Falsche Freunde - Wolfgang Schorlau - E-Book
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Falsche Freunde E-Book

Wolfgang Schorlau

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Beschreibung

Eine Handvoll reicher Italiener möchte Venedig in ein Disneyland für Superreiche verwandeln. Ein Mordfall bringt Commissario Morello ins Spiel – und ihn selbst in höchste Gefahr.  Weg mit den ärmlichen Tagestouristen! Weg mit den Sandalen tragenden Studienräten aus Deutschland, die nur zwei, drei Tage auf der Biennale bleiben! Und vor allem: raus mit den noch verbliebenen Bewohnern Venedigs. Die Gruppe, die sich auf das Erbe der venezianischen Dogen beruft, über Jahrhunderte Herrscher der Serenissima, bereitet eine beträchtliche Erweiterung des Flughafens vor. Sie plant eine U-Bahn, die unter der Lagune hindurch vom Festland nach Venedig führt. Die Pläne sind fertig. Nur eine klitzekleine Kleinigkeit fehlt noch: Die zuständigen Politiker müssen bestochen werden. Diese Aufgabe übernimmt der treue Buchhalter Paolo Salini. Doch als dieser ermordet wird und das Bestechungsgeld verschwindet, übernimmt Commissario Morello den Fall und bringt das lang geplante Projekt in Gefahr. Da beschließen die reichen Männer: Morello muss weg … Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo, die bereits zwei Bestseller um ihren aus Sizilien stammenden Commissario geschrieben haben, sagen über ihr neues Buch: »Die Pläne zur Umgestaltung Venedigs muten nur auf den ersten Blick absurd an. Nach unseren Recherchen existieren sie wirklich. Wenn unser Buch hilft, diese Pläne zu durchkreuzen, haben wir den richtigen Job gemacht.«

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Seitenzahl: 485

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Ähnliche


Wolfgang Schorlau / Claudio Caiolo

Falsche Freunde

Commissario Morello ermittelt in Venedig

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Wolfgang Schorlau / Claudio Caiolo

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

zur Kurzübersicht

Über Wolfgang Schorlau / Claudio Caiolo

Wolfgang Schorlau lebt und arbeitet als freier Autor in Stuttgart. In seiner gefeierten und verfilmten Dengler-Reihe sind mittlerweile zehn Krimis erschienen, außerdem bei KiWi die Romane »Sommer am Bosporus« und »Rebellen«. Er wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis sowie 2012 und 2014 mit dem Stuttgarter Krimipreis ausgezeichnet.

 

Claudio Caiolo wurde in Sizilien geboren und besuchte die Theaterschule Avogaria in Venedig. 1996 zog er nach Stuttgart und schrieb, inszenierte und spielte Theaterstücke für Kinder und Erwachsene. Zusammen mit Stefan Jäger schrieb er mehrere Drehbücher für Filmproduktionen und wirkte in vielen Fernsehfilmen als Schauspieler mit.

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Über dieses Buch

Eine Handvoll reicher Italiener möchte Venedig in ein Disneyland für Superreiche verwandeln. Ein Mordfall bringt Commissario Morello ins Spiel - und ihn selbst in höchste Gefahr.

Weg mit den ärmlichen Tagestouristen! Weg mit den Sandalen tragenden Studienräten aus Deutschland, die nur zwei, drei Tage auf der Biennale bleiben! Und vor allem: raus mit den noch verbliebenen Bewohnern Venedigs. Eine Gruppe, die sich auf das Erbe der venezianischen Dogen beruft, über Jahrhunderte Herrscher der Serenis­sima, bereitet eine beträchtliche Erweiterung des Flughafens vor. Sie plant eine U-Bahn, die unter der Lagune hindurch vom Festland nach Venedig führt. Die Pläne sind fertig. Nur eine klitzekleine Kleinigkeit fehlt noch: Die zuständigen Politiker müssen bestochen werden. Der treue Buchhalter Paolo Salini wird erschlagen aufgefunden. Commissario Morello, seine Stellvertreterin Anna Klotze und das ganze Team rätseln über das Motiv dieses unerklärlichen Mordes. Als sie ermitteln, kommen sie den eigentlichen Herrschern von Venedig zu nahe. Diese haben erhebliche Summen in den Umbau der Stadt gesteckt. Und jeder, der diese Pläne stört, muss weg. Morello und sein Team ahnen nichts von der Gefahr, in die sie sich begeben.

 

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Inhaltsverzeichnis

Widmung

Figuren

1. Tag Montag

2. Tag Dienstag

3. Tag Mittwoch

4. Tag Donnerstag

5. Tag Freitag

6. Tag Samstag

7. Tag Sonntag

8. Tag Montag

Die folgenden Tage

Nachwort

Zwei sizilianische Rezepte von Claudio

Für Alvise – und alle, die

für ein lebenswertes Venedig kämpfen

Figuren

Das Team

Antonio Morello, Commissario

Anna Klotze, Ispettrice Sostituta Commissario

Ferruccio Zolan, Vice Commissario

Alvaro Camozzo, Bootsführer

Mario Rogello, Assistente Capo

Viola Cilieni, Sekretärin

Felice Lombardi, Vice Questore, Morellos direkter Chef

Dottoressa Luisa Gamba, Gerichtsmedizinerin

Attilio Perloni, Questore, und seine Frau Elvira Masi

Claudio, ehemaliger Taschendieb

Elena Parisi, Journalistin von La Voce della Laguna

Wichtige Figuren

Paolo Salini, Buchhalter, stirbt in der ersten Szene

Filiberto Gabbia, genannt: der Architekt, Nachkomme eines Dogen, vermietet Palazzi und Luxussuiten an reiche Leute

Giulio Scarpa, Nachkomme des Dogen, der nur einen Tag regierte

Rita Ferretti,CEO Banca Italiana, Mailand

Weitere Auftritte

Carla Bellomi, Zeugin, findet die Leiche

Eine Blumenhändlerin

Renato Tabian, ein Weinhändler

Maria Polia, Salinis Putzfrau

Eine kleine vietnamesische Frau

Ein böser Boxer

Ein junger Mann, der schnell rennen kann

Afrore Bregu, Küchenhilfe bei Filiberto Gabbia

Area, ihre siebenjährige Tochter

Aurelio, der Mann im Bademantel

Padre Maurizio, der Priester der Kirche San Sebastiano (Dorsoduro)

Ein junger Priester namens Lorenzo

Antonella Salini, Schwester des Opfers Paolo Salini

Ilaria Michetti und Manuela Bini, haben Salinis Steuerberatungsbüro übernommen

Franco Zanca, Fraktionsvorsitzender der Partei LIGA im Regionalparlament von Venetien

1. TagMontag

Dorsoduro, Venedig, im Oktober 2022

An dem Tag, an dem der Buchhalter Paolo Salini ermordet wird, streckt der Winter zum ersten Mal in diesem Herbst seine eisigen Finger nach Venedig aus. Er bläst kalten Wind über die Kanäle, der vor dem wärmeren Wasser zurückschreckt und tief hängende Nebelschwaden aufsteigen lässt, die den wenigen die Sicht nehmen, die sich, aus welchen Gründen auch immer, morgens um fünf Uhr durch die Stadt bewegen.

Einer von ihnen ist Paolo Salini. Zielstrebig schreitet er durch die nebelverhangenen Gassen. Sein Schritt ist ausgreifend, wie dies nur langjährigen Bewohnern Venedigs zu eigen ist. Das Gesicht des Buchhalters ist gelblich und zerfurcht, als wäre es niemals durch ein Lachen erwärmt worden. Die Augen glänzen kalt, sein Blick wandert unablässig von rechts nach links und wieder zurück.

Die Gestalt Salinis ist lang und mager, er läuft etwas vornübergebeugt. Es scheint, als würde er nur von dem eng anliegenden grauen Anzug zusammengehalten, dessen teurer Stoff auf der flachen Brust spannt. Seine rechte Schulter hängt etwas tiefer. Auf dieser Seite trägt er einen burgunderroten Lederkoffer. Das rechte Handgelenk und der Griff des Koffers sind mit graumetallenen Handschellen über eine kurze Stahlkette verbunden.

Salini hält auch nicht inne, als er an seinem Ziel, dem Uferweg Fondamenta de la Pescaria, angelangt ist. Er umgeht die mit einem roten Band gesicherte Baustelle, registriert mit einem kurzen Blick die mit groben Holzlatten verdeckte Grube und steuert zielsicher auf die kleine Grünanlage neben dem Gebäude der Guardia di Finanza zu, wischt mit einem Taschentuch die Parkbank vor der hohen Mauer der Behörde trocken, setzt sich an den rechten Rand, drückt den Rücken durch, wie es seine Art ist, und wartet. Nach einer Weile sieht er auf seine Armbanduhr. Wie immer ist er auch jetzt eine Viertelstunde zu früh. Den Pilotenkoffer hat er neben sich im Gras abgestellt. Die Handschelle zieht den rechten Arm herunter, eine Körperhaltung, die er als äußerst unangenehm empfindet.

So sitzt er, bis er erschlagen wird.

Im Polizeiboot

Im Dunst des Nebels glimmt der Scheinwerfer eines Vaporettos auf und erlischt sofort wieder. Das Blaulicht des Polizeibootes beleuchtet für den Bruchteil einer Sekunde eine Häuserwand, die Pfähle einer Anlegestelle und festgezurrte Gondeln. Sicherheitshalber lässt Alvaro Camozzo hin und wieder das Nebelhorn ertönen, während das Boot, das eine beachtliche Bugwelle vor sich herschiebt, in den Kanal Rio di Santa Margherita einbiegt. Aus einem offenen Fenster weht ein Fetzen Musik zum Boot: das Klingen der Kasse aus Pink Floyds Money.

Commissario Antonio Morello, der Leiter der Abteilung für Gewaltverbrechen der Polizia di Stato in Venedig, zieht den Reißverschluss seiner dunkelgrünen Steppjacke bis zum Kinn hoch. Die feuchte Kälte kriecht ihm bis auf die Knochen. Für einen Sizilianer ist der Herbst in dieser Stadt ein unerklärliches und vor allem ein unangenehmes Phänomen. Venedig im Nebel ist für Morello nicht schaurig, romantisch oder gar geheimnisvoll. So hat er es bei einigen Schriftstellern und Reisejournalisten gelesen. Für ihn ist Venedig Ende Oktober scheußlich. Nass und kalt. In seiner Heimatstadt Cefalù im Norden von Sizilien zeigt das Thermometer tagsüber manchmal noch 28 Grad, die Nächte sind lau und schön, und ein Pulli ist eine ausreichende Oberbekleidung.

Der stellvertretende Commissario Ferruccio Zolan scheint ähnlich zu empfinden. Mit verkniffenem Gesicht und mahlendem Kiefer sitzt er auf der Bank an der Steuerbordseite und starrt mürrisch auf einen nicht identifizierbaren Punkt in der Mitte des Polizeibootes. Mit den Fingern seiner rechten Hand trommelt er einen unhörbaren nervösen Rhythmus auf das lackierte Holz.

Um die Stimmung zu lockern, sagt Morello: »Scheußliches Wetter, Ferruccio, nicht wahr? Und dann noch ein Mord am frühen Morgen.«

Zolan schaut nicht auf. »Das Wetter ist hier immer so, wenn der Winter kommt, Commissario«, knurrt er. »Und der Beruf? Haben wir uns den nicht selbst ausgesucht?«

»Wenn dir die Kälte nichts ausmacht und die kommende Morduntersuchung für dich nur Routine ist – warum bist du heute Morgen so mies drauf?«

Zolan steht schwerfällig von seinem Sitz auf, dreht sich um, starrt in den undurchdringlichen Nebel, als läge dort der Grund seiner schlechten Laune verborgen.

Morello stellt sich neben ihn und legt ihm einen Arm um die Schulter.

»Was ist passiert, Ferruccio?«, fragt er leise.

»Nichts.«

Und nach einer kleinen Pause: »Jedenfalls nichts Dienstliches.«

Ferruccio Zolans Hände krampfen sich dabei so fest um das Geländer der Reling, dass die Knöchel weiß hervortreten.

»Rede mit mir.«

»Mir wurde die Wohnung gekündigt«, sagt Zolan so leise, dass Morello ihn kaum versteht. »Meine Vermieter setzen mich und meine Familie auf die Straße. Wie einen Hund.« Er dreht den Kopf zu Morello. »Wie einen Hund«, wiederholt er und blickt wieder ins trübe Wasser des Kanals.

»Hast du schon eine neue Wohnung gefunden?«

»In Venedig? Mit dem Gehalt eines Polizisten? Aussichtslos.«

Er dreht sich um, und Morello schaut in ein verbittertes Gesicht.

»Den Aufzeichnungen zufolge lebten meine Vorfahren seit dem 15. Jahrhundert in Venedig. Ich werde der Erste in der Familie sein, der den vielen anderen Venezianern nach Mestre oder Marghera folgt. Was für eine Schande.«

Wieder wendet er sich dem nebeligen Kanal zu.

Morellos Blick gleitet ebenfalls über das Wasser. »Ich will versuchen, dir zu helfen. Doch jetzt haben wir einen Mordfall. Wenn wir ihn gelöst haben, kümmern wir uns um deine Wohnungsfrage. Ich rede mit deinem Vermieter. Mit der ganzen Autorität eines Commissarios. Wem gehört die Wohnung?«

Zolan verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. »Sehr reichen Leuten, Commissario, Nachfahren von Dogen. Diese Leute verfolgen ihre Stammbäume bis Kain und Abel zurück. Sie haben nicht nur mir gekündigt, sondern dem halben Viertel.«

»Wer immer es ist: Ich spreche mit diesen Leuten. Versprochen.«

»Danke, Commissario – aber gegen die Leute, die Venedig kontrollieren, haben Menschen wie Sie und ich keine Chance. Geld regiert die Welt. Und dagegen kann die beste Polizei nichts ausrichten.«

»Wir sind da!«, ruft Alvaro vom Steuerrad aus und drosselt den Motor.

Am Tatort, Fondamenta de la Pescaria

Als das Polizeiboot am Ufer der Fondamenta de la Pescaria anlegt, springt Commissario Morello als Erster ans Ufer. Hinter einer kleinen Mauer spannt sich rotes Absperrband um eine Grasfläche. Grelles weißes Licht fällt aus drei hoch aufragenden Scheinwerfern auf den Tatort. Die Kollegen haben bereits den Trampelpfad abgesteckt, auf dem die Beamten der Spurensicherung zu dem Toten gelangen können. Das gleißende Licht fällt auf einen männlichen Körper, der zusammengesackt auf einer Bank sitzt, schlaff, der Kopf auf die Brust gesunken, der Oberkörper seitlich weggekippt. Der Polizeifotograf hebt gerade die Kamera über einer klaffenden Wunde auf dem Hinterkopf des Mannes. Eine Serie von Blitzlichtern zuckt in den Nebel, der sie sofort verschluckt.

»Commissario!« Ferruccio Zolan zupft Morello am Ärmel. »Das ist unheimlich. Ein Gewaltverbrechen in dem Stadtviertel, das Athena vorhergesagt hat.«

Morello nickt. »Stimmt: Dorsoduro. Wie sie es angekündigt hat.«

»Wie kann so etwas sein, Commissario? Das ist ein Rätsel.«

»Ich verstehe das genauso wenig wie du, Ferruccio.«

Eine hochgewachsene Polizistin steht vor ihnen. Ohne sich mit Begrüßungsformeln aufzuhalten, gibt Anna Klotze, Morellos zweite Stellvertreterin, ihnen einen kurzen Überblick.

»Der Mann wurde ermordet. Jedoch kein Raubmord. In der Gesäßtasche des Toten habe ich eine Brieftasche gefunden. Ausweispapiere, Kreditkarten und 150 Euro Bargeld. Alles unberührt. Auch sein Handy haben wir sichergestellt.«

»Name?«

»Paolo Salini. 56 Jahre. Hat in der Calle de l’Avogaria gewohnt, nur ein paar Minuten von hier. Wir checken gerade, ob er vorbestraft ist oder in einer unserer Datenbanken auftaucht.«

Morello folgt Anna Klotze auf dem Trampelpfad zu dem Toten und beugt sich über ihn. »Tatwaffe?«

»Wir haben neben der Leiche ein Stück Abflussrohr, genauer gesagt: einen Rohrbogen sichergestellt. Außerdem haben wir einen Holzpfosten aus dem Kanal gefischt. Beides gehört wohl zu der Baustelle.« Sie deutet auf einen roten Bauzaun. »Hier ist das Abwasserrohr erneuert worden, und jetzt werden neue Bodenplatten verlegt. An diesen Pfosten wird das rote Absperrband befestigt. Einer dieser Pfosten schwamm im Kanal. Vielleicht wurde das Opfer damit erschlagen.«

Sie hebt zwei große durchsichtige Beweissicherungsbeutel in die Höhe. In einem pendelt der Rohrbogen, aus dem anderen ragt der nasse Holzpfosten.

Morello beugt sich über das gebogene Rohr. »Was sind das für Fäden am Gewinde?«

»Ich vermute: venezianischer Hanf. Damit dichtet man den Anschluss zum nächsten Rohr ab.«

»Und diese dunklen Flecken auf dem Metall?«

»Vielleicht Blut. Aber das muss die Spurensicherung …«

Morello nickt. »Wer hat die Leiche gefunden?«

»Eine Mitarbeiterin der Müllabfuhr. Sie sammelt jeden Morgen an dieser Stelle die Mülltüten ein. Ihr Name ist Carla Bellomi. Sie wartet an der kleinen Steinbrücke auf Sie.«

»Sehr gut. Ist die Gamba schon da?«

»Natürlich ist die Gamba schon da.« Eine kleine, ältere Frau in einem weißen Kittel steht plötzlich neben ihm. »Die Gamba war lange vor Ihnen am Tatort«, sagt sie munter. »Guten Morgen, Commissario. Nicht ganz Ihre Zeit, vermute ich.«

»Guten Morgen, Dottoressa«, knurrt Morello. »Weiß Gott, nicht meine Zeit, aber Sie scheinen ja eine begeisterte Frühaufsteherin zu sein. Was sagt die Gerichtsmedizin zu dem Toten?«

»Die Gerichtsmedizin wundert sich, dass Verbrechen neuerdings vorhergesagt werden können. Es freut mich aber auch, denn das wird meinen Terminkalender enorm entlasten.« Sie verzieht das Gesicht. »Entschuldigen Sie, ich muss Ihre anregende Party leider jetzt schon verlassen. In einer halben Stunde wird jemand umgebracht werden, und ich will rechtzeitig am Tatort sein.«

Morello stöhnt. »Haben sich die Zauberkräfte von Athena schon bis zur Gerichtsmedizin herumgesprochen?«

Dottoressa Gamba lacht. »Natürlich. Jeder im Kriminaldienst von Venedig redet über Athena. Leider rekonstruiert sie noch keinen Tathergang. Das müssen wir noch selbst machen. Die Todesursache bei diesem Mord ist die Einwirkung stumpfer Gewalt. Das Opfer wurde von zwei mit großer Kraft ausgeführten Schlägen mit einem stumpfen Gegenstand auf der linken hinteren Kopfseite getroffen. Schauen Sie«, die Gerichtsmedizinerin beugt sich über den Toten und weist mit dem Zeigefinger auf die Wunde am Genick, »hier können Sie sehr schön die Abdrücke sehen.«

»Etwa fünf Zentimeter breit.«

»Gut geschätzt. Es sind viereinhalb. Doch den ersten Schlag hat der Mann vermutlich überlebt. Ein zweiter Schlag traf ihn an den unteren Halswirbeln und führte zu einer vollständigen Fraktur. Die Knochen wurden durch die enorme Wucht des Schlages komplett zertrümmert. Bei der Obduktion werde ich sicher mehrere Bruchstücke finden. Das Gehirn wurde vermutlich nicht verletzt.«

»Was ist die Tatwaffe? Der Pfosten oder dieses gebogene Rohrstück?«

»Eher der Rohrbogen.«

»Der Mann hat, als er zum ersten Mal getroffen wurde, den Kopf abgewendet?«

Die Dottoressa nickt. »Die Leiche zeigt keinerlei Abwehrverletzungen. Normalerweise müsste der Mann den Arm gehoben haben, um das Gesicht und den Hals vor dem zweiten Schlag zu schützen. Das würde ich tun. Sie vermutlich auch. Dann wäre er am rechten Unterarm getroffen worden. Doch da ist nichts zu sehen, nicht das kleinste Hämatom. Nur unterhalb des Handgelenks ein ringförmiger Abdruck, als hätte er einen engen Armreif oder etwas Ähnliches getragen.«

»Er hat den Arm nicht gehoben, um den zweiten tödlichen Schlag abzuwehren?«

»Das würde jede kluge Frau tun. Dieser Mann tat es nicht.«

»Todeszeitpunkt?«

»Er ist noch ganz frisch, der Herr. Um es Ihnen genauer zu sagen, werde ich jetzt seine Körpertemperatur im Mastdarm messen.«

»Sie haben einen interessanten Beruf, Dottoressa.«

»Ich weiß, aber unterbrechen Sie mich nicht mit irrelevanten Bemerkungen. Wie Sie während Ihrer Polizeiausbildung hoffentlich gelernt haben, bleibt die Temperatur aufgrund des Wärmeaustauschs im Körper zwei oder drei Stunden konstant, erst dann fällt sie um ein Grad pro Stunde, bis die Leiche die Umgebungstemperatur angenommen hat. Das ist noch nicht geschehen. Die Außentemperatur an diesem Tatort habe ich mit zehn Grad gemessen. Die Leiche ist noch deutlich wärmer. Das ist der erste Hinweis, dass der Mann höchstens drei Stunden tot ist. Den zweiten Hinweis sehen Sie hier …«

Die Dottoressa bückt sich und krempelt dem Toten das Hosenbein hoch. Auch Morello geht in die Hocke.

»Sehen Sie sich die Wade an.«

Sie deutet auf einen kleinen blauen Fleck, kaum größer als ein Stecknadelkopf.

»Aha. Die ersten Totenflecken bilden sich«, sagt Morello.

Sie sieht ihn an. »Sie wissen, warum Totenflecken entstehen?«

»Jawohl, Dottoressa, ich beweise Ihnen gern, dass ich ein aufmerksamer Polizeischüler war: Wenn das Herz nicht mehr schlägt, stoppt der Blutkreislauf. Infolge der Schwerkraft sinkt das Blut in die am tiefsten gelegenen Körperteile und füllt die dort liegenden Blutgefäße, bis sie prall und erweitert sind. Von außen nehmen diese Stellen eine grau-violette Färbung an. Das sind die Totenflecken. Sie entstehen immer in dem Teil des Körpers, der dem Boden am nächsten ist. Sie sind zunächst kleinfleckig, wie an dieser Wade, und weiten sich nach und nach aus. Sie sehen, ich habe in meiner Ausbildung aufgepasst und nichts vergessen.«

Die Rechtsmedizinerin gähnt und nickt. »Bin total beeindruckt und hingerissen ob so viel sizilianischer Fachkenntnis. Schauen Sie: Bei dieser Leiche beginnt die Senkungsblutfülle gerade. Das Blut ist noch dünn. Hier …«

Sie presst ihren Daumen auf den Totenfleck. »Ich kann das Blut in den Gefäßen leicht wegschieben. Es ist nicht verdickt oder zersetzt, sondern noch sehr flüssig.«

Sie steht auf. »Ich schätze: Er ist vor maximal drei, vielleicht vor zwei Stunden gestorben. Näheres kann ich Ihnen sagen, wenn ich …«

»Ich weiß«, sagt Morello und tritt zurück.

»Ich muss die Obduktion immer noch mit den eigenen Händen durchführen«, sagt Luisa Gamba spöttisch. »Im Gegensatz zu euch habe ich keine Athena, die mir hilft.«

Palazzo Gabbia (1)

Im Schlaf haben sich die beiden oberen Knöpfe des hellblauen Seidenpyjamas gelöst und geben den Blick auf einen trainierten Oberkörper frei. Allerdings bewundert niemand diesen Anblick, seine Frau liegt auf der anderen Seite des Bettes, die Decke über den Kopf gezogen, und schläft tief und fest. Filiberto Gabbia atmet ruhig ein und aus, und in seinem Traum rennt er als Kind mit seinem Freund Giulio Scarpa durch die verwinkelten Gänge des Palazzo Gabbia. Er legt den Zeigefinger über die Lippen, denn sie verstecken sich vor den Eltern hinter der Lehne der langen Couch in der Empfangshalle. Als Mama und Papa endlich ins Boot steigen, spähen sie hinter dem Vorhang hervor, sehen zu, wie die Eltern ablegen und wie das Boot auf dem Canal Grande immer kleiner wird. Nun haben sie endlich den Palazzo für sich allein. Jubelnd rennen sie die Treppe hinunter in die große Küche im Erdgeschoss, reißen die Türen zu der Vorratskammer auf, wo die Karaffen mit der Zitronenlimonade stehen.

Wenn er träumt, gehört der ganze Palazzo Gabbia immer noch seiner Familie.

Gabbia lächelt im Schlaf. Seine Hand schiebt sich auf die andere Bettseite und findet die Hüfte seiner Frau. Die Berührung beruhigt ihn. Der Traum ist beendet.

Das Schlafzimmer der Familie liegt im obersten Stock des Palazzo Gabbia. In diesem alten Bau wurde er geboren, hier spielte er mit Zinnsoldaten und holzgeschnitzten Galeeren, an deren Ruderstangen kleine schwarze Sklavenfiguren saßen. Mit Ausnahme seiner Studienjahre in Stanford lebte er immer innerhalb dieser prachtvollen Mauern direkt am Canal Grande. Für ihn ist es unvorstellbar, in irgendeinem anderen Haus zu leben, nicht einmal in dem noch größeren Palazzo seines Freundes Giulio Scarpa.

Denn er ist ein direkter Abkomme von Francesco Gabbia, der von 1752 bis 1762 als Doge in Venedig regierte. Dieser Herkunft – und dem kleinen Park von Brust- und Beinpressen, die er im Sportzimmer installieren ließ – verdankt er seine aufrechte Haltung. Seine Herkunft und seine Haltung machen ihn stolz und sichern ihm Respekt in den besseren Kreisen Venedigs. Bis heute. Die Leute zogen den Hut vor seinem Vater, und noch immer wird er jedes Jahr zum jährlichen Ballo del Doge eingeladen.

Doch leider ist heutzutage mit edler Herkunft kein gesichertes Einkommen verbunden. Die größte Schmach seines Lebens war es, als er Erdgeschoss und die erste Etage des Palazzos an eine internationale Immobiliengruppe verkaufen musste. Seine Eltern hatten ihm den Bau und einige ertragreiche Aktienfonds hinterlassen. Doch leider hatte er nach Abschluss seines Architekturstudiums diese Vermögenswerte mit zwei seiner großangelegten Projekte im Softwarebereich in der IT-Blase nach der Jahrhundertwende pulverisiert, und plötzlich stand er mitsamt seiner Familie vor dem Ruin. Alles, was er retten konnte, war das oberste Stockwerk, keine 400 Quadratmeter, die er jetzt mit seiner Frau und den beiden Kindern bewohnt. Von dieser Schmach hat er sich immer noch nicht erholt, und seine Träume erinnern ihn Nacht für Nacht daran.

Im wachen Zustand ist er stolz auf seinen gesunden Schlaf, und oft genug hat er verständnislos den Kopf geschüttelt, wenn ihm Kollegen, Kunden oder Freunde von ihren Rezepten und Tricks gegen die Schlaflosigkeit berichteten.

Kurz nach sieben reißt ihn die Weckfunktion seines Handys aus dem Schlaf. Er steht auf, geht in sein Umkleidezimmer und schaltet das Radio ein. Gerade werden Nachrichten gesendet. »Nach einem schwierigen Start wird die neue Regierung heute vereidigt …«

»La, la, la, la«, singt Gabbia auf die Melodie von Hey Jude und schlüpft in ein neues T-Shirt. Den Sieg der Neofaschisten von Giorgia Meloni bei der letzten Wahl hatte er ausgiebig gefeiert. Giulio Scarpa war mit zwei Flaschen besten französischen Champagners bei ihm aufgetaucht. Sie hatten beide geleert.

Der Nachrichtensprecher berichtet von den Verlusten der Versicherungen in Mailand. Die extreme Hitze des Sommers habe in der Poebene weite Teile der Ernte vernichtet. Nun seien die Bilanzen großer Versicherungskonzerne in Gefahr. Dann wendet er sich den Lokalnachrichten zu. Franco Zanca, Fraktionsvorsitzender der Partei LIGA im Regionalparlament von Venetien, gibt ein Interview: »Gestern haben wir beschlossen, dass wir mit der Stimme der Fraktion der LIGA den Ausbau des Flughafens Marco Polo in Venedig ermöglichen. Wir wollen den Weg für große, ich möchte sagen sehr große, internationale Investitionen ebnen, die Venedig und die gesamte Region Venetien in den kommenden Jahren sicher in eine gute Zukunft führen werden …«

Sein Handy klingelt in dem schrillen Ton, den er eingestellt hat, wenn eine wichtige Person anruft. Auf dem Display liest er: Franco Zanca. »Franco«, sagt er munter, »gerade habe ich dich mit großer Freude im Radio gehört.«

Dann hört er der verärgerten Stimme des Politikers zu. Er setzt sich. »Das kann nicht wahr sein«, stößt er hervor. »Ich kümmere mich sofort darum.«

Am Tatort (2)

Morello geht zu der Zeugin, die die Leiche des Buchhalters gefunden hat. Als sie ihn kommen sieht, drückt sie eine Zigarette auf der Brüstung der schmalen Brücke über den Rio Angelo Raffaele aus. Ihre Hand zittert. Sie stößt die Zigarette immer wieder auf den Stein, obwohl die Glut bereits erloschen ist. Mario Rogello, der neben ihr steht, schnippt seine Kippe ins Wasser und reicht Morello eine Kladde mit der Aussage der Zeugin. Der Commissario überfliegt die handschriftlichen Notizen.

»Signora Bellomi«, sagt Morello. »Carla Bellomi?« Sie nickt. Dann deutet er auf den Pappbecher, den sie in der linken Hand hält.

»Man hat Ihnen bereits einen Kaffee gebracht. Das ist gut. Ich bin froh, dass Sie sofort die Polizei gerufen haben, als Sie die Leiche entdeckt haben. Vielen Dank dafür! Ich bin Commissario Antonio Morello.«

Die Zeugin blickt auf. Sie ist nicht groß, etwa 1,55 Meter. Füllige Statur. Rundes Gesicht mit straffen, rosig glänzenden Wangen. Interessierter Blick. Kräftige Hände. Kurze, orange gefärbte Haare mit zwei blauen Strähnen. Tunnelohrringe. Kräftiger Lippenstift in der Farbe einer frischen Chilischote. Etwas davon klebt auf einem ihrer Schneidezähne. Sie trägt eine dunkelgrüne Latzhose aus grobem Stoff, aus deren Hosentasche ein Paar beige Arbeitshandschuhe hängen. Unter der Latzhose ein rot kariertes Männerhemd.

»Geht es Ihnen gut? Können Sie ein paar Fragen beantworten?«

»Alles, was ich weiß, habe ich dem da bereits erzählt.«

Mit einer Kopfbewegung weist sie auf Mario Rogello.

Morello nickt und blickt in die Aufzeichnungen. »Sie arbeiten bei der Müllabfuhr. Wahrscheinlich sind Sie jeden Morgen um die gleiche Zeit hier an diesem kleinen Platz?«

Sie nickt. »Jeden Morgen, den Gott erschaffen hat, bin ich kurz nach sechs Uhr hier und leere diesen Papierkorb.«

Sie deutet zum Tatort, ohne jedoch in diese Richtung zu schauen.

Morello nickt ihr aufmunternd zu.

Sie zieht die Augenbrauen zusammen. »Es war nicht viel Müll drin. Eine leere zusammengeknüllte Tüte, eine Zeitung, Pizzakartons, Orangenschalen und …«

»Und da sahen Sie den Mann?«

»Er saß so komisch auf der Bank und starrte zu mir herüber. Dachte, das sei vielleicht so einer, der … Sie wissen schon.«

»Nein, weiß ich nicht.«

Sie spuckt aus. »So einer, der seine Hosen runterlässt und einen … erschrecken will.« Sie lacht rau. »Mich erschreckt nichts mehr in diesem Leben.«

Sie trinkt einen Schluck Kaffee. »Aber der ließ keine Hose runter. Der rührte sich nicht. Der Kopf hing komisch zur Seite. Wirkte irgendwie eigenartig. Nicht wie ein Besoffener. Dachte, der schläft vielleicht. Aber wie ein Penner sah er auch nicht aus. Hatte einen Anzug an und einen Schlips. Auch egal, dachte ich. Kümmere mich nicht um andere Leute, solange sie mich in Ruhe lassen. Früh morgens hab ich immer meine Ruhe. Also packe ich den Müll in einen Beutel und gucke den Kerl noch einmal an. Der rührt sich nicht. Also rief ich: ›Buongiorno, nebelig ist es heute.‹ Das rief ich. Daran kann ich mich genau entsinnen. Aber er reagierte null.«

»Und dann?«

»Da dachte ich, das ist mal ein seltsamer Vogel. Ich ging näher hin. Vorsichtig. Dann sah ich die Wunde am Kopf, all das Blut. Da war mir die Sache klar. Ich zog das Handy aus der Tasche und rief die Polizei an.«

»Haben Sie die Leiche angefasst?«

Carla Bellomi lacht erneut ein raues Lachen, das dann unvermittelt in ein bellendes Husten übergeht. Sie greift in die Tasche ihrer Latzhose und zieht eine Schachtel Marlboro heraus. Sie klopft eine Kippe heraus und hält sie Morello unter die Nase.

»Danke. Habe aufgehört.«

»Schlau. Hab ich nicht geschafft. Bin wohl ein Suchtcharakter.«

Sie schwenkt die Schachtel zu Mario Rogello. Der schüttelt den Kopf. Carla Bellomi steckt sich die Zigarette in den Mund und zündet sie an. Morello wartet, bis sie den ersten Zug genommen hat und ein weiterer Hustenanfall abgeklungen ist.

»Also, die Leiche«, erinnert er sie. »Haben Sie die Leiche berührt? Falls es DNA-Spuren von Ihnen am Tatort gibt, müssen wir das wissen. Jetzt.«

Sie schüttelt den Kopf, und ein Zittern fährt durch ihren Körper. »Nichts habe ich angefasst. Nichts.«

»Haben Sie den Toten vorher schon einmal gesehen?«

Sie sieht Morello erstaunt in die Augen. »So einen feinen Typen! Nein, solche Leute kenne ich nicht. Nicht mehr.«

Ihre Stimme ist fest und klar. Der Blick ist offen. Morello registriert ihre Augenfarbe. Es ist ein dunkles, schon ins Schwarze übergehendes Braun. Diese Augenfarbe verwandelt sie. Sie gibt ihr plötzlich eine gewisse Tiefe. Wie hat das Leben wohl dieser Frau mitgespielt? Er nimmt ihren Geruch wahr. Der abstoßend-süßliche Geruch von Abfall und der dominante Gestank einer starken Raucherin. Er steigt aus ihren roten Haaren in seine Nase.

»Morgens um sechs Uhr, wenn Sie den Müll einsammeln – sind da schon Leute unterwegs?«

Sie schüttelt den Kopf. Nimmt einen tiefen Zug von der Zigarette. »Ich bin morgens fast immer allein. Ich sehe keinen Menschen. Das ist das Gute an meinem Beruf. Keine Menschen. Niemand. Manchmal ein paar Fischer, die in der Lagune Fische fangen. Venedig schläft. Sie kommen erst aus ihren Löchern, wenn ich weg bin.«

»Und heute Morgen haben Sie auch niemanden gesehen?«

Ganz kurz flackert ihr Blick hin und her. Sie senkt den Kopf. Nimmt noch einen Zug und schnippt die Kippe in den Kanal. Verschafft sich einen Moment Zeit, um die Antwort zu überlegen. Hustet.

»Wen haben Sie gesehen?«, fragt Morello sanft.

Sie dreht sich um und sieht Morello in die Augen. Strafft sich. »Niemanden«, sagt sie leise. »Hier … hier war keiner. So früh morgens ist nie jemand da. Außer mir.«

Ihre Stimme klingt gepresst. Sie senkt den Blick auf den Boden, als suchte sie dort nach weiterem Müll, den sie entsorgen müsste. Morello sieht sie eine Weile schweigend an, nickt fast unmerklich mit dem Kopf und wendet sich ab.

Kommissariat, Besprechungsraum

Commissario Antonio Morello steht von dem langen Besprechungstisch auf und sieht jeden und jede in seinem Team kurz an. »Wir befinden uns ab sofort in einer Mordermittlung. Das bedeutet eine Menge kriminalistische Arbeit, also fünf Prozent Kriminalistik und 95 Prozent Arbeit. Ab sofort gilt eine Urlaubssperre. Es kommt jetzt auf jede und jeden von uns an.«

Morello macht eine Pause. Fünf erwartungsvolle Gesichter starren ihn an. Gespannte Gesichter. Anna Klotzes Miene ist konzentriert. Sie hat ein Notizbuch vor sich aufgeschlagen. Ihre rechte Hand liegt schreibbereit auf einem Kugelschreiber.

Viola Cilienis Augen glänzen. Sie nickt heftig, als Morello sagt, es komme jetzt auf jede und jeden an. Morello weiß, dass sie sich als Abteilungssekretärin unterfordert fühlt. Nichts wünscht sie sich sehnlicher, als ein gleichberechtigtes Mitglied in seinem Team zu sein.

Mario Rogello hat seinen im Fitnessstudio gestärkten Körper gestrafft. Er trägt ein kurzärmliges T-Shirt in Militäroliv, unter dessen Bund am Ärmel seine Bizepse herausquellen. Aufrecht und gespannt sitzt er in seinem Stuhl, als wäre er bereit, jederzeit aufzuspringen und Haltung anzunehmen.

Der junge Alvaro Camozzo, Bootsführer der Abteilung für Gewaltverbrechen, streicht sich nervös eine Strähne aus dem Gesicht. Vielleicht träumt er von kommenden Verfolgungsjagden durch die Lagune. Morello vermutet, dass er sich gerade im Führerstand seines Schiffes sieht, vor sich das chancenlose Boot des Mörders.

Ferruccio Zolan, Morellos Stellvertreter, sitzt etwas zurückgelehnt auf seinem Stuhl, aufmerksam, aber auch mit einem skeptischen Lächeln im Gesicht. Vor ihm liegt ein schwarzes Notizbuch. Er hat bei den beiden zurückliegenden Fällen immer wieder gegen Morello gearbeitet. Er wäre gern selbst Commissario geworden. Wer weiß, vielleicht hält er sich noch immer für den besten Polizisten der Abteilung. Doch das ist sein Team – und Morello weiß, dass er sich auf jeden Einzelnen verlassen kann.

Plötzlich springen alle auf. Die Tür ist aufgegangen, der Vice Questore Felice Lombardi steht im Rahmen und mustert mit einem schnellen Blick jeden Einzelnen. Er gibt Morello ein kurzes Handzeichen, zieht einen Stuhl heran und setzt sich an den Besprechungstisch. »Machen Sie weiter, Commissario.«

Lombardi ist ein kräftiger, hochgewachsener Mann, der allein durch seine Statur Autorität und Kompetenz ausstrahlt. Er trägt einen sorgfältig gestutzten Kinnbart, dessen schwarze Haare bereits ins Graue übergehen.

»Ich formuliere eine Arbeitshypothese«, sagt Morello. »Diese ist nur vorläufig. Wir werden sie fortlaufend überprüfen. Wir verändern sie, wenn wir weitere Informationen gewinnen. Wir verwerfen sie, wenn sie sich als falsch herausstellt.« Er macht eine kurze Pause und fährt dann fort: »Ich gehe zunächst von einer Zufallstat aus. Das ist unsere vorläufige Arbeitshypothese. Der Grund für meine Meinung ist: Der Mörder trug den Rohrbogen, den er als mutmaßliche Tatwaffe verwendete, nicht bei sich, sondern griff spontan nach etwas, was am Tatort gerade herumlag. Mit anderen Worten: Dieser Mord war nicht geplant. Paolo Salini wurde mit zwei wuchtigen Schlägen mit diesem Rohrbogen getötet, Schläge, die mit großer Kraft ausgeführt wurden. Deshalb gehen wir zunächst von einem männlichen, jungen oder mittelalten, jedenfalls aber einem kräftigen Täter aus. Wir schließen eine Frau als Mörderin nicht absolut aus, doch bei der Wucht der Schläge ist eine Täterin eher unwahrscheinlich. Auffallend ist: Das Opfer hat sich weder aktiv noch passiv gewehrt noch versucht zu fliehen, sondern hat die tödlichen Schläge anscheinend ohne Gegenwehr hingenommen. Das ist überraschend, aber wir können daraus schlussfolgern: Täter und Opfer haben sich gekannt.«

Ferruccio Zolan hebt die Hand. »Commissario, selbst wenn sich Opfer und Täter gekannt haben – das erklärt nicht, warum der Mann nicht bei dem zweiten Schlag abwehrend die Arme gehoben hat, um seinen Kopf zu schützen. Nach dem ersten Schlag musste er doch spätestens wissen, dass der Täter es ernst meint – selbst wenn es die heilige Muttergottes gewesen sein sollte.«

Morello nickt. »Guter Einwand, Ferruccio, dieses Verhalten ist vorläufig nicht zu erklären. Wir müssen diesen Umstand im Auge behalten.«

Zolan lächelt. Jetzt ist er zufrieden. Nun hat er auch etwas zur Besprechung beigetragen. Immer glaubt er, er müsse seine Rolle als erster Stellvertreter des Commissario unterstreichen und sich auf diese Weise von Anna Klotze absetzen. Sie, das weiß Zolan genau, hält sich für eine bessere Polizistin, als er es ist.

Morello fährt fort: »Stellen wir uns das folgende Szenario vor: Der Täter könnte jemand sein, der die Angewohnheit hat, frühmorgens im leeren Venedig herumzustreifen. Er trifft auf Salini und tötet ihn. Es ist wahrscheinlich, aber nicht völlig sicher, dass er das Opfer gekannt hat. Täter, die spontan eine Straftat verüben, achten auf dem Weg zum Tatort nicht auf die Spuren, die sie hinterlassen. Wenn unser Täter den Buchhalter Paolo Salini im Streit getötet hat, dann hat er vor dem Mord nicht darauf geachtet, dass ihn niemand sieht. Für uns heißt das: Ein wichtiger Ermittlungsstrang wird die Phase vor der Tat sein. Ferruccio, du bist unser erfahrenster Mann. Ich will, dass du diese Aufgabe übernimmst.«

Ferruccio Zolan sieht kurz auf. Er notiert etwas. Dann nickt er.

Morello sagt: »Beachte dabei auch, dass bei einer spontanen Tat der Mörder nicht geplant hat, die Spuren der Tat zu beseitigen. Auch hat er keinen Fluchtweg geplant. Konzentriere dich auf die Phase vor der Tat, aber achte auch auf die Nachtatphase.«

Zolan nickt und schreibt.

Morello fährt fort: »Ungewöhnlich ist der Tatzeitpunkt. Aufgrund der vorläufigen Analyse der Gerichtsmedizinerin Dottoressa Gamba wurde Salini zwischen vier und sechs Uhr morgens erschlagen. Es stellen sich zwei Fragen: Erstens, warum bewegt sich der Täter zu dieser nachtschlafenden Zeit durch die Stadt? Dieselbe Frage stellt sich für das Opfer. Warum war Salini zu einer Uhrzeit unterwegs, zu der man üblicherweise noch schläft? War dieser frühe Spaziergang Routine? Oder hatte er ein Ziel? Wenn es für ihn Routine war, dann kann der Täter von dieser Gewohnheit gewusst haben. Wir müssen dringend herausfinden, ob Salini Frühaufsteher war.«

Morello schweigt für einen Augenblick und mustert die vor ihm sitzenden Polizisten. Sobald er sicher ist, dass sie ihm aufmerksam folgen, fährt er fort. »Wir können auch eine vorläufige These über den Täter aufstellen. Erstens: Es ist wahrscheinlich jemand, der spontan und willkürlich mordet. Vielleicht ist er aufbrausender, unkontrollierter als jemand, der seine Tat kühl im Voraus plant. In der Regel sind aufbrausende, unkontrollierte Täter weniger intelligent als sorgsam planende. Auch diese Einschätzung ist zunächst nur eine Hypothese.

Zweitens: Wissen wir etwas über das Tatmotiv? Der Täter hatte vermutlich Streit mit Salini. Dabei muss es um etwas Wesentliches gegangen sein. Etwas, das dem Täter wichtig war, etwas, das ihn emotional tief berührt hat, so tief, dass es eine enorme Wut in ihm hervorgerufen hat. Diese Wut war so groß, dass der Mörder spontan diesen Rohrbogen aufgehoben und damit zugeschlagen hat. Gehen wir also zunächst davon aus, dass der Täter jemand ist, der etwas Wichtiges von Salini wollte. Ich stelle mir die folgende Szene vor: Plötzlich und unerwartet begegnen sich die beiden Streithähne am frühen Morgen. Der Täter will etwas. Salini verweigert es ihm. Ein Wort gibt das andere. Dann eskaliert der Streit. Salini bleibt hart. Der Täter greift in großer Wut zu dem nächstmöglichen Gegenstand – dem Rohr – und erschlägt Salini. Es war zwar eine spontane Tat, aber der Täter hatte ein starkes Motiv. Wenn wir dieses Motiv finden, finden wir auch den Täter.«

Mario Rogello hebt die Hand. »Commissario – wo sollen wir das Motiv suchen?«

»Wir finden es, wenn wir die Lebensumstände des Opfers durchleuchten. Wen hat Salini so verärgert, verletzt oder betrogen, dass er zu dieser Tat fähig ist? Deshalb will ich alles über das Opfer wissen. Anna, du befragst sofort nach unserer Besprechung die Nachbarn Salinis. Wir müssen wissen: Wer war dieser Mann? Mit wem hatte er Streit? War es eine Angewohnheit von ihm, frühmorgens durch Venedig zu gehen? Heute Nachmittag wird die Spurensicherung seine Wohnung öffnen. Sobald die Kollegen ihre Arbeit getan haben, werden wir beide uns sein Zuhause genauer anschauen. Viola, du schaust dir die Bankkonten des Opfers an und legst mir die Ergebnisse vor.«

Der Vice Questore hebt die Hand, rückt den Stuhl zurück, stützt sich mit einer Hand auf dem Tisch ab, steht auf und reibt sich mit einer Hand sein breites Kreuz.

»Ich unterbreche die kriminalistischen Ausführungen des Commissario nur ungern, doch ich habe euch eine wichtige Mitteilung zu machen. Ich habe vor einer halben Stunde mit dem Questore Perloni telefoniert. Er will ein schnelles Ergebnis in dieser Mordermittlung. Außerdem ist er sehr zufrieden, mehr noch, er ist begeistert, dass Athena diesen Mord vorhergesagt hat. Sicher, Athena kannte die Uhrzeit nicht, lag aber mit Ort und der Schwere der Tat genau richtig. Aus diesem Grund möchte der Questore den Einsatz von Athena in Zukunft ausweiten. Er will mit ihrer Hilfe endlich die Taschendiebplage in Venedig ausrotten. Ab sofort wird uns diese künstliche Intelligenz Ort und Zeitpunkt des nächsten Taschendiebstahls in Venedig vorhersagen. Perloni will, dass trotz der Mordermittlung jemand rechtzeitig am Tatort ist und den Taschendieb festnimmt.«

»Sollen wir uns vierteilen?«, ruft Anna Klotze. »Wir werden mit der Mordermittlung genug zu tun haben!«

Der Vice Questore zuckt mit den Schultern. »Das habe ich ihm auch gesagt. Doch er besteht darauf, dass zukünftig jedem Hinweis von Athena nachgegangen wird. Für ihn ist das ein Prestigeprojekt. Ihr lest alle Zeitung und habt das Interview des Questore studiert. Ich weiß nicht, wie ihr das macht, aber ihr müsst es tun. Sobald Athena eine Tat vorhersagt, müssen zwei Leute zum wahrscheinlichen Tatort und den Taschendieb abführen. Der Questore möchte, dass Venedig in einem halben Jahr frei von Taschendieben ist.«

»Das ist unmöglich«, sagt Ferruccio Zolan ruhig und kratzt sich am Kopf. »Venedig ist seit jeher …«

Mit einer schnellen Handbewegung schneidet ihm Lombardi das Wort ab: »Das ist ein Befehl. Nicht von mir, sondern von ganz oben.«

»Noch hat Athena nichts von Taschendieben orakelt«, sagt Morello und klatscht in die Hände. »Alle an die wirklich wichtige Arbeit.«

Calle Longa San Barnaba

Anna Klotze marschiert in ausgreifenden Schritten die Calle Longa San Barnaba entlang. Ihre Absätze knallen wütend auf das Pflaster der längsten Gasse Venedigs.

Und warum darf sie nicht allein in die Wohnung von diesem Salini? Wieso muss sie warten, bis der ruhmreiche Herr Commissario, den jeder den freien Hund nennt, ihr die Gnade gewährt, sie mitzunehmen, als wäre sie eine Polizeischülerin? Im Grunde kein Wunder. Dieser sizilianische Macho hat ein Problem mit Frauen. Je besser und je stärker die Frauen sind, desto größer sein Problem. Sie stellt fest, dass ihr diese Erklärung eine gewisse Erleichterung verschafft – aber ihre Wut nicht mindert. Dieser Macho! Immer behandelt er mich, als wäre ich eine Anfängerin.

Und die Nacht auf dem Segelboot hat er auch vergessen. Wie kann er einfach ausblenden, dass sie einmal etwas zusammen hatten? An ihren Unterarmen kribbelt eine Gänsehaut.

Sie lacht rau. Aber er hat ja keine Ahnung, was wirklich gespielt wird.

Es ist frisch in dieser engen Gasse. Dunkel ist es hier auch.

Ein süßer Duft steigt ihr in die Nase. Sie bleibt stehen. In dieser Gasse zeigen einige der besten Konditoreien Venedigs die berühmten Baicoli und Zaéti-Kekse in den Auslagen ihrer Schaufenster. Die Tür eines Geschäftes steht offen, und heraus strömt das Aroma von frischer Sahne, von Schokolade und kandierten Früchten. In der Auslage türmen sich mit frischer Crema gefüllte Krapfen. Für einen kurzen Augenblick vergisst Anna Klotze ihren Zorn. Doch als sie weitergeht, ist die Wut wieder da, frisch und kräftig wie zuvor. Ist diese schmale Gasse denn nie zu Ende?

Zolan, der Beamte mit der meisten Erfahrung! Lächerlich! Sie würde laut lachen, wenn es nicht so blöd wäre. So ungerecht. Sie soll die Nachbarn des Opfers befragen. Das ist lächerlich! L-ä-c-h-e-r-l-i-c-h! Jeder Streifenpolizist könnte das erledigen. Immer schmiert der Commissario Zolan Honig ums Maul wie einem Zirkusbären. Hat er vergessen, dass er mir den Posten der Stellvertreterin versprochen hat? Hat er vergessen, dass ich ihm das Leben gerettet habe? Damals, als die Killer in die Polizeistation von Palma di Montechiaro eingedrungen sind. Als er hilflos in der Gefängniszelle saß.[1] Als er sich vor Angst in die Hose gepisst hat.

Dann denkt sie wieder an die Nacht auf dem Segelboot. Sie hastet die Treppe zur Brücke de l’Avogaria hinauf. Elf Stufen. Komisch, dass ich immer noch die Stufen zähle. Immer – wenn ich eine Treppe hochgehe. Mein Gott – seit diesem Tag mache ich das. 98 Stufen bis zur Wohnung. 77 Stufen bis zum Klassenzimmer. Ich wollte mir das Treppenstufenzählen schon so oft abgewöhnen. Ohne Erfolg. Aber zum Glück weiß das ja niemand.

Auf der Brücke bleibt sie stehen und legt die Hände auf das Geländer. Sie spürt die Rauheit des Steins und die beruhigende Kälte. Sie schließt die Augen. Vorsichtig reibt sie die Handflächen auf dem rauen Untergrund. Erst langsam, dann schneller. Sie genießt die kühle Frische, das plötzlich auftretende Gefühl von Wachheit, das diese Reibung auslöst.

Sie öffnet die Augen. Da, das Haus! Das zweite in der Calle. Über der im dunklen Grün gestrichenen Haustür die Hausnummer: Nummer 1587. Da ist es, das Haus von Salini.

In drei langen Schritten steigt sie die Brücke auf der anderen Seite hinunter, vergisst die Stufen zu zählen, und in acht Schritten steht sie vor der grünen Eingangstür. Hier hat das Mordopfer gewohnt. Im zweiten Stock. Nicht schlecht. Geld hat er wohl gehabt, der Herr Salini. Offenbar ein vornehmer Mann. Genutzt hat es ihm nichts.

Sie drückt gegen die Tür. Erst mit der Hand, dann mit der Schulter. Doch sie bleibt verschlossen. Die Spurensicherung ist also noch nicht da. Sie tritt zwei Schritte zurück und legt den Kopf in den Nacken. Der zweite Stock hat vier Fenster. Einen kleinen Balkon gibt es auch. Gusseiserne Schnörkel am Geländer, aber keine Blumen. Die Fassade ist mit rauem rotem Sand verputzt, jedoch nur bis zu dem Balkon. Das Stockwerk, das Salini bewohnte, ist unverputzt.

Nun gut, dann werde ich also die Nachbarn befragen und die Hilfsarbeiten für den Commissario Obermacho erledigen. Unschlüssig sieht sie sich um. Dort drüben ist ein Blumenladen. Ob Salini jemand war, der sich Blumen auf den Küchentisch gestellt hat?

Blumenladen

Vor der Tür des Blumengeschäftes stehen in einem Halbkreis sechs kleine Olivenbäume in grauen Plastiktöpfen, ein Korb mit getrockneten Wildblumensträußen, zwei silbern glänzende Eimer voll gelber und roter Rosen und ein kleines Holzregal mit mehreren Kräutertöpfchen. Als Anna die Tür aufdrückt, erklingt eine helle Glocke. Blumenduft schlägt ihr entgegen.

Der Laden ist kaum größer als zwanzig Quadratmeter. Jeder Zentimeter ist genutzt und vollgestopft mit Blumen aller Arten, blühende Astern und getrocknete ockerfarbene Blüten, deren Namen sie nicht kennt. Auf dem Boden stehen Eimer mit gelben Chrysanthemen und roten Dahlien, Vasen, in denen Bartblumen mit einem nahezu himmlischen Blau protzen.

An den dunkelgrün gestrichenen Wänden ringsum strecken sich dunkle Holzregale bis zur Decke, deren Böden sich in der Mitte gefährlich durchbiegen unter dem Gewicht eleganter Terracottatöpfe voller gelber Lilien und roter und weißer Rosen, üppiger Orchideen, Margeriten und knallgelben Sonnenblumen. In dem Regal über einer mit langen Perlenschnüren verhängten Tür, die ins Innere des Hauses führt, wechseln sich bunte Tischdekorationen mit weißen Brautsträußen ab. An einigen Bünden mit Nelken hängt ein schmaler schwarzer Trauerflor.

Vor dieser Tür, nur zwei Schritte von ihr entfernt, steht eine Holztheke, deren Frontseite fast vollständig mit einem Plakat bedeckt ist, das ein Konzert von Gianna Nannini in Padua ankündigt. Die Sängerin reckt die rechte Faust in den beleuchteten Nachthimmel, die linke hält ein Mikrofon dicht vor die geöffneten Lippen. Darüber wache Augen in einem schweißüberströmten, lachenden Gesicht.

Auf der Theke liegen eine Blumenschere, eine Rolle mit grünem Draht, einige grüne grasartige Zweige, daneben stehen zwei Vasen mit gelben und weißen Dahlien. Neben einer kleinen elektronischen Kasse entdeckt Anna Klotze eine silberne Klingel.

Sie schlägt zweimal energisch auf den kleinen Knopf und lauscht dem schrillen Läuten.

Kurz danach hört sie Schritte aus dem Hinterraum. Eine junge Frau schiebt die in der Tür angebrachten Perlenschnüre zur Seite, bleibt stehen und lächelt. Die Polizistin registriert ihren verträumten Blick, der erst etwas auf dem Boden zu suchen scheint, sich dann der Polizistin zuwendet. Doch Anna Klotze befällt dabei das merkwürdige Gefühl: Diese Frau schaut mich an, aber sie sieht mich nicht. Sie hat ein schmales, langes Gesicht mit erstaunlich entspannten Zügen. Sie trägt eine große, runde Brille aus einem braunen Drahtgestell. Das feste schwarze Haar trägt sie kurz, mit einem Pony, der bis in die Mitte der Stirn reicht und Anna Klotze entfernt an eine französische Chansonsängerin erinnert, deren Name ihr gerade nicht einfällt. Zwei dünne silberne Fäden hängen an leicht behaarten Ohrläppchen und halten zwei Perlen, die sachte nach rechts und links pendeln. Anna Klotze schätzt die Frau auf 1,70 Meter, Kleidergröße 36, vielleicht auch 38, Gewicht 55 Kilo.

Die Blumenhändlerin trägt hellblaue verwaschene Destroyed-Jeans mit einem Riss über dem rechten Knie und ausgefranstem Beinabschluss über weißen Turnschuhen. Unter der dunkelgrünen Gärtnerschürze prangt der Schriftzug von Emporio Armani auf einem verrutschten weißen T-Shirt. Nun bindet sie die Schürze mit einer Langsamkeit hinter dem Rücken zusammen, als hätte sie alle Zeit dieser Welt.

Dann hebt sie den Kopf und fragt: »Wie kann ich Ihnen helfen? Sie wollen Blumen?«

»Nein«, sagt Anna Klotze hart. »Informationen.«

»Informationen? Gern. Ich helfe immer gern. Natürlich auch der Polizei. Was wollen Sie wissen?«

Die Blumenfrau greift zur Gartenschere, zieht zwei Dahlien aus der Vase, schneidet die Enden der Stiele ab, legt sie auf die Theke, greift nach den grasartigen Pflanzen, hebt sie hoch, begutachtet sie mit einem langen Blick und kürzt sie mit der Schere auf die Länge der Dahlien. Anna Klotze registriert ihre trainierten, muskulösen Unterarme. Die Hände sind groß genug, um einen Rohrbogen zu fassen und hochzuheben.

Die Frau hebt den Kopf und sieht Anna Klotze fragend an.

»Es geht um einen Ihrer Nachbarn. Er heißt Paolo Salini.«

Anna Klotze kann zusehen, wie die Entspannung aus dem Gesicht der Frau weicht. Die runden braunen Augen hinter der runden Brille werden starr. Die Pupillen ziehen sich zusammen. Das Kinn reckt sich nach vorne. Die linke Hand fährt sich schutzsuchend an den Hals.

Ein Schatten fällt über die Gesichtszüge der Frau. »Jesus und Maria – nicht schon wieder.«

»Sie kennen ihn?«

»Jeder in der Straße kennt ihn.«

Sie macht eine kleine Pause. Dann steht ein bitteres Lächeln in ihrem Gesicht. »Leider.«

Anna Klotze zieht ihr schwarzes Notizbuch und einen Bleistift aus der Tasche. Sie klappt das Buch auf und stellt eine Frage, die bereits eine Feststellung ist. »Sie mögen ihn wohl nicht? Wie heißen Sie?«

»Mein Name ist Chiara Valle.«

»Alter?«

»29. Aber das wissen Sie doch schon alles, nicht wahr?«

»Wieso? Sind Sie vorbestraft?«

Chiara Valle schüttelt den Kopf. »Noch nicht. Aber vielleicht schafft Salini das noch. Dieser Mann ist krank.«

»Sie liegen im Streit mit Salini?«

»Ich nicht mit ihm. Er mit mir.«

»Sie hassen ihn?«

Mit einem Ruck reißt Chiara Valle den Kopf hoch. »Jeder hasst ihn. Jeder, jeder, jeder. Er tyrannisiert …«

Sie schluchzt.

Anna Klotze reicht ihr ein Taschentuch. Die Blumenfrau nimmt es, dreht sich zur Seite und reibt sich die Augen trocken.

Dann wendet sie sich wieder Anna Klotze zu. »Aber wieso sind Sie jetzt schon da? Ich habe heute noch keine Blumen gegossen!«

»Blumen gegossen? Ich verstehe nicht.«

Ohne den Blick von Anna Klotze zu wenden, nimmt Chiara Valle die Rolle mit dem grünen Draht in die Hand und schneidet ein kleines Stück davon ab.

Schnipp. Das Drahtstück spritzt von der Rolle und fällt irgendwo im Laden auf den Boden.

Chiara Valles Mund ist nun zusammengekniffen und schmal. Ihre rechte Hand drückt mit Kraft und Schwung die Blumenschere zweimal kurz hintereinander zusammen.

Schnipp, schnapp.

Zwei Drahtstücke fliegen durch den Raum.

»Schon fünf Mal hat er die Stadtpolizei auf mich gehetzt«, stößt sie hervor.

»Mit Ihnen ist es das sechste Mal. Und jetzt macht er es, bevor ich draußen überhaupt die Blumen gegossen habe. Das ist doch nicht normal!«

Anna Klotze hebt die Hände. »Stopp! Langsam! Niemand hat mich auf Sie gehetzt. Ich gehöre nicht zur Stadtpolizei. Ich brauche lediglich einige Informationen über ihn.«

»Er ruft im Rathaus an, wenn ich Wasser draußen auf der Straße verschütte. Wenn ich beim Blumengießen nur einen Tropfen verschütte, geht es los. Er lauert regelrecht hinter seinen Vorhängen. Ich passe immer schon auf wie ein Luchs. Trotzdem passiert es manchmal.«

Schnipp, schnapp.

Ein Drahtstück landet auf Anna Klotzes Ärmel und fällt zu Boden.

»Paolo Salini beschwert sich, weil die Straße nass wird?«, fragt sie.

»Ja. Vor zwei Wochen stand ein Kollege von Ihnen in meinem Laden. Er sagte, Herr Salini ruiniere sich vor meinem Laden seine teuren Schuhe. Wegen ein bisschen Wasser auf dem Gehweg. Stellen Sie sich das nur einmal vor! Er soll aus Venedig wegziehen, habe ich gesagt. Bei Regen und Hochwasser werden seine teuren Schuhe an hundert Tagen im Jahr nass und schmutzig. Er sollte nach Afrika oder sonst wohin umziehen! Die Wüste Gobi wäre ideal für seine Schuhe.«

Anna muss lachen. »Ich bin nicht wegen Paolo Salinis Beschwerde hier. Ich brauche einige Informationen über Paolo Salini. Alles, was Sie mir über ihn erzählen können, ist wichtig.«

Die junge Frau schaut Anna Klotze irritiert an. »Informationen? Hat er jemanden umgebracht? Ich wusste es! Solche Männer sind pervers. Paolo Salini sieht aus wie ein typischer Psychopath. Er hätte die Hauptrolle im ›Schweigen der Lämmer‹ spielen können. Ist er ein Serienkiller?«

Anna Klotze lacht. »Nein. Er ist kein Serienkiller und hat niemanden getötet. Soweit ich weiß. Aber Ihr Eindruck von ihm interessiert mich. Was meinen Sie mit ›solche Männer‹?«

»Der Mann ist verrückt. Er ist unsympathisch, arrogant, eitel. Stellen Sie sich vor: Er hat noch niemals Blumen bei mir gekauft. Haben Sie seinen trostlosen Balkon gesehen? Diese Einöde im zweiten Stock? Kein einziger Blumentopf steht da. Keine Farbe, kein Leben. Nichts! Ich schätze, er hat niemals etwas mit einer Frau zu tun gehabt.«

Schnipp, schnapp.

Anna Klotze hebt den Kopf. »Mit Männern?«

»Keine Ahnung. Wissen Sie, in dieser Straße gibt es einen Bäcker, einen Lebensmittelladen, ein Theater, zwei Bars und meinen Blumenladen. Aber glauben Sie, dieser scheußliche Mensch hat jemals etwas in einem der Läden hier gekauft? Er geht nicht ins Theater. Er geht nicht in den Lebensmittelladen. Er geht nie in eine Bar. Nicht einmal zum Frühstücken. Stellen Sie sich das vor. Aus Geiz frühstückt er zu Hause. Das Einzige, was er kauft, sind teure Weine in dem Laden nebenan. Dieser Paolo Salini ist nicht nur ein perverser Psychopath, sondern auch ein Alkoholiker.«

»Sie hassen ihn wohl sehr?«

Mit einem leichten Geräusch schieben sich die Perlenvorhänge zur Seite, und eine dunkelblonde, etwa fünfundvierzig Jahre alte Frau schaut in den Laden.

»Chiara, wen hasst du? Du scheinst mir etwas verschwiegen zu haben.«

Die Blumenfrau antwortet mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Die Polizei sammelt Informationen über Salini. Er ist …«

»Du meinst den Perversen, der dich wegen der Wasserflecken auf dem Bürgersteig tyrannisiert?«

»Genau diesen dämlichen Sch…«

»Kennen Sie den Mann?«, fragt Anna Klotze schnell dazwischen.

Die Frau schüttelt den Kopf. »Nein, ich kenne ihn nur aus Chiaras Erzählungen. Ich wohne nicht hier. Hier bin ich nur zu Besuch. Ich helfe Chiara hin und wieder im Geschäft. Amore, ich gehe jetzt.«

Schnipp, schnapp.

Ein Drahtstück landet auf Anna Klotzes Arm. Sie wischt es mit einer Handbewegung auf den Boden.

Die Frau schiebt den Vorhang ganz zur Seite, tritt in den Laden, zögert einen Augenblick und umarmt Chiara Valle.

»Frau Valle«, sagt Anna Klotze, »ich muss Sie fragen: Wo waren Sie heute Morgen zwischen vier und sechs Uhr?«

Die beiden Frauen starren sie an und brechen dann gleichzeitig in Gelächter aus.

»In meinem Bett war ich«, sagt die Blumenfrau.

»Und dafür gibt es Zeugen?«

»Allerdings, es gibt eine Zeugin. Mich«, sagt die dunkelblonde Frau, stellt sich neben Chiara Valle und stemmt die Fäuste in die Hüfte.

Schnipp.

Ein Drahtstück verfängt sich in Anna Klotzes Gürtel.

»Ich heiße Dora Fonda«, sagt die Frau, lächelt und reicht Anna Klotze die Hand. »Ich war heute Morgen auf dem Blumengroßmarkt in Treviso und habe eingekauft.«

Mit einer Handbewegung zeigt sie stolz auf die Blumen im Laden. »Das meiste, was Sie hier sehen, habe ich heute Morgen zuerst mit meinem Auto und danach mit meinem Boot hierhergebracht. Ich habe es ausgeladen und in den Laden gestellt. Dann bin ich in die Wohnung, und was sehe ich da? Dieser Engel liegt tief schlafend da.«

Ihre Stimme senkt sich um eine halbe Oktave. »Und, stellen Sie sich vor, die Bettdecke hatte sie fast ganz weggestrampelt.«

»Um wie viel Uhr haben Sie diese Beobachtung gemacht?«

»Ziemlich genau um sechs Uhr.«

»Was haben Sie dann gemacht?«

Dora Fonda lacht kehlig. »Was ich dann gemacht habe? Ich bin zu ihr unter die Decke geschlüpft und habe sie … nun ja, sagen wir, ich habe sie geweckt. Ich habe dann geschlafen. Chiara ist aufgestanden, hat die Blumen so dekoriert, wie Sie es jetzt sehen. Ich habe bis vor einer halben Stunde geschlafen. Und jetzt gehe ich.«

Schnapp.

Anna Klotze sieht dem Metallsplitter nach, der auf einem Regal landet.

»Frau Valle hätte also das Bett und das Haus verlassen können, als Sie auf dem Großmarkt waren?«

Die dunkelblonde Frau schüttelt den Kopf und lacht in einem tiefen, gutturalen Ton. »Nein, glauben Sie mir, sie hat tief geschlafen, als ich kam.«

Sie schüttelt den Kopf und verlässt den Blumenladen.

Die Blumenfrau sieht ihr nach.

»Salini«, sagt sie. »Hassen? Das wäre zu viel Gefühl verschwendet an jemanden, der ein Gefühl nicht wert ist. Verachten ist vielleicht das bessere Wort.«

»Wissen Sie, ob Signor Salini Frühaufsteher ist? Pflegt er morgens um fünf oder sechs Uhr durch die Straßen zu laufen?«

Die Verkäuferin hebt überrascht den Kopf. »Frühaufsteher? Der Salini? Ich bin jeden Morgen um acht in meinem Laden. Bereite die Auslagen vor. Gieße die Blumen. Da sind seine Fensterläden noch zugeklappt.«

»Wissen Sie, ob Paolo Salini sich auch mit anderen Nachbarn gestritten hat?«

Die Blumenverkäuferin schüttelt den Kopf. »Der Mann hasst Blumen. Und mich auch. Mehr weiß ich nicht. Aber das genügt mir.«

Anna Klotze klappt ihr Notizbuch zu. Chiara Valle legt die Drahtrolle und die Schere zur Seite.

»Salini ist tot«, sagt Anna Klotze und beobachtet die Reaktion der Blumenfrau. Ihre linke Hand tastet erneut zur Drahtrolle. Ihr Mundwinkel zuckt zweimal. Einen Augenblick scheint sie um ihre Fassung zu ringen.

»Tot?«, sagt sie. »Sie meinen: gestorben?«

Dann erhellt sich ihr Gesicht. »Der Besitzer des Weinladens wird Trauerblumen kaufen. Doch glauben Sie mir: Sonst wird hier niemand aus dieser Straße zur Beerdigung kommen.«

Ihre rechte Hand tastet nach der Schere.

Schnipp, schnapp.

Vor dem Weinladen

Der Weinladen ist kaum mehr als zwanzig Schritte entfernt. Vor der kunstvoll geschnitzten Tür bleibt Anna Klotze stehen. Chiara Valle hat den Ermordeten gekannt. Sie hat ihn gehasst, weil er sie wegen der Wasserflecken auf dem Bürgersteig tyrannisiert hat. Doch ist das ein Mordmotiv? Wohl kaum. Und doch ist folgendes Szenario denkbar: Sie kann nachts nicht schlafen. Sie ist allein, denn ihre Freundin ist auf dem Großmarkt. Vielleicht haben sie ein Beziehungsproblem. Vielleicht treiben sie Geldsorgen aus dem Bett. Oder es gibt irgendeinen anderen Grund, weshalb sie so früh aufsteht. Sie streift durch Venedig und denkt nach. Da trifft sie zufällig auf Salini. Sie stellt ihn zur Rede wegen seines Verhaltens. Ein Wort ergibt das nächste. Er beleidigt sie. Die Situation eskaliert. In ihrer Wut greift Chiara zum nächstliegenden Gegenstand, einem gebogenen Rohr. Salini lacht. Da schlägt sie zu.

So könnte es gewesen sein. Das Alibi der Blumenfrau ist dünn. Chiara Valle hat das Bett heimlich verlassen, als Dora Fonda zum Großmarkt fuhr, kam nach dem Mord zurück, wusch sich das Blut von den Händen und schlüpfte wieder unter die Bettdecke.

So könnte es gewesen sein. Sie wird dem Commissario melden, dass die Blumenfrau tatverdächtig ist.

Kaum denkt sie an Morello, steigt die Wut wieder hoch. Sie rackert sich hier ab, hat schon eine Mordverdächtige identifiziert, und der feine Herr im Kommissariat legt die Füße auf den Tisch und lässt sich von Viola Cilieni einen doppelten Espresso servieren.

Sie dreht sich mit einem Ruck zur Tür des Weinladens. Sie klemmt. Anna Klotze nimmt ein paar Schritte Anlauf und wirft sich mit der Schulter dagegen.

Morellos Büro

Er hasst diesen Teil seines Jobs.

Die Angehörigen benachrichtigen: Hinfahren. An der Tür klingeln. Ein ernstes Gesicht machen. Sich ausweisen. Der Frau oder den Kindern sagen, er bringe eine schlechte Nachricht. Ob er hereinkommen dürfe. Warten, bis alle Platz genommen haben. Und dann ohne Umschweife zu ihnen sagen: Ihr Mann bzw. Ihr Vater ist tot. Dabei äußerst wachsam sein, jede ihrer Reaktionen genau beobachten. Und immer bereit sein, sie zu stützen, ihnen ein tröstendes Wort zu sagen, vielleicht ein Taschentuch zu reichen oder einfach nur still dazusitzen und ihren Schmerz auszuhalten.

Er muss jetzt möglichst rasch den schwarzen Engel geben. Viola ist dabei, die Daten zu ermitteln. Anna Klotze befragt die Nachbarn. Er will nicht, dass jemand von ihnen Salinis Verwandtschaft informiert. Das ist Chefsache. Daran gibt es nichts zu rütteln. Er ist der schwarze Engel. Wieder einmal.

Außerdem ist er davon überzeugt, dass er den Täter fassen wird, wenn er genügend Informationen über das Opfer sammeln kann.

Ein kurzes und lautes Klopfen an der Tür schreckt ihn aus seinen Gedanken. Ohne Morellos »Pronto« abzuwarten, stürmt sein Chef, der Vice Questore Lombardi, mit großen Schritten ins Büro, bleibt vor seinem Schreibtisch stehen, sieht sich um, zieht einen Stuhl heran, setzt sich und legt die rechte Hand auf die Brusttasche seines Hemdes, unter der sich deutlich eine Packung Zigaretten abdrückt. Seine Finger berühren kurz die Schachtel und ziehen sich sofort wieder zurück.

Morello lächelt. »In meinem Büro dürfen Sie rauchen, Signor Vice Questore.«

»Ich rauche nicht mehr.«

»Aha – und was ist das?« Morello deutet auf Lombardis Brusttasche.

»Die ist nur zur Motivation da. So habe ich den Feind immer im Blick.« Seine Finger schieben sich langsam von seinem Bauch aufwärts. Der Zeigefinger zittert ein wenig.

»Seit wann sind Sie Nichtraucher?«

»Seit gestern, 20:32 Uhr. Meine Frau hat mich am Abend zur Gemüsehändlerin geschickt. Es fehlte Knoblauch. Als ich zurückkam, musste ich auf dem ersten Treppenabsatz stehen bleiben. Da stand ich und keuchte. Bekam keine Luft mehr. Keine Kippe mehr, ab sofort, sagte ich mir.«

»Soll ich die Schachtel in den Papierkorb werfen?«

»Das brauchen Sie nicht. Ich bin auch nicht hier, um mit Ihnen über mein Nikotinproblem zu reden.«

Er beugt sich vor. »Ich habe einen Anruf aus dem Innenministerium bekommen. Abteilung für Personalplanung bei der Polizei. Das Ministerium plant angeblich Ihre Versetzung zurück nach Sizilien.«

Mit einem Ruck setzt sich Morello in seinem Sessel aufrecht.

Lombardi: »Man hat mich gefragt, ob ich mit Ihrer Versetzung einverstanden sei.«

»Und? Ich hoffe, Sie haben sofort zugesagt.«

Lombardis Daumen und Zeigefinger schieben sich langsam in Richtung der Brusttasche.

»Um ehrlich zu sein: Ich habe abgelehnt.«

Lombardis Hand ist nun nur wenige Zentimeter von den Zigaretten entfernt.

»Das ist nicht Ihr Ernst!?«

»Doch, das ist es«, sagt Morellos Vorgesetzter und schiebt zwei Finger von oben in die Brusttasche. »Sie stehen nach wie vor auf der Todesliste der Cosa Nostra. In Sizilien wäre Ihr Leben gefährdet, selbst wenn Sie dort wieder in einer Kaserne stationiert wären. Vor allem aber lasse ich einen guten Polizisten ungern gehen. Sie haben zwei schwierige Fälle gelöst. Vor allem aber haben Sie die Abteilung zu einem richtigen Team zusammengeschweißt. Wenn Sie gehen, fällt hier alles auseinander, und das will ich auf keinen Fall.«

Lombardis Zeigefinger bohrt sich in die Öffnung der Zigarettenpackung.

»Signor Vice Questore, ich bin gegen meinen Willen nach Venedig versetzt worden. Sicher, das war zu meinem eigenen Schutz. Aber ich will zurück. Die Cosa Nostra hat meine Frau in die Luft gesprengt. Sie hat mein ungeborenes Kind getötet. Ich will Francesco Domenico Marino jagen. Ich will ihn hinter Gittern sehen. Verdammt noch mal …« Er schlägt mit der Faust auf den Tisch. »Rauchen Sie endlich. Wenn Sie das brauchen, dann rauchen Sie.«