfüllt ist, ein allumfassendes Leuchten, das wie auch sonst im Sommerland jede Ecke, jeden Winkel und jeden Raum durchdringt und nirgends dunkle Schatten oder finstere Stellen gestattet – abgesehen von denen, für die ich selbst verantwortlich bin – und aus dem Nichts zu kommen scheint.
Wir wandeln zwischen weißen Marmorsäulen, die direkt aus dem alten Griechenland stammen könnten, an Reihen langer, mit Schnitzereien verzierter Holztische und Bänke entlang, an denen Priester, Rabbis, Schamanen und Suchende aller Art sitzen, darunter auch: Jude?
Sowie sein Name in meinen Gedanken erscheint, hebt er den Kopf und sieht mich unverwandt an. Gedanken sind Dinge, die aus Energie der reinsten Art bestehen, und hier im Sommerland kann jeder sie hören.
»Ever ...« Er hebt eine Hand an die Stirn und streicht die Stelle direkt über seiner gespaltenen Braue glatt, bevor er sich das Gewirr aus langen, bronzefarbenen Dreadlocks aus dem Gesicht schiebt. »Und Damen ...« Seine Miene bleibt unergründlich, undurchschaubar, auch wenn auf der Hand liegt, dass ihn das reichlich Mühe kostet.
Er erhebt sich, für mein Gefühl ein wenig widerwillig. Doch als Damen mit einem Grinsen, das seine Miene aufleuchten lässt, auf ihn zugeht, bemüht sich Jude nach Kräften, es mit einem ebensolchen zu erwidern, und lässt seine Grübchen aufblitzen.
Ich halte mich im Hintergrund und sehe zu, wie die beiden das übliche männliche Begrüßungsritual mit Abklatschen und Schulterklopfen absolvieren. Dabei versuche ich, hinter die Fassade von Judes geröteten Wangen zu blicken und den Hauch von Kummer in seinen ozeangrünen Augen zu ergründen.
Also, auch wenn er und Damen Waffenstillstand geschlossen haben, auch wenn er jetzt so ziemlich in alle unsere größten Geheimnisse eingeweiht ist und nicht vorhat, sie auszuplaudern, auch wenn ich mir absolut sicher bin, dass seine unheimliche Fähigkeit, meine besten Pläne zu durchkreuzen, auf keinerlei Berechnung seinerseits zurückzuführen ist, sondern ihn etwas anderes, eine höhere Macht, dazu treibt, stets im absolut ungünstigsten Moment dazwischenzufunken, zögere ich einfach unwillkürlich und kann meinen Widerwillen, ihn zu begrüßen, nur mühsam überwinden.