Everything is Fucked - Mark Manson - E-Book + Hörbuch

Everything is Fucked Hörbuch

Mark Manson

0,0

  • Herausgeber: Riva
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Wir waren niemals freier, reicher und gesünder als heute. Nie hatten wir mehr Möglichkeiten, geschweige denn das Geld dazu. Dennoch gehts uns beschissen und ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit macht sich breit. Der Planet erwärmt sich, Regierungen versagen, die Wirtschaft bricht zusammen und auf Twitter sind ständig alle beleidigt. In Everything is Fucked wirft Bestsellerautor Mark Manson einen Blick auf dieses Paradox. Humorvoll stellt er unsere gängigen Definitionen von Glück, Hoffnung und Freiheit auf den Prüfstand. Ausgehend von den Erkenntnissen der Psychologie sowie der zeitlosen Weisheit großer Philosophen hinterfragt er unsere Beziehung zu Geld, Vergnügungen und dem Internet. Er beweist: Zu viel von einer guten Sache überfordert und macht uns schlicht fertig – aber es gibt Hoffnung. Mit seinem gewohnten Mix aus Ernsthaftigkeit und lockerem Humor fordert er uns auf, ehrlicher mit uns selbst zu sein und uns auf eine ganz neue Weise mit der Welt zu verbinden. Denn noch ist nicht alles im Arsch.

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:8 Std. 8 min

Sprecher:Stefan Lehnen
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



EVERYTHING IS FUCKED

MARK MANSON

EVERYTHING IS FUCKED

EIN BUCH ÜBER HOFFNUNG

MARK MANSON

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-bibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen

[email protected]

Wichtiger Hinweis

Ausschließlich zum Zweck der besseren Lesbarkeit wurde auf eine genderspezifische Schreibweise sowie eine Mehrfachbezeichnung verzichtet. Alle personenbezogenen Bezeichnungen sind somit geschlechtsneutral zu verstehen.

5. Auflage 2024

© 2019 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Die englische Originalausgabe erschien 2019 bei Harper Collins US unter dem Titel Everything is Fucked. © 2019 by Mark Manson. All rights reserved.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Übersetzung: Max Limper, Peter Peschke

Redaktion: Silke Panten

Umschlaggestaltung: Isabella Dorsch, in Anlehnung an das Originalcover

Satz: Carsten Klein, Torgau

Druck: Florjancic Tisk d.o.o., Slowenien

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1101-6

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0743-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0744-3

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de

Inhalt

TEIL I: HOFFNUNG

KAPITEL 1 Die unbequeme Wahrheit

KAPITEL 2 Selbstbeherrschung ist eine Illusion

KAPITEL 3 Newtons Grundgesetze der Erregung

KAPITEL 4 Wie du alle deine Träume verwirklichst

KAPITEL 5 Hoffnung ist scheiße

TEIL II: EVERYTHING IS FUCKED

KAPITEL 6 Die Menschheitsformel

KAPITEL 7 Schmerz ist die universelle Konstante

KAPITEL 8 Gefühlsökonomie

KAPITEL 9 Die endgültige Religion

Danke

Über den Autor

Anmerkungen

Teil I:

HOFFNUNG

KAPITEL 1

Die unbequeme Wahrheit

Auf einem kleinen Fleckchen Land in der eintönigen Landschaft Mitteleuropas, inmitten der Lagerhallen einer ausgedienten Militärbaracke, erhob sich ein geografisch gebündeltes Netzwerk des Bösen, dichter und dunkler gewoben als alles, was die Welt bisher gesehen hatte. Über einen Zeitraum von vier Jahren hinweg sollten hier mehr als 1,3 Millionen Menschen systematisch erfasst, versklavt, gefoltert und gemordet werden. All das würde sich in einem Gebiet zutragen, das in etwa so groß war wie das Tempelhofer Feld in Berlin. Und niemand würde irgendetwas unternehmen, um der Sache Einhalt zu gebieten.

Niemand, außer einem Mann.

Das ist der Stoff, aus dem die Geschichten von Märchen und Comicheften gemacht sind: Ein Held marschiert erhobenen Hauptes in den lodernden Schlund der Hölle, um eine ungeheuerliche Manifestation des Bösen zur Strecke zu bringen. Alle Wahrscheinlichkeiten sprechen gegen ihn. Seine Logik ist lachhaft. Doch unser fantastischer Held zögert nicht und lässt sich nicht beirren. Er bleibt aufrecht und tötet den Drachen, schlägt das feindliche Heer der Dämonen nieder; er rettet den Planeten und nebenher vielleicht noch ein oder zwei Prinzessinnen.

Und für einen kurzen Moment gibt es Hoffnung.

Aber dies ist keine Geschichte über die Hoffnung. Diese Geschichte handelt davon, dass alles, aber auch wirklich alles komplett im Arsch ist. Das ganze Ausmaß des Elends können wir, die wir längst an die Vorzüge von kostenlosem W-LAN und übergroßen Kuscheldecken gewöhnt sind, uns kaum vorstellen.

Witold Pilecki war bereits ein Kriegsheld, als er beschloss, sich in das Lager von Auschwitz hineinzuschleichen. Als junger Mann hatte er als hochdekorierter Offizier im Polnisch-Sowjetischen Krieg ab 1919 gekämpft. Er hatte den Kommunisten in die Eier getreten, als die meisten Leute noch gar nicht wussten, was eine linksversiffte Kommunistensau ist. Nach dem Krieg zog Pilecki ins ländliche Polen, heiratete eine Lehrerin und zeugte zwei Kinder. Er war ein begeisterter Reiter, hatte Freude an schicken Hüten und rauchte gerne Zigarren. Das Leben war einfach und gut.

Dann geschah diese ganze Hitler-Sache, und noch bevor die Polen in den Stiefeln standen, hatten die Nazis bereits das halbe Land im Blitzkrieg eingenommen. Binnen wenig mehr als einem Monat erlitt Polen einen vollständigen Gebietsverlust. Bei diesem Kampf ging es nicht eben gerade fair zur Sache: Während die Nazis im Westen einfielen, stürmten die Sowjets den Osten des Landes. Polen steckte in der Klemme – eingekesselt von einem größenwahnsinnigen Massenmörder mit Allmachtsfantasien auf der einen Seite und einem hemmungslos wütenden, sinnlosen Genozid auf der anderen. Suchen Sie sich aus, welche Seite welche war.

Anfangs gingen die Sowjets tatsächlich viel grausamer vor als die Nazis. Sie hatten den ganzen Scheiß schon einmal abgezogen und wussten, wie man eine komplette Regierung stürzt und die gesamte Bevölkerung der eigenen, fehlgeleiteten Ideologie unterjocht. Die Nazis hingegen waren in Sachen Imperialismusbestrebungen noch jungfräulich (was kaum Wunder nimmt, wenn man sich Hitlers Schnauzbart anschaut). Schätzungen zufolge verhafteten die Sowjets in jenen ersten Kriegsmonaten mehr als eine Million polnischer Bürgerinnen und Bürger und schickten sie ostwärts. Versuch für einen Moment, dir das vorzustellen. Innerhalb weniger Monate waren eine Million Menschen einfach verschwunden. Manche von ihnen liefen so lange, bis sie die Gulags in Sibirien erreicht hatten; andere fand man Jahrzehnte später in Massengräbern. Von einigen dieser Menschen fehlt bis heute jede Spur.

Pilecki kämpfte in diesen Schlachten – sowohl gegen die Deutschen als auch gegen die Sowjets. Und nach der erlittenen Niederlage gründete er mit anderen polnischen Offizieren eine Widerstandsbewegung und sie gingen in den Untergrund. Sie nannten sich die Geheime Polnische Armee.

Im Frühjahr 1940 kam der Geheimen Polnischen Armee zu Ohren, dass die Deutschen am Rande eines verschlafenen Städtchens im Süden des Landes ein riesiges Gefangenenlager bauten, dem sie den Namen Auschwitz gaben. Bis zum Sommer 1940 waren bereits Tausende Militäroffiziere und andere hochrangige Staatsbürger verschwunden. Innerhalb des Widerstands wuchs die Angst, dass Masseninhaftierungen, wie sie im Osten durch die Sowjets stattgefunden hatten, nun auch im Westen drohten. Pilecki und seine Leute vermuteten, dass Auschwitz – ein Lager von der Größe einer Kleinstadt – eine wesentliche Rolle beim Verschwinden besagter Personen spielte, und dass die Deutschen womöglich bereits Tausende polnische Ex-Soldaten dorthin verfrachtet hatten.

Damals bot Pilecki freiwillig an, sich in Auschwitz hineinzuschleichen. Ursprünglich war es als Rettungsmission geplant – er würde zulassen, dass man ihn festnahm, und wenn er erstmal da wäre, würde er sich mit anderen polnischen Soldaten organisieren, eine Meuterei anzetteln und aus dem Gefangenenlager ausbrechen.

Das Ganze war ein Selbstmordkommando, so heikel, dass er ebenso gut um Erlaubnis hätte bitten können, einen Eimer Bleiche trinken zu dürfen. Seine Vorgesetzten hielten ihn für verrückt, und sie machten ihm gegenüber keinen Hehl daraus.

Das Problem wurde indes nur noch schlimmer, als die Wochen ins Land zogen: Tausende Angehörige der polnischen Elite verschwanden von der Bildfläche, und im Informationsnetzwerk der alliierten Geheimdienste war Auschwitz nach wie vor ein riesiger blinder Fleck. Die Alliierten hatten keinen Schimmer, was dort passierte, und sie hatten kaum Chancen, es herauszufinden. Pileckis Vorgesetzte gaben schließlich nach. Eines Abends ließ er sich an einem der ständigen Checkpoints in Warschau von der SS festnehmen, nachdem er absichtlich die Ausgangssperre ignoriert hatte. Bald schon war er unterwegs nach Auschwitz – vermutlich der einzige Mann, der sich freiwillig in ein Konzentrationslager stecken ließ.

Dort angelangt erkannte er schnell, dass die Wirklichkeit von Auschwitz weit schrecklicher war, als irgendwer es sich hatte vorstellen können. Gefangene, die zum Appell antraten, wurden routinemäßig erschossen, selbst für geringfügigste Regelverstöße – es reichte aus, wenn man nicht strammstand. Die körperliche Arbeit war zermürbend und endete nie. Männer wurden buchstäblich zu Tode geschunden, oft mit Aufgaben, die bedeutungslos und ohne Nutzen waren. Während des ersten Monats, den Pilecki dort verbrachte, starb nicht weniger als ein Drittel der Männer in seinem Lager an Erschöpfung oder Lungenentzündung – oder sie wurden erschossen. Dessen ungeachtet war es Pilecki, diesem einem Comicheft entstiegenen Superhelden, zum Ende des Jahres 1940 irgendwie gelungen, eine Spionage-Einheit aufzubauen.

Oh, Pilecki – du Titan, du Meister, der du über den Abyssus fliegst –, wie ist es dir nur gelungen, mit in Wäschekörben geschmuggelten Nachrichten ein Netzwerk aus Informanten aufzubauen? Wie hast du es geschafft, aus Ersatzteilen und geklauten Batterien ein Transistorradio zu basteln (MacGyver wäre neidisch gewesen), um damit erfolgreich Pläne für einen Angriff auf das Gefangenenlager an die Geheime Polnische Armee in Warschau zu übermitteln? Wie konntest du Schmuggelringe aufbauen, die Nahrung, Medikamente und Kleidung für die Gefangenen ins Lager brachten, um auf diese Weise unzählige Leben zu retten und Hoffnung noch in die tiefste Einöde des menschlichen Herzens zu tragen? Hat diese Welt dich überhaupt verdient?

Im Verlauf von zwei Jahren gelang es Pilecki, innerhalb von Auschwitz eine komplette Widerstandstruppe aufzubauen. Es gab eine Befehlskette und verschiedene Dienstgrade, darunter Offiziere; es gab ein Logistiknetzwerk und Kommunikationswege in die Außenwelt. Und all das blieb beinahe zwei Jahre lang von den SS-Wachen unbemerkt. Pileckis wichtigstes Anliegen war es, einen umfassenden Aufstand innerhalb des Lagers zu schüren. Mit Unterstützung und Koordination von der Außenwelt glaubte er, einen Ausbruch anzetteln zu können – die unterbesetzten SS-Wachen sollten überrannt werden, damit Zehntausende hochqualifizierte polnische Guerillakämpfer in die Wildnis entkommen konnten. Seine Pläne und Berichte schickte er nach Warschau. Monat um Monat wartete er. Monat um Monat überlebte er.

Dann aber kamen die Juden. Zunächst in Bussen. Dann in Zugwaggons gepfercht. Bald schon kamen Zehntausende von ihnen, ein nicht versiegender Strom von Menschen, der sich in ein Meer aus Tod und Verzweiflung ergoss. Allen Familienbesitztümern, aller Würde beraubt, traten sie in Reih und Glied den Gang in die kürzlich umgebauten »Duschbaracken« an, wo sie vergast und ihre Körper verbrannt wurden.

Pileckis Berichte nach Draußen klangen immer entsetzter: Sie bringen hier täglich unzählige Menschen um. Überwiegend Juden. Die Zahl der Todesopfer könnte womöglich in die Millionen gehen. Er flehte die Geheime Polnische Armee an, das Lager sofort zu befreien. Wenn ihr das Lager nicht befreien könnt, ließ er wissen, dann werft wenigstens Bomben ab. Um Himmels Willen, zerstört zumindest die Gaskammern. Wenigstens das.

Die Geheime Polnische Armee erhielt zwar seine Nachrichten, dachte aber, er würde übertreiben. Selbst in den letzten Winkeln ihres Vorstellungsvermögens konnten sie sich nicht ausmalen, dass die Dinge derart beschissen standen. Nicht im Entferntesten.

Pilecki war der erste Mensch, der die Welt vor den Gräueln des Holocausts warnte. Seine Informationen wurden unter den verschiedenen Widerstandsgruppen Polens weitergereicht, bis hin zur polnischen Exilregierung in Großbritannien, die die Berichte wiederum ans Hauptquartier der Alliierten in London weitergaben. Die Informationen gelangten bis in die Hände von Eisenhower und Churchill.

Auch sie kamen zu dem Schluss, dass Pilecki übertreiben musste.

1943 begriff Pilecki, dass seine Pläne für einen Aufstand und einen Lager-ausbruch niemals Wirklichkeit werden würden: Die Geheime Polnische Armee würde ihnen nicht zu Hilfe kommen. Ebenso wenig die Amerikaner und die Briten. Aller Wahrscheinlichkeit nach würden es die Sowjets sein, die nach Auschwitz kamen – und das würde die Dinge nur noch schlimmer machen. Pilecki beschloss, dass es zu gefährlich war, weiterhin im Lager zu bleiben. Es war an der Zeit zu fliehen.

Bei ihm sah das natürlich alles ganz einfach aus. Zunächst täuschte er eine Krankheit vor und ließ sich auf die Krankenstation des Lagers bringen. Dort log er die Ärzte an, als man ihn fragte, zu welcher Arbeitstruppe er zurückkehren musste: Er behauptete, er sei der Nachtschicht in der Bäckerei zugeteilt, die am Rande des Lagers lag, in der Nähe eines Flusses. Als die Ärzte ihn entließen, ging er direkt zur Bäckerei, wo er bis zwei Uhr morgens arbeitete, bis die letzten Brote gebacken waren. Dann musste er nur noch das Telefonkabel durchschneiden, die Hintertür geräuschlos aufbrechen, Zivilkleidung anziehen, ohne dass die SS-Wachen es bemerkten, die anderthalb Kilometer bis zum Fluss rennen, während man auf ihn schoss, und dann, den Sternen folgend, den Weg zurück in die Zivilisation finden.

Vieles in unserer heutigen Welt scheint komplett beschissen zu sein. Natürlich nicht auf einem Nazi-Holocaust-Niveau (nicht einmal annähernd), aber nichtsdestotrotz ziemlich beschissen.

Geschichten wie die von Pilecki inspirieren uns. Sie schenken uns Hoffnung. Sie lassen uns denken: »Ja, verdammt, damals war die Welt wesentlich schlimmer dran, und dieser Typ hat den ganzen Scheiß überstanden. Er stand über dem ganzen Scheiß. Was habe ich denn in letzter Zeit erreicht?« Zumindest ist das wohl die Frage, die wir uns im Zeitalter von Couchgelümmel, Twittergetöse und Empörungspornos stellen sollten. Wenn wir den Blick aufs große Ganze richten und die Dinge im Zusammenhang betrachten, erkennen wir, dass wir jammern, wenn die Klimaanlage ausfällt, und uns auch sonst über jeden Fliegendreck aufregen, während Helden wie Pilecki sich anschicken, die Welt zu retten.

Die Geschichte von Pilecki ist die größte Heldengeschichte, über die ich im Laufe meines Lebens gestolpert bin. Weil Heldentum eben nicht nur Tapferkeit, Schneid oder gewitzte Manöver erfordert. Diese Eigenschaften sind häufig zu finden, und oft werden sie für Taten genutzt, die wenig heroisch sind. Nein, heroisch ist vielmehr, wer die Fähigkeit hat, Hoffnung zu entfachen, wo es keine Hoffnung gibt. Wer ein Streichholz zu entzünden vermag, um Licht in die Finsternis zu bringen. Wer uns die Möglichkeit einer besseren Welt aufzuzeigen vermag – keine bessere Welt, von der wir wollen, dass sie existiert, sondern eine bessere Welt, von der wir gar nicht ahnten, dass sie existieren könnte. Heroisch ist, wer eine Situation, in der alles absolut beschissen scheint, irgendwie noch zum Guten wenden kann.

Tapferkeit ist gewöhnlich. Widerstandsfähigkeit ist gewöhnlich. Heldentum indes hat eine philosophische Qualität. Helden tragen ein großes »Wozu?« in sich – einen schier unglaublichen Grund oder einen unerschütterlichen Glauben, der sie antreibt. Und deswegen sind wir, ist unsere Kultur heute so verzweifelt auf der Suche nach einem Helden: Nicht unbedingt, weil alles so schlimm ist, sondern weil wir dieses klare, deutliche »Wozu?« verloren haben, das den Generationen vor uns Antrieb war.

Als Kulturgemeinschaft sind wir nicht auf der Suche nach Frieden, Wohlstand oder neuen Verzierungen für die Motorhauben unserer Elektroautos. All das haben wir bereits. Als Kulturgemeinschaft sind wir auf der Suche nach etwas, das viel prekärer ist. Wir sind eine Kultur und ein Volk, das Hoffnung braucht.

Auch nachdem er jahrelang Zeuge von Krieg, Folter, Tod und Genozid gewesen war, verlor Pilecki nie die Hoffnung. Er verlor sein Land, seine Familie, seine Freunde und beinahe sein eigenes Leben, aber nie verlor er die Hoffnung. Selbst nach dem Krieg, unter dem Joch der sowjetischen Herrschaft, verlor er nie die Hoffnung auf ein freies und unabhängiges Polen. Er verlor nie die Hoffnung, dass seine Kinder ein friedliches, glückliches Leben führen würden. Er verlor nie die Hoffnung, dass er noch ein paar mehr Leben würde retten können, ein paar mehr Menschen würde helfen können.

Nach dem Krieg kehrte Pilecki nach Warschau zurück und setzte seine Spionagetätigkeit fort. Diesmal richtete sich seine Arbeit gegen die Kommunistische Partei, die dort gerade erst an die Macht gekommen war. Wieder war er der Erste, der den Westen über sich zutragende Ungerechtigkeiten in Kenntnis setzte – in diesem Falle informierte er darüber, dass die Sowjets die polnische Regierung infiltriert und die Wahlen manipuliert hatten. Er war später auch der Erste, der die Gräuel dokumentierte, die während des Krieges durch die Sowjets im Osten verübt worden waren.

Dieses Mal aber wurde er enttarnt. Er war gewarnt worden, dass seine Verhaftung kurz bevorstand, und hätte die Gelegenheit gehabt, nach Italien zu fliehen. Pilecki aber lehnte ab – er wollte lieber bleiben und als Pole sterben, als davonzurennen und als etwas zu leben, das er selbst nicht erkannt hätte. Ein freies und unabhängiges Polen war zu diesem Zeitpunkt das Einzige, worauf er seine Hoffnung richtete. Ohne dieses Polen war er nichts und niemand.

Und so war es seine Hoffnung, die ihm letztlich zum Verhängnis wurde. 1947 verhafteten die Kommunisten Pilecki, und sie ließen keine Gnade walten. Fast ein Jahr lang folterten sie ihn, so derbe und unnachgiebig, dass er seiner Frau sagte, dass »Auschwitz im Vergleich nur eine Lappalie« gewesen sei.

Dennoch kooperierte er nie mit den Kommunisten.

Schließlich, nachdem sie einsehen mussten, dass sie keine Informationen aus ihm würden herauspressen können, beschlossen die Kommunisten, an seinem Beispiel ein Exempel zu statuieren. 1948 fand ein Schauprozess gegen ihn statt. Pilecki war aller erdenklichen Vergehen angeklagt, vom Fälschen von Dokumenten und dem Missachten von Ausgangssperren bis zur Ausübung von Spionage und Landesverrat. Einen Monat später wurde er für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Am letzten Tag der Verhandlung gestattete man Pilecki zu sprechen. Er gab zu Protokoll, dass seine Loyalität immer Polen und dem polnischen Volk gegolten hatte, dass er keinen polnischen Staatsbürger je betrogen oder sonst wie Schaden zugefügt habe und dass er nichts zu bereuen habe. Er schloss seine Erklärung mit den Worten: »Ich habe versucht, mein Leben so zu leben, dass ich in der Stunde des Todes keine Angst, sondern Freude verspüren würde.«

Und wenn das nicht das Abgefahrenste ist, was du je gehört hast, dann lass mich bitte wissen, auf was für Drogen du bist. Ich frage für einen Freund …

Wie kann ich Ihnen helfen?

Würde ich bei Starbucks arbeiten, dann würde ich statt der Namen der Leute das Folgende auf ihre Kaffeebecher schreiben:

Eines Tages wirst du und werden alle, die du liebst, sterben. Und von einer kleinen Gruppe von Menschen und einer extrem kurzen Zeitspanne einmal abgesehen, wird wenig von dem, was du sagst und tust jemals eine Bedeutung haben. Das ist die unbequeme Wahrheit des Lebens. Und alles, was du denkst oder tust, ist nichts weiter als eine kunstvolle Ausblendung dieser Tatsache. Wir sind kosmische Partikel ohne Bedeutung und wandern auf einem winzigen blauen Staubkorn umher. Wir stellen uns unsere eigene Bedeutung nur vor. Wir erfinden unsere Bestimmung – wir sind nichts.

Genieße deinen verdammten Kaffee.

Natürlich müsste ich das in wirklich kleinen Buchstaben schreiben. Und es würde ein Weilchen dauern, was bedeutet, dass die Schlange der morgendlichen Rushhour-Kundschaft bis raus auf die Straße reichen würde. Nicht unbedingt kundenfreundlich. Das ist vermutlich nur einer der Gründe, warum ich als Angestellter nichts tauge.

Aber mal im Ernst: Wie kann man jemandem guten Gewissens sagen, er solle »einen schönen Tag« haben, wenn man weiß, dass all seine Gedanken und Motivationen dem niemals endenden Bedürfnis entspringen, der Bedeutungslosigkeit zu entgehen, die der menschlichen Existenz nun einmal innewohnt?

Denn in der unendlichen Ausdehnung von Raum und Zeit ist es dem Universum egal, ob alles gut läuft, wenn deiner Mutter eine künstliche Hüfte eingesetzt wird, deine Kinder ihr Studium beginnen oder dein Chef denkt, dass deine Excel-Tabelle rockt. Dem Universum ist es egal, wer die nächste Bundestagswahl gewinnt oder der nächste US-Präsident wird. Es schert sich einen Dreck darum, ob (wieder einmal) ein Promi wild masturbierend und Kokain schniefend auf einer Flughafentoilette erwischt wird. Dem Universum ist es egal, ob Wälder brennen, Polkappen schmelzen, der Meeresspiegel steigt, die Luft brennt oder wir alle von einer überlegenen Rasse Außerirdischer ausgelöscht werden.

Aber dir ist es nicht egal.

Dir macht es etwas aus, und weil das so ist, versuchst du, dich verzweifelt davon zu überzeugen, dass hinter all dem eine große kosmische Bedeutung steckt.

Dir macht das etwas aus, weil du tief in deinem Innern das Bedürfnis hast, dieses Gefühl von Bedeutsamkeit zu spüren, um dich der unbequemen Wahrheit, der Unbegreifbarkeit deiner Existenz nicht stellen zu müssen, um nicht vom Gewicht deiner eigenen körperhaften Bedeutungslosigkeit erdrückt zu werden. Und du – genau wie ich, genau wie jeder andere – projizierst dann dieses imaginierte Gefühl von Bedeutsamkeit auf die Welt um dich herum, weil dir das Hoffnung gibt.

Es ist noch zu früh für diese Unterhaltung? Na, dann nimm dir doch noch einen Becher Kaffee. Ich habe dir sogar einen Zwinker-Smiley aus Milchschaum gezaubert. Niedlich, oder? Ich warte, während du das Foto davon auf Instagram postest.

Okay, wo waren wir stehengeblieben? Ach ja! Die Unbegreiflichkeit deiner Existenz – richtig. Jetzt denkst du dir womöglich: »Junge, ich glaube daran, dass wir alle aus einem Grund hier sind; nichts ist Zufall und jeder Mensch zählt, denn alles, was wir tun, hat Auswirkungen auf irgendjemanden, und wenn wir nur einem Menschen helfen können, dann ist es die ganze Sache doch wert, oder etwa nicht?«

Na, du bist mir ja wirklich ein Goldstück!

Aber du musst verstehen: Das ist die Hoffnung, die aus dir spricht. Das ist eine Geschichte, die sich dein Verstand zusammenstrickt, damit es sich lohnt, morgens aufzustehen. Irgendetwas muss von Bedeutung sein, denn wenn alles bedeutungslos ist, dann gibt es keinen Grund weiterzuleben. Und schlichter Altruismus oder ein Abmildern von Leid ist stets die erste Zuflucht unseres Verstandes, um uns das Gefühl zu geben, dass es Sinn hat, überhaupt etwas zu tun.

Unsere Psyche braucht Hoffnung, um zu überleben, so wie ein Fisch das Wasser braucht. Hoffnung ist der Treibstoff unseres mentalen Motors. Sie ist die Butter auf unserem Brot. Sie ist eine Menge zuckriger Metaphern. Ohne Hoffnung würde dein kompletter Geistesapparat brachliegen oder verhungern. Wenn wir nicht glauben, dass es Grund zu hoffen gibt, dass die Zukunft besser sein wird als die Gegenwart, dass sich unser Leben in irgendeiner Weise zum Besseren wenden wird, dann verenden wir geistig. Denn wenn es keine Hoffnung gibt, dass die Dinge jemals besser werden, warum sollten wir dann leben – warum sollten wir überhaupt etwas tun?

Was eine Menge Leute nicht verstehen: Das Gegenteil von Glück ist nicht Wut oder Traurigkeit.1 Wer wütend oder traurig ist, der schert sich noch um irgendetwas. Das heißt, dass es noch Dinge gibt, die von Bedeutung sind. Das heißt, dass man noch Hoffnung hat.2

Nein, das Gegenteil von Glück ist Hoffnungslosigkeit, ein endloser grauer Horizont der Resignation und Gleichgültigkeit.3 Es ist die Überzeugung, dass alles im Arsch ist – und warum sollte man dann überhaupt noch etwas tun?

Hoffnungslosigkeit ist kalter, nackter Nihilismus, das Gefühl, dass nichts mehr einen Sinn ergibt. Drauf geschissen, also – warum sollte man nicht mit einer Schere durch die Gegend rennen, die Frau des Chefs ficken oder in einer Schule um sich ballern? Das ist die unbequeme Wahrheit, die stille Erkenntnis, dass sich im Angesicht der Unendlichkeit alles, was uns irgendetwas bedeuten könnte, zügig dem Nullwert annähert.

Hoffnungslosigkeit ist die Wurzel von Angstzuständen und psychischen Erkrankungen wie Depression. Sie ist der Ursprung allen Leids und der Grund für alle Suchterkrankungen.

Das ist keine Übertreibung.4 Chronische Angstzustände sind eine Krise der Hoffnung. Sie sind die Furcht vor einer gescheiterten Zukunft. Depressionen sind eine Krise der Hoffnung. Sie sind der Glaube daran, dass die Zukunft bedeutungslos ist. Wahnvorstellungen, Suchterkrankungen, Zwangsvorstellungen – das alles sind verzweifelte und eben zwanghafte Versuche unseres Verstandes, durch neurotische Ticks oder obsessiven Suchtdruck Hoffnung zu generieren.5

Die Vermeidung von Hoffnungslosigkeit – also die Erschaffung von Hoffnung – wird dann zum vorrangigen Unterfangen unseres Verstandes. Jedwede Sinngebung, alles, was wir im Hinblick auf unser Selbst und die Welt verstehen, ist ein Konstrukt, das wir errichten, um die Hoffnung zu wahren. Demzufolge ist Hoffnung das Einzige, für das jeder von uns bereitwillig sterben würde. Hoffnung ist das, was wir für größer als uns selbst erachten. Ohne Hoffnung geben wir uns verloren.

Als ich Student war, starb mein Großvater. Ein paar Jahre lang hatte ich danach dieses intensive Bedürfnis, dass ich mein Leben so gestalten müsste, dass es ihn stolz gemacht hätte. Auf einer tieferen Ebene meines Bewusstseins fühlte sich das vernünftig und naheliegend an, aber das war es nicht. Tastsächlich ergab es logisch betrachtet überhaupt keinen Sinn. Ich hatte kein enges Verhältnis zu meinem Großvater gehabt. Wir haben nie miteinander telefoniert. Wir haben auch sonst nicht korrespondiert. In den letzten fünf Jahren seines Lebens hatte ich ihn nicht einmal gesehen.

Und davon abgesehen: Er war tot. Welchen Nutzen hatte es, so zu leben, »dass er stolz gewesen wäre«?

Sein Tod führte dazu, dass ich mit jener unbequemen Wahrheit in Berührung kam. Also fing mein Verstand an zu arbeiten, versuchte die Situation zu nutzen, um Hoffnung zu erschaffen, um mich aufrecht- und meinen Nihilismus in Zaum zu halten. Mein Verstand beschloss, dass es angebracht sei, mein Hoffen und Streben dem Andenken meines Großvaters zu widmen, da er selbst nun seiner Fähigkeit zu hoffen und zu streben beraubt war. Das war ein Glaube in Taschengröße, den mein Verstand mir zurechtlegte, meine eigene persönliche Minireligion, die mir eine Bestimmung gab.

Und es funktionierte! Eine Zeitlang verlieh sein Tod eigentlich banalen, bedeutungslosen Erfahrungen Gewicht und Bedeutung. Und diese Bedeutung gab mir Hoffnung. Du hast möglicherweise Ähnliches verspürt, wenn du jemanden verloren hast, der dir nahestand. Es ist ein ganz normales Gefühl. Man sagt sich selbst, dass man von nun an so leben möchte, dass es den geliebten Menschen stolz gemacht hätte. Man redet sich ein, dass man das eigene Leben nutzen wird, um das Leben des Verstorbenen zu feiern. Man redet sich ein, dass das eine wichtige und gute Sache sei.

Und diese »gute Sache« ist es, die uns in solchen Zeiten existenzieller Erschütterung aufrechterhalten kann. Ich lief durch die Welt und stellte mir vor, dass mein Großvater mir folgen würde, wie ein sehr neugieriger Geist, der mir immerzu über die Schulter schaute. Dieser Mann, den ich kaum gekannt hatte, als er noch lebte, machte sich nun aus irgendwelchen Gründen große Sorgen darum, wie ich in meinen Matheklausuren abschnitt. Es war völlig irrational.

Unsere Psychen konstruieren solche kleinen Narrative immer dann, wenn sie mit Widrigkeiten konfrontiert sind – diese Vorher/Nachher-Geschichten, die wir um unser selbst willen erfinden. Und uns bleibt keine Wahl, als diese Hoffnungsnarrative lebendig zu halten, zu jeder Zeit, selbst wenn sie sich unvernünftig oder destruktiv auswirken, denn sie sind die einzig stabilisierende Kraft, die unseren Verstand vor der unbequemen Wahrheit schützt.

Diese Hoffnungsnarrative sind dann das, was unseren Leben ein Gefühl der Sinnhaftigkeit gibt. Sie implizieren nicht nur, dass die Zukunft Besseres für uns bereithält, sondern auch, dass es tatsächlich möglich ist, in die Welt hinauszugehen und dieses Bessere greifen zu können. Wenn jemand immerzu schwadroniert, er wolle seine »Bestimmung« finden, dann sagt er damit in Wirklichkeit, dass ihm nicht mehr klar ist, was zählt und womit er seine Zeit hier auf Erden sinnvoll verbringen kann6 – kurzum: worauf er noch hoffen kann. Es fällt ihm schwer zu erkennen, wie das Vorher/Nachher seines eigenen Lebens aussehen soll.

Das ist der schwierige Teil: eine Vorstellung vom eigenen Vorher/Nachher zu erlangen. Es ist deshalb so schwierig, weil es unmöglich ist, jemals mit Bestimmtheit zu wissen, ob man es richtig gemacht hat. Das ist auch der Grund, warum es die Menschen in Scharen in die Arme der Religionen zieht, denn Religionen erkennen diesen fortwährenden Zustand der Ungewissheit an und fordern angesichts dessen, dass wir glauben. Das ist vermutlich auch der Grund, warum religiöse Menschen viel seltener an Depressionen leiden oder Selbstmord begehen als nichtreligiöse Menschen: Der gelebte Glaube schützt sie vor der unbequemen Wahrheit.7

Aber Ihre Hoffnungsnarrative müssen nicht religiöser Art sein. Sie können alle möglichen Formen haben. Dieses Buch hier ist mein kleiner Quell der Hoffnung. Es gibt mir eine Bestimmung; es gibt mir Sinn. Und das Narrativ, das ich um diese Hoffnung herum errichtet habe, ist mein Glaube, dass dieses Buch vielleicht manch einem hilft, dass es sowohl mein eigenes Leben als auch die Welt insgesamt ein klein wenig besser macht.

Weiß ich das mit Gewissheit? Nein. Aber es ist meine kleine Vorher-/Nachher-Geschichte, und ich halte daran fest. Sie hilft mir, morgens aus dem Bett zu kommen und mich am Leben zu begeistern. Und das ist nicht nur keine schlechte Sache, es ist die Sache schlechthin.

Für manche Menschen ist die Vorher/Nachher-Geschichte das erfolgreiche Erziehen der eigenen Kinder. Für andere ist es der Schutz unserer Umwelt. Wieder andere wollen unanständig viel Geld scheffeln und ein riesiges Boot haben. Und dann gibt es Menschen, die einfach nur ihr Handicap beim Golf verbessern wollen.

Ob es uns bewusst ist oder nicht, wir alle haben solche Narrative, an die wir glauben, aus welchen Gründen auch immer. Es ist unerheblich, ob unser Weg zur Hoffnung gepflastert ist mit religiöser Überzeugung oder evidenzbasierter Theorie, mit Intuition oder wohldurchdachten Argumenten – letztendlich führt er immer zum selben Ziel: Wir haben einen Glauben, der besagt, dass es erstens Raum für Wachstum, Verbesserung oder Erlösung in der Zukunft gibt, und dass es zweitens möglich ist, dass wir diese Ziele erreichen. Das war’s. Tag für Tag, Jahr für Jahr zimmern wir uns ein Leben aus diesen sich endlos überlappenden Hoffnungsnarrativen. Sie sind die psychologische Möhre, die an einem Stock vor der Nase des Esels baumelt.

Wem das alles zu nihilistisch klingt, der möge mich bitte nicht falsch verstehen. Dieses Buch ist keine Streitschrift für den Nihilismus. Es ist ein Plädoyer gegen den Nihilismus – sowohl gegen den Nihilismus in uns als auch gegen das zunehmende Gefühl des Nihilismus, das mit der modernen Gesellschaft einherzugehen scheint.8 Und um den Nihilismus erfolgreich zu bekämpfen, muss man beim Nihilismus ansetzen. Man muss mit der unbequemen Wahrheit beginnen. Von dort aus muss man allmählich eine überzeugende Argumentation für die Hoffnung aufbauen. Und nicht etwa für irgendeine Form der Hoffnung, sondern für eine nachhaltige, wohlwollende Art der Hoffnung. Eine Hoffnung, die uns einander näherbringt, statt uns zu spalten. Eine Hoffnung, die robust und wirkmächtig, aber auch vernunftbasiert und realistisch ist. Eine Hoffnung, die uns bis ans Ende unserer Tage tragen kann und uns ein Gefühl von Dankbarkeit und Zufriedenheit gibt.

Das lässt sich gar nicht so leicht verwirklichen (natürlich nicht). Und im 21. Jahrhundert ist es wohl schwieriger als je zuvor. Nihilismus und der reine Genuss des Begehrens, der mit ihm einhergeht, haben die moderne Welt fest im Griff. Das ist Macht um der Macht willen. Erfolg um des Erfolgs willen. Lust um der Lust willen. Der Nihilismus kennt kein übergeordnetes »Wozu?«. Dem Nihilismus haftet keine größere Wahrheit, kein Zweck an. Er ist ganz einfach nur ein »weil es sich gut anfühlt«. Und gerade weil das so ist, erscheint einem alles so schlimm, wie wir noch sehen werden.

Das Fortschrittsparadoxon

Wir leben in einer interessanten Zeit, in der es uns aus materieller Sicht vermutlich besser geht als je zuvor, aber trotzdem scheinen wir alle den Verstand zu verlieren und sehen die Welt als eine einzige, riesige Kloschüssel, über der bald jemand die Spülung zieht. Ein irrationales Gefühl der Hoffnungslosigkeit verbreitet sich quer durch alle reichen, entwickelten Länder. Das ist ein Paradoxon des Fortschritts: Je besser die Dinge stehen, desto ängstlicher und verzweifelter scheinen wir uns zu fühlen.9

In den letzten Jahren haben Autoren wie Steven Pinker und Hans Rosling die These vertreten, dass der um sich greifende Pessimismus nicht angezeigt ist, dass die Dinge in Wirklichkeit besser stehen als je zuvor und dass es vermutlich sogar noch besser wird.10 Beide Autoren haben dicke, schwere Bücher mit Tabellen und Graphen gefüllt, die links unten beginnen und irgendwie jedes Mal wieder rechts oben zu enden scheinen.11 Beide haben ausführlich Befangenheiten und Fehlannahmen geschildert, denen wir alle aufsitzen und die dazu führen, dass uns die Dinge viel schlimmer vorkommen, als sie es in Wirklichkeit sind. Der Fortschritt, so argumentieren sie, hat während der ganzen Geschichte der Moderne nie Halt gemacht. Die Leute sind gebildeter und belesener als je zuvor.12 Die Gewalt nimmt seit Jahren, womöglich gar seit Jahrhunderten ab.13 Rassismus, Sexismus, Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen sind so selten wie nie seit Anbeginn der Geschichtsaufzeichnungen.14 Wir haben mehr Rechte als jemals zuvor.15 Die Hälfte der Weltbevölkerung hat Zugang zum Internet.16 Extreme Armut ist weltweit auf einem historischen Tiefstand.17 Kriege werden in kleinerem Ausmaß und seltener geführt als je zuvor seit Beginn der Menschheitsgeschichte.18 Die Kindersterblichkeit sinkt und die Menschen leben immer länger.19 Es gibt mehr Wohlstand als je zuvor.20 Alter, wir haben ’ne Menge Krankheiten und so’n Scheiß besiegt.21

Und sie haben recht: Es ist wichtig, dass wir diese Fakten kennen. Aber diese Bücher zu lesen, ist auch ein wenig so, als würde man Onkel Erwin nörgeln hören, dass die Welt viel schlimmer war, als er damals in unserem Alter war. Auch wenn er recht hat, trägt das nicht unbedingt dazu bei, dass einem die eigenen Probleme weniger schlimm vorkommen.

Denn trotz all der guten Nachrichten, die uns heute erreichen, gibt es ein paar weitere überraschende Statistiken: Symptome von Depression und Angst-zuständen nehmen in den USA unter jungen Menschen seit acht Jahren und unter Erwachsenen seit zwanzig Jahren zu.22 Mit jeder neuen Generation steigt nicht nur die Zahl der Menschen, die unter Depressionen leiden, sondern es sinkt auch das Durchschnittsalter, in dem sich Depressionen erstmals bemerkbar machen.23 Seit 1985 sinkt die empfundene Lebenszufriedenheit bei Männern und Frauen.24 Einer der Gründe dafür ist vermutlich, dass das durchschnittliche Stresslevel der Menschen in den vergangenen dreißig Jahren angestiegen ist.25 Es gibt mehr Drogentote durch Überdosis als je zuvor, und die Opioid-Krise hat weite Teile der USA und Kanadas verheert.26 Überall in den USA nehmen Gefühle von Einsamkeit und sozialer Isolation zu. Fast die Hälfte aller Amerikaner gibt mittlerweile an, sich isoliert, ausgeschlossen oder allein zu fühlen.27 Innerhalb der entwickelten Länder nimmt zudem das soziale Vertrauen der Menschen rapide ab, was bedeutet, dass weniger Menschen als je zuvor ihrer Regierung, den Medien oder einander vertrauen.28 Als Forscher in den 1980er-Jahren Teilnehmer einer Umfrage angeben ließen, mit wie vielen verschiedenen Menschen sie in den vergangenen sechs Monaten wichtige persönliche Anliegen diskutiert hatten, lautete die häufigste Antwort »drei«. 2006 lautete die häufigste Antwort auf diese Frage »null«.29

Indes ist die Umwelt völlig im Arsch. Irre haben Zugriff auf Atomwaffen oder sind drauf und dran, sich ihn zu verschaffen. Extremismus nimmt weltweit zu – in allen Formen, sowohl von Rechten als auch von Linken, sowohl von Religionsfanatikern als auch von säkularen Menschen. Verschwörungstheoretiker, Bürgerwehren, Endzeitfanatiker und Prepper (eine Ableitung von dem englischen prepare, »sich vorbereiten«, und gemeint ist hier auf die Apokalypse) können sich allesamt über wachsenden Zuspruch freuen, was dazu führt, dass diese Subkulturen fast schon Mainstream sind.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die Menschen niemals in der Weltgeschichte sicherer und in mehr Wohlstand lebten als heute. Aber wir fühlen uns hoffnungsloser als je zuvor. Je besser die Lage wird, desto mehr scheinen wir zu verzweifeln. Das ist das Fortschrittsparadoxon. Und vielleicht lässt es sich anhand einer verblüffenden Tatsache illustrieren: Je wohlhabender und sicherer das Land ist, in dem wir leben, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir Selbstmord begehen.30

Der unglaubliche Fortschritt, den die Menschheit in Sachen Gesundheit, Sicherheit und materiellen Wohlstand im Laufe der letzten Jahrhunderte gemacht hat, lässt sich nicht leugnen. Aber diese Statistiken betrachten die Vergangenheit, nicht die Zukunft. Und nur dort werden wir die Hoffnung finden: in unseren Zukunftsvisionen.

Denn Hoffnung fußt nicht auf Statistiken. Hoffnung schert sich nicht um den Abwärtstrend in den Statistiken über Verkehrstote oder Todesfälle durch Waffengewalt. Sie schert sich nicht darum, dass im Jahr 2017 weltweit kein einziges Passagierflugzeug abstürzte oder dass es in der Mongolei heute eine höhere Alphabetisierungsrate als je zuvor gibt (na gut, Mongolen werden aus dieser Tatsache durchaus Hoffnung schöpfen).31

Die Hoffnung schert sich nicht um Probleme, die bereits gelöst worden sind. Die Hoffnung schaut nur auf die Probleme, die noch gelöst werden müssen. Denn je besser die Welt wird, desto mehr haben wir zu verlieren. Und je mehr wir zu verlieren haben, desto weniger glauben wir, Anlass zur Hoffnung zu haben.

Um Hoffnung zu schöpfen und aufrechtzuerhalten, braucht man drei Dinge: das Gefühl, die Kontrolle zu haben, den Glauben an den Wert von etwas und eine Gemeinschaft.32 »Kontrolle« bedeutet, dass wir das Gefühl haben, dass uns die Kontrolle über unser eigenes Leben obliegt, dass wir Einfluss auf unser Schicksal nehmen können. »Wert« bedeutet, dass wir etwas finden, das uns wichtig genug ist, um darauf zuzuarbeiten, etwas Besseres, nach dem es sich zu streben lohnt. Und »Gemeinschaft« bedeutet, dass wir Teil einer Gruppe sind, die wertschätzt, was wir selbst auch wertschätzen, und die mit uns daran arbeitet, diese Sachen zu erreichen. Ohne Gemeinschaft fühlen wir uns isoliert, und unsere Werte verlieren ihre Bedeutung. Ohne Werte erscheinen all unsere Bestrebungen sinnlos. Und ohne Kontrolle fühlen wir uns außerstande, nach etwas zu streben. Kontrolle, Werte und Gemeinschaft gehören zusammen – wenn wir einen dieser drei Faktoren verlieren, verlieren wir auch die anderen beiden. Wenn wir einen dieser drei Faktoren verlieren, verlieren wir die Hoffnung.

Um zu verstehen, warum wir heute eine Krise der Hoffnung erleben, müssen wir die Mechanismen der Hoffnung verstehen, wie sie generiert und aufrechterhalten wird. Die folgenden drei Kapitel widmen sich der Frage, wie wir diese drei Lebensbereiche entwickeln: unser Kontrollgefühl (Kapitel 2), unsere Werte (Kapitel 3) und unsere Gemeinschaften (Kapitel 4).

Anschließend kehren wir wieder zurück zur Ausgangsfrage: Was geht in der Welt vor, das dazu führt, dass wir uns schlechter fühlen, obwohl alles immer besser wird?

Die Antwort könnte dich überraschen.

KAPITEL 2

Selbstbeherrschung ist eine Illusion

Alles begann mit Kopfschmerzen.1

»Elliot« war ein erfolgreicher Mann, Manager bei einem erfolgreichen Unternehmen. Bei Kollegen und Nachbarn war er beliebt. Er konnte charmant und entwaffnend witzig sein. Er war Ehemann und Vater und Freund und machte zünftigen Strandurlaub.

Nur hatte er Kopfweh, und zwar regelmäßig. Und zwar nicht handelsübliches Kopfweh, das nach Aspirin verlangt, und gut ist. Es waren geistzermalmende, schlagbohrende Kopfschmerzen, ähnlich einem Abrissbagger, der von innen gegen die Augenhöhlen rammt.

Elliot nahm Medikamente. Er machte Nickerchen. Er versuchte, Stress abzubauen, zu entspannen, zu relaxen, zu verdrängen und sich zusammenzureißen. Aber das Kopfweh ging nicht weg. Es wurde sogar schlimmer. Bald war es so schlimm, dass Elliot nachts nicht schlafen und tags nicht arbeiten konnte.

Endlich ging er zum Arzt. Der Arzt machte Ärztekram, führte Ärztetests durch, bekam die Ergebnisse und hatte am Ende eine schlechte Nachricht: Elliot hatte einen Hirntumor, mitten auf dem Stirnlappen. Genau da. Sehen Sie? Der graue Fleck da vorne. Und Mann, ist der groß. Baseballgroß, würde ich sagen.

Der Chirurg schnitt den Tumor heraus, und Elliot kehrte nach Hause zurück. Kehrte zur Arbeit zurück. Kehrte zurück in den Familien- und Freundeskreis. Alles schien in Ordnung und normal zu sein.

Dann ging alles entsetzlich schief.

Elliots Arbeitsleistung litt. Aufgaben, die er früher mit links erledigt hatte, erforderten auf einmal Berge an Konzentration und Anstrengung. Einfache Entscheidungen, beispielsweise ob er einen blauen oder schwarzen Stift benutzen sollte, beschäftigten ihn stundenlang. Er machte simple Fehler und ließ sie wochenlang unbehoben. Er wurde zu einem schwarzen Loch für Termine, verpasste Besprechungen und Abgabetermine, als wären sie eine Zumutung für den Zusammenhalt von Raum und Zeit.

Zunächst tat er seinen Kollegen leid, und sie hielten ihm den Rücken frei. Schließlich hatte der Kerl gerade einen Tumor vom Umfang einer kleinen Müslischüssel aus dem Kopf geschnitten bekommen. Aber dann wurden ihnen das Rückenfreihalten zu viel und Elliots Ausreden zu absurd. Du hast ein Investorengepräch verpasst, weil du einen neuen Tacker gekauft hast? Elliot? Geht’s noch? Was hast du dir dabei gedacht?2

Nach Monaten voller verpasster Termine und anderem Mist war es nicht mehr abzustreiten: Elliot hatte bei der OP neben dem Tumor noch etwas eingebüßt, und in den Augen der Kollegen war dieses Etwas ein Riesenhaufen firmeneigenes Geld. Also wurde Elliot gefeuert.

Währenddessen ging es zu Hause nicht viel besser. Man nehme einen schluffigen Vater, verpflanze ihn aufs Sofa, besprenkle ihn mit Familienduell-Wiederholungen und backe ihn rund um die Uhr bei 180 Grad. Das war Elliots neues Leben. Er verpasste die Baseballspiele seines Sohnes. Er ging nicht zum Elternabend, weil im Fernsehen James Bond lief. Er vergaß, dass seine Frau es ganz gern hatte, wenn er mehr als einmal in der Woche mit ihr sprach.

Ehestreitigkeiten brachen an neuen und unerwarteten Frontlinien aus – allerdings konnte man sie kaum Streitigkeiten nennen. Für Streitigkeiten ist es nötig, dass zwei Menschen einen Standpunkt haben. Aber wenn seine Frau vor Wut kochte, konnte Elliot kaum folgen. Statt eifrig Änderungen oder Besserungen vorzunehmen und damit seine Liebe und Fürsorge für die Seinen zu zeigen, blieb er abwesend und gleichgültig. Es war, als lebte er auf einem anderen Planeten.

Irgendwann hielt es seine Frau nicht mehr aus. Elliot hätte man außer dem Tumor noch etwas anderes entfernt, schimpfte sie. Und dieses Etwas wäre sein verdammtes Herz gewesen. Sie ließ sich scheiden und nahm die Kinder mit. Und Elliot war allein.

Entmutigt und verwirrt suchte Elliot nun nach einem beruflichen Neuanfang. Er ließ sich zu mehreren üblen Geschäftsideen überreden. Ein Betrüger brachte ihn um einen Großteil seiner Ersparnisse. Eine gewiefte Frau verführte ihn, zerrte ihn vor den Traualtar, ließ sich ein Jahr später scheiden und sicherte sich die Hälfte seines Vermögens. Er gammelte herum, zog in immer billigere und schäbigere Wohnungen, bis er am Ende praktisch obdachlos war. Sein Bruder nahm ihn auf und begann, ihn zu unterstützen. Freunde und Familienmitglieder mussten fassungslos mitansehen, wie ein Mensch, den sie einst bewundert hatten, innerhalb weniger Jahre sein Leben wegwarf. Niemand konnte sich einen Reim darauf machen. Zweifellos hatte sich in Elliots Innern etwas verändert; das lähmende Kopfweh hatte mehr als Schmerzen verursacht.

Die Frage war: Was war anders?

Elliots Bruder brachte ihn von einem Arzttermin zum nächsten. »Er ist nicht mehr er selbst«, sagte der Bruder. »Er hat ein Problem. Er wirkt normal, aber er ist es nicht. Glauben Sie mir.«

Die Ärzte machten ihren Ärztekram und erhielten Ergebnisse und stellten leider fest, dass Elliot vollkommen normal war – zumindest nach ihrer Definition von normal –, ja, er war sogar überdurchschnittlich normal. Die Tomografien sahen gut aus. Sein IQ war immer noch hoch, sein Denkvermögen solide, sein Gedächtnis hervorragend. Er konnte die Aus- und Nachwirkungen seiner Fehlentscheidungen ausgiebig erörtern und sich humorvoll und charmant über allerlei Themen unterhalten. Sein Psychiater fand, dass Elliot nicht depressiv sei. Im Gegenteil, er hatte ein starkes Selbstbewusstsein und keinerlei Anzeichen von Stress oder Angststörungen. Im Auge des Hurrikans, den er selbst durch Nachlässigkeit bewirkt hatte, stellte er fast schon Zen-hafte Gelassenheit zur Schau.

Sein Bruder gab sich nicht zufrieden. Da stimmte doch etwas nicht. Irgendwas fehlte Elliot.

Schließlich wurde Elliot mangels Alternative an einen berühmten Neurologen namens António Damásio verwiesen.

Zuerst machte António Damásio den gleichen Kram wie die anderen Ärzte: Er unterwarf Elliot einer Reihe von kognitiven Tests. Gedächtnis, Reflexe, Intelligenz, Persönlichkeit, Raumwahrnehmung, Moralempfinden – alles passte. Elliot bestand mit Bravour.

Dann machte Damasio etwas mit Elliot, auf das bisher kein anderer Mediziner gekommen war: Er sprach mit ihm – also so richtig. Er wollte alles wissen: jeden Fehltritt, jeden Irrtum, jeden Missgriff. Wie hatte er seinen Job verloren, seine Familie, sein Haus, sein Erspartes? Damásio wollte alles wissen, Schritt für Schritt jede Entscheidung erläutert haben, den ganzen Denkprozess verstehen (oder in diesem Fall eher den fehlenden Denkprozess).

Elliot konnte ausführlich erklären, welche Entscheidungen er getroffen hatte, aber nicht warum. Er konnte Fakten und Vorgänge mit großer Eloquenz und sogar einer gewissen Dramatik darlegen, aber sobald er seine Entscheidungsfindung analysieren sollte – warum ihm der Einkauf eines Tackers wichtiger war als ein Treffen mit Investoren, warum er James Bond interessanter fand als sein Kind –, war er aufgeschmissen. Er wusste darauf keine Antwort. Und nicht nur das, es störte ihn auch gar nicht, dass er keine Antwort wusste. Es war ihm schlichtweg egal.

Dieser Mensch hatte also durch eigene Fehlentscheidungen und Irrtümer alles verloren, hatte keinerlei Selbstbeherrschung an den Tag gelegt und war sich seines katastrophalen Scheiterns vollkommen bewusst – und dennoch zeigte er scheinbar keine Reue, keinen Selbsthass, ja nicht die geringste Beschämung. Viele Menschen haben sich durch leichtere Schicksalsschläge zum Selbstmord verleiten lassen. Elliot dagegen fand sein eigenes Missgeschick nicht nur erträglich, es war ihm gleichgültig.

Dies brachte Damásio auf eine brillante Idee: Die psychologischen Tests, die Elliot absolviert hatte, maßen allesamt seine Fähigkeit zu denken, keiner aber hatte seine Fähigkeit zu fühlen gemessen. Die Ärzte waren dermaßen mit Elliots Denkvermögen befasst, dass niemand daran gedacht hatte, dass sein Gefühlsleben beschädigt sein könnte. Und selbst wenn sie es gemerkt hätten, gab es kein standardisiertes Messverfahren für eine solche Schädigung.

Eines Tages druckte ein Kollege von Damásio einen Stapel grotesker und verstörender Bilder aus. Sie zeigten Verbrennungsopfer, grausige Mordszenen, vom Krieg zerrüttete Städte und verhungernde Kinder. Dann zeigte er Elliot die Fotos, eins nach dem anderen.

Elliot blieb völlig gleichgültig. Er verspürte nichts. Und seine Teilnahmslosigkeit war so schockierend, dass er selbst anmerkte, wie beschissen das sei. Er gab zu, dass diese Bilder ihn früher sicherlich verstört hätten, dass sein Herz vor Mitleid und Entsetzen übergeflossen wäre, dass er sich vor Abscheu abgewandt hätte. Aber jetzt? Saß er da, betrachtete die finstersten Perversionen des menschlichen Schicksals – und fühlte nichts.

Und darin lag das Problem, wie Damásio feststellte: Zwar waren Elliots Wissen und Denken intakt geblieben, aber der Tumor und/oder seine chirurgische Entfernung hatten Elliots Fähigkeit zu fühlen und Mitleid zu empfinden verkrüppelt. In seinem Innern gab es kein Hell und kein Dunkel mehr, sondern nur noch einen endlosen, grauen Nebel. Seiner Tochter beim Klavierspielen zuzuschauen, erregte in ihm so viel Glück und Vaterstolz wie der Kauf von neuen Socken. Der Verlust von Millionensummen fühlte sich für ihn genauso an wie Tanken, Wäschewaschen oder Quizshow-Gucken. Er war zu einer wandelnden Gleichgültigkeitsmaschine geworden. Und ohne ebenjene Fähigkeit, Werturteile zu fällen und Gutes von Schlechtem zu unterscheiden, hatte er, so intelligent er sein mochte, seine Selbstbeherrschung verloren.3

Das aber warf eine gewaltige Frage auf: Wenn doch seine kognitiven Fähigkeiten (Intelligenz, Gedächtnisleistung, Konzentration) allesamt perfekt in Form waren – warum konnte Elliot dann keine guten Entscheidungen mehr treffen?

Damásio und seine Kollegen standen auf dem Schlauch. Wir alle haben uns schon einmal gewünscht, keine Gefühle zu haben, denn unsere Gefühle verleiten uns oft zu irgendeinem Bockmist, den wir später bereuen. Jahrhundertelang sahen Psychologen und Philosophen die Lösung aller Lebensprobleme in der Dämpfung oder Unterdrückung unserer Gefühle. Und hier war nun ein Mann, dem jegliche Emotion und Mitgefühl abhandengekommen war, dem nur noch Intelligenz und Vernunft blieben – und sein Leben war rasant zu einem einzigen Scheißhaufen verkommen. Sein Fallbeispiel widersprach allem, was man über rationale Entscheidungsfindung und Selbstbeherrschung zu wissen glaubte.

Aber es gab noch eine zweite, ebenso knifflige Frage: Warum ging bei Elliot, der immer noch blitzgescheit war und jedes Problem durchdenken konnte, die Arbeitsleistung derart steil bergab? Warum war seine Produktivität so spektakulär nutzbringend wie eine brennende Mülltone? Warum hatte er seine Familie praktisch sitzengelassen, obwohl er wusste, was für schlimme Folgen das haben würde? Selbst jemand, dem Ehefrau oder Arbeit scheißegal sind, müsste doch verstehen, dass es trotzdem wichtig ist, sich darum zu kümmern, oder? Das kriegen doch sogar Soziopathen mit der Zeit heraus. Warum kapierte Elliot das nicht? Im Ernst, es kann doch nicht so schwer sein, ab und zu am Rand eines Baseballfelds zu erscheinen. Aber irgendwie hatte Elliot mit der Fähigkeit zu fühlen auch die Fähigkeit sich zu entscheiden eingebüßt. Er hatte die Kontrolle über sein Leben verloren.

Wir alle haben schon mal die Erfahrung gemacht zu wissen, was wir tun sollten, und es dann doch nicht zu tun. Wir alle haben wichtige Erledigungen aufgeschoben, die Bedürfnisse anderer ignoriert und gegen unser eigenes Interesse gehandelt. Und wenn wir Pflichten versäumen, schieben wir es meistens darauf, dass wir unsere Gefühle nicht ausreichend im Griff haben, dass es uns an Disziplin oder an Wissen mangelt.

Aber der Fall Elliot untergrub all diese Annahmen. Er untergrub das ganze Konzept der Selbstbeherrschung, also der Vorstellung, wir könnten uns durch Logik zu sinnvollen Handlungen zwingen, auch wenn unsere Triebe und Emotionen dagegen sprechen.

Um überhaupt Hoffnung im Leben zu haben, müssen wir das Gefühl haben, unser Leben steuern zu können. Wir müssen das Gefühl haben, dass wir aktiv Ziele verfolgen, die wir als gut und richtig erachten, dass wir hinter »etwas Besserem« her sind. Aber viele von uns haben Schwierigkeiten mit fehlender Selbstbeherrschung. Elliots Fall führte schließlich dazu, dass man dieses Problem besser verstand. Ein Mann, der arm, vereinsamt und allein war; ein Mann, der Fotos von zerschundenen Leichen und Erdbebentrümmern anstarrte, die durchaus als Metaphern für sein eigenes Leben taugten; ein Mann, der alles verloren hatte, absolut alles, und doch mit einem Lächeln davon berichtete – ein solcher Mann stellte letztendlich unser ganzes Wissen darüber auf den Kopf, wie der menschliche Geist funktioniert, wie wir Entscheidungen treffen, und wie viel Selbstbeherrschung wir überhaupt haben.

Die klassische Annahme

Einst beantwortete der Musiker Tom Waits die Frage nach seinen Trinkgewohnheiten mit einem hingemurmelten Wortspiel: »I’d rather have a bottle in front of me than a frontal lobotomy.« Dabei war er offenbar sturzbesoffen. Und im Fernsehen.4

Eine Lobotomie ist ein hirnchirurgisches Verfahren, bei dem durch die Nase ein Loch in den Schädel gebohrt wird, durch das man den Stirnlappen mit einem Eispickel durchtrennen kann.5 Die Prozedur wurde 1935 von einem Neurologen namens António Egas Moniz erfunden.6 Egas Moniz stellte fest, dass man bei Menschen mit extremen Angststörungen, suizidaler Depression und anderen seelischen Krankheiten (sprich: Hoffnungskrisen) das Hirn nur auf die richtige Weise häckseln musste, und schon waren sie total gechillt.

Egas Moniz glaubte, dass die Lobotomie, sobald sie perfektioniert wäre, alle Geisteskrankheiten heilen könnte, und mit diesem Versprechen pries er sein Verfahren auch an. Ende der 1940er-Jahre war die Methode bereits ein Hit und wurde an Tausenden von Patienten in der ganzen Welt vorgenommen. Egas Moniz bekam für seine Entdeckung sogar einen Nobelpreis.

Aber im Laufe der 1950er-Jahre merkte man langsam – und jetzt wird’s verrückt, Leute –, dass es ein paar ungünstige Nebenwirkungen nach sich zieht, wenn man Menschen ein Loch ins Gesicht bohrt und im Gehirn rumkratzt wie auf einer vereisten Windschutzscheibe. Und mit »ungünstigen Nebenwirkungen« meine ich, dass die Operierten zu Gemüse wurden. Zwar waren sie von ihren extremen emotionalen Problemen »geheilt«, aber der Eingriff raubte ihnen auch jede Fähigkeit, sich zu konzentrieren, Entscheidungen zu fällen, Berufe auszuüben, langfristig zu planen oder sich abstrakt zu reflektieren. Vom Wesen her wurden sie zu geistlosen, zufriedenen Zombies. Sie wurden zu Elliots.

Ausgerechnet die Sowjetunion war das erste Land, das die Lobotomie verbot. Die Sowjets hielten das Verfahren für »menschlichen Prinzipien entgegengesetzt« und erklärten, es verwandle »einen Wahnsinnigen in einen Idioten«.7 Dies rüttelte den Rest der Welt einigermaßen wach, denn wenn dir Josef Stalin eine Moralpredigt halten kann, musst du zugeben, dass du Scheiße gebaut hast.