Falsche Gesichter - Lone Theils - E-Book

Falsche Gesichter E-Book

Lone Theils

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Beschreibung

Der Polizeipräsident eines englischen Städtchens wird ermordet. Enthauptet. Seine Hinrichtung gefilmt und ins Netz gestellt. Alles deutet auf einen islamistischen Hintergrund. Doch als Journalistin Nora Sand vor Ort ermittelt, stellt sie fest, dass es in Toppinghham keine Islamisten gibt. Dafür jedoch eine Menge Menschen, die den korrupten Polizisten keinesfalls vermissen. Und es gibt junge Mädchen, um die sich niemand kümmert. Die nachts durch die Straßen irren, ohne dass das Gesetz eingreift.

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Lone Theils

Falsche Gesichter

Kriminalroman

Aus dem Dänischen von Karoline Hippe

Über dieses Buch

Totgeschwiegen

 

Der Polizeipräsident eines englischen Städtchens wird ermordet. Enthauptet. Seine Hinrichtung gefilmt und ins Netz gestellt. Alles deutet auf einen islamistischen Hintergrund. Doch als Journalistin Nora Sand vor Ort ermittelt, stellt sie fest, dass es in Toppingham keine Islamisten gibt. Dafür jedoch eine Menge Menschen, die den korrupten Polizisten keinesfalls vermissen. Und es gibt junge Mädchen, um die sich niemand kümmert. Die nachts durch die Straßen irren, ohne dass die Hüter des Gesetzes eingreifen.

 

«Die Figuren überzeugen mit Herz und Charakter. Auf weitere Bände der Serie darf man gespannt sein.» Focus Online

 

«Eine Heldin, der man gern wieder begegnen will.» Berlinske

 

«Die Erzählweise zeigt, dass die Autorin eine versierte Journalistin ist, die ihr Handwerk versteht.» Alt for Damerne

Vita

Lone Theils war jahrelang London-Korrespondentin für die angesehene dänische Tageszeitung Politiken sowie fürs Fernsehen. Ihr Debütroman und Auftakt der Reihe um Nora Sand erscheint in 16 Ländern und wird für das Fernsehen verfilmt. Neben ihrer journalistischen Tätigkeit zwischen Dänemark und England teilt die Autorin mit ihrer Protagonistin auch die Leidenschaft fürs Kickboxen.

 

Karoline Hippe, aufgewachsen an der Ostseeküste, studierte in Leipzig und Berlin und lebt zurzeit in Oslo. Dort trinkt sie grünen Tee im Hinterzimmer eines kleinen Buchladens und übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen und Englischen.

Kapitel 1

Der Wasserbüffel mampfte ein Büschel saftiges Gras, während er Nora anstarrte, wie jeden Morgen, wenn sie sich auf den Weg zu dem überdachten Dschungelsportplatz am Rande von Thong Sala zu ihrer ersten Trainingssession des Tages machte, solange die Temperaturen noch halbwegs erträglich waren.

Sie machte einen Bogen um den halbzahmen Hund, der zum Inventar von Diamond Muay Thai gehörte und während seines Morgenschlummers nicht einmal mehr den Kopf hob, als sie auf die ziemlich abgewetzte Unterlage trat. Sie legte die Boxhandschuhe und Schienbeinschützer auf den Rand des Boxrings und stellte ihre Anderthalbliterflasche Wasser daneben.

Die Müdigkeit und der Muskelkater vom Vortag saßen ihr immer noch in den Knochen. Sie nickte zwei Typen zu, die bereits mit ihren selbstgemachten Springseilen zugange waren. Mon bestand auf einer Viertelstunde Seilspringen, bevor er die Assistenztrainer überhaupt erst auf den kunterbunten Haufen von Touristen losließ, die mit der Fähre von Koh Samui gekommen waren, um ein wenig von der Weisheit des ehemaligen thailändischen Meisters in Muay Thai zu empfangen.

Einige von ihnen waren semiprofessionelle Boxer und wollten sich auf einen größeren Kampf vorbereiten. Dann gab es noch die amerikanischen Touristen, die ein Sabbatjahr in Asien verbrachten und in neugekauften rosafarbenen Seidenshorts herumsprangen und sich nicht besonders für Mons Lektionen über den spirituellen Aspekt von Muay Thai zu interessieren schienen.

Nora grüßte Joe aus Toppingham. Sie hatten sich bei ihrer ersten Trainingssession kennengelernt und waren einander für das erste Sparring zugeteilt worden. In den Pausen hatten sie völlig außer Atem Smalltalk betrieben, oft darüber, wie anstrengend es war, in dieser schwülen Hitze zu trainieren. Joe hatte erzählt, dass er sich für drei Monate von seinem Job bei The Mercury im südlichen Yorkshire hatte beurlauben lassen, und gemeinsam hatten sie sich darüber amüsiert, dass es zwei Journalisten auf eine Insel im thailändischen Golf verschlagen hatte, wo sie aufeinander einprügelten. Er war ein hochgewachsener Blondschopf Mitte dreißig mit zähen Muskeln und einem steten Lächeln auf den Lippen. Auf dem Arm hatte er sich Schriftzeichen in Thai tätowieren lassen und gestand freimütig, von deren Bedeutung absolut keine Ahnung zu haben.

Wann immer sie vor den großen Spiegeln trainierten, die an den Seiten des großen Blechdachs herunterhingen, konnte Nora keine Ähnlichkeit mehr zu der bleichen und besorgten Journalistin feststellen, die sich dazu entschlossen hatte, den Stecker zu ziehen und London für drei Wochen den Rücken zu kehren, um herauszufinden, was sie mit ihrem Leben und ihrer Karriere bei Globalt anfangen sollte. Das braune Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, damit es sie beim Training nicht störte. Es wirkte immer eine Spur dunkler, wenn es von Schweiß durchtränkt war. Die blauen Augen glänzten aus einem ungeschminkten Gesicht, das nach dem Seilspringen vor lauter Anstrengung rot angelaufen war. Nüchtern stellte sie fest, dass das vielleicht ein guter Look für kalifornische Bodybuilder mit vor Schweiß glänzenden Körpern sein mochte, eine dänische London-Korrespondentin jedoch nicht von ihrer besten Seite zeigte. Im Gegenzug bemerkte sie, wie ihre Oberarme immer fester wurden und dass in jedem ihrer Tritte Kraft saß, als sie an den ausgedienten Autoreifen trainierte, die an Eisenketten befestigt von den Decken hingen und zu primitiven Boxsäcken zusammengebunden worden waren.

Es war Noras zweite Woche in Thailand, und im Stillen war sie dankbar, die Phase überstanden zu haben, in der sich ihr Körper wie ein großer, pulsierender Behälter voller Milchsäure angefühlt hatte, wenn sie vom Training nach Hause ging. Jetzt war sie lediglich erschöpft, wenn die zwei Stunden um waren und die Sportsachen an ihrer Haut klebten. Bereit, in den kleinen Bungalow zurückzukehren, den sie gemietet hatte, und ins Meer zu springen, um den Schweiß abzuspülen.

«Meine Freundin will dich gern kennenlernen», sagte Joe, als sie sich nach dem Training dehnten.

«Okay? Ist sie gar nicht in Toppingham?»

«Nein, sie ist hier in einem Yoga-Retreat. Sie ist auch Journalistin.»

Nora wog ab.

Einerseits hatte sie keine Lust, über die Arbeit und die britische Presse und all das zu reden, was zu der Welt gehörte, der sie gerade zu entkommen versuchte. Allein Joes Anwesenheit, der ein für ihre Ohren so gewohntes britisches Englisch sprach, weckte Erinnerungen, vor denen sie zunächst nach Bangkok, dann mit einem Lokalflieger nach Koh Samui und schließlich nach einer einstündigen Fährfahrt auf eine kleine Insel geflohen war. Aus demselben Grund hatte sie bisher einen großen Bogen um den britischen Pub gemacht, der direkt neben der Muay-Thai-Schule lag. Der Pub war mit falschem Fachwerk ausgestattet, mit dunklem Holzfußboden und einer Ausstrahlung, die eher an eine schäbige Filmkulisse erinnerte.

Nora konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass es eine gute Idee wäre, diesen Laden zu betreten, sich eine Portion Fish & Chips und einen halben Liter Bier zu bestellen, wenn sie doch ebenso gut in die Stadt gehen und für einen Bruchteil des Preises grünen Papayasalat mit über Kohle gegrilltem Thai-Hühnchen essen konnte. Aber Joe schien das anders zu sehen.

«Wir können uns doch heute Abend auf ein Bier im Mason’s Arms treffen?», schlug er vor.

Nora nickte, und auf dem kurzen Weg zu ihrem Bungalow verfluchte sie sich für ihre Höflichkeit.

Der Wasserbüffel stand immer noch am selben Fleck und warf ihr einen enttäuschten Blick zu.

*

Nora betrat den Pub als Erste. Sie hatte auf der kleinen Veranda vor ihrem Bungalow gesessen und den Sonnenuntergang genossen, eine Orgie in Gold, Rosa und Blutorangenrot, doch wie immer hatten ihr die blutrünstigen Moskitos mit gezielten Angriffen auf ihre nackten Beine den Augenblick verdorben, also war sie reingegangen und hatte sich mit einem so heftigen Mückenschutzmittel eingesprüht, dass es auf der Haut geradezu brannte. Nun saß sie an einem der dunkel lackierten Tische und wartete auf Joe und seine Freundin.

Außer Nora war nur ein Trio von rotgesichtigen Briten zu Gast, die aussahen, als hätten sie in ihrer ersten Woche in Thailand die einschneidende Erfahrung gemacht, was mit der Haut passiert, wenn man sich ohne UV-Schutz zu lange in der Sonne aufhält. An der Wand über der halbleeren Bar war ein Fernseher angebracht, auf dem Sky lief. Abwechselnd wurden Clips von Tennisturnieren und eine lange Parade von Fußballspielen gezeigt. Nora spähte zur Tür und hoffte, dass es nur ein schnelles Bier werden würde.

Auf einmal änderte sich das Bild auf dem Fernsehgerät, ein besorgter Nachrichtensprecher wurde eingeblendet, und das gelbe Banner an der unteren Seite des Bildschirms blinkte mit Breaking News: Britischer Polizist enthauptet.Verdacht auf Terroranschlag.

«Hey!», rief sie dem Barkeeper zu.

Mit einem mürrischen Gesichtsausdruck kam er aus der Küche.

«Ja?»

«Könnten Sie das bitte laut machen?», fragte sie und zeigte auf den Bildschirm.

Er nahm eine Fernbedienung unter dem Tresen hervor und stellte den Ton an.

Nora wusste, dass sie in diesem Moment im Begriff war, ihren mühsam erkämpften Seelenfrieden einzubüßen. Dass die Tage nun gezählt waren, in denen sie bewusst nicht ins Internet gegangen war, bewusst ihr Telefon ausgestellt hatte, um gemeinsam mit Mon und seinem Training nach einer Art innerem Frieden zu streben. Das unruhige Gefühl, das ihren Körper stets durchströmte, sobald sie eine Story witterte, machte sich bemerkbar.

«Ich muss Sie darauf hinweisen, dass die folgenden Aufnahmen sehr verstörend sind», warnte der Nachrichtensprecher.

Die Bildqualität war miserabel, und das kurze Video sah aus, als wäre es direkt in der Vorhölle aufgenommen worden. Ein Mann mit Sturmhaube und Militäruniform stand im Vordergrund vor einem schwarzen Wandteppich. In der einen Hand hielt er etwas, das einem altmodischen Krummsäbel ähnelte. Den anderen Arm hielt er ausgestreckt, und obwohl Sky das Foto aus Rücksicht auf zartbesaitetere Zuschauer verpixelt hatte, bestand kein Zweifel daran, dass er mit der anderen Hand einen abgesäbelten Kopf ins Bild hielt. Schweigend. Triumphierend.

IS-Terror in Großbritannien war am unteren Rand des Bildschirms zu lesen.

Der Sprecher erklärte, dass diese erschreckenden Bilder aus einem Video stammten, das am Montagabend bei YouTube hochgeladen und anschließend wieder gelöscht worden war. Nora nahm zur Kenntnis, dass die Polizei auch einen Tag nach dem Auftauchen des Videos weder die Leiche des Beamten gefunden noch einen Hinweis auf den Tatort hatte.

Es wurde zu einem Außenkorrespondenten geschaltet, der vor einem roten Backsteingebäude stand.

«Bei dem Opfer handelt es sich um einen fünfundvierzigjährigen Polizeibeamten, aus Rücksicht auf die Angehörigen können wir zunächst jedoch keine Angaben zur Person machen. Der Mann wurde zuletzt am vergangenen Freitagnachmittag gesehen, die Polizei sucht weiterhin nach der Leiche», fasste der Reporter zusammen.

Ein weiterer Ausschnitt des Videos, in dem der Polizist noch am Leben war, flimmerte über den Bildschirm. Hinter der notdürftigen Verpixelung konnte man erkennen, dass ihm die Augen verbunden worden waren. Er kniete in einem abgenutzten Trenchcoat vor der Kamera, die sein Peiniger auf ihn richtete, und er flehte um sein Leben. Mehrmals fragte er:

«Warum? Was habe ich getan?»

Der Mann antwortete nicht. Er befestigte die Kamera an einem Stativ und ging mit dem Rücken zur Linse auf sein Opfer zu. Die Sturmhaube verdeckte alles. Seine Haarfarbe, sein Gesicht und jede Gefühlsregung, die sich womöglich darin verbarg. Dann erhob der Vermummte den Krummsäbel.

Nora hatte schon früher über Terrorangriffe berichtet, doch das hier war etwas ganz Neues. Eine kaltblütige, zynische Hinrichtung, festgehalten mit einer Videokamera. Zum ersten Mal seit ihrer Abreise nach Bangkok kramte sie in ihrer Tasche nach ihrem Telefon. Ihre Hand schloss sich gerade um das Gerät, als die Tür zum Pub aufging und Joe mit seiner Freundin im Schlepptau eintrat. Die junge Frau kam auf Nora zu, während Joe an die Bar trat.

«Willst du auch ein Lager?», rief er in Noras Richtung.

Sie nickte.

«Cathy», stellte die Freundin sich vor und reichte Nora ihre hennatätowierte Hand.

«Nora», erwiderte sie und wandte den Blick widerwillig vom Bildschirm ab.

«Was läuft gerade?», erkundigte sich Cathy.

«Zu Hause in Großbritannien wurde ein Polizist vom IS hingerichtet.»

«Bei uns zu Hause? Wo?»

Nora nickte und versuchte mitzubekommen, wovon der Reporter gerade berichtete.

Joe kam zu ihnen und ließ die Biergläser auf den Tisch knallen, als er den Reporter vor dem Polizeipräsidium stehen sah.

«Was ist denn passiert?»

Nora deutete auf das gelbe Banner, das am unteren Rand des Bildschirms lief.

«Ein Polizist wurde vom IS ermordet. Viel mehr wissen sie noch nicht.»

«Die stehen ja vor dem Polizeirevier in Toppingham! Mein Bruder arbeitet dort», rief Joe und zog sein Handy aus der Hosentasche.

Cathy schlug sich die Hand vor den Mund.

«Oh Gott! Hoffentlich ist ihm nichts passiert!»

Joe antwortete nicht. Mit dem Handy am Ohr ging er auf die Tür zu. Nora konnte hören, dass sein Anruf im selben Augenblick entgegengenommen wurde, in dem er in die schwüle Hitze hinaustrat und die Tür hinter ihm zufiel. Nach ein paar Minuten, in denen Sky einen sinnlosen Wetterbericht sendete, kam er zurück. Verschwitzt und blass.

«Meinem Bruder ist nichts passiert, aber er ist fertig mit den Nerven. Er meinte, bei dem Opfer in dem Video handele es sich um Ed Crow», sagte er an Cathy gewandt.

«Wow», rief sie und nahm einen großen Schluck von ihrem Bier.

Nora sah vom einen zur anderen.

«Kennt ihr ihn etwa?»

Joe nickte und starrte auf den Tisch.

«Wer ist es?», fragte Nora besorgt.

«Er war der Chef meines Bruders. Aber er war mehr als das. Sie waren Freunde, seit ich ein kleiner Junge war. Sie haben zusammen bei der Polizei angefangen, er war der Trauzeuge meines Bruders. Chris steht unter Schock.»

Noch bevor Joe mehr sagen konnte, klingelte sein Telefon, und er ging wieder vor die Tür.

Cathy starrte auf den Bildschirm, auf dem erneut der Ausschnitt mit dem verpixelten abgetrennten Kopf gezeigt wurde. Ihre sonnengebräunte Haut wirkte plötzlich ganz blass im Kontrast zu ihrem knallbunten Batik-Gewand.

«Wie grauenvoll. Nicht einmal Crow hat so etwas verdient.»

«Was meinst du damit?»

Cathy zuckte mit den Schultern.

«Joe sieht das vielleicht anders, der Typ ist immerhin ein Freund seines Bruders. Beziehungsweise war», berichtigte sie sich selbst. «Aber er war ein durchtriebenes Schwein. Korrupt bis zum Gehtnichtmehr.»

«Warum glaubst du, dass der IS sich ausgerechnet ihn herausgepickt hat?»

Cathy überlegte einen Augenblick.

«Die waren wahrscheinlich einfach nur schneller als alle anderen.»

«Inwiefern?»

«Der Mann hatte Hunderte von Feinden. Das weiß ich, weil ich in den letzten drei Jahren mitverantwortlich für die Berichterstattungen aus Toppingham war. Glaub mir, Crow hatte nicht gerade viele Freunde in der Stadt.»

«Warum nicht?»

Bevor Cathy darauf antworten konnte, kam Joe zurück. Er war immer noch weiß wie ein Laken.

«Ich habe gerade mit meiner Mutter gesprochen. Chris scheint das alles mehr mitzunehmen, als er zugibt. Sie will, dass ich nach Hause komme», erklärte er und sah Nora an.

«Ich muss zurück ins Hotel und versuchen, unsere Tickets irgendwie umzubuchen. Tut mir leid, dass ich dich jetzt so sitzenlasse.»

Nora nickte.

«Keine Sorge, ist doch verständlich.»

Cathy gab ihr eine flüchtige Umarmung, bevor sie aufstand.

«Hätte mich gefreut, dich richtig kennenzulernen. Hoffe, wir sehen uns irgendwann noch mal wieder.»

«Vielleicht eher, als du denkst», erwiderte Nora.

Noch bevor Cathy und Joe ihren gemieteten Motorroller starteten, hatte Nora ihr Handy gezückt, es angeschaltet und gab nun das Passwort des Pub-WLANs in das kleine Feld ein. Ihr Finger zögerte nur einen winzigen Augenblick. Dann nahm sie Abschied von ihrem Seelenfrieden und drückte auf Verbinden.

Sie hatte vierzehn unbeantwortete Anrufe. Einer war von Andreas, der andere von ihrem Vater. Die anderen zwölf waren von Krebs, ihrem unverbesserlichen Chef bei Globalt, der der festen Überzeugung war, seine London-Korrespondentin müsse für ihn entsprechend den Öffnungszeiten eines 24-Stunden-Kiosks ansprechbar sein.

Das Problem war nur, dass Nora nicht einmal mit Sicherheit sagen konnte, ob sie überhaupt noch London-Korrespondentin war. Die Zeitschrift stand unter finanziellem Druck, hatte jedoch Aussichten auf eine Förderung durch einen Kapitalfonds, der unter Aufsicht des russischen Oligarchen Anton Bugakov stand. Leider war Bugakov nicht besonders gut auf Nora zu sprechen, nachdem sie aufgedeckt hatte, dass Bugakovs Exfrau ihren gemeinsamen Sohn nach Dänemark entführt hatte. Weshalb er nun ausgerechnet Nora Vorwürfe machte, wusste wohl nur er selbst. Keiner sprach es direkt aus, aber Nora war sich sicher, dass Bugakovs Investition – für den Russen nur Peanuts – seine Methode war, sich an ihr zu rächen. Als Krebs dann verlauten ließ, Bugakov wolle sie aus London weghaben, schienen sich ihre schlimmsten Befürchtungen zu bewahrheiten.

Bei ihrem letzten Gespräch mit Krebs hatte der Chef vorgeschlagen, sie für eine Zeitlang nach Dänemark zurückzuholen. Bugakov wurde namentlich nicht erwähnt, aber seine Anwesenheit waberte über dem Gespräch wie der Smog über Jekaterinburgs Industriegebiet. Ungreifbar und in großen Mengen giftig.

Nora hatte um Bedenkzeit gebeten, und Krebs hatte widerstrebend eingewilligt, als er wohl oder übel einsehen musste, dass er Nora vor eine beinahe unmögliche Wahl gestellt hatte: Entweder würde sie ihr Leben in London aufgeben müssen oder riskieren, ihren Job zu verlieren. Nach drei schlaflosen Nächten hatte Nora ein Flugticket nach Thailand bestellt und sich in Mons Muay-Thai-Schule auf der Insel Koh Pha Ngan angemeldet.

Nora öffnete ihr Mail-Postfach. Nun war es endgültig vorbei mit dem Frieden. Dort warteten mehr als dreihundert ungelesene E-Mails auf sie.

Absichtlich übersprang sie die Nachrichten von Krebs. Die mussten noch ein bisschen warten. Sie entdeckte eine Mail von Andreas, ihrem alten Schulkameraden, der plötzlich in London aufgetaucht war. Nora hatte sich Hals über Kopf in den Polizisten mit den braunen Augen verliebt, sein Lächeln ließ sie dahinschmelzen wie ein Eisschloss in der Sonne.

Aber das Glück mit Andreas war nur von kurzer Dauer gewesen. Er hatte seine ehemalige Freundin Birgitte geschwängert, noch bevor er Nora traf, und nun wohnte er gemeinsam mit ihr und der kleinen Viola in Dänemark. Nora hatte versucht loszulassen, doch weder der dunkelhaarige Verleger Tom Craven mit einem Selbstbewusstsein so groß wie Wales noch die täglichen fünfhundert Tritte gegen abgewetzte Autoreifen unter Mons Anweisungen hatten den Andreas-Schmerz in ihrem Körper lindern können.

Irgendwie war es ein Trost, dass auch er sie noch nicht ganz aus seinem Herzen verbannt zu haben schien.

Seine Mail war kurz.

Kannst du nicht zurückrufen? Viola ist sehr krank, und ich brauche jetzt eine Freundin. A.

Nora checkte das Datum. Die Nachricht war fünf Tage alt. Laut ihrer Handyuhr war es in Thong Sala kurz nach 21 Uhr, also später Nachmittag in Kopenhagen. Sie entschied sich für eine vorsichtige Mail. Sie traute sich nicht anzurufen, wenn Birgitte vielleicht gerade neben ihm stand.

Sehe deine Nachricht erst jetzt. Geht es ihr gut?

Während sie auf eine Antwort wartete, ging sie die anderen Mails durch und fand eine von ihrem Vater, der trotz – oder vielleicht gerade wegen – seines akademischen Hintergrunds in seinen E-Mails nie einen natürlichen Ton fand. Er bevorzugte in Leder gebundene historische Bücher, die sich auf meterlangen Regalbrettern in seinen Büros an der Universität und zu Hause aufreihten.

Liebe Leonora Christine,

ich hoffe, du genießt deine Reise. Hier daheim ist alles in Ordnung, Nachbars Bessie hat Welpen bekommen. Ich überlege, mir einen davon anzuschaffen. Elvira ist der Meinung, es täte mir gut, jeden Tag einen langen Spaziergang zu machen. Nun ja, wann wirst du zurückkommen? Wir feiern Davids Geburtstag am 10. Du weißt ja, wie er ist, wenn nicht alles wie gewohnt abläuft.

Herzliche Grüße, dein Vater.

Während sie überlegte, wie sie ihrem Vater antworten und ihm versichern konnte, auch dieses Jahr vorbeizukommen und zum Familienfrieden beizutragen, klingelte ihr Telefon.

«Sand hier», sagte sie.

«Das wurde aber auch Zeit», meldete sich Krebs mit leicht genervter Stimme.

Sie antwortete nicht, sondern versuchte stattdessen, im Kopf auszurechnen, was es wohl kostete, einen Mobilanruf aus Kopenhagen entgegenzunehmen.

«Tja, ich hoffe, du hattest schöne Ferien», fuhr er unbeirrt fort.

Nora brummte etwas vor sich hin, was als Zustimmung gedeutet werden konnte. Was Krebs auch genau so verstand.

«Gut so. Aber jetzt reicht’s auch wieder mit dem Nichtstun. Zu Hause wartet Arbeit auf dich.»

«Wo zu Hause?», fragte sie, und das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Sollte er ihr irgendeinen beliebigen Platz in der Inlandsredaktion zugeteilt haben, ohne sie überhaupt erst zu fragen, wäre das vollständig unakzeptabel, dachte sie entschlossen. Ein Fall für den Betriebsrat, der anscheinend Dan hieß, den Nora aber nur ein einziges Mal bei der Weihnachtsfeier vor drei Jahren getroffen und dann nie wieder von ihm gehört hatte.

«In Toppingham natürlich! Die laufen echt Amok da drüben. IS-Angriff auf die Polizei. In Europa bewegen wir uns gerade in eine neue Phase, was Terrorismus betrifft. Es ist wichtig, dass du vor Ort bist, Sand. Niemand anderes aus der Redaktion kann auch nur ansatzweise so gut über den Fall berichten wie du.»

Nora wusste, dass er recht hatte, aber sie dachte gar nicht daran, ihm diesen Sieg zu gönnen.

«Ich würde erst einmal gerne wissen, was genau mein aktueller Status bei euch ist, bevor ich alles stehen- und liegenlasse, und …»

«Warte mal kurz», unterbrach Krebs sie, und sie konnte ihn durch das Büro rufen hören.

«Anette? Bist du auf dem Weg nach Hause?»

Nora hörte eine genuschelte Antwort.

«Kannst du nicht noch fünf Minuten länger bleiben?»

Weiteres Nuscheln.

«Wir müssen schnell ein Flugticket für Sand buchen. Sie ist in Thailand, und wir brauchen sie in Toppingham. Am besten gestern.»

Nach einer kurzen Pause:

«Danke!»

Und dann war Krebs wieder am Hörer.

«So, Anette mailt dir deine Tickets. Wir hören uns, wenn du in England bist.»

«Aber, ich würde gerne noch einmal betonen, dass …»

Doch Krebs hatte schon längst aufgelegt, und Nora blieb keine andere Wahl, als zu warten, bis sie wieder in Europa war, bevor sie sich bei ihm beschweren konnte.

*

Am nächsten Morgen um kurz nach fünf hupte Mon vor Noras Bungalow. Sie warf ihren grünen Koffer auf die Ladefläche seines roten Pick-ups und setzte sich neben ihn ins Fahrerhäuschen. Sogar zu so früher Stunde bewegte er sich mit einer natürlichen Ruhe und Anmut, was ihm den Kampfnamen Stehende Welle verschafft hatte. Vom ersten Augenblick an hatte er Nora an die grazile Leichtigkeit eines Seepferdchens erinnert. Selbst wenn sie bis ans Ende ihres Lebens trainierte, würde sie gerade diese beständige Ruhe nie erlernen.

Mon hatte sie den gesamten ersten Tag genau beobachtet. Nach dem Training war er besonnen, aber entschieden auf sie zugekommen und hatte ihre Haltung verbessert.

«Dein Problem ist, dass du schon so dastehst, als wärst du jederzeit bereit für den Kampf. Sehr aggressiv», hatte er gesagt.

Verblüfft hatte Nora ihn angeschaut.

«Ja, aber das soll ich doch auch. Muay Thai ist ein Kampfsport.»

Mon lächelte sanft.

«Nein. Ganz und gar nicht. Das ist wohl das Wichtigste, was ich dir hier beibringen kann», hatte er erwidert.

In dem Moment, in dem sie auf die Hauptstraße Richtung Fährhafen einbogen, ergoss sich über ihnen einer dieser epischen Wolkenbrüche, der Nora das Gefühl gab, direkt unter einem riesigen Wasserfall hindurchzufahren. Mon ließ sich nichts anmerken, während der Regen auf die schlanken Palmen niederprasselte, und lenkte den Wagen behände um die großen Pfützen herum, die sich auf der Straße bildeten.

Sie hielten an der Hafenmauer und blieben noch eine Weile im Pick-up sitzen, während sie darauf warteten, dass die Fähre in den Hafen einfuhr und die Passagiere an Bord gehen konnten.

«Was ist eigentlich dein Job, dass du so Hals über Kopf nach Hause aufbrechen musst?», fragte Mon, den Blick auf die türkisen Fischerboote gerichtet, die im Regen auf den Wellen wogten.

«Ich bin Journalistin. Ich verdiene mein Geld mit Schreiben. Ich schreibe jeden Tag.»

Er sah sie an, in seinem Blick so etwas wie Respekt.

«Das muss schwer sein?»

Nora zuckte mit den Schultern.

«Eigentlich nicht. Was du machst, ist schwer. Schreiben ist das Einfachste auf der Welt.»

«Nicht für mich», entgegnete Mon.

Sie sahen sich an und mussten beide grinsen. Nora holte tief Luft und stieg hinaus in den Regen. Mon nahm ihren Koffer von der Ladefläche. Nach nur zehn Sekunden waren beide klitschnass.

«Gute Reise, Nora Sand, die Schreibende», sagte er mit ernstem Ton.

«Danke, Stehende Welle», sagte Nora.

Dann ging sie an Bord und setzte sich unter Deck der Fähre mit Kurs auf Koh Samui, von wo aus die Reise weiter nach Bangkok, London und schließlich Toppingham gehen würde.

Die Ferien waren vorbei.

Kapitel 2

Das Naturgesetz, dass es sich beim April um einen Frühlingsmonat handelte, schien nicht bis nach Yorkshire vorgedrungen zu sein. Als Nora am frühen Nachmittag am Bahnhof ausstieg, peitschte ihr ein kalter Regen ins Gesicht, als wolle er ihr weismachen, ihre Zeit bei Mon und seinem Wasserbüffel seien das Erlebnis einer anderen gewesen. Stattdessen kam es Nora so vor, als sei sie geradewegs in die erste Zeile ihres Lieblingsgedichts The Waste Land spaziert, in dem der April als der schlimmste aller Monate dargestellt wurde. Nora erinnerte sich nur zu gut daran, welch starken Eindruck T. S. Eliots Gedicht als Teenager auf sie gemacht hatte – sie war geradewegs in ein Universum eingetaucht, in dem die hoffnungslose Sehnsucht, die ihr wie ein dunkler Schatten folgte, in Worte gefasst wurde. Sie schüttelte diesen Gedanken ab und nahm sich ein Taxi zum The Standard, dem Hotel, in dem sie ein Zimmer gebucht hatte.

Das Zimmer im zweiten Stock war mit einem Teppich ausgelegt, der sie an Stanley Kubricks Shining erinnerte. Das Muster aus großen Rechtecken war im Laufe der Jahre zu einer traurigen Version der fröhlichen Grundfarben verblasst, die einst das ursprüngliche Design ausgemacht hatten.

Das Fenster ging zum Park hinaus, wo zwei Schulmädchen auf einer Bank saßen und Kette rauchten. Der Regen hatte nachgelassen, und Nora vermutete, dass sie wohl aus dem pompösen Kalksteingebäude direkt hinter dem Park ausgerissen waren. Der Schriftzug am Eingangsbereich verkündete, dass es sich um die Mädchenschule St. Helena handelte. Eines der beiden Mädchen stand auf und zerstörte Noras Illusion, es handele sich um zwei Schulschwänzerinnen, indem sie ein Baby aus einem Kinderwagen hob, der Nora erst jetzt auffiel.

Nora stellte ihren Laptop auf den schmalen Tisch am Fenster und versuchte, sich mit dem Gedanken zu abzufinden, dass sie nun nicht mehr in Thailand war. Als sie heute Morgen in ihrer Wohnung in Belsize Park angekommen war, hatte sie einfach nur Lust gehabt, sich nach den vielen Stunden im Flugzeug in ihr eigenes Bett zu legen und sich auszustrecken. Es hatte sie mehr als die durchschnittliche Willensstärke gekostet, stattdessen ihre Post zusammenzuklauben, die verkümmerten Wüsten-Sukkulenten zu gießen und eine kleine Reisetasche mit warmen Klamotten und dem letzten in ihrer Wohnung vorhandenen Stapel sauberer Unterwäsche zu packen. Den Computer hatte sie mit einem Stapel halbvoller Notizblöcke in ihre Handtasche geschoben.

Am Bahnhof King’s Cross hatte sie die tagesaktuellen Zeitungen gekauft und einen Kaffee, bestehend aus so vielen Espresso-Shots, wie sich in einen einzelnen Becher pressen ließen. Erst als sie den Becher halb leergetrunken hatte, konnte sie die Energie aufbringen, sich bei Globalt zum Einsatz zu melden – sehr zu Krebs’ ungeteilter Freude.

Andreas hatte nicht auf ihre Mail geantwortet, und sie hatte fest vorgehabt, sich aus dem Zug noch einmal bei ihm zu melden, doch sobald sie auf ihrem Platz saß, war sie in einen tiefen Schlaf gefallen, der nur von einem Kontrolleur gestört worden war, der keinerlei Verständnis dafür aufgebracht hatte, dass einer seiner Passagiere immer noch in thailändischer Zeit lebte. In Sheffield hatte er sie aus dem Zug gejagt, damit sie ihre Verbindung nach Toppingham nicht verpasste.

Müdigkeit und Jetlag steckten ihr immer noch in den Knochen, und sie war dankbar, dass es sich in Großbritannien nicht nur schickte, sondern auch ein Menschenrecht zu sein schien, sich stets eine Tasse Tee kochen zu können, selbst in den heruntergekommensten Hotelzimmern.

Im Internet öffnete sie die Seite des Mercury. Nora hatte sich in aller Eile weder Joes noch Cathys Nummer besorgen können, aber immerhin wusste sie, wo die beiden arbeiteten, und das war schon mal ein Anfang.

Joes Handynummer stand unter seinem Autorenfoto auf der Homepage der Zeitung, neben der Aufforderung, dass alle, die ihm eine gute Story aus Toppingham und Umgebung liefern konnten, ihn jederzeit direkt anrufen oder anschreiben sollten. Alles sei von Interesse! Jeder Hinweis würde mit äußerster Diskretion behandelt, versprach er.

«Joe Foster», meldete er sich. Zunächst klang er überrascht und relativ beschäftigt, doch als Nora ihm erzählte, sie sei ebenfalls in Toppingham, taute er auf.

«Ich muss gerade noch einen Artikel fertig schreiben – sehen wir uns in ein paar Stunden auf ein Feierabendbier?», schlug er vor und gab ihr den Namen eines Pubs durch, der nur fünf Minuten von Noras Hotel entfernt lag.

Nach dem Gespräch mit Joe suchte sie die Nummer eines ihrer Informanten heraus, den sie schon einige Male im Zusammenhang mit dem IS kontaktiert hatte. Victor Grunch hatte in der Vergangenheit für den britischen Geheimdienst gearbeitet und war auf Dschihadisten spezialisiert, aber das war bereits einige Jahre her. Inzwischen leitete er seine eigene Security-Firma und verdiente sein Geld mit privaten Unternehmen aus aller Welt, die er in Sicherheitsfragen beriet. Jeden Anruf einer Journalistin nahm er zum Anlass, Reklame für Grunch Security Solutions zu machen, und er erinnerte Nora stets daran, den Namen seiner Firma zu erwähnen, wenn sie ihn in Globalt zitierte. Nora ließ sich darauf ein, weil dieser Mann wirklich wusste, wovon er sprach. Sie hatte ihn auf einer Konferenz über IS-Rückkehrer kennengelernt, auf der er als einer der Hauptredner auftrat. Im Gegensatz zu den meisten Experten der Geheimdienste war Grunch kein Mann blumiger Formulierungen und halber Sätze. Seine Stellungnahmen waren ebenso eindeutig wie die breiten roten Hosenträger, die zu seinem Markenzeichen geworden waren.

Als er Noras Anruf entgegennahm, hörte sie sofort, dass er schwer beschäftigt war.

«Grunch, mit wem spreche ich?»

Nora stellte sich vor.

«Mja, ich erinnere mich. Ich sitze gerade im Auto, Sie haben fünf Minuten», forderte er sie heraus.

«IS in Toppingham? Wie hat man das zu verstehen?»

«Zwei Möglichkeiten: Entweder ein Rückkehrer aus Syrien. Oder einer der anderen.»

«Einer der anderen?»

«Ja, einer von denen, die nicht ausreisen durften. Die können genauso gefährlich sein.»

«Wie das?»

«Junge Menschen, die übers Internet radikalisiert werden. Während ihre Eltern sie in Sicherheit wähnen, weil sie ihre Kinder von Gangs und radikalen Imamen fernhalten, sitzen sie in ihren Kinderzimmern und sehen sich Videos des Daesh an, in denen er den heiligen Krieg glorifiziert und zeigt, wie der IS den Syrern zur Seite steht, die der Gewalt und Folter von Baschar al-Assads Truppen ausgesetzt sind. Heilige Krieger, die Essen und Süßigkeiten an Waisenkinder verteilen.»

«Aber zu welchem Grad kann man sich denn wirklich von Videos im Internet beeinflussen lassen? Und warum bemerken die Eltern nichts davon?»

«Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie schnell so etwas geht und wie dicht man mit der richtigen Form von Propaganda an die Leute herankommt. Wenn irgendwelche Talentscouts diese Jugendlichen erst einmal in ihre Klauen kriegen, ist die Schlacht oft schon verloren. Diese Menschen sind darauf spezialisiert, Menschen von ihrer Umgebung zu isolieren. Dann geben sie ihnen das Gefühl, wichtig zu sein, und dieses Gefühl wird durch die Verschwörung noch verstärkt: Du bist unser Auserwählter. Du darfst nicht mit anderen über deinen heiligen Auftrag für Allah sprechen. Der London-Angriff vor drei Jahren – wissen Sie noch?»

Nora erinnerte sich nur zu gut an den schrecklichen Abend, an dem ein Lastwagen in eine Menschenmenge gefahren war, auf einer von Londons vielen Brücken.

«Hinter der Tat steckte ein einundzwanzigjähriger Bursche. Im Jahr zuvor plante er, nach Raqqa zu gehen und von dort aus in den Heiligen Krieg zu ziehen. Aber seine jüngere Schwester schöpfte Verdacht und sprach mit einem Imam, der schlau genug war, die Polizei in Leicester, der Heimatstadt des jungen Mannes, einzuschalten. An der Grenze wurde ihm die Ausreise verweigert. Danach hat er sich den Behörden zufolge unauffällig verhalten. Jedenfalls so lange, dass es niemand verdächtig fand, als er nach London zog. Dort rächte er sich an der Gesellschaft, die ihn daran gehindert hatte, in den Heiligen Krieg zu ziehen.»

«Ihrer Erfahrung nach handelt es sich bei demjenigen, der für den Mord an dem Beamten verantwortlich ist, also um einen Rückkehrer oder jemanden, der gegen seinen Willen im Land bleiben musste?»

Es entstand eine Pause, aber Nora konnte das Ticken der Blinklichter in Grunchs Auto hören. Dann wurde es still, der Motor erstarb.

«Ich bin jetzt da», sagte er.

«Nur ganz schnell!»

«Ich habe das Video nicht gesehen, Sand. Es ist in seiner ganzen Länge nicht für die Öffentlichkeit zugänglich. Doch wenn ich es mir ansehe, und da werde ich aufgrund meiner Arbeit leider nicht drum herumkommen, werde ich auf verschiedene Dinge achten: Was ist im Hintergrund zu sehen? Wie lautet die Botschaft, die dem Video zugrunde liegt? Wer spricht und wie ist der genaue Wortlaut? Handelt es sich um eine professionelle Hinrichtung, ausgeführt von jemandem, der so etwas schon einmal getan hat? Wie bewegt sich der Täter? Man sieht es Menschen fast immer an, ob sie eine militärische Ausbildung genossen haben. Aber wenn Sie meine Meinung aus dem Stegreif hören wollen, dann glaube ich tatsächlich nicht, dass der IS mit der Tat in Verbindung steht. Das ergibt strategisch gesehen keinen Sinn. Okay? Ich muss jetzt weiter», sagte Grunch und legte auf.

Nora öffnete das Fenster auf Kipp, schob den Flachbildfernseher zur Seite, um Platz für ihren Laptop zu machen, setzte sich und tippte ihre Notizen ab. Danach begann sie ihre Recherchen zu den Syrienkriegern. In einem vor anderthalb Jahren von einem Thinktank verfassten Bericht wurde geschätzt, dass bis zu vierhundert Krieger versuchen würden, in ihre Heimat Großbritannien zurückzukehren, sollte es zu einem Zusammenbruch des IS kommen.

Die Briten standen nicht allein vor diesem Problem, stellte Nora fest. Ungefähr zweitausend Krieger könnten laut des Berichts nach ihrem Aufenthalt in Syrien oder dem Irak nach Europa zurückkehren wollen. Ein Gutachten für Dänemark schätzte die Zahl der eventuellen Rückkehrer auf einhundertfünfzig.

Der Bericht kam zu dem Schluss, dass es im Großen und Ganzen unmöglich sein würde, zwischen eingefleischten Dschihadisten und jungen naiven Mitläufern unterscheiden zu können, die sich von Versprechen auf ein paradiesisches Kalifat und höchste Ehre hatten anlocken lassen, stattdessen allerdings nur sinnlose Brutalität vorgefunden hatten und nun nichts weiter wollten, als in ihr normales Leben im Westen zurückzukehren.

Einige Experten waren der Ansicht, man könne die jungen Menschen rehabilitieren, andere sahen darin ein sinnloses Unterfangen. Ein französischer Minister hatte zum Ausdruck gebracht, aus seiner Sicht sei es das Beste, wenn diejenigen, «die sich für einen Kampf an der Seite der Islamisten in Syrien entschieden haben, auch in Syrien sterben», und ein Sprecher des US-Militärs hatte gegenüber einer amerikanischen Zeitung bestätigt, dass es gegen Mitglieder des IS einen Schießbefehl gab, egal ob sich EU-Bürger unter ihnen befänden oder nicht.

Die britische Regierung hatte bereits begonnen, IS-Anhängern ihre Staatsbürgerschaft zu entziehen und damit auch die Möglichkeit, wieder nach Hause zurückzukehren. Wie vielen es gelungen war, vorher in Großbritannien einzureisen, war aus dem Bericht nicht ersichtlich.

Nora rief bei den Organisatoren des Thinktanks an, um sie um einen aktuelleren Status zu bitten, doch dort sprang nur der Anrufbeantworter an. Also suchte sie nach islamischen Gemeinden in Toppingham. Vielleicht konnte ihr dort jemand Auskunft darüber geben, weshalb der IS in diesem Ort einen Anschlag verüben sollte statt beispielsweise in London. Vielleicht hatte die Hauptstadtpolizei ganz andere Sicherheitsvorkehrungen getroffen als eine kleine Stadt im Süden von Yorkshire mit nur einer viertel Million Einwohner. Aber warum ausgerechnet hier? Warum nicht in Sheffield, Manchester, Birmingham oder Brighton? Nora nahm an, dass der Täter, egal ob er nun in Syrien gewesen war oder nicht, einen Bezug zu dem Ort haben musste.

Sie rief bei der islamischen Gemeinde an, die allem Anschein nach die größte in Toppingham war, und wurde mit einem Mann verbunden, der sich als Abu Wahid vorstellte. Als er hörte, dass Nora Journalistin war, klang er plötzlich so, als läse er die Antworten auf Noras Fragen von einem Stück Papier ab.

«Wir verurteilen jegliche Form von Gewalt. Der Islam ist eine friedliche Religion. Aus dieser Stadt ist uns niemand bekannt, der zu einer derartigen Tat in der Lage wäre», ratterte er herunter. «Wir distanzieren uns von dieser Tat, die im Widerspruch zu den Lehren des Propheten Mohammed steht.»

Nora versuchte mehrmals, seinen Redeschwall zu unterbrechen, doch der Mann war routiniert und hatte es offenbar nicht nötig, zwischen den Sätzen Luft zu holen. Schließlich konnte sie das Wort ergreifen:

«Darf ich morgen zu einem Gespräch vorbeikommen?»

«Ich wüsste nicht, zu welchem Zweck», erwiderte Abu Wahid.

«Ich würde gern erfahren, was Ihre Sicht auf die Tragödie ist.»

«Das sagen sie alle, doch wenn wir uns dann auf ein Gespräch einlassen, interessiert es eigentlich niemanden, was wir wirklich meinen», sagte Abu Wahid mit müder Stimme.

«Aber mich interessiert es», versicherte Nora ihm.

«Warum sollten Sie anders sein als andere Journalisten?»

«Weil ich mich tatsächlich gern mit Ihnen treffen und mit Ihnen sprechen möchte?»

Abu Wahid seufzte.

«Ich sehe nicht, welchen Sinn ein solches Gespräch haben sollte», sagte er und legte auf.

Nora beschloss, nicht so leicht aufzugeben. Vielleicht fiel es ihm weniger leicht, sie abzuwimmeln, wenn sie persönlich vor ihm stand. Vielleicht traf sie auch auf einen anderen Mitarbeiter, der sich dazu bereit erklärte, mit ihr zu sprechen.

Verstohlen blickte sie hinüber zum Bett. Die Kissen sahen ungewöhnlich weich aus, und sie spürte, wie eine neue Welle der Müdigkeit sie überkam. Doch sie wusste, dass ihr nichts anderes übrigblieb, als die Zähne zusammenzubeißen und den Gedanken an Schlaf zu verdrängen, andernfalls würde sie später die Konsequenzen zu spüren bekommen. Stattdessen schaltete sie den Wasserkocher an, bereitete sich eine Tasse Kaffee mit zwei Tütchen Pulverkaffee zu und schenkte sich H-Milch aus einem Plastikbehälter dazu, der aussah, als gehöre er zum Inventar eines Puppenhauses.

Draußen wurde es langsam dunkel, und der Regen war inzwischen so heftig, als wollten sich die Tropfen in die Erde bohren. Nora dachte sehnsüchtig an ihren Regenschirm, den sie in ihrer Londoner Wohnung zurückgelassen hatte. Während sie den Kaffee trank, fiel ihr Blick auf ein Taxi, das mit ausgeschalteten Scheinwerfern am Rande des Parks anhielt. Die Frauen mit dem Kinderwagen waren längst verschwunden, aber Nora konnte sehen, dass sich in der Dämmerung zwischen den Bäumen etwas regte. Sie fragte sich, wie verzweifelt man sein musste, um sich bei diesem Wetter im Freien aufzuhalten. Es war unmöglich, durch die Zweige der Bäume etwas zu erkennen, vielleicht war der Taxifahrer einfach nur dem Ruf der Natur gefolgt. Nora holte tief Luft und schickte Andreas eine SMS.

Passt es dir gerade?

Nur wenige Sekunden später klingelte das Telefon.

«Hi», sagte er.

Seine Stimme war rau und müde, und nur an diesem einsilbigen Wort erkannte Nora, dass er erschöpfter war als je zuvor in seinem Leben. Sie hatte sich eingeredet, nur als Freundin anzurufen, doch dieses kleine Wort bohrte sich durch ihr Verteidigungsbollwerk, das vor lauter Müdigkeit kaum noch standhielt, und versetzte ihr einen Stich ins Herz.

«Was ist denn los, Andreas?»

«Viola ist im Krankenhaus. Sie machen alle möglichen Tests, finden aber einfach nicht heraus, was ihr fehlt. Sie hatte hohes Fieber, und ihr Herzton ist nicht stabil.» Andreas holte tief Luft.

«Oh, das ist ja furchtbar.»

«Sie sagen, dass sie im Moment außer Lebensgefahr ist, aber es war knapp.»

Seine Stimme brach.

«Wo bist du jetzt?», fragte Nora.

«Ich bin gerade auf dem Weg zur Apotheke. Ich musste einfach mal raus. Birgitte ist in der Wohnung mit Viola und meiner Mutter.»

«Oh, Andreas. Das tut mir so leid. Wie geht es Birgitte? Das muss ja grauenhaft für sie sein.»

«Sie verkraftet das besser als ich», erwiderte Andreas.

Nora hörte das Aufgleiten einer automatischen Schiebetür und eine schnarrende Lautsprecheransage im Hintergrund.

«Ich muss los. Schön, dass du dich nach mir erkundigt hast. Ich weiß nicht, warum, aber ich hatte einfach das Bedürfnis, dir davon zu erzählen.»

«Andreas, du kannst mich jederzeit anrufen.»

«Danke. Tschüs.»

Nora hatte kaum bemerkt, dass sie sich während des Gespräches aufs Bett gesetzt hatte, und jetzt ließ sie sich rücklings in die Matratze sinken, schloss die Augen und spürte, wie der Schlaf sie übermannte, sich wie eine weiche Bettdecke über sie legte, die man einfach nur über den Kopf ziehen musste, und schon konnte man alles vergessen: geköpfte Polizisten, IS-Krieger und Andreas, der in Kopenhagen kurz davor war, in Tränen auszubrechen. Ihre Lider fielen automatisch zu, und gerade als sie in die Dunkelheit eingetreten war, katapultierte ihr Telefon sie zurück ins Hier und Jetzt. Es war Tom. Nora ließ es klingeln, und dreißig Sekunden später erhielt sie eine Benachrichtigung von ihrem Anrufbeantworter. Sie ließ die Nachricht Nachricht sein. Sie hatte keine Lust, darüber nachzudenken, welchen Platz der dunkelhaarige Verleger aus Soho in ihrem Leben gerade einnahm. Darum würde sie sich kümmern, wenn sie wieder in London war. Sie zwang sich aus dem Bett und nahm eine dampfend heiße Dusche.

*

Eine Dreiviertelstunde später stand sie an der Bar des Maiden’s Head, einem Pub, der genau so aussah, wie man ihn sich vorstellte. Über mehrere Jahrzehnte hatte er in einer Stadt floriert, die einst der ganze Stolz der Eisenindustrie gewesen war, sich nun jedoch mit einer Arbeitslosenquote herumschlug, deren Kurve sich stets in die falsche Richtung entwickelte. Das einzige Indiz für den Fakt, dass man sich in diesem Pub nicht mehr im Jahr 1975 befand, war der Flachbildfernseher, auf dem ein Cricketmatch von einem Ort übertragen wurde, wo das Wetter wesentlich besser war als in Toppingham.

Nora warf einen Blick auf den großen Kanister mit Billigcola hinter dem Tresen, bestellte dann jedoch ein großes Bier bei der lächelnden Barkeeperin mit dem silberglänzenden Lidschatten und den falschen Wimpern. Während Nora einen Fünf-Pfund-Schein aus ihrer Geldbörse fischte, tauchte Joe hinter ihr auf und tippte ihr an die Schulter.

«Hi Nora, schön, dich zu sehen. Wir sitzen hier drüben», sagte er und zeigte auf einen Tisch im hinteren Teil des Pubs direkt neben dem blinkenden Flipperautomaten. An dem Tisch saßen drei weitere Männer, die Joe ihr nacheinander flüchtig vorstellte.

«Matt aus der Sportredaktion, wenn er denn mal Bock hat zu arbeiten. Greg, den das Unglück ereilt hat, einen Schreibtisch mit mir zu teilen. Und der große Kerl mit dem Schnauzbart ist mein Bruder Chris. Nora ist Kickboxerin aus Dänemark. Hab sie in Thailand getroffen.»

Nora nickte ihnen allen zu und setzte sich mit ihrem Bier in der Hand Chris gegenüber. Die beiden anderen Journalisten waren in eine Diskussion vertieft, in der es, soweit Nora verstehen konnte, darum ging, inwiefern die aktuellen sexuellen Eskapaden eines Nationalspielers als Konsequenz eine Sperre nach sich ziehen sollten oder ob sein Talent auf dem Platz so herausragend war, dass man ihm alles verzeihen musste. Es dauerte nicht lange, bis Joe in die Diskussion einstieg.

Chris trank in großen Schlucken von seinem Bier und verfolgte das Cricketspiel, während er zwischendurch immer wieder zu Nora äugte. Er machte keine Anstalten, ein Gespräch zu beginnen, also beschloss Nora, den ersten Schritt zu tun.

«Joe hat mir erzählt, dass du bei der Polizei bist?»

Ein Nicken.

«Und du kanntest Crow richtig gut?»

Ein weiteres bestätigendes Nicken.

«Was, glaubst du, ist mit ihm passiert?»

Chris kniff die Augen zusammen.

«Hast du die Nachrichten nicht gesehen, oder was?»

Nora wand sich auf ihrem Sitz.

«Doch. Ich meinte nur …»

«Er war mein Freund. Ich bin heute den ganzen Tag bei seiner Frau gewesen … bei seiner Witwe, Mary. Ihr Sohn ist vier Jahre alt, und er nennt mich Onkel Chris. Wie soll ich dem Jungen jemals erklären können, was seinem Vater widerfahren ist?», sagte er, den Blick starr auf den Bildschirm gerichtet.

Nora berührte ihn sanft am Arm und bewegte ihn dazu, sie anzusehen. Sie wartete, bis er ihr in die Augen blickte.

«Es ist schrecklich, das verstehe ich nur zu gut. Aber was ich meinte, war: Seid ihr euch ganz sicher, dass das Video keine Inszenierung ist? Bisher wurde seine Leiche nicht gefunden. Kann es sein, dass er einfach nur entführt wurde und das Video die Leute in Angst und Schrecken versetzen soll?»

Chris schüttelte den Kopf und legte sich nervös die Hand vor den Mund, als wollte er versuchen, die folgenden Worte zurückzuhalten.

«Ich habe das Video gesehen. In seiner vollen Länge. Es besteht absolut kein Zweifel, dass Ed tot ist. Glaub mir.»

«Wie kommt es, dass du es gesehen hast?»

«Ich hatte in dieser Nacht Dienst, die Aufnahme wurde uns aufs Revier geschickt. In einer Rundmail an alle, mit dem Betreff Er bekam, was er verdiente. Wir bekamen schnell den Befehl, das Video zu löschen, was ich auch getan habe, aber ich konnte es vorher noch ansehen.»

Chris leerte sein Glas in einem Zug und starrte dann auf seine Hände, als sähe er sie zum ersten Mal.

«Du bist auch Journalistin, nicht wahr?»

Nora nickte

«Ja. Tut mir leid, falls Joe das nicht erwähnt hat.»

«Ist das hier für eine Reportage?»

«Ja. Aber ich weiß noch nicht, was für eine Reportage es wird.»

Chris musterte sie misstrauisch. Nora hob sein leeres Glas, das er gerade erst vor sich abgestellt hatte.

«Noch eins?»

Er nickte und wandte sich wieder dem Cricketmatch zu. Draußen war es inzwischen dunkel geworden, und die Gäste, die nur ein einfaches Feierabendbier trinken wollten, wurden von denjenigen abgelöst, die den Rest des Abends hier verbringen würden.

Als Nora mit einem Tablett zurückkam, auf das die Barkeeperin mit den silberglitzernden Augen fünf mit geübter Hand gezapfte Gläser Iron & Steel gestellt hatte, sah Chris besänftigt aus. Er nahm sein Glas und prostete den anderen am Tisch zu. Das Gespräch zwischen Joe und seinen Kollegen hatte sich nun den Vor- und Nachteilen des derzeitigen Nationaltrainers zugewandt und wie er im Verhältnis zu seinem Vorgänger abschnitt, über dessen Untauglichkeit sie sich schnell einig waren. Die Herausforderung bestand darin, Sterling zu zähmen, hörte Nora sie fachsimpeln, bevor sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Chris richtete.

«Und du bist dir wirklich völlig sicher, dass es sich bei dem Opfer in dem Video um Ed Crow handelt?»

«Ja. Wir waren befreundet, seit wir mit unseren ersten frisierten Mopeds durch die Gegend gefahren sind und heimlich das Dosenbier seines Vaters getrunken haben. Ich würde seine Stimme immer und überall wiedererkennen.»

«Also war es Eds Stimme in dem Video?»

Chris musste schlucken.

«Ja. Er hat um sein Leben gefleht. Von seinem Sohn und seiner Frau gesprochen, die er über alles geliebt hat. Den Typ mit dem Krummsäbel schien das nicht im Geringsten zu berühren. Der war eiskalt.»

«Ein Profi?»

Chris zuckte mit den Schultern.

«Ich habe das Video als einer der Ersten gesehen. Es war Montagabend, und ich habe gerade zufällig meine Mails gecheckt. Danach saß ich einfach nur da und habe vor mich hin gestarrt. Ich konnte nicht fassen, was ich da gerade gesehen hatte.»

Seine Stimme brach. Dann nahm er einen Schluck von seinem Bier.

«Kannst du den Täter beschreiben?»

Chris zuckte mit den Schultern.

«Er trug eine Art Militäruniform. Sturmhaube. Man konnte seine Augen nicht richtig erkennen. Das war eigentlich auch in dem Clip zu sehen, der in den Nachrichten gesendet wurde.»

«Und der Hintergrund?»

«Weiße Wände. Eine nackte Glühbirne an der Decke. Nichts Auffälliges. Vielleicht ein Lagerraum oder eine Garage. Das hätte überall sein können.»

«Hing eine IS-Flagge im Hintergrund?»

«Ich habe keine gesehen. Nur eine schwarze Decke, weiße Wände und grelles Licht.»

Nora wartete darauf, dass er weitersprach, und nahm einen Schluck von ihrem Bier. Sie wusste, da würde noch etwas kommen.

«Dann hat der Typ ihm einfach die Kehle durchgeschnitten. Als würde er eine Ziege schächten.»

Unterbewusst fasste Chris sich an den eigenen Hals.

Nora spürte, wie die Müdigkeit und das zweite Bier auf leeren Magen ihr langsam zusetzten. Doch Chris war noch lange nicht fertig.

«Ed hat die Augen aufgerissen und geröchelt. Und dann wurde es still. Das Blut spritzte in alle Richtungen. So richtig in Strömen. Bis nichts mehr kam. Dann hat dieser Typ Eds Kopf komplett vom Hals abgetrennt. Das dauert länger, als man denkt. Luftröhre, Knorpel und Halswirbel mit einem Krummsäbel durchzuschneiden, ist harte Arbeit, selbst wenn die Klinge scharf ist. Ich konnte nicht genau erkennen, was er tat, weil die Kamera auf einem Stativ stand. Er hat sie nicht bewegt, als er sich an Ed zu schaffen machte. Aber es war zu hören, dass es schwere Arbeit war», sagte er tonlos.

Nach einem kurzen Atemzug setzte er erneut an, er war wie in Trance.

«Ich weiß nicht, warum ich das Video nicht weggeklickt habe. Warum ich nicht wegschauen konnte, den Ton ausstellen oder einfach aufstehen und gehen. Es war unmöglich.»

Nora wollte ihn bitten aufzuhören, aber er war in seinen Schilderungen schon zu weit vorangeschritten, als dass man ihn noch aufhalten konnte. Jetzt steuerten sie geradewegs auf das bittere Ende zu.

«Zum Schluss hielt er Eds Kopf in der Hand. Er hob ihn an den Haaren in die Höhe. Seine Augen konnte man nicht sehen, sie waren zusammengekniffen. Doch sein Mund war ganz verzerrt, als würde er nie wieder aufhören zu schreien.»

Chris hielt inne.

«War es das, was du hören wolltest? Ist da was für deine Reportage dabei?», fragte er bitter.

Bevor Nora antworten konnte, klingelte Joes Handy.

Nora sah, wie Joe ganz blass wurde und aufstand, um nach draußen zu gehen, wo es etwas ruhiger war.

«Ist die Polizei schon da?», hörte sie ihn beim Rausgehen noch fragen.

Kurz darauf drückte er das Gespräch weg und suchte stattdessen Noras Blick durch die Scheibe der Tür.

«Haben sie ihn gefunden?», fragte sie ihn, als er wieder hereinkam.

«Es sieht ganz danach aus. Ich fahre hin.»

«Ich komme mit», bestimmte Nora.

Sie zog sich ihren Pullover über und ging hinaus auf die Straße, um ein Taxi zu rufen, während Joe sich von seinem Bruder verabschiedete. Dann setzte er sich auf den Beifahrersitz und gab dem Fahrer eine Adresse in der Mulberry Road durch.

«Wer hat dich angerufen?», fragte Nora.

«Tommy.»

«Wer ist das?»

«Wir haben zusammen Fußball gespielt. Ich habe ihm ein paarmal vor den großen Jungs den Arsch gerettet. Jetzt wohnt er in einer der weniger schönen Gegenden der Stadt und versorgt mich immer wieder mit Tipps. Er hat mir gerade erzählt, dass vor einer Garagenanlage einiges los ist. Angeblich haben sie eine Leiche gefunden, bei der es sich um Ed handeln könnte.»

*

Zehn Minuten später bogen sie in die Mulberry Road ein. Das Blaulicht eines geparkten Einsatzwagens flimmerte aus der Entfernung und signalisierte den Bewohnern der umliegenden Wohnblocks, dass bei den heruntergekommenen Garagen etwas Ungewöhnliches vorgefallen sein musste.

Nora schüttelte sich vor der nassen Kälte, die wie eiskalte Nadeln in ihre Wangen pikste, während Joe den Taxifahrer bezahlte.

Der Garagenkomplex war von einem Eisengitter umzäunt und bestand aus vier langen roten Backsteinbaracken. Nora zählte zwölf rostige Rolltore pro Baracke. Die gesamte Gegend erinnerte an einen Vorort von Tschernobyl. Verlassen und ungepflegt, ebenso wie das Schild, das verkündete, dass es sich um Osbornes Garagenvermietung handelte.

Ein uniformierter Beamter saß im Einsatzwagen und gab konzentriert mit seinem Funkgerät eine Meldung durch, während sein Kollege im Wind mit dem blau-weißen Absperrband kämpfte, das der Welt erklären sollte, dass der Zutritt zu den Garagen vorerst verboten war. Hinter ihm sah Nora ein halbgeöffnetes Rolltor.

«Warum sind keine Rechtsmediziner und Kriminalbeamten vor Ort?», fragte sie.

Joe zuckte mit den Schultern.

«Die sind wohl unterwegs, denke ich, aber es wird wohl einen Augenblick gedauert haben, an einem Freitagabend, wenn alle Bier trinken sind, genügend Leute zusammenzutrommeln. Einige wurden bestimmt aus Sheffield beordert. Wenn sie denn überhaupt selbst fahren können», erklärte er.

Nora ging in Richtung der Garage. Sie warf Joe einen Blick über die Schulter zu.

«Kommst du?»

Er zögerte einen Augenblick. Dann folgte er ihr.

Der uniformierte Polizist sah auf, als sie näher traten, sagte jedoch nichts.

Joe nickte ihm zu.

«Ist es Crow?», fragte er.

Ein kurzes Nicken.

«Ist es in Ordnung, wenn wir uns kurz umsehen, Collins?», fragte er.

Collins überlegte ein paar Sekunden.

«Ihr habt zwei Minuten, dann müsst ihr euch vom Acker machen. Ihr dürft die Garage nicht betreten und nichts anfassen. Und du schuldest mir was», sagte er säuerlich.

Nora hatte bereits einen rotbraunen Fleck entdeckt, der sich nach und nach mit Regenwasser vermischte und sich wie eine rostfarbene Pfütze auf dem Asphalt ausbreitete.

Der Regen milderte den Gestank von Tod, aber er war unverkennbar. Süßlich und übelkeiterregend, wie Nora ihn zum letzten Mal bei einem Erdbebenbericht wahrgenommen hatte, bei dem sie den Hilfstrupps mehrere Wochen lang geholfen hatte, Opfer aus eingestürzten Häusern zu bergen.

Sie ging in die Hocke, um einen besseren Blick in die Garage zu erhaschen, aber die Dunkelheit machte es unmöglich, irgendetwas zu erkennen.

An der Tür klebte der Rest eines völlig unpassenden knallgelben Aufklebers mit einer halb abgerissenen Palme und den Buchstaben SUNSH.

«Wer hat ihn gefunden?», fragte sie Collins, während sie versuchte, die Taschenlampenfunktion ihres Handys einzuschalten.

«Keine Ahnung. Irgendein Garagenmieter, nehme ich an. Der Anrufer blieb anonym, aber er beschrieb einen merkwürdigen Geruch und bestand darauf, dass wir uns die Sache genauer ansehen sollten. Wir waren gerade in der Nähe, als die Zentrale uns herschickte.»

Joe hatte in der Zwischenzeit eine Taschenlampe aus seiner Jacke gezogen. Sie warf einen schwachen, suchenden Strahl gelben Lichts in die Garage und streifte einen Tisch, einen Stuhl und das dünne schwarze Metallbein eines Kamerastativs ohne Kamera. Auf dem Boden lag ein Bündel von der Größe des Körpers eines erwachsenen Mannes. Bedeckt von einem blutdurchtränkten Trenchcoat. Dann fiel der Lichtkegel auf den Tisch, der in der Mitte des Raums zu stehen schien. Auf dem Tisch lag Ed Crows Kopf. Seine Augen waren zusammengekniffen, die Haut hatte eine weißgelbe Farbe angenommen.

«Wie hat …», begann Nora, bevor sie einen eisernen Griff an ihrer Schulter spürte.

Kapitel 3

«Wer zur Hölle sind Sie, und was haben Sie hier verloren?»

Nora stand auf und blickte in die Augen einer rothaarigen Frau, der die Wut ins Gesicht geschrieben stand. Sie wartete Noras Antwort gar nicht erst ab, sondern wandte sich direkt an Joe.

«Und Sie Foster, Sie sollten es wirklich besser wissen. Verschwinden Sie. Sofort.»

Auf dem Parkplatz entdeckten sie einen in die Jahre gekommenen Kastenwagen, der quer über drei Parklücken stand. Daneben war ein Team aus drei Männern und einer Frau dabei, sich Schutzanzüge aus Papier überzustreifen, was allen Schaulustigen zu verstehen gab, dass jede Hoffnung auf Überlebende sinnlos war und es ab jetzt nur noch um die Suche nach kriminaltechnischen Spuren ging. Die Zeit der Plastiktüten, Pinzetten und Reagenzgläser war angebrochen.

«Wer war das?», fragte Nora.

«Veronica Payton. Sie ist eine unserer toughesten Ermittlerinnen.»

«Ja, das kann ich mir vorstellen. Dass sie tough ist. Bekommt Collins jetzt Probleme?»

Joe schüttelte den Kopf.

«Vielleicht ein wenig.»

Während Nora und Joe im Regen standen, machte sich das KTU-Team an die Arbeit und stellte Scheinwerfer an der Garage auf. Ein BBC-Übertragungswagen rollte auf den Parkplatz. Kurz darauf stießen die Kollegen von Sky News dazu. Kleine Zelte wurden aufgestellt, um den Kameramännern und Journalisten Schutz vorm Regen zu bieten. Die Reporter machten sich bereit, live auf Sendung zu gehen, ohne richtig zu wissen, worüber sie überhaupt sprechen sollten.

«Erzähl mir mehr über Payton», bat Nora.

«Sie war von Anfang an mit dem Fall betraut. Mein Bruder hasst sie und alles, wofür sie steht.»

«Und das wäre?»

«Ach, du weißt schon. Sie ist ziemlich neu. Eine von diesen politisch korrekten Typen, die glauben, innerhalb von drei Wochen das gesamte Polizeiwesen umkrempeln zu können. Unter den gegebenen Umständen wird sie wohl bald von dem Fall abgezogen.»

Collins kam auf sie zu und zeigte in Richtung der Mulberry Road.

«Die Chefin betont, wenn ich es mal umschreibe, dass sie es sehr begrüßen würde, wenn ihr jetzt das Gelände verlasst», sagte er.

«Warum glaubst du, dass ihr der Fall entzogen wird?», fragte Nora.

«Es gibt Gerüchte, dass die Ministerin darauf besteht, eine Spezialeinheit aus London zu schicken. Payton findet das scheiße, aber offenbar steht der Entschluss nicht zur Debatte. Befehl von ganz oben», erklärte Joe.

Collins schüttelte den Kopf, als wäre allein der Gedanke, die Londoner Ermittler auf heiliger Toppingham-Erde zu sehen, unerträglich.

«Wissen Sie, wer aus London kommen wird?», fragte Nora.

«Keine Ahnung. Ist mir eigentlich auch egal. Wir werden das Schwein, das hierfür verantwortlich ist, schon kriegen, ohne dass sich die Typen aus dem Süden einmischen», erwiderte Collins.

Bevor Nora weiter nachhaken konnte, unterbrach Collins das Gespräch und ging quer über den Parkplatz auf einen Fotografen in dunkler Regenjacke zu, der mit seinem riesigen Teleobjektiv wie aus dem Nichts aufgetaucht war.

«Hey, Sie! Verschwinden Sie hier!»

Nora konnte nicht hören, was der Fotograf erwiderte, sah ihn jedoch mit seinem gelben Presseausweis wedeln. Zwischen den beiden Männern entwickelte sich ein kleiner Tanz, als der Fotograf versuchte, an dem Polizeibeamten vorbeizukommen. Der Beamte versperrte ihm mit verschränkten Armen den Weg. Es sah aus wie eine einstudierte Choreographie.

Joe schüttelte den Kopf.

«Das ist Keith Snyder, freiberuflicher Fotograf für die Sun, die Mail und alle anderen, die ihn bezahlen. Wenn du hier oben nach einem Fotografen suchst, würde ich dir raten, dich an jemand anderen zu wenden. Er hat einfach zu viele Feinde. Und von meiner Tante, die ihm gegenüberwohnt, weiß ich, dass er seine Frau schlägt. Ein richtiges Arschloch.»

Nora nahm sich vor, am nächsten Morgen Krebs anzurufen und ihn zu fragen, ob das Budget ein Honorar für Pete hergab. Ihn dabeizuhaben, wäre großartig.

Aber sie wusste auch, dass es um die Finanzen von Globalt immer schlechter stand. Was einst eine einleuchtend professionelle Arbeitsmethode gewesen war, wurde nun von vielen Redakteuren als unnötiger Luxus angesehen, den man sich sparen oder gönnen konnte, je nachdem, was das Budget gerade hergab.

Joe griff Noras Arm.

«Komm, lass uns gehen. Mehr kriegen wir jetzt auch nicht raus, und ich muss zu Hause noch einen Artikel für die Online-Seite schreiben.»

Nora folgte ihm zurück zur Hauptstraße.

Joe zögerte.

«Ich kann von hier aus zu Fuß gehen. Soll ich dir ein Taxi rufen?»

Nora tippte die Adresse des Hotels in die Karte auf ihrem Handy ein. Es war ein Fußweg von acht Minuten.

«Quatsch. Ich geh zu Fuß. Ich bin sowieso schon völlig durchnässt.»

Joe ließ seinen Blick über die verlassene Hauptstraße schweifen.

«Bist du dir sicher?»

«Ja, klar. In weniger als zehn Minuten bin ich im Hotel.»

Joe überlegte einen Augenblick, doch schließlich übertrumpfte die Deadline seine Ritterlichkeit.

«Okay. Ich weiß ja, dass du Kickboxerin bist», sagte er mit einem Grinsen und schlug den Kragen seiner Jacke hoch, bevor er sich umdrehte und in die entgegengesetzte Richtung ging.

Nora überquerte die Straße und kam an einem Kiosk vorbei, der rund um die Uhr geöffnet war. Die Inhaber hatten es vor dem Regen nicht geschafft, die Auslage mit dem verschrumpelten Gemüse nach drinnen zu stellen. Okra, Auberginen und rote Zwiebeln schwammen in roten Plastikschüsselchen herum. Nora blieb kurz stehen und blickte auf eines der Fenster, das mit allem Möglichen zugekleistert war, von Angeboten für «Spezial-Massagen» bis hin zu Visitenkarten von Taxifahrern und Aushängen von Leuten, die nach Arbeit, Gärtnern oder Mitbewohnern suchten.

Sie verließ die Hauptstraße und bog in ein ruhiges Villenviertel ein. Nur wenige Menschen waren unterwegs. Die einzigen Geräusche kamen von ein paar weit entfernten Autos und dem andauernden Rauschen des Regenwassers, das in die Gullys lief.

Sie warf einen prüfenden Blick auf die Karte ihres Handys und stellte genervt fest, dass sie in die falsche Richtung gelaufen war. Jetzt war sie zwölf Minuten vom Hotel entfernt. Die App schlug vor, eine Abkürzung quer durch ein anliegendes Hochhausviertel zu nehmen. Einen Augenblick lang überlegte sie, außen herumzugehen. Zwischen den Hochhäusern schien es ungewöhnlich dunkel, und mit bloßem Auge konnte sie erkennen, dass einige Straßenlaternen kaputt waren.

Doch dann biss sie die Zähne zusammen und trat in die Finsternis.

Zwischen den Wohnblocks schien der Regen nachgelassen zu haben, und für einen Moment glaubte Nora, ein paar Schritte zwischen den Betonwänden widerhallen zu hören. Rasch drehte sie sich um, aber im Dunkel hinter ihr war das Wohnviertel wie ausgestorben, die menschenleeren Wege gesäumt von eingeschlagenen Straßenlaternen.

Sie lauschte, doch sie hörte nur das leise Trommeln des Regens und das schwache Rauschen des Verkehrs von der Hauptstraße, auf die sie zulief.

Erneut checkte sie die Karte. In sieben Minuten würde sie in der Rezeption ihres Hotels im Trockenen stehen. Sie beschleunigte ihren Schritt und ging in Gedanken die Regeln durch, die sie in einem Artikel über Selbstverteidigung gelesen hatte.

Angreifer suchten sich immer Opfer aus, die schon von vornherein schwach aussahen. Gehe in der Mitte der Straße. Gehe aufrecht und selbstbewusst. Sieh den Leuten nicht direkt in die Augen, aber senke den Blick auch nicht auf den Boden.

Zwei junge Kerle kamen auf ausgedienten Mountainbikes auf sie zugerast. Sie bremsten scharf ab, und Nora zuckte zusammen. Die beiden grinsten und fuhren weiter.

«Bitch!», rief ihr einer der beiden nach, sie ignorierte es. Dann bogen sie um die nächste Kurve und ließen Nora allein auf dem dunklen Weg. Allein mit dem Gefühl, dass jemand jede ihrer Bewegungen verfolgte. Nur eine leichte Regung in ihrem Unterbewusstsein, ein Flüstern im Regen.

Sie ließ sich nicht davon beirren. Es waren wohl nur die Bewohner der Hochhäuser, die von ihren Fenstern aus eine Person beobachteten, die sie noch nie zuvor in ihrem Viertel gesehen hatten. Trotzdem ging sie schneller und kam an einem Block vorbei, in dem offensichtlich eine Party gefeiert wurde. Die Fenster im ersten Stock standen offen, und der für Hip-Hop so typische penetrante Bass wummerte durch die Wohnsiedlung, vermischt mit Rufen und Gelächter von drinnen.