Explosive Moderne - Eva Illouz - E-Book

Explosive Moderne E-Book

Illouz Eva

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Beschreibung

Über die Schlüsselgefühle unserer Zeit

Politiken der Angst, Spiralen der Enttäuschung, Menschen in Wut. In ihrem neuen Buch blickt Eva Illouz auf unsere aufgewühlte Zeit aus der Perspektive der Gefühle, die sie prägen. Angst, Enttäuschung und Wut, aber auch Scham oder Liebe sind fest in die sozialen Arrangements der westlichen Moderne eingebaut – und werden von ihrer Ökonomie, Politik und Kultur intensiv bewirtschaftet. Sie sind psychologisch relevant, moralisch bedeutsam, politisch wirksam – und hochgradig ambivalent. Das macht die Gegenwart, in der wir leben, so brisant, ja explosiv.

Illouz erhellt diese Phänomene in einer meisterlichen Komposition aus soziologischen Analysen, historischen Miniaturen und Lektüren ikonischer Werke der Weltliteratur. In präzisen Porträts der Emotionen, die Gesellschaft unter Hochspannung setzen, beleuchtet sie die Mechanismen ihres Wirkens sowie den Grund ihrer machtvollen Präsenz. Das Verblassen des amerikanischen Traums und die Fragilität der liberalen Demokratie, das Hamsterrad des Kapitalismus und die Konflikte rund um Identität, aber auch Antisemitismus, Rassismus und Misogynie: Ohne Bezug auf die Schlüsselgefühle der explosiven Moderne lassen sie sich weder verstehen noch einhegen oder bekämpfen. Das zeigt dieses so fesselnde wie zeitgemäße Buch.

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Seitenzahl: 544

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Cover

Titel

Eva Illouz

Explosive Moderne

Aus dem Englischen von Michael Adrian

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2024

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Hermann Michels und Regina Göllner

eISBN 978-3-518-78032-9

www.suhrkamp.de

Widmung

Tristan, verwirrt: Was träumte mir von Tristans Ehre?

Isolde: Was träumte mir von Isoldes Schmach?

– Richard Wagner, Tristan und Isolde

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Einleitung Das Unbehagen in der Gefühlskultur

Die Gesellschaft in der Seele

Literatur als Ort zum Erlernen von Gefühlen

I

Der amerikanische Traum: eine emotionale Dystopie?

1 Erhabenheit und Grausamkeit der Hoffnung

Institutionen der Hoffnung

Zwischen Theologie und Politik

Der amerikanische Traum

Resignation durch pausenlose Bewegung

2 Die bitteren Lippen der Enttäuschung

Klischees und emotionale Intensität

Träume und Konsumkultur

Fantasie und Ästhetisierung

Das grausame Versprechen der Meritokratie

3 Neid: das stumme Gefühl

Die Tugend des Kapitalismus

Ein dämonisches Gefühl

Die endlose Arbeit des Neids

II

Der Nationalismus, die Demokratie und ihre Gefühle

4 Zorn: das Rätsel der Seele

Von der Ehre zur Gerechtigkeit

In der Erwartung aufgewachsen, dass die Welt gerecht ist

Zorn als demokratischer Prozess

Zorn als moralisches Rätsel

5 Furcht und die Politik der Verletzlichkeit

Ein unheroisches Gefühl

Liberalismus als Abscheu vor der Furcht

Liberale Demokratien und inflationäre Bedrohungen

Die politischen Konsequenzen der Furcht

Die Militarisierung der Gesellschaft

Furcht und die Mentalität des Vorbeugens

Furcht als Schlachtfeld

6 Nostalgie und Heimatlosigkeit: die Erfindung des Verlorenen

Sein Zuhause finden, indem man es verliert

Nostalgie und die schmerzhafte Geburt der Moderne

Als Käfer erwachen

Heimatlosigkeit als restaurative Nostalgie

Dauerhaftes Exil

III

Implosive Intimität

7 Scham und Stolz: wie andere uns definieren

Bewusstseinsbildung durch Scham

Scham als Existenzform

Beschämer

Das Schweigen der Scham brechen: Stolz als politische Waffe

Vom Blumenkranz zum Talmiglanz

8 Eifersucht: der selbsterrichtete Galgen

Das grünäugige Scheusal und das brennende Verlangen, zu wissen

Der besitzergreifende Geist

9 Liebe: von der Überschreitung zur Komplexität

Die antisoziale Leidenschaft

Die Liebe verändert die Gesellschaft

Die Liebe heiratet die Gesellschaft

Liebe als eine komplexe soziale Form

Coda Durch die Ritzen der Verleugnung: die Macht der Gefühle

Anmerkungen

Einleitung: Das Unbehagen in der Gefühlskultur

1 Erhabenheit und Grausamkeit der Hoffnung

2 Die bitteren Lippen der Enttäuschung

3 Neid: das stumme Gefühl

4 Zorn: das Rätsel der Seele

5 Furcht und die Politik der Verletzlichkeit

6 Nostalgie und Heimatlosigkeit: die Erfindung des Verlorenen

7 Scham und Stolz: Wie andere uns definieren

8 Eifersucht: der selbsterrichtete Galgen

9 Liebe: von der Überschreitung zur Komplexität

Coda Durch die Ritzen der Verleugnung: die Macht der Gefühle

Dank

Namenregister (die Namen fiktiver Personen sind

kursiv

)

Informationen zum Buch

Einleitung Das Unbehagen in der Gefühlskultur

Weil der Körper (in unterschiedlichem Ausmaß) exponiert ist, weil er in der Welt ins Spiel, in Gefahr gebracht wird, dem Risiko der Empfindung, der Verletzung, des Leids, manchmal des Tods ausgesetzt, also gezwungen ist, die Welt ernst zu nehmen (und nichts ist ernsthafter als Empfindungen – sie berühren uns bis ins Innerste unserer organischen Ausstattung hinein), ist er in der Lage, Dispositionen zu erwerben, die ihrerseits eine Öffnung zur Welt darstellen, das heißt zu den Strukturen der sozialen Welt, deren leibgewordene Gestalt sie sind.

– Pierre Bourdieu, Meditationen1

Wer hätte nicht schon die Erfahrung gemacht, von Wut, Trauer oder Liebe überwältigt zu werden? Wenn uns Gefühle übermannen, scheint unser Körper unserem Verstand zuvorzukommen – unsere Hände werden feucht und unsere Wangen heiß, unser Herz rast, unser Magen zieht sich zusammen und wir ringen um Luft. Wir sind, wie der Soziologe Pierre Bourdieu in obigem Motto schreibt, exponiert und in Gefahr gebracht. Wir sagen oder tun manchmal auch Dinge, die wir später bereuen und die uns betroffen machen. Swann, der Erzähler von Marcel Prousts Du côté de chez Swann, empört sich darüber, dass seine größte Liebe »einer Frau galt, die mir nicht gefiel«, als er über seine erloschene Leidenschaft für Odette sinniert.2 Er stellt das mit jener Verwunderung oder Beschämung fest, die wir empfinden, wenn wir über eine frühere Leidenschaft für eine Person nachdenken, die wir heute gar nicht mehr nachvollziehen können, oder über einen alten Zorn, dessen Brennen wir mittlerweile nicht mehr verspüren. Unsere Gefühle, so scheint es, zeichnen sich durch unsere tiefe Verstrickung in die Gegenwart und damit durch eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber der Zukunft aus. Wenn Gefühlen notorisch Weisheit abgeht, dann vielleicht eine Weisheit kalkulierender Art, die Bedauern vorausahnen oder Wohlergehen vorausberechnen kann. Emotionen sind schnelle Reaktionen auf die Welt, weshalb oft behauptet worden ist, sie überstiegen die Grenzen der Vernunft und führten uns in die Irre:3 Sie schließen das langsame Denken kurz, umgehen unseren Willen und missachten unser mutmaßliches Interesse. In Philip Roths Roman Indignation ermahnt eine Mutter ihren Sohn in einer Form, die wir mühelos wiedererkennen:

Sei du es nicht [so schlecht wie dein Vater]. Sei du größer als deine Gefühle. Nicht ich verlange das von dir – das Leben verlangt es. Denn sonst wirst du von deinen Gefühlen weggeschwemmt werden. Du wirst ins Meer gespült und nie mehr gesehen werden. Gefühle können das größte Problem des Lebens sein. Gefühle können einem die schrecklichsten Streiche spielen.4

Obwohl wir solche Ermahnungen immer wieder hören, könnten wir mit demselben Nachdruck behaupten, dass die Wahrheit unserer Erfahrung in Gefühlen besteht. In Philip K. Dicks Do Androids Dream of Electric Sheep? (1968, heute auch unter dem Titel Blade Runner) unterscheiden Menschen Androiden durch einen »Empathietest« von Menschen, weil Fühlen das Merkmal von Menschlichkeit ist.5 Thomas Mann drückt denselben Gedanken noch dramatischer aus: Für ihn erlangen Männer und Frauen nicht nur ihre volle Menschlichkeit durch ihre Emotionen, sondern der »Mensch ist göttlich, sofern er fühlt«.6 Gefühle irren sich nie: Sei dir deiner Gefühle bewusst, dann wirst du authentisch sein und ein wahrhaft sinnerfülltes Leben führen. Emotionale Authentizität ist zum Echtheitssiegel für geistige Gesundheit und Glück geworden, eine Botschaft, die sowohl auf allen Ebenen der Hoch- und Populärkultur als auch durch die Mammutindustrie der psychologischen Beratung endlos recycelt wird.7

Diese beiden gängigen Auffassungen von Gefühlen – als Irrtum oder als Wahrheit – blende ich im Folgenden aus. Stattdessen setze ich an der Prämisse an, dass unsere Emotionen stilisierte Momente des Seins sind, Momente, in denen wir uns in einer bestimmten Art und Weise auf eine Situation einlassen, mitunter Hals über Kopf. Schreie, Mitgefühl, Kaltblütigkeit oder Tränen sind allesamt Möglichkeiten, unser Erleben zu stilisieren, ihm eine Gestalt und klare Konturen zu geben und das Feld unserer Interaktionen mit anderen abzustecken, sei es überlegt und selbstbewusst oder unfreiwillig und spontan. Unsere Emotionen haben viel damit zu tun, wer wir sind, nicht nur als Personen mit einer je einzigartigen Geschichte und seelischen Grundverfassung, sondern auch – und manchmal vor allem – als Angehörige von Gruppen und Kulturen, die unserem Innenleben eine große Menge unsichtbarer Schranken auferlegen. Typischerweise interessieren sich Psychologinnen für erstere, Soziologinnen für letztere Ebene. Ohne dass uns dies bewusst wäre, umfassen und verkörpern Gefühle die zentralen Bestandteile der Gesellschaft. Normen, Regeln, soziale Strukturen, kulturelle Leitlinien bilden das unsichtbare, aber brennende Magma der Gefühle, den Glutkern ihrer Energie.8 Das sind die Annahmen, die den gedanklichen Hintergrund dieses Buches bilden.

Die Gesellschaft in der Seele

Gefühle sind ein zentraler Gegenstand philosophischer Untersuchungen spätestens seit der Stoa, einer durch Zenon von Kition um 300 v. ‌u. ‌Z. auf der alten Agora von Athen gegründeten ethischen Schule. Die Stoiker betrachteten Emotionen als Störungen der Seele und erstrebten die Ausbildung einer kultivierten Indifferenz.9 Dadurch, dass sie uns dazu anhielten, all das aus unserer Seele zu verbannen, was ihre Ruhe störte, verdeckten sie die Frage, was ein Gefühl eigentlich genau ist. Das Christentum verfolgte kein weniger striktes Gefühlsprogramm, wenn es zu verstehen gab, dass wir solche Emotionssünden wie Zorn, Faulheit oder Lust unter Kontrolle bringen oder gar auslöschen müssen, um die Liebe Gottes zu praktizieren. Wir mussten auf den Philosophen Baruch Spinoza im 17. Jahrhundert warten, der vielen als der Begründer der modernen säkularen Philosophie gilt und diese Frage wieder offengelegt hat. Vor dem Hintergrund einer religiösen Kultur, die das Gefühlsleben durch Verbote und Gebote, Belohnungen und Bestrafungen regelte, entwickelte Spinoza die damals radikale Sichtweise, dass Gefühle Naturphänomene seien, die rational zu untersuchen sich lohne. Demnach folgten, wie seine berühmte Behauptung im dritten Teil der Ethik lautet,

die Affekte des Hasses, des Zorns, des Neides usw., in sich betrachtet, aus derselben Notwendigkeit und internen Beschaffenheit der Natur wie andere Einzeldinge auch. Somit unterliegen sie bestimmten Ursachen, durch die sie sich verstehen lassen, und haben bestimmte Eigenschaften, die unserer Erkenntnis so würdig sind wie die Eigenschaften jedes beliebigen anderen Dinges, an dessen bloßer Betrachtung wir uns erfreuen. Die Natur und die Kräfte der Affekte und die Macht des Geistes über sie werde ich deshalb nach derselben Methode behandeln, nach der ich in den vorigen Teilen von Gott und dem Geist gehandelt habe, und ich werde menschliche Handlungen und Triebe geradeso betrachten, als ginge es um Linien, Flächen oder Körper.10

Linien, Flächen oder Körper: In wenigen Zeilen entkoppelt Spinoza Emotionen (»Affekte«) von Sünde und Tugend und kündigt das intellektuelle Programm an, das 300 Jahre später umgesetzt werden und Gefühle zuvorderst zum Forschungsgegenstand der Sozial- und Naturwissenschaften machen sollte. Psychoanalyse, Ich-Psychologie und Positive Psychologie, Kognitionspsychologie, Anthropologie und Soziologie, Evolutionsbiologie und Neuropsychologie: All diese Disziplinen nähern sich Gefühlen, als handele es sich um Linien, Flächen oder Körper, also Dinge, die man erkennen, vorhersagen und steuern kann. Doch Gefühle sind nicht nur Gegenstand einer Flut von wissenschaftlichen Theorien. Sie sind, vermittels Fernsehen, Radio, Internet, Kino, Podcasts, therapeutischem Behandlungszimmer und Populärwissenschaft, auch das Hauptthema der Selbsthilfebranche und der Populärkultur, die uns über das Wie und Warum, die Gebote und Verbote unseres Gefühlslebens instruieren.

Als Soziologin bin ich weniger an der Heilung seelischer Wunden als an der Frage interessiert, wie die Gesellschaft zu diesen Wunden beiträgt. George Orwell erinnert sich an einen Vorfall, der sich zutrug, kurz nachdem er sich im Spanischen Bürgerkrieg den republikanischen Truppen angeschlossen hatte:

Einer der Rekruten, die zu uns stießen, als ich in den Baracken einquartiert war, war ein wild aussehender Junge aus dem Elendsviertel von Barcelona. Er war barfuß und zerlumpt und außergewöhnlich dunkelhäutig. (Ich würde sagen, arabisches Blut.) Er hatte eine Art zu gestikulieren, die man bei keinem Europäer finden würde. So streckte er zum Beispiel beide Arme aus, die Handflächen nach oben, eine Geste, die für Inder bezeichnend ist. Eines Tages war in meinem Quartier ein kleines Bündel Zigarren gestohlen worden, die man damals noch um ein Spottgeld kaufen konnte. Ziemlich unsinnigerweise erstattete ich dem Offizier Bericht, und prompt meldete sich einer der beiden Lumpenhunde, die ich bereits erwähnt habe, und erklärte, ihm seien fünfundzwanzig Peseten aus seiner Schlafstelle gestohlen worden. Aus mir nicht erklärlichen Gründen entschied der Offizier, der Junge aus Barcelona sei der Dieb. In der Miliz wurde sehr streng gegen Diebstähle vorgegangen, und theoretisch konnte einer deswegen erschossen werden. Der arme Teufel war gleich bereit, sich zur Wachstube führen und dort durchsuchen zu lassen. Am meisten fiel mir auf, daß er nicht einmal seine Unschuld zu beteuern versuchte. Seine fatalistische Haltung verriet die unsägliche Armut, in der er aufgewachsen sein mußte. Der Offizier befahl ihm, sich auszuziehen. Mit einer Demut, die für mich etwas Entsetzliches hatte, legte er seine Kleider ab, bis er nackt war. Dann wurden seine Kleider durchsucht. Natürlich fanden sich weder die Zigarren noch das Geld. Tatsächlich hatte er nichts gestohlen. Am peinlichsten war, daß er nicht weniger beschämt schien, auch nachdem sich seine Unschuld herausgestellt hatte.11

Diese Episode entfaltet sich als eine ineinandergreifende Kette von Ereignissen und Gefühlen, Gefühlen, die zwischen Individuen und sozialen Strukturen entstehen. Unschwer können wir uns die Beschuldigung des dunkelhäutigen Mannes durch den Offizier als eine zornige vorstellen, und ein solcher Zorn ist, wie Orwells Erzählung deutlich macht, durch Rassismus und Klassenvorurteile motiviert: Wie schnell der Offizier seine Schuldzuweisung vornimmt, das hat mit seiner vorgefassten Meinung über die Armut und Hautfarbe des Mannes zu tun.

Noch auffälliger ist natürlich dessen Reaktion: Er findet sich, berichtet Orwell uns, mit seiner Demütigung ab, weil er sie in seiner Armut schon so oft erlebt hat. Selbst als sich seine Unschuld erwiesen hat, ist er nicht weniger beschämt. Die Scham klebt an seiner Existenz, weil sie ein Ausdruck seiner sozialen Situation und Position ist, die sich in wiederholte, in seinem Körper und durch seinen Körper sich anreichernde Erfahrungen der Demütigung übersetzt. Diese emotionalen Erfahrungen verwandeln sich in das Bild, das er von sich selbst besitzt und durch Interaktionen mit anderen verinnerlicht hat, die ihrerseits in ein mächtiges Herrschaftssystem eingebunden sind. Dieses Herrschaftssystem hat ihn gelehrt, bloß nicht zu viel zu erwarten, woraus seine Ergebenheit rührt. Der Zorn des Offiziers und die Scham und Willfährigkeit des Mannes sind soziale Strukturen in Aktion. Schließlich vermittelt uns diese Szene noch ein weiteres Gefühl: das Mitleid des Erzählers mit dem zu Unrecht beschuldigten Mann. Dieses Mitleid wird von moralischen Kodes getragen, die wir mühelos identifizieren können und die uns überhaupt in die Geschichte hineinziehen.

Wenn uns Gefühle oft mit ihrer gebieterischen Selbstverständlichkeit und Dringlichkeit überwältigen, dann deshalb, weil sie in verdichteter Form soziale Strukturen, Gruppenidentitäten und moralische Kodes beinhalten. Wohl haben Gefühle eine biologische Grundlage, doch sind sie auch Momente, in denen grundlegende soziale Prozesse wie Herrschaft, Konkurrenz, Abhängigkeit, Unterwürfigkeit, Ungleichheit, Verbundenheit und Normen der Gerechtigkeit von einer individuellen Person verarbeitet werden. In Emotionen überlappen sich das Biologische, das Psychologische und das Soziologische aufs Engste. Mag die Behauptung auch trivial erscheinen, dass unser Gefühlserleben kollektive Kategorien und Einheiten einschließt, so blenden wir in unserem Selbstverhältnis die Rolle, die die Gesellschaft für es spielt, doch gerne aus. Uns gelüstet es nach Körpern, deren Attraktivität von den Konventionen der Schönheitsindustrie bestimmt ist, wir hegen aber die Illusion von der Einzigartigkeit unseres Begehrens. Neidvoll führen wir uns die exotischen Urlaubsorte zu Gemüte, die uns in Zeitschriften und auf Plakaten schwelgerisch vor Augen geführt werden, schreiben aber die Wahl unseres Urlaubsziels unserer eigenen verwegenen Neugierde zu. Allzu oft lädt uns die moderne Kultur ein, uns als ausnehmend einzigartige Individuen zu empfinden, so dass wir darüber leicht vergessen, wie wenig unsere intime Erfahrung nur unsere eigene ist.12 Fledermäusen gleich, die Signale aussenden, um Hindernisse auf ihrer Flugbahn zu erkennen, nutzen wir unsere Emotionen, um halbbewusst und halbblind zu ergründen, in welchem Ausmaß sich die Welt unserem Streben entgegenstellt, was wir in dieser Welt begehren und welche Rolle wir in ihr spielen sollen. Emotionale Reaktionen sind sowohl die Folge unsichtbarer Ketten von Ursachen, die ihnen vorausgehen, als auch Strategien, um ebendiesen Prozess zu verstehen und zu steuern. Gefühle verlängern gewissermaßen den Arm der Gesellschaft im Selbst.

Durch ihren sozialen Charakter verfügen Gefühle außerdem über eine kulturelle und soziale Grammatik, die uns hilft, Vermutungen über die Gefühle anderer anzustellen, Schlüsse über die Gefühle realer oder fiktiver Personen zu ziehen und die emotionalen Reaktionen anderer vorauszuahnen. All das und noch viel mehr können wir tun, weil wir mit anderen Menschen das Wissen um die Regeln und Normen teilen, die unseren und ihren Gefühlen zugrunde liegen. Die Sprache spielt hier eine entscheidende Rolle. Emotionsgeladene Wörter wirken, zumal wenn sie in einer Kultur grell hervorstechen, wie starke Magneten – sie ziehen die flottierenden Partikel unserer Innerlichkeit an. Ein Beispiel: Ein Mann beleidigt Sie. Was Sie dann wirklich empfinden, wie Sie Ihr Gefühl nennen und wie Sie reagieren werden, hängt in hohem Maße davon ab, ob Sie ein Mann oder eine Frau sind, ob Sie von einer aristokratischen Ethik der Ehre, einer christlichen Ethik der Vergebung oder einer maskulinen Ethik vernünftiger Selbstbeherrschung bestimmt sind. Womöglich verspüren Sie eine Reihe widersprüchlicher Emotionen, aber eine davon – sei es Spott oder Schulterzucken, Schweigen oder die Aufforderung zum Duell – werden Sie, je nach ihrer Identität, gesellschaftlichen Position und moralischen Kernüberzeugung, bevorzugen. Wir benennen, was wir fühlen (oder nehmen gedanklich vorweg, was andere uns gegenüber empfinden), indem wir uns unbewusst auf die Definitionen der Situationen, in die wir verstrickt sind, beziehen, auf ihre »Gebote« und »Verbote«. Wir verarbeiten Erlebnisse, indem wir die emotionalen Etiketten aufrufen, die ihnen anhaften, und die Kultur liefert diese Etiketten, indem sie uns hilft, all die Elemente, die sich in unserem Innenleben tummeln, zu benennen, zu klassifizieren, zu kategorisieren und zu interpretieren. Oft folgen unsere Reaktionen und Aktionen solchen Interpretationen, wenn auch keinesfalls systematisch. Weil an Gefühlen so viel Kultur hängt, müssen wir unsere informierte Vorstellungskraft bemühen, um zu verstehen, was die Angst vor der Hölle für Menschen im Mittelalter bedeutet haben mag oder was Homer meinte, als er sagte, Odysseus' Tränen seien wie die Tränen einer Frau, die sich »über ihren toten Mann wirft, der im Kampf um seine Stadt gefallen ist«.13 Wir müssen sie bemühen, weil uns andernfalls verschlossen bliebe, warum sich eine Frau im 19. Jahrhundert darum bemühte, ein heiterer »Engel im Haushalt« zu sein,14 oder warum sich ein männlicher Beduine persönlich stark beschämt fühlt, wenn jemand in sexueller Weise von seiner Schwester spricht.15 Oder warum die Menschen auf Ifalik, einem mikronesischen Atoll, größten Wert darauf legen, die moralische und emotionale Kategorie metagu sowohl zu fühlen als auch zum Ausdruck zu bringen, nämlich die Befürchtung, gegen Rang und Hierarchie zu verstoßen.16

Die auf den ersten Blick naheliegende Annahme, dass sich Emotionen in stärkerem Maße innerhalb des Selbst abspielen als beispielsweise das Sprechen, ist falsch. Sie stehen vielmehr an der Schwelle zwischen äußerem und innerem Selbst. Emotionen sind liminal (vom lateinischen Ausdruck für Schwelle: limen). Der Neid auf meine Nachbarin, die Furcht vor dem Fremden oder der Nationalstolz sind Weisen, die Schwelle zwischen meinem Selbst und der Welt zu errichten, auszuhandeln und aufrechtzuerhalten. Anders gesagt: Die (meisten) Gefühle sind der Dialog, den wir sotto voce mit der Welt führen. Durch Gefühle internalisieren wir die äußere Welt und externalisieren wir unsere innere Welt, und zwar fortwährend und nahtlos.17 Wie die ausgeschnittenen Figuren in einem Schattenspiel sind Emotionen zu erkennen, weil es hinter ihnen eine Lichtquelle – die sozialen und kulturellen Ursachen – und eine durchscheinende Leinwand gibt, auf die sie projiziert werden können – eine konkrete soziale Situation mit bestimmten Individuen, die in ihr agieren.

Die soeben aufgestellten Behauptungen laufen einem gewaltigen Korpus therapeutischer Theorien und Techniken sowie der hochlukrativen Branche der Selbstoptimierung zuwider, die allesamt die enorme Rolle, die soziale Kräfte in unserer emotionalen Veranlagung spielen, weitestgehend verwischt haben. Als die Erkenntnistheorie der Psychologie auf den kulturellen Markt des Kapitalismus traf, feierten sie so etwas wie eine Traumhochzeit: Wenn die ummauerte Zitadelle des Selbst als Sitz der Gefühle angesehen wird, lassen diese sich leichter von Individuen erwerben, die die Mittel zur Kenntnis, Steuerung, Disziplinierung und Veränderung ihrer Gefühle zu konsumieren gelernt haben. Als psychologische Wesen mit fest umgrenzten Psychen verstanden, können Individuen leichter zu Konsumentinnen der emotionalen Entwicklungen ihres Selbst werden. Die amerikanischen Träumer unserer Zeit arbeiten sich vom emotionalen Tellerwäscher zum seelischen Millionär hoch. Die Überwindung von Traumata, Missbrauch, Abhängigkeit, geringer Selbstachtung und Depressionen wird zu Erlösungsprogrammen und speist eine hungrige und gierige Selbstverbesserungsmaschinerie,18 weil die klinische Psychologie in all ihren Varianten – den kommerzialisierten und den wissenschaftlichen – die emotionale Veranlagung des Individuums in einer Weise und in einem Ausmaß warenförmig gemacht hat, die historisch ohne Vorläufer ist. Damit hat sie zugleich verschleiert, wie uns das moderne Leben in der Echokammer unserer Innerlichkeit zusammenschrumpfen lässt. Es hält uns dazu an, in uns selbst nach Mitteln und Wegen zu suchen, um Wunden zu heilen, die uns oft von den mächtigen sozialen Kräften der Moderne geschlagen wurden.

Aber natürlich könnte man sich fragen, warum wir eher auf die Soziologie vertrauen sollten als auf die Psychologie. Ich wüsste dafür zahlreiche Argumente anzubringen, von denen das überzeugendste ist, dass erstere in weitaus geringerem Umfang mit ökonomischen Interessen verbunden worden ist als letztere. Die Psychologie hat eine globale Armee von Expertinnen und Experten aufgestellt, um Belegschaften zu steuern, die Produktivität zu steigern und die Rolle zu verwischen, welche die Geschlechterungleichheit, der Konkurrenzkampf und eine gescheiterte Meritokratie bei seelischem Leid spielen. Und ungeachtet der ohnehin schon gewaltigen Risse im Sozialgefüge infolge von Kapitalismus, Liberalismus, Globalisierung und Ungleichheit tritt sie auch noch mit der Forderung an uns heran, dass wir – und nur wir – die Verantwortung für unsere Ängste, Depressionen oder Wutzustände übernehmen.

Auf welche Weise hat sich die Moderne – ein vager und komplexer Begriff – in unserem Gefühlsleben entfaltet? Das ist die übergreifende Frage meines Buches. Genauer möchte ich eine spezifische Malaise des frühen 21. Jahrhunderts durch die Brille einer Reihe von Gefühlen verstehen, die das Dilemma unserer Tage gleichermaßen verkörpern und veranschaulichen. Interessanterweise schwebte Sigmund Freud zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwas Ähnliches vor, als er versuchte, mit Hilfe des Gefühls der Schuld ein Licht auf die Malaise seiner Epoche zu werfen.19 Doch während Freud das zunehmend von Gewalt geprägte Klima in Europa erklärte, indem er die Gesellschaft durch das Prisma der Einwirkung von an sich innerseelischen Mechanismen betrachtete,20 mache ich gewissermaßen das Umgekehrte und lese gesellschaftliche Mechanismen in Emotionen. Gewiss, die Gefühle, auf die ich mich im Folgenden konzentriere, existieren in dem Sinne schon lange in der westeuropäischen Kultur, dass wir ihre Bezeichnungen seit langer Zeit verwenden. In den zentralen Institutionen der Moderne aber haben sie neue Bedeutungen angenommen. Die Konsumgesellschaft hat den Gefühlen der Hoffnung, der Enttäuschung, des Neids und des Ressentiments eine neue Form gegeben. Die Demokratie und die mit ihr verbundenen Ideenlehren der Gleichheit, Gerechtigkeit und Sicherheit haben wiederum Neid und darüber hinaus Zorn und Furcht neu ausgerichtet, während der Nationalismus den Gefühlen der Heimatlosigkeit und der Nostalgie einen neuen Sinn verliehen hat. Und, vielleicht am offensichtlichsten, die Auseinandersetzung mit dem Patriarchat und dem Heterosexismus hat einen anhaltenden Widerhall in den Emotionen Scham, Stolz, Eifersucht und Liebe.

Ich möchte gleich etwas zum Begriff der Moderne ergänzen, der tatsächlich zu umfassend scheinen und dieses Projekt deshalb frustrierend vage machen könnte. Die »Moderne« ist nicht nur als eine Periode, sondern auch und vor allem als eine historische Dynamik zu verstehen, die sich seit der Renaissance entfaltet und in der Aufklärung ihren intellektuellen Höhepunkt gefunden hat. Sie wirkt sich in einer ganzen Reihe von sich zum Teil überschneidenden und wechselseitig verstärkenden Prozessen aus. Zu diesen zählen der selbstbewusste Bruch mit Tradition und Religion in Verbindung mit einer Säkularisierung der Werte sowie der Abbau formaler Grenzen zwischen hierarchisch geordneten Gruppen. Letzteres ging wiederum mit der Ausbreitung egalitärer Auffassungen der Person einher, so dass es schließlich dem Selbst überlassen blieb, seine sozialen Beziehungen reflexiv zu gestalten. Des Weiteren hat sich eine erdrückende Vorherrschaft wettbewerbsorientierter Märkte in den Bereichen der Arbeit und der Lebensentwürfe ebenso herausgebildet wie eine technologiegestützte Kultur mit ihrem endlosen Strom von Bildern des guten Lebens. Weltweite Bevölkerungswanderungen zwischen Nationalstaaten, die Verwandlung von Individuen in etwas je Einzigartiges, das ein entsprechendes Bewusstsein kultiviert, und schließlich ein verschärftes Streben nach sozialer Mobilität bei gleichzeitig wachsenden Klassenungleichheiten sind hier ebenfalls zu nennen.

Je nach der gerade erörterten Emotion werde ich mich auf unterschiedliche zeitliche und analytische »Tranchen« der Moderne beziehen. So bringt mich das Gefühl des Neids zur Konsumgesellschaft des 19. Jahrhunderts, während der Zorn mich in die ersten Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts führt. Ein großer Fokus liegt allerdings auf der Phase seit Beginn der 1980er Jahre, einer Periode, in der das durchaus spannungsreiche und stets umkämpfte Gefüge zwischen demokratischen und wirtschaftlichen Kräften, das die Herausbildung der ökonomischen und politischen Moderne charakterisiert hatte, unter dem schieren Übergewicht wirtschaftlicher Macht zusammenbrach. In dem Jahrhundert, das eine kontinuierliche Ausweitung der individuellen Rechte sah, wurden die ökonomischen Kräfte in gewissem Maße von politischen Gegenkräften in Schach gehalten. Doch mit der Deregulierung der Märkte, der Finanzialisierung der Wirtschaft und der Ausdehnung des Monopolkapitalismus drangen die Prozesse der Kommodifizierung in die meisten Sozialbeziehungen ein. Öffentliche Dienstleistungen wurden zu profitablen Unternehmungen und traten die Idee des öffentlichen Interesses mit Füßen. Die Gewerkschaften schwächelten oder verschwanden, Arbeitsverhältnisse wurden prekärer. Die Ungleichheit nahm nie dagewesene Ausmaße an. Wissen und Informationen wurden fundamental für die Wirtschaft, in der die Ungebildeten verdrängt oder weitaus stärker marginalisiert wurden, als sie es während der Entstehung und Konsolidierung des Industriekapitalismus gewesen waren. Die Technologie wurde in die Struktur des täglichen Lebens und des Bewusstseins selbst eingebunden. Unter dem Einfluss dieser verschiedenen sozialen und politischen Kräfte gewann eine Reihe von Emotionen im öffentlichen Leben wie im individuellen Bewusstsein an Bedeutung und Sichtbarkeit.

Ein Zeichen der gegenwärtigen Misere ist in dem Umstand zu sehen, dass sich die soziale Demokratie, für die in den vergangenen 200 Jahren so hart gekämpft worden ist, im Niedergang befindet und in vielen Ländern der Erde von autoritären populistischen Politikern sowie einer frustrierten Wählerschaft in Frage gestellt wird. Diese politischen Bewegungen haben zentrale Praktiken deliberativer Demokratien wie Rechenschaftspflicht, Rechtsstaatlichkeit und Orientierung an Tatsachen ins Wanken gebracht. Ein weiteres Zeichen für das verbreitete Unbehagen besteht in der Zunahme psychischer Probleme unter jungen Erwachsenen im letzten Jahrzehnt. Wie die American Psychological Association vermeldet, »berichteten zwischen 2005 und 2017 52 Prozent mehr Jugendliche von Symptomen einer schweren Depression (ein Anstieg von 8,7 auf 13,2 Prozent), während die entsprechende Zahl bei jungen Erwachsenen im Alter von 18 bis 25 zwischen 2009 und 2017 bei 63 Prozent liegt (ein Anstieg von 8,1 auf 13,2 Prozent)«. Darüber hinaus ist ein gewaltiger Anstieg von 71 Prozent unter jungen Erwachsenen zu konstatieren, die zwischen 2008 und 2017 eigenen Angaben zufolge »in den letzten 30 Tagen psychische Belastungen« erlebten (eine Erhöhung von 7,7 auf 13,1 Prozent).21US-amerikanische Highschool-Schüler (Gymnasiasten) berichten immer häufiger von »anhaltenden Gefühlen der Traurigkeit oder Hoffnungslosigkeit«. Waren es 2009 noch 26 Prozent, die entsprechende Angaben machten, so lag diese Zahl 2021 (auf dem Höhepunkt der COVID-19-Pandemie) bereits bei 44 Prozent.22 Von den Centers for Disease Control in den Vereinigten Staaten kommt ein weiterer dramatischer statistischer Befund: Von 2000 bis 2021 stiegen die Selbstmordraten in den USA um 36 Prozent.23 Ich will gar keine direkte Verbindung zwischen den beiden Phänomenbereichen ziehen, dem politischen und dem psychischen. Ich möchte lediglich darauf hinweisen, dass sie beide die Spuren einer Misere zeigen, ein Ausdruck, den ich den oft im öffentlichen Diskurs gebrauchten wie Krise, Niedergang oder kultureller Zusammenbruch vorziehe. Die Krise der Demokratie und die Vermehrung der psychischen Störungen machen uns darauf aufmerksam, dass etwas im Gefühls- und Sozialleben der Spätmoderne angegangen und verstanden werden muss.

Eine solche Moderne bezeichne ich als »explosiv« – und nicht einfach nur als »unbehaglich« oder »repressiv« –, weil viele ihrer entscheidenden institutionellen Merkmale miteinander in Konflikt stehen und tiefe Spannungen und Widersprüche in den Subjekten hervorrufen. Selbst wenn, wie bereits gesagt, keine der hier behandelten Emotionen an und für sich modern ist, wurden sie noch nie zuvor in so starkem Maße von Institutionen wie dem Konsumentenmarkt, der demokratischen Staatsbürgerschaft, dem Privatleben, der ökonomischen Ungleichheit und der wirtschaftlichen Dominanz getriggert. Noch nie in der Geschichte haben ökonomische, kulturelle und politische Institutionen so systematisch Gefühle hervorgerufen. Wie alt zum Beispiel das Gefühl des Neids auch sein mag: nie war es derart strukturell in die Konsumgesellschaft eingebettet wie heute. Dasselbe gilt für den Zorn, der durch eine hoch entwickelte Parteipolitik, parteiische Nachrichten, immer reichweitenstärkere ideologische Plattformen und die sozialen Medien mit ihren Blasen zirkuliert. Einige Gefühle haben sich in den zentralen Institutionen der Moderne de facto »verfestigt«.

Hoffnung und Zuversicht bilden die gefühlsmäßige Grundlage, die das individuelle Streben ebenso strukturiert wie die öffentlichen Institutionen, welche das Los der Bürgerinnen verbessern wollen. Wie ich im ersten Kapitel zeigen werde, ist Hoffnung die konstitutive Kategorie des modernen Individuums. Sie ist mit Enttäuschung, Neid, Zorn, Ressentiment, Furcht und Nostalgie vermischt, eine Kombination, die die besondere Beschaffenheit des modernen emotionalen Unbehagens ausmacht. Die Demokratisierung und das Gleichheitsideal müssen eine durch die kapitalistische Produktionsweise verursachte Klassenungleichheit zwangsläufig unerträglich werden lassen. Eine Anspruchs- und Leistungskultur steht im Widerspruch zum immer begrenzteren Zugang zu lukrativen oder angesehenen Berufen. Die politische Lehre des Liberalismus, die darauf abzielt, die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten, multipliziert in Wirklichkeit die Zahl der Ängste, mit denen diese umgehen müssen. Ein moralischer Diskurs, der allen menschlichen Wesen gleiche Würde zuspricht, macht Scham und Beschämung in Wirklichkeit wahrscheinlicher (gerade aufgrund eines Mehrs an Würde). Eine Praxis der Intimität, die emotionale Nähe schaffen soll, erzeugt eine Komplexität, welche die Intimbeziehungen unvorhersagbar und schwierig macht. Diese und andere Spannungen, Widersprüche und Paradoxien bilden so etwas wie den Grundriss dieses Buches.

Noch aus einem zweiten Grund ist die Moderne explosiv geworden. Unter dem enormen Einfluss der kommerzialisierten Erzählliteratur und der psychologischen Kultur spielt die bewusste Erforschung und Überwachung der eigenen Gefühle inzwischen eine entscheidende Rolle in den Selbstbeschreibungen der Menschen sowie darin, wie sie soziale Beziehungen zu anderen knüpfen und pflegen. Diese emotionale Selbsterkenntnis findet nicht mehr unter dem Vorzeichen der Charakterbildung und der Orientierung an moralischen Werten, Tugenden und dem Guten statt. Die Individuen sind in erster Linie an ihren privaten Zielen, Genüssen und Gefühlen interessiert. Wenn man Beziehungen und Identitäten frei wählen und sich beliebig wieder von ihnen verabschieden kann, wenn Arbeit und Studium das Ergebnis individueller Wahl und Ambition sind und Ehe und Intimität eine Folge von Entscheidungskünsten, dann werden Erfolg wie Misserfolg des Individuums auf diesen Feldern seiner psychischen Verfassung zugeschrieben, also seinen »emotionalen Pathologien«, seiner »emotionalen Gesundheit« oder »emotionalen Intelligenz«.

Aus all diesen Gründen befinden sich die Individuen auf einem reflexiven Rückzug in sich selbst, befragen sie ihre Gefühle und versuchen, diese an ihre Ziele und Lebenspläne anzupassen. Gefühle werden so zu der Realität, durch die der Einzelne sich selbst und einen großen Teil seiner sozialen Welt wahrnimmt; sie verwandeln sich in die Grundlage und den Gegenstand sozialer Beziehungen und gewinnen auf diese Weise objektive Wirklichkeit. Dadurch aber wird die Wirklichkeit selbst hochgradig emotional, zu einer Abfolge von emotionalen Transaktionen, die explosiv werden können, gerade weil der Inhalt des Gefühlslebens, als fester Grund der Realität, so ernst genommen wird. Die Gefühle sind zur Realität der Individuen geworden, zu ihrer umkämpften Realität, zu dem, was sie zu gestalten und zu kontrollieren versuchen und worum sie mit anderen ringen.

Auch wenn Zeitlichkeit, wie oben gesagt, nicht ohne Belang ist, ist meine Vorgehensweise auf den folgenden Seiten keine historische. Weder vergleiche ich die Gegenwart mit der Vergangenheit, jedenfalls nicht systematisch und streng, noch geht es mir darum, die Moderne im Verhältnis zu ihren Vorläufern als eine unheilvollere historische Periode auszuweisen. Im Gegenteil. Die Moderne ist eine Mischung aus vermehrten Methoden der Menschenbeherrschung und der Naturzerstörung auf der einen Seite und echtem moralischem Fortschritt auf der anderen. Nur innerhalb dieser Spannung ist sie zu denken. Und schließlich: Obwohl die meisten der von mir betrachteten Gefühle mindestens seit biblischen Zeiten »im Spiel« sind, weisen sie auch zahlreiche neue Elemente auf: ihren Gegenstand (etwa den Neid auf Personenkreise, die von Fördermaßnahmen zugunsten benachteiligter Gruppen profitiert haben), ihre Stärke und Ansteckungsgefahr (wie bei Wutkreisläufen in sozialen Medien), ihre einzigartige Kombination (zum Beispiel von hartnäckiger Hoffnung und Enttäuschung), ihre Dominanz im Bewusstsein moderner Menschen (die etwa das Gefühl der Kränkung ständig mit sich herumschleppen, sich durchgängig als Opfer fühlen), ihre Institutionalisierung (das heißt Weisen, wie sie geformt und kanalisiert werden, ob in der Konsumgesellschaft oder im Nationalismus, im Privatleben oder in der demokratischen Öffentlichkeit) sowie nicht zuletzt allein schon die Annahme, dass wir einen Anspruch auf ein emotional schmerzfreies Leben haben (was die sogenannten negativen Gefühle unerträglicher macht). All diese Elemente zusammengenommen machen die »Modernität« der hier behandelten Gefühle aus.24

Literatur als Ort zum Erlernen von Gefühlen

Wenn Gefühle stilisierte Erfahrungen an der Nahtlinie zwischen dem Kollektiven und dem Persönlichen sind, dann gibt es einige kulturelle Bereiche, in denen die Schnittstelle zwischen Individuellem und Sozialem bevorzugt sichtbar und gestaltet wird. Romane, Gedichte, Theaterstücke oder Netflix-Serien sind solche kulturellen Schauplätze. Der bedeutende amerikanische Soziologie Howard Becker hat sein Fach bekanntlich vor dem Irrglauben gewarnt, ein Monopol auf das Verständnis der Gesellschaft zu haben, und seine Kolleginnen dazu angehalten, für ihre Analysen auch fiktionale Werke heranzuziehen.25 Als moderne literarische Form stellt der Roman die neue Fluidität der individuellen und sozialen Beziehungen dar, die Spannung zwischen emotionalen Vorhaben und sozioökonomischen Zwängen, die Verschränkung der individuellen Psychologie mit den sozialen Strukturen. Man kann mit Romanen, die ja selbst eine Reflexion der Gesellschaft und über die Gesellschaft sind, gut nachdenken und nachempfinden. Im Vorwort ihres 1802 erschienenen Werks Delphine spricht die französische Schriftstellerin Germaine de Staël von der besonderen Fähigkeit der Literatur, Zugang zu »den Leidenschaften des menschlichen Herzens« zu vermitteln.26 Romane sind ein besonders geeigneter Bezugspunkt für die Diskussion von Gefühlen, weil ihre Figuren und die Geschichten, die sie erleben, durch eine Grammatik der Gefühle verständlich werden. Sie zeigen und imitieren individuelle Innerlichkeit (es sei denn, sie entzögen sich bewusst der psychologischen Sprache, wie das etwa bei Albert Camus' L'Étranger der Fall ist);27 sie setzen voraus, dass wir Romanfiguren durch ihre Psychologie erkennen und verstehen können,28 das heißt durch ihre Motivationen, Ziele, Emotionen. Der Oxforder Philosoph und Ideenhistoriker Isaiah Berlin traf es gut, als er schrieb:

In jungen Jahren, viel zu früh, las ich Krieg und Frieden von Tolstoi. Seine eigentliche Wirkung tat dieser Roman bei mir jedoch erst später, zusammen mit den Werken anderer russischer Autoren aus der Zeit um die Mitte des 19. Jahrhunderts, unter ihnen sowohl Romanschriftsteller als auch Gesellschaftstheoretiker. Diese Autoren haben meine Anschauungen stark geprägt. Mir schien und mir scheint noch heute, das oberste Ziel dieser Schriftsteller sei nicht die realistische Darstellung des Lebens von Individuen oder gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen und der Beziehungen zwischen ihnen gewesen, nicht die psychologische oder gesellschaftliche Analyse um ihrer selbst willen – obwohl natürlich die Besten unter ihnen genau dies auf eine unvergleichliche Weise leisteten. Ihre Verfahrensweise schien mir im wesentlichen eine moralische zu sein: sie beschäftigten sich vor allem mit dem, was für die Ungerechtigkeit verantwortlich war, für die Unterdrückung, die Falschheit in den Beziehungen der Menschen, für ihre Gefangenschaft zwischen Mauern aus Stein oder zwischen den Mauern des Konformismus – der widerspruchslosen Unterwerfung unter ein von Menschen geschaffenes Joch; sie beschäftigten sich mit dem, was verantwortlich war für die moralische Verblendung, den Egoismus, die Grausamkeit, die Demütigung, die Unterwürfigkeit, die Armut, die Hilflosigkeit, die erbitterte Entrüstung, die Verzweiflung bei so vielen Menschen. Kurz, es ging ihnen um das Wesen dieser Erfahrungen und um deren Wurzeln in den Bedingungen des menschlichen Daseins, vor allem in den Lebensbedingungen Rußlands, im weiteren Sinne aber in den Lebensbedingungen aller Menschen.29

Berlin beschreibt hier die Erfahrung vieler Europäer in Ost wie West. Für sie begann die Kenntnis der Welt mit dem Verständnis der Handlungen und Charaktere von Romanen. Dieses literarische Genre bettet die Psychologie seiner Figuren nämlich tief in eine soziale Welt ein, die das Handeln prägt und zugleich durch es verändert wird. Werke der Fiktion dienen als Fenster, durch die sich auf die Gefühle der handelnden Figuren blicken lässt, in denen sich ihrerseits Moralkodes und Sozialstrukturen niedergeschlagen haben und ausagiert werden. Erst durch diese Kodes wird die Psychologie der Figuren plausibel. Der Kognitionspsychologe Keith Oatley, ein Spezialist für die Verarbeitung von erzählender Literatur, stellt zu Recht fest: »Es ist allgemein anerkannt, dass die Träume der Fiktion von Gefühlen handeln. Man könnte fast sagen, dass sie sich alle um Gefühle drehen.«30 Der große französische Literaturtheoretiker Roland Barthes ist überraschenderweise derselben Meinung. In einer 1978 am Collège de France gehaltenen Vorlesung sprach er sich für die Idee einer »pathetischen Geschichte oder Theorie des ›Romans‹« aus, die auf dessen emotive Effekte zielt und die Literatur auf »›Momente der Wahrheit‹« ausgerichtet sieht, in denen etwa ein Roman bei der Leserin ein intensives emotionales Wiedererkennen ihrer eigenen Erfahrung ermöglicht. »[D]er ›Roman‹, wie ich ihn lese oder begehre, ist genau jene ›Form‹, die den Diskurs des Affekts an Personen delegiert und dadurch gestattet, diesen Affekt offen auszusprechen. […] [S]eine Instanz ist die Wahrheit der Affekte, nicht die der Ideen […].«31 Jon Elster, ein analytischer Philosoph, der Barthes nicht ferner stehen könnte, klingt ihm in der Sache merkwürdig ähnlich, wenngleich er weniger überschwänglich formuliert: »Auch glaube ich, dass wir im Hinblick auf eine wichtige Teilmenge der Emotionen mehr von Moralisten, Romanciers und Bühnenautoren lernen können als von den gesammelten Befunden der wissenschaftlichen Psychologie.«32

Zahllose Gelehrte und Leser stimmen überein: Die Literatur ist eine Fundgrube von Gefühlen, aus denen die Lesenden etwas über ihre eigenen Gefühle und die anderer Menschen lernen können. Diese Behauptung bleibt auch angesichts der Vorherrschaft der visuellen Medien – Kino und Fernsehen – wahr, die sich überwiegend um Handlungsverläufe und Charaktere, Absichten und Beweggründe drehen. Wir werden dort durch Geschichten über Gefühle ins Bild gesetzt, und viele oder die meisten Gefühle werden als in Geschichten eingebettet erlebt.33 Romane (und andere Erzählformen wie Netflix-Serien) ermöglichen den Rezipienten eine Art des Gedankenlesens,34 die elementare kognitive Fertigkeiten in Verbindung mit emotionalen Kompetenzen verlangt. Diese Form des Gedankenlesens erlaubt ihnen, sich vorzustellen, was andere fühlen, und besser zu verstehen, was sie umtreibt. Man kann sogar darüber hinausgehen und Romane als den Schauplatz verstehen, an dem unser Geist nachverfolgt, wer wann und warum was empfindet.35 Der Roman, ja, dieser endlose Strom von Geschichten in welcher medialen Form auch immer, hat eine gewaltige Quelle für die kognitive Erfassung des Fremdpsychischen geschaffen, indem er Emotionen in ein Ensemble visueller, sprachlicher und gestischer Kodes verwandelt hat.

Ich werde mich im Folgenden zur Untersuchung von Gefühlen auf einen Korpus literarischer Texte stützen, der etwas willkürlich zusammengestellt ist. Ich bin natürlich bei weitem nicht die Erste, die Literatur zur Diskussion von Gefühlen heranzieht. Martha Nussbaum ist eine außergewöhnliche Pionierin auf diesem Gebiet.36 Im Unterschied zu ihrem Ansatz interessiere ich mich jedoch nicht für den normativen und moralischen Charakter von Emotionen – welche Emotionen beispielsweise unpassend oder nicht unpassend für eine Demokratie sind. Mir verhilft die Literatur dazu, die in einem Gefühl, so wie es sich in der zeitgenössischen Kultur entwickelt hat, enthaltenen soziologischen Dilemmata zu skizzieren, wenn nicht zu definieren. Ich beziehe mich überwiegend auf bekannte literarische Texte, die in unserer (westlichen) Kultur ausgesprochen präsent sind. Sie sind insofern eine dauerhafte Quelle des kollektiven Selbstverständnisses und bilden dadurch einen Ausgangspunkt für die soziologische Reflexion über ein bestimmtes Gefühl. Romane (zumal realistische) beinhalten eine »ethische Realität« in dem Sinne, dass sie über ihr Personal und die Handlungen, in die es verstrickt ist, individuelle und kollektive Gewohnheiten behandeln, eben das Verhalten, die Einstellungen und Leidenschaften von Personen.37

Die Gefühle der Romanfiguren schreiben sich von einer Reihe an Problemen und Situationen her, in denen sich, ob in getreuer Abbildung oder im bewussten Bruch, die ethischen Usancen einer Gesellschaft spiegeln. Soweit sich Emotionen und ethische Auffassungen immer wechselseitig bedingen, lässt sich das Konzept einer moralischen Mimesis auch auf das Gefühlsleben erweitern. Die Ilias aus dem 8. Jahrhundert v. ‌u. ‌Z. beispielsweise hebt an mit dem Gefühl des Zorns, und ihre Handlung besteht in der Entfaltung dieses Zorns, der seinerseits moralische Kodes männlicher Ehre reflektiert.38 Eine solche moralische Mimesis ist immer dann gegeben, wenn eine Autorin, ein Autor eine ethische Haltung zum Ausdruck bringt – den gerechten Zorn eines Michael Kohlhaas,39 die verhaltene Traurigkeit einer Tess d'Urberville40 oder den Snobismus eines Swann.41 Sie zeigt sich auch in Gattungen wie der Tragödie oder dem Epos, ist aber noch charakteristischer für den Roman, das bevorzugte Genre des Moralisten.42 Der Roman bietet sich für die Soziologie der Emotionen besonders an. Denn wie Marcel Proust sagte, »braucht der Schriftsteller, um Volumen und Konsistenz, Allgemeingültigkeit, literarische Realität zu erlangen, viele zuvor betrachtete Kirchen, wenn er eine Kirche darstellen will, und ebenso viele Menschen für ein einziges Gefühl«.43 Wie die literarischen Autorinnen interessieren sich auch die Soziologinnen für die allgemeine Dimension der individuellen Erfahrung.

Damit sei nicht gesagt, dass die fiktionale Literatur ein offenes Fenster auf die Realität ist. Sie kann die soziale Welt darstellen oder behandeln, doch ist sie zugleich eine sprachliche und imaginative Institution. In der Literatur gehen wir auf Tuchfühlung mit den wichtigsten Mythen und imaginären Dimensionen unserer Kultur – mit dem, wovon eine Kultur träumt, wovor sie sich fürchtet, was sie erwartet.44 Die realistische und die imaginäre Dimension eines literarischen Textes bilden keinen Gegensatz, sondern gehen ineinander über, weil die Gesellschaft selbst von einer radikalen Imagination aufrechterhalten wird,45 genauer gesagt: von sozialen Institutionen, deren Kern in Wirklichkeit ein imaginärer ist. Ein Kreuzzug, ein Raketenstart oder eine Familie werden gleichermaßen dadurch zusammengehalten, wie die daran Beteiligten sie sich vorstellen. Die Literatur malt sich die soziale Welt aus, und an diesem Vorstellungsakt haben Emotionen großen Anteil. Sie führen uns in den imaginären Kern von Institutionen, die in hohem Maße formen, was wir soziale Realität nennen.

Der letzte Grund, aus dem sich meine Herangehensweise von einer philosophischen Literaturinterpretation unterscheidet, ist schon zur Sprache gekommen: Sie ist nicht normativ. Die Literatur eröffnet eine unvergleichlich hilfreiche Möglichkeit, um eine soziologische Erörterung der Gefühle durchzuführen, weil sich Gefühle, wenn man sie nicht moralisch, sondern soziologisch untersucht, als tiefgreifend ambivalent erweisen. Sie können einer Vielzahl moralischer Motive entspringen und widersprüchliche gesellschaftliche Folgen zeitigen. Die meisten Gefühle fördern und unterminieren zugleich soziale Bindungen – positive wie negative, moralische wie unmoralische. Die Literatur zeigt, dass das soziale und das moralische Leben der Gefühle sich nicht decken.

IDer amerikanische Traum: eine emotionale Dystopie?

1 Erhabenheit und Grausamkeit der Hoffnung

[D]ie Erbsünde des Christentums ist in meinen Augen die Hoffnung.

– Michel Houellebecq, Vernichten1

Du warst der lebende Beweis dafür, dass meine Familie falsch lag: Ich hatte ein Recht darauf zu träumen.

– Virginie Despentes, Liebes Arschloch2

In der griechischen Mythologie spielt die Hoffnung die prominenteste Rolle in der Legende von der Büchse der Pandora, wie sie der antike griechische Dichter Hesiod erzählt.3 In Werke und Tage schildert er, wie Zeus aus Rache dafür, dass Prometheus das Feuer für die Menschen gestohlen hat, die erste Frau erschafft, Pandora, die Chaos unter den Menschen zu säen bestimmt ist. Prometheus' Bruder Epimetheus nimmt sie zur Braut. Kurz darauf öffnet Pandora eine Büchse (eigentlich ein großes Vorratsgefäß, píthos), die ihr von den Göttern anvertraut wurde und verschlossen bleiben soll. Als sie geöffnet ist, entweichen ihr alle möglichen Übel wie Krankheiten, Tod und Hass und suchen die Menschheit heim. In der Büchse verblieben ist einzig die Hoffnung (elpís), so dass ungewiss bleibt, ob sie mit den Übeln gleichzusetzen ist, die der Büchse entwichen sind, oder ob sie die Heilung für die Übel darstellt, die nun frei durch die Welt streifen. Für Friedrich Nietzsche war die Sache klar: Die Hoffnung war das Schlimmste, was die Büchse der Pandora enthielt.4

Hoffnung ist das zentrale Gefühl5 von Erlösungsreligionen wie dem Christentum mit seiner Verbindung zum Jenseits, zu Gottes noch uneingelöstem Versprechen, dass die Menschen letztlich ins Paradies kommen und ein Leben der Mühen und Sorgen in einem Jenseits des Überflusses überwinden werden. Der Apostel Paulus kleidet es in die berühmten Worte: »Denn wir sind gerettet auf Hoffnung hin. Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht? Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld.«6 Die Hoffnung ist hier fast gleichbedeutend mit dem Glauben selbst (einer Mischung aus Erkenntnis und Gefühl), insofern die Hoffenden sogar gegen das Zeugnis ihrer eigenen Augen am Glauben an das göttliche Heil festhalten. In der christlichen Theologie bekräftigt die Hoffnung den Glauben angesichts dessen, was den Sinnen oder dem gesunden Menschenverstand widerspricht. Ostern ist das Fest der Hoffnung schlechthin: Es verneint den Tod und feiert Christi Wiederauferstehung. Der französische Sozialist und katholische Schriftsteller Charles Peguy machte die Hoffnung zum Schlüsselelement seiner theologischen und politischen Ansichten. In einem seiner berühmten Gedichte, Le Mystere du Porche de la Seconde Vertu (1911), lässt er Gott selbst sprechen:

Der Glaube, den ich am liebsten mag, sagt Gott, ist die Hoffnung.

[…]

Die Liebe, sagt Gott, das wundert mich nicht.

Da ist weiter nichts zum Verwundern.

So unglücklich sind diese armen Geschöpfe, daß, außer sie hätten ein steinernes Herz, sie doch nicht anders können, als einander lieben.

Wie sollten sie nicht ein wenig Liebe für ihre Brüder haben.

Wie nähmen sie sich nicht das Brot aus dem Mund, das tägliche Brot, um es den armen Kindern zu geben, die vorbeigehn.

Und mein Sohn hat ihnen so viel Liebe erwiesen.

Mein Sohn, ihr Bruder.

So große Liebe.

Aber die Hoffnung, sagt Gott, das verwundert mich wirklich.

Mich selber.

Das ist wirklich erstaunlich.7

In diesem glorreichen Gedicht ist Gott tief beeindruckt und überrascht von der wunderbaren Qualität der Hoffnung. Von allen Tugenden liebt Gott das hoffnungsvolle Gefühl am meisten, denn während Nächstenliebe eine nahezu selbstverständliche und unfreiwillige Reaktion auf das Elend der Welt ist, ist das Gefühl der Hoffnung, das nie zu sehen bekommt, was es sich ersehnt, weitaus rätselhafter und wunderbarer. In ihrer Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, dem Irdischen und dem Göttlichen verkörpert die Hoffnung die wahre christliche Tugend. Sie transzendiert die Gegenwart und führt den Glauben an Gottes höchste Güte vor.

Die Hoffnung ist ein für den religiösen Glauben besonders gut geeignetes Gefühl, weil, wie der evangelische Theologe Jim Wallis, Gründer der progressiven christlichen Zeitschrift Sojourners, sagt: »Zu hoffen heißt, allen Anzeichen zum Trotz zu glauben und dann zu sehen, wie sich die Anzeichen ändern.«8 Dem Anthropologen Victor Crapanzano zufolge unterscheiden evangelische und vielleicht christliche Gläubige im Allgemeinen zwischen einer lebensrettenden Hoffnung, also der Hoffnung auf Erlösung in Form der Wiedergeburt, und den kleinen Hoffnungen des alltäglichen Lebens, wobei sie Erstere höher bewerten als Letztere.9 Zwar definierte der Philosoph Thomas Hobbes Hoffnung als die »Erwartung eines kommenden Guten«,10 doch impliziert Hoffnung nicht unbedingt einen Optimismus, der Prognosen über die Zukunft macht. Hoffnung ist eher ein Gefühl, das dem Handeln Energie verleiht, also eine ausgesprochen handlungsorientierte Emotion.11 Ein Gedicht von Emily Dickinson möge verdeutlichen, was ich mit »handlungsorientiert« meine:

Die »Hoffnung« ist ein Federding –

Das in der Seele hockt –

Und Lieder ohne Worte singt –

Sich niemals unterbricht –

Im Sturm – klingt es am lieblichsten –

Und der muss heftig wehn –

Den kleinen Vogel zu beschämen

So viele hielt er warm –

Ich hörte ihm im Eisland zu –

Und auf dem fernsten Meer –

Doch wollt er selbst im Notfall, nie

Ein Krümelchen – von mir.12

Selbst bei kältestem Wetter vermittelt uns die Hoffnung ein Bewusstsein des Möglichen. Sie bricht das Siegel des Schicksals und treibt voran. Sie ist eine Melodie der Seele, die keine Begründungen oder Rechtfertigungen braucht, ein Lied ohne Worte. Sie erbittet kein Krümelchen, weil sie sich nicht von Anzeichen nähren muss. Die Hoffnung bekräftigt die irrationale Überzeugung, etwas Besseres sei möglich. Deshalb klingt sie in einem Sturm »am lieblichsten«. Für den Philosophen Ernst Bloch verlangte Hoffnung Menschen, »die sich in Werdende tätig hineinwerfen«.13 Für ihn war die Hoffnung geradezu die Grundlage des Denkens. Sofern menschliches Handeln von Natur aus vorausschauend ist, nämlich damit befasst, die Zukunft zu planen und erkennbar zu machen, ist die wichtigste Eigenschaft der Hoffnung die Projektion des Selbst in die Zukunft, ganz ähnlich wie beim Vertrauen beziehungsweise Selbstvertrauen. Sie gehört damit in die Reihe der »projektiven Emotionen«, in denen die grundsätzliche Zeitlichkeit unseres Handelns ebenso zum Ausdruck kommt wie die Gefühle, die wir mit der Antizipation der Zukunft verbinden.14

Institutionen der Hoffnung

Hoffnung trägt dazu bei, die Bedingungen zu schaffen und zu verändern, die den Kontext des Handelns bilden. In seiner Erforschung der Rituale von Cargo-Kulten konnte Victor Crapanzano diese Funktion der Hoffnung nachweisen.15 Cargo-Kulte sind Glaubenssysteme, die ihre Anhänger dazu veranlassen, Versöhnungsrituale zu praktizieren, zu singen und zu tanzen, damit ihnen erneut Güter aus Europa zufließen mögen. Da sie damit in der Regel keinen Erfolg haben, wirken sie leicht verrückt oder irrational. Wie aber Crapanzano behauptet, kann man solche Rituale als einen vernünftigen Weg betrachten, um den eigenen Kontext zu verändern. Die wesentliche Eigenschaft der Hoffnung ist, dass sie unseren Möglichkeitssinn entwickelt und schärft und damit unser Gefühl der Selbstermächtigung beeinflusst. Eine solche kognitive und emotionale Ausrichtung herrscht nicht in allen Kulturen und Gesellschaften vor. Wenn Hoffnung systematisiert, wenn sie in Institutionen und Weltanschauungen eingebettet wird, dann kann sie den Charakter der Handlungsfähigkeit und der Gesellschaft verändern. Die Sozialpsychologin Valerie Braithwaite spricht in diesem Sinne von Institutionen der Hoffnung:

Institutionen gelten als kulturelle Regulative der Lebensreise. Sie sind im weitesten Sinne als die miteinander verbundenen Regeln, Normen und Praktiken definiert, die soziale Begegnungen ordnen und den Weg zu begehrten Zielen weisen. Institutionen der Hoffnung sind eine Menge von Regeln, Normen und Praktiken, die sicherstellen, dass wir einen gewissen Spielraum haben, um nicht nur von einem besseren Leben und einer besseren sozialen Stellung träumen zu können, sondern auch (zumindest dem Anschein nach) über die Mittel zu gebieten, dies zu erreichen. Institutionen der Hoffnung bringen uns kollektiv weg von einem sozialen Skript, das unseren persönlichen Einsatz für die Gestaltung der Zukunft aussichtslos erscheinen lässt, hin zu einem Skript, in dem von uns erwartet wird, dass wir uns aktiv und verantwortungsbewusst an einer lebendigen Zivilgesellschaft beteiligen. Institutionen der Hoffnung sind Teil der Familie ermöglichender Institutionen, die die von regulativen Institutionen verhängten Zwänge kompensieren, lockern oder in Frage stellen.16

Mit ihrer Säkularisierung der christlichen Hoffnung hat die Aufklärung dieses Gefühl wahrscheinlich am besten systematisiert und institutionalisiert. Es war das entscheidende Gefühl der Aufklärung, in deren Verständnis der menschlichen Geschichte Fortschritt und Vervollkommnung eine zentrale Rolle spielten.17 Die Aufklärung institutionalisierte die Hoffnung in großem Umfang und machte sie zu ihrem Grundprinzip, indem sie sie von den christlichen Vorstellungen der Ursünde und der bösen Natur des Menschen befreite. Sie betrachtete den Menschen entweder als gut oder als moralisch formbar und ermöglichte damit die Idee des moralischen Fortschritts. Man konnte und sollte auf ein besseres Leben in dieser Welt hoffen, nicht erst in der nächsten, weil Menschen über die moralischen Fähigkeiten verfügten, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, zu einem also, in dem sich besser leben und handeln lässt (als heute). Man könnte dies als grundlegende Botschaft der Aufklärung bezeichnen. Die säkularisierte Hoffnung wurde in das alltägliche Handeln eingebettet. Der überragende Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, ernannte die Hoffnung zur entscheidenden moralischen Einstellung nicht des Glaubens, sondern der Vernunft, genauer: des Glaubens an die Vernunft. In seiner Kritik der reinen Vernunft formulierte er die berühmte Frage »Was darf ich hoffen?« als eine der drei Grundfragen der Philosophie.18 »Was darf ich hoffen?« bedeutet hier: Was kann ich mir vernünftigerweise erhoffen? Kant verschob die moralische Perspektive von der Vergangenheit auf die Zukunft und behauptete, die richtige moralische Einstellung gegenüber der Zukunft sei Hoffnung.19 Und was man sich erhoffen kann, das ist die eigene Glückseligkeit. In einem vernünftigen Zustand ist eine solche Glückseligkeit proportional zur eigenen Tugend, doch weil die reale empirische Welt Tugend nicht proportional mit Glückseligkeit belohnt, müssen wir hoffen, dass es ein Prinzip gibt – Gott –, welches eine Entsprechung zwischen Tugend und Glückseligkeit sicherstellen wird. Selbst wenn wir dies nicht mit theoretischen (wissenschaftlichen) Gründen rechtfertigen können, haben wir doch praktische Gründe, es zu tun.

Obwohl Kant Hoffnung nicht als Gefühl verstand, sondern als moralische Einstellung,20 können wir sie meines Erachtens überzeugend als ein Gefühl der praktischen Vernunft begreifen, das im Glauben an die Vernunft aufgeht. Noch einmal Ernst Bloch: »Die Arbeit dieses Affekts [der Hoffnung] verlangt Menschen, die sich ins Werdende tätig hineinwerfen, zu dem sie selber gehören.«21 Dafür, dass sich Menschen in das Werdende hineinwerfen konnten, brauchte es ein neues Bild der Welt, demzufolge sie von einem Grundprinzip des Guten (Fortschritt) beherrscht wird. Wir können uns ein solches »Vorwärtswerfen« des Selbst nicht ohne ein Gefühl vorstellen und nicht ohne die Macht menschlichen Handelns stillschweigend vorauszusetzen. Die Hoffnung macht das Selbst außerdem zu einem grundsätzlich offenen, unabgeschlossenen, das sich an das Gute einer vernünftigen Welt anpassen kann, einer Welt also, die dem menschlichen Bedürfnis nach Verbesserung entgegenkommt. In diesem Kontext wird die menschliche Glückseligkeit zu einem plausiblen Projekt.

Durch die Hoffnung bewirkte die Aufklärung – und die Moderne insgesamt – eine radikale Transformation des Vorstellbaren. Sie brachte das »Mögliche«, das »Wünschenswerte« und das »Ideale« nicht nur in die Reichweite menschlichen Handelns, sondern verwandelte sie in intrinsische Dimensionen von Handlungsfähigkeit und Handeln. Es entstand die neue kulturelle und gedankliche Kategorie eines »möglichen Lebens«, in der die grundsätzliche Formbarkeit der Person und der sozialen Welt, die vor ihr lag, zum Ausdruck kam. Das »Mögliche« war weder in einem ungreifbaren Jenseits angesiedelt, noch bestand es in einer statistischen Wahrscheinlichkeit. Es war eine neue Ressource, die die soziale Welt bot, zugleich auch eine kognitive Fähigkeit, das Selbst in die Zukunft hinein zu entwerfen, das eigene Lebensziel zu bestimmen und an der Kurve der eigenen individuellen Absichten und Entwürfe auszurichten. »Ansprüche«, »Ehrgeiz«, »Träume«, »Sehnsucht«, »Streben«: die zunehmende Verbreitung dieser Begriffe zeigte das Aufkommen einer neuen sozialen Grammatik der Person an, die auf dem neuen Vokabular der Hoffnung beruhte. Das Verhältnis des Individuums zur Zeit und zu den sozialen Zwängen wurde durch die kognitiven und emotionalen Merkmale des sozialen Strebens umgewandelt. Die vorausschauende Vorstellungskraft wurde zu einem wesenhaften Bestandteil der Praxis des Individualismus. Ehrgeiz, Streben, Erwartung, Zweck, Ziel, Bestimmung, Berufung, Plan, Lebensziel, Lebenstraum – all diese Ideen zur Ausrichtung des Selbst bezeichnen eine gleichermaßen emotionale und kognitive Eigenschaft eines im Wesentlichen zukunfts- und fortschrittsorientierten Individuums. Die Hoffnung wurde zu dem Pfeilbogen, der die Individuen unsichtbar auf sozialen Pfaden vorantrieb, die ihnen im Prinzip offenstanden und sich ihren Absichten fügten. Die westliche Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist voll von Romanfiguren, die die Welt unter dem Leitstern ihres Ehrgeizes betreten, dieser neuentdeckten kognitiven und emotionalen Kategorie, welche durch eine sozial mobilere Gesellschaft ermöglicht und durch die Hoffnung auf Erfolg beseelt wurde. Honoré de Balzacs Eugène de Rastignac und Lucien de Rubempré, Stendhals Julien Sorel, gefolgt von Theodore Dreisers Clyde Griffiths und (aus der Perspektive des späten 20. Jahrhunderts geschrieben) Steven Millhausers Martin Dressler: diese fiktionalen Charaktere deuteten auf eine neue Gesellschaftsordnung, in der man durch persönlichen Ehrgeiz, Anspruchsdenken und Selbststeuerung reüssieren konnte. Das ging so weit, dass konservative französische Politiker im 19. Jahrhundert befürchteten, der Roman verursache soziale Unruhen, weil er die Menschen ermutigte, über ihre Verhältnisse zu träumen und entsprechend zu handeln.22

Um das Neue an dieser Organisationsweise des Wollens und Handelns in seinem ganzen Ausmaß zu erfassen, können wir sie mit Kastengesellschaften vergleichen, die keine Hoffnungen nähren, weil sie keine Wege zu sozialer Mobilität bahnen. Sie lehren vielmehr eine prinzipielle Schicksalsergebenheit und Akzeptanz der eigenen sozialen Stellung statt irgendwelcher Erwartungen. Die indischen Begriffe Varna (»Klasse, Stand, Farbe«) und Jati bezeichnen eine Einstufung von Menschen in Gruppen nach verschiedenen Gesichtspunkten, wobei Abstammung zentral ist, denn diese Einstufung erfolgt qua Geburt. Die Gruppenzugehörigkeit wirkt sich dann auf die Berufswahl und sehr stark auf die Endogamieregeln aus, bestimmt also, wer wen heiraten kann.23 Auch wenn dieses System flexibler ist, als Beobachter von außen gerne annehmen, begrenzen solcherart apriorische Zuweisungen eines sozialen Ortes die Art von Ansprüchen, die die Menschen haben. Dasselbe gilt für die mittelalterliche europäische Ständegesellschaft. »Stand« oder »ordo« (beide Begriffe sind praktisch austauschbar) waren die Bezeichnungen für die sozialen Gruppen, in die die Menschen hineingeboren wurden und aus denen sie kaum herauskommen konnten.24 Wie der niederländische Historiker Johan Huizinga feststellte, werden Gruppen und Individuen in solchen Gesellschaften durch eine statische Eigenschaft beschrieben:

Stand ist notwendiger Zustand, »estat« oder »ordo«; der Begriff schließt die Idee einer gottgewollten Entität ein. Die Wörter »estat« und »ordre« decken im Mittelalter eine hohe Anzahl menschlicher Gruppierungen ab, die für unsere Begriffe sehr ungleichartig sind: die Stände im heutigen Sinn, die Berufe, den Ehestand nebst dem jungfräulichen, den Stand der Sünde (estat de pechié), die vier »estats de corps et de bouche« am Hof: Panetiers, Schenke, Vorschneider und Küchenmeister, die Empfänger geistlicher Weihen: Priester, Diakone, Subdiakone usw., die Klosterorden, die Ritterorden.25

Zwar konnten die Bauern aufbegehren und sich der Herrschaft ihrer lokalen Herren widersetzen, doch waren solche Erhebungen in der Regel nicht von der Hoffnung auf eine andere politische Ordnung begleitet. Weil die meisten Positionen in der Gesellschaft erblich waren, beanspruchte der Gedanke an die Einnahme einer sozialen Position auch nicht die gesamte Persönlichkeitsstruktur eines Menschen. Das gemeine Volk gehörte größtenteils zur untersten Kategorie, und welcher Spielraum auch immer bestand, um an dieser Lage etwas zu ändern, so jedenfalls meist kein großer, und man glaubte auch nicht, dass er nur von den eigenen Anstrengungen abhing. Wenn Individuen etwas anstrebten – und das taten sie natürlich in gewissem Maße –, dann wahrscheinlich bescheidene Ziele und Verbesserungen wie die Vergrößerung des eigenen Felds, bessere Ernten oder die Heirat mit der Tochter des Nachbarn. Das ist weit von der radikalen Aufwärtsmobilität entfernt, die sich die heutigen Gesellschaften vorstellen. In welchem Umfang man sein eigenes Geschick in den nach wie vor mächtigen kastenähnlichen Systemen, die sich in heutigen demokratischen Gesellschaften finden, wirklich verbessern kann, bleibt umstritten. Unstrittig aber ist, dass die meisten zeitgenössischen Menschen mit einem Gefühl der Hoffnung ins Leben starten.

Zwischen Theologie und Politik

Mit ihrem Appell, unser Verhältnis zur Gegenwart zu ändern, regt Hoffnung uns zum Handeln an. Wie wir gesehen haben, richtet sie das Denken auf die Zukunft aus, schafft Vertrauen und Zuversicht, wodurch sie die Menschen im Glauben an den Erfolg ihres Tuns bestärkt. Auf diese Weise wird Hoffnung zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Dieselbe Performativität zeigt sich, wenn wir von der individuellen zur kollektiven Ebene übergehen. Deshalb ist die Hoffnung immer auch schon eine entscheidende Ressource für kollektives politisches Handeln. Sie beflügelt die Erwartungen der Menschen – was man im Allgemeinen als Tocqueville-Effekt bezeichnet –, und diese Erwartungen lösen ihrerseits den Wunsch nach Veränderung und Handeln aus. Tatsächlich hatte der große französische Autor in seinem Buch L'Ancien Régime et la Révolution (1856) festgestellt, dass »die Französische Revolution in jenen Regionen Frankreichs am enthusiastischsten unterstützt wurde, in denen bereits erfolgreiche Reformen durchgeführt worden waren. Der Grund dafür sei, so Tocqueville, dass, wenn die Dinge sich zum Besseren verändern, dies bei den Menschen die Hoffnung weckt, dass sie besser werden können.«26 Hoffnungen zu wecken, hat geschichtlich dramatische politische Konsequenzen gehabt.

Ein eindringliches Beispiel für die Auswirkungen einer aufgeklärten Hoffnung auf das politische Handeln ist die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776. Eine Formulierung aus dem berühmten Dokument veranschaulicht, wie die politische und humanistische Vision der Aufklärung die Hoffnung institutionalisierte:

[…] daß, wenn irgendeine Regierungsform sich für diese Zwecke als schädlich erweist, es das Recht des Volkes ist, sie zu ändern oder abzuschaffen und eine neue Regierung einzusetzen und sie auf solchen Grundsätzen aufzubauen und ihre Gewalten in der Form zu organisieren, wie es zur Gewährleistung ihrer Sicherheit und ihres Glücks geboten zu sein scheint.27

Davon auszugehen, dass das Volk a priori mit dem Recht versehen ist, jede Regierung abzuschaffen, die es ihm nicht ermöglicht, sich sicher und glücklich zu fühlen, war ein radikales Bekenntnis zur Hoffnung in den menschlichen Angelegenheiten. Die selbstbestimmte Vernunft und der menschliche Wille wurden mit der Macht betraut, die Welt zu vervollkommnen.

Dieses Beispiel zeigt, dass die aufgeklärte Hoffnung in eine »zukunftsorientierte« Ideologie eingebettet war, wie der britische Politikwissenschaftler Michael Freeden das genannt hat.28