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Die Welt ist eine Bühne … ... und niemand weiß, was der nächste Akt bereithält: Düsteres Drama, das große Liebesglück – oder die verhängnisvolle Mischung aus beidem? Geständnisse vor laufender Kamera und verschwundene Patient*innenakten Live-Fernsehen mal anders! Was bewegt die berühmte Schauspielerin Julia Didier dazu, einen Mord in einer TV-Sendung zu gestehen? Trotz öffentlichem Schuldbekenntnis bleibt die Kriminalpolizei am Anfang ihrer Ermittlungen stehen, denn das Motiv ist unklar, und weitere Aussagen von Julia Didier sind vorerst nicht zu erwarten: Sie befindet sich mittlerweile im Koma! Die Nachricht über die Tragödie verbreitet sich wie ein Lauffeuer in den Medien und Sozialen Netzwerken und erreicht schließlich auch Edgar Brehm und Toni Lorenz. Der Privatdetektiv Brehm und die Schauspielschülerin – und Brehms Assistentin – Toni sind gerade mit einem Fall von Einbruchsdiebstahl beschäftigt. Ihr Auftraggeber ist der Psychologe der österreichischen High-Society, auch des Ehepaars Didier. Dass Akten seiner Patient*innen verschwunden sind, macht den Star-Therapeuten nervös. Was verbergen Fernsehwelt und Theaterbühne und was kommt zum Vorschein, wenn die Masken fallen? Liebesglück, Liebeskummer – und eine emotionale Achterbahnfahrt … Edgar Brehm und seine große Liebe haben endlich wieder zueinander gefunden, er könnte nicht glücklicher sein. Doch die böse Überraschung lässt nicht lange auf sich warten, als sein neuer (und alter) Freund Zweifel äußert. Selbstfindung als Begründung mildert Edgars Enttäuschung nicht – wohin seine Beziehung geht, ist für Edgar plötzlich völlig unklar. Toni hat mehr Glück in der Liebe, wird es doch mit ihrem neuen Schwarm (der zufällig auch aufstrebender Filmstar ist) endlich ernster … Nur gut, dass Toni und Brehm einander haben und ihre Freundschaft zunehmend stärker wird. Ein neuer Fall ist als Ablenkung von Kummer und Schmetterlingen auch nicht schlecht, also tauchen die beiden in die Welt des Schauspiels ein, in der schöner Schein und düstere Wahrheit ganz und gar nicht übereinstimmen. Theresa Prammers aufregendes Ermittlerteam ist kreuz und quer durch Wien unterwegs – Verfolgungsjagd nicht ausgeschlossen! Das ungleiche Duo Toni und Brehm bewegt sich bei seinen Ermittlungen rasant durch die Großstadt. Ihre Fälle führen sie nicht nur an Wiener Hotspots wie den Prater, sondern auch an Filmsets, auf Theaterbühnen und Kaffeehäuser mit Wiener Charme – vom Burgtheater über den Küniglberg zur Kärtner Straße. Lipizzaner-Hufgetrappel auf dem Asphalt, der Schatten des Stephansdoms, hektisches Treiben auf der Ringstraße vor Prachtbauten, von irgendwoher duftet es verlockend nach Würstel: Theresa Prammer nimmt uns mit in ihr Wien – und es wird auf jeden Fall leiwand!
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Seitenzahl: 517
Für Brigitte, Günter und Christa
Für die Schauspielschule Krauss – danke für drei fabelhafte Jahre
Und für Joseph
Und an diesem Zauberfädchen,Das sich nicht zerreißen lässt,
Hält das liebe lose MädchenMich so wider Willen fest;
Muss in ihrem ZauberkreiseLeben nun auf ihre Weise.
Die Veränderung, ach, wie groß!Liebe! Liebe! Lass mich los!
„Neue Liebe, neues Leben“von Johann Wolfgang von Goethe
„Ist das Blut?“
„Bitte?“, fragte sie, als hätte sie die Worte der Maskenbildnerin nicht verstanden. Dabei klammerte sie sich an den Kamelhaarmantel, den sie eben ausgezogen hatte. Damit die junge Frau nicht mitbekam, wie sehr sie zitterte. Normalerweise kam sie zu allen Terminen mit ihrer eigenen Visagistin. Aber heute war nichts normal.
„Da, auf Ihrem Knie. Haben Sie sich verletzt, Frau Didier?“
Julia Didier folgte mit ihrem Blick dem Zeigefinger der Maskenbildnerin.
Sie hatte den großen roten Fleck auf dem glänzenden hellgrünen Stoff ihrer Designerhose bisher nicht bemerkt. Weder, als der Fahrer sie von ihrer Wohnung im achten Bezirk abgeholt hatte, noch beim Betreten des TV-Studios. Es war alles so schnell gegangen.
Wie ein roter Fluss, der immer mehr versiegt, schlängelte sich der Fleck von Knie bis Hosensaum. Sie schluckte, stammelte ein entsetztes „Oh, nein“, das unterging, da im selben Moment die Tür geöffnet wurde. Der Aufnahmeleiter, ein kleiner geschäftiger Mann Anfang 50, kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu.
„Julia! Meine Liebe, du bist da. Und schön wie immer.“ Er stoppte mitten in seiner Bewegung, die Lippen noch zum üblichen Begrüßungsbussi gespitzt, starrte auf ihre Hose, atmete hörbar ein: „Oh Gott, was ist das?“ Auch sein Gesicht zeigte Entsetzen.
Julia Didier setzte ein bekümmertes Lächeln auf und legte sich die Hand aufs Herz: „Ich habe es auch gerade erst bemerkt.“ Dramatische Pause. „So ein Pech. Ich muss mich beim Rasieren geschnitten haben.“ Ein hörbares Aufseufzen, als wäre es eben erst passiert und der Schmerz noch präsent. Dabei war jedes Härchen an ihrem Körper seit Ewigkeiten weggelasert. Sie konnte sich nicht einmal erinnern, wann sie sich das letzte Mal die Beine rasiert hatte.
In den letzten Jahren hatte sie sich so sehr angewöhnt, zu schauspielern, dass es zu einem Reflex geworden war. Sie musste keine Sekunde mehr darüber nachdenken. Sie verkörperte die Rolle der erfolgreichen und mit Preisen überhäuften Schauspielerin perfekt. Und wer war sie wirklich? Das war eine Frage, auf die sie selbst schon seit zehn Jahren keine Antwort mehr hatte. Nein, das stimmte nicht. Es war eine Frage, auf die sie die Antwort nicht wissen wollte.
Der Aufnahmeleiter setzte sofort ein Gesicht auf, als könnte er etwas dafür. Was nicht verwunderlich war, schließlich musste er seinen Kopf hinhalten, wenn etwas nicht passte. Selbstverständlich glaubte er ihr. Warum auch nicht? Trotzdem war sie für einen kurzen Augenblick über seine Freundlichkeit so erleichtert, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. Völlig unter Kontrolle hatte sie ihre Emotionen wohl doch nicht. An diesem Tag war das auch nicht verwunderlich.
Der Aufnahmeleiter missdeutete ihre Tränen, er sah auf die Uhr über dem Schminkspiegel: „Keine Sorge, meine Liebe. Alles wird gut. Es ist doch noch eine Stunde bis zur Live-Sendung. Du hast nicht zufällig eine Ersatzhose dabei?“
Kopf hängen lassen, zugleich weinerliche und verärgerte Stimme, die perfekte Reaktion: „Natürlich nicht.“
„Macht nichts. Das ist meine leichteste Aufgabe. Ist dein Mann schon im Haus?“
„Nein, er kommt heute nicht, er ist bei einem Termin.“
„Oh, wirklich? Am Nachmittag hab ich mit ihm telefoniert und er wollte mit mir nochmal die Interview-Fragen durchgehen, wenn ihr hier seid.“ Wie zum Beweis wedelte er mit einem Computerausdruck durch die Luft.
„Das kannst du mir geben. Seine Pläne haben sich kurzfristig geändert.“
Er war nur kurz irritiert, aber auch jetzt hatte er natürlich keinen Grund, ihr nicht zu glauben. Kurzfristige Änderungen waren in seinem Job nun wirklich nicht ungewöhnlich, wenn auch lästig. Deshalb schaltete er sofort wieder in den Problem-Lösungsmodus: „Was ist mit deiner Assistentin? Kannst du sie bitten, dir eine neue Hose zu holen?“
„Ich habe sie schon mit meinem Gepäck zum Flughafen geschickt, ich fliege morgen Früh für meinen nächsten Dreh nach Hamburg.“ Das war der erste wahre Satz, den sie seit ihrer Ankunft im ORF gesprochen hatte. Erst jetzt fiel es ihr auf. Und zugleich bemerkte sie ihren Fehler. Ich. Sie hatte „ich“ statt „wir“ gesagt. Deshalb schob sie rasch hinterher: „Erich kommt morgen Abend nach.“
„Natürlich, ich verstehe. Gut, weißt du was? Ich besorge sofort einen Fahrer, den werde ich zu dir nach Hause schicken und er …“
„Auf keinen Fall!“ Das war ihr lauter herausgerutscht als beabsichtigt. Doch sie fasste sich gleich wieder: „Es ist niemand da, außerdem ist dafür zu wenig Zeit.“ Sie ließ sich in den Schminksessel fallen. „Es war schon bei der Herfahrt so viel Verkehr.“
Das stimmte nicht. Der Fahrer hatte noch darüber gescherzt, wie schnell sie vorangekommen waren. Als wären in Wien alle Ampeln extra für sie auf Grün geschalten worden.
„Okay, verstehe.“ Er kratzte sich an der Schläfe.
Vor Jahren hatte sie selbst diesen Job gemacht. Als die Engagements als Schauspielerin ausgeblieben waren und sie bei Vorsprechen nur Absagen kassiert hatte, brauchte sie einen Plan B, um die Miete zu bezahlen. Ein Teilzeitjob bei einem kleinen Provinzsender in St. Pölten, nicht zu vergleichen mit dem Österreichischen Rechtlichen Rundfunk am Küniglberg. Bereits zu dieser Zeit hatte die goldene Regel gelautet: „Das Wohlbefinden des Stargasts hat oberste Priorität“.
Sie hieß damals noch Julia Kratochvil und hatte ihre Arbeit gut gemacht, besser als alle. Das wusste nicht nur jeder dort, auch sie selbst. Angefangen bei den unbezahlten Überstunden – sie war die Erste im Sender und die Letzte, die ihn wieder verließ. Über jeden Ablauf wusste sie Bescheid, selbst wenn er nicht in ihren Aufgabenbereich fiel. Niemand zwang sie dazu, das verlangte ihr eigener Anspruch. Ihr Perfektionismus war zugleich Antrieb und Hindernis. Wenn sie etwas machte, dann richtig. Keine halben Sachen. So war sie schon immer.
Trotzdem lehnte sie jede Beförderung mitsamt Gehaltserhöhung immer wieder dankend ab. Sie war Schauspielerin und dieser Job nur eine Zwischenlösung. Die leider immer länger andauerte, während ihre künstlerische Seele dahindümpelte und regelrecht verkümmerte.
Je mehr Zeit verging, desto größer wurde ihr innerlicher Druck, endlich wieder ein Engagement an Land zu ziehen. Wahrscheinlich war das der Grund, weswegen ihr das Lampenfieber bei jedem Vorsprechen einen Strich durch die Rechnung machte. Die Angst vor dem erneuten Versagen war das Unkraut, das über ihrem Talent zu wuchern begonnen hatte. Sie wusste bereits, bevor sie die Bühne betrat oder den Castingleuten ihren Lebenslauf in die Hand drückte, dass sie die Rolle nicht bekommen würde. Wieder nicht. Und wieder nicht. Mit jedem Geburtstag verließ sie die Hoffnung, es doch irgendwann zu schaffen. Wer glaubte schon an eine 33-jährige Newcomerin?
Und dann kam Erich und mit ihm änderte sich alles.
Er war einer der Stargäste bei dem Provinzsender gewesen. Damals leitete er eine neue und hippe Werbeagentur und war zum Interview in den Sender eingeladen worden, da bereits seine erste Kampagne mit dem Goldenen Delphin für den besten Imagefilm in Cannes ausgezeichnet worden war. Normalerweise handelte es sich bei ihren Stargästen um irgendwelche Bürgermeister der umliegenden Gemeinden, Weinprinzessinnen oder bestenfalls lokale Berühmtheiten. Doch Erich fiel in eine andere Kategorie. Er war der Einladung nur gefolgt, weil er und der Senderchef gemeinsam ins Gymnasium gegangen waren. Vom ersten Moment an war Julia beeindruckt von diesem großen schlanken Mann mit dem unwiderstehlichen Lächeln, den kurzen schwarzen Haaren, den gleichzeitig weichen und dennoch markanten Gesichtszügen. Er trug einen dunkelblauen Slimfit-Anzug, dazu ein weißes T-Shirt und weiße Sneaker. Sie fühlte sich alt neben ihm, dabei war er wie sie 33. Das sah man ihm nicht an, im Gegenteil. Hätte sie sein Alter schätzen müssen, hätte sie ihm keine 30 gegeben.
Sein Lachen war umwerfend, er war zu jeder Person im Team nett. Auch zu ihr, natürlich. Und sie war so beeindruckt von ihm, dass sie sich ungeschickt verhielt, seinen Kaffee verschüttete, ihr Handy fallen ließ. Dieser Mann machte sie nervös. Selbstverständlich kannte sie seinen Lebenslauf wie bei jedem Stargast – gut, seinen vielleicht sogar ein bisschen besser. Er hatte schon so viel erreicht, achtete auf seine Gesundheit, war sportlich, aber nicht übertrieben, meditierte, ohne einer speziellen Glaubensrichtung anzugehören, rauchte nicht, trank kaum Alkohol, und wenn, dann nur die edelsten Weine. Er liebte es, zu reisen und neue Kulturen zu entdecken, abseits der Touristenpfade, las viel und er schwärmte fürs Kino. Mit seinem rasanten Aufstieg waren immer mehr Presseleute an ihm interessiert gewesen. Und Julia hatte alle Interviews mit ihm verschlungen. Er hatte sie schon vor ihrer persönlichen Begegnung fasziniert.
Als er sie an diesem Abend vor zehn Jahren nach der Aufzeichnung zum Essen eingeladen hatte, wollte sie dennoch instinktiv ablehnen. Nicht, weil er ihr im echten Leben nicht gefiel – schon lange hatte sie niemanden getroffen, den sie so attraktiv fand. Sie war beruflich zu oft gescheitert, als dass sie für ihr Privatleben noch genug Selbstvertrauen hatte, um daran zu glauben, dass ernsthaft jemand an ihr interessiert war. Was sollte denn aus dieser Verabredung herausschauen als allerhöchstens ein One-Night-Stand? Vielleicht eine kurze Affäre. Sie spielte nicht in seiner Liga. Erich Didiers Interesse wäre hundertprozentig von geringer Dauer.
„Gut. Ich nehme jetzt deine Hose einfach mit in die Kostümabteilung und schau, was die für Tricks auf Lager haben“, holte der Aufnahmeleiter sie aus der Erinnerung. „Notfalls suchen wir dir eine andere, die zu der schwarzen Bluse passt. Größe 34?“
Sie nickte wieder und der Aufnahmeleiter drehte sich um. Die Maskenbildnerin reichte ihr einen Friseurumhang und sah sie erwartungsvoll an.
„Ich glaube, Sie müssen die Hose ausziehen, bitte“, sagte die junge Frau schüchtern.
„Natürlich.“
Sie stand auf, wickelte umständlich den Umhang um ihre Hüften, schlüpfte aus den schwarzen High Heels und vermied den Blick in den großen Spiegel, während sie die Hose abstreifte.
„Ein Gläschen Sekt auf diesen Schreck?“, fragte der Aufnahmeleiter, als sie ihm die Hose gereicht hatte.
Sie nickte automatisch, obwohl sie bei der Arbeit niemals Alkohol trank. Nicht beim Drehen und schon gar nicht, wenn sie ein Interview geben musste. Erst recht nicht, wenn es eine Livesendung war.
Disziplin, Disziplin, Disziplin. Die drei goldenen Regeln des Erfolgs.
„Möchtest du auch etwas essen? Wir haben ein paar Brötchen vorbereitet.“
„Ja, bitte.“
„Kommt sofort.“
Sie aß nie etwas außerhalb ihres strengen Ernährungsplans, sofern es sich vermeiden ließ. Was bedeutete, dass sie ständig Hunger hatte. In den letzten Jahren hatte sie gelernt, dass sie sich wirklich an alles gewöhnen konnte. Wenn den Aufnahmeleiter ihre Antwort überraschte, ließ er es sich nicht anmerken. Er wandte sich zu der jungen Maskenbildnerin.
„Ich bin gleich wieder da, mach inzwischen das Makeup und kümmere dich bitte auch um die Haare von Frau Didier.“
„Ich kann sie hochstecken, wie bei ihrem Shooting für die deutsche Vogue.“
„Nein, die Haare müssen offen bleiben. Das habe ich mit ihrem Mann so vereinbart“, sagte er.
„Aber …“
„Die Haare bleiben offen“, sagte der Aufnahmeleiter so streng, dass die Maskenbildnerin leicht zusammenzuckte.
Erich überließ nichts dem Zufall. Je nach Rolle, für die sie auf Promotion ging, gab er genaue Stylinganweisungen. Offene Haare passten zur Rolle, die sie in ihrem aktuellen Kinofilm Adeles Liebe als Hauptdarstellerin verkörpert hatte. Sie dachte nur ungern an das harte körperliche Training und die entbehrungsreiche und lange Diät als Vorbereitung für die Rolle, um bei den vielen expliziten Sexszenen ja erotisch und makellos auszusehen. Einzig die Reitstunden, die sie für den Dreh nehmen hatte müssen, waren ihr in angenehmer Erinnerung. Sie war heilfroh, dass sie seit Abschluss des Films im Burgtheater spielen durfte. Die Vorstellungen von Cyrano de Bergerac waren ihr lieber als jeder Drehtag.
„Gut, dann lasse ich euch jetzt allein.“ Noch ein unechtes Lächeln des Aufnahmeleiters, das seinen Stress wie eine Schablone verbergen sollte, dann war er verschwunden.
Julia zog den Umhang fester um ihre Hüften, setzte sich wieder in den Frisierstuhl und starrte in den Schminkspiegel. Dieses schmale helle Gesicht, die roten widerspenstigen Locken, die jede Maskenbildnerin zur Verzweiflung brachten, die grünen Augen mit den langen falschen Wimpern, das alles kam ihr so unbekannt vor. Als wäre die Frau im Spiegel eine Fremde. Sie hatte sich in den letzten zehn Jahren verjüngt, keiner käme jetzt auf die Idee, dass sie 43 war. Vier Mal pro Jahr zum Vampirlifting, jede Woche zur Kosmetikerin, mehrmals pro Woche abwechselnd Kraft- und Kardiotraining, außerdem diverse Yogaeinheiten. Dazu selbstverständlich ein strikter Ernährungsplan.
Sie war ein Produkt geworden. War es nicht genau das, was sie sich immer gewünscht hatte? Natürlich, denn nur so kannte sie das Publikum und nur als dieses Produkt verlieh man ihr einen Preis nach dem anderen als beste Schauspielerin. Davor hatte sich niemand in der Branche für sie interessiert. Nicht einmal sie selbst. Ihr optimiertes Erscheinungsbild gab ihr das nötige Selbstvertrauen, beim Spielen alles aus sich rauszuholen. Das hatte Erich immer verstanden.
Sie zuckte zusammen, als ihr Handy läutete. Es war die Nummer ihrer Agentin, Berta Fuchs. Wahrscheinlich hatte sie Erich nicht erreicht und wollte wissen, ob sie im Sender war. Sie drückte den Anruf weg.
„Ist es in Ordnung, wenn ich ein bisschen mit dem Glätteisen rangehe?“, hörte sie wie aus weiter Ferne die ängstliche Stimme der Visagistin.
Sie nickte, ließ alles über sich ergehen: das Make-up, das mit der Airbrush-Pistole auf ihre Haut gesprüht wurde, das Gepinsle auf ihrem Gesicht. Jemand brachte den Sekt und die Brötchen, doch sie reagierte nicht. Erst als sie den Aufnahmeleiter mit einem lauten „Die Hose ist gerettet“ eintreten hörte, öffnete sie wieder die Augen.
„Alles wie neu, bitte schön“, sagte er, doch sie starrte nur auf ihr Spiegelbild.
Sie sah furchtbar aus. Anders konnte man es nicht sagen. Der Hautton um zwei Nuancen zu dunkel, das Rouge grellorange und völlig übertrieben, der pinkfarbene Lippenstift schlug sich mit ihrer Haarfarbe. Der Versuch, aus ihren Locken eine Wasserwelle zu kreieren, war kläglich gescheitert. Wie ein Vorhang baumelten die Haare vor ihren Augen.
„Was hast du nur angestellt?“, fauchte der Aufnahmeleiter Richtung Maskenbildnerin.
„Ich … ich …“, stammelte die junge Frau.
„Sie haben das ganz wunderbar gemacht, danke“, sagte Julia und nickte wie zum Beweis ihrem Spiegelbild zu. Dann stand sie auf, nahm dem Aufnahmeleiter die gereinigte Hose ab und schlüpfte hinein.
„Gut, dann …“, sie griff nach dem Sektglas, leerte es in einem Zug. „Ich bin bereit“, sagte sie mit einem Lächeln und reichte dem Aufnahmeleiter das leere Glas.
„Bist du sicher?“
„Absolut.“
„Ähm … Julia, ich weiß nicht, Erich würde …“
„Wirklich, es ist alles gut“, sagte sie beruhigend und legte dem Aufnahmeleiter die Hand auf den Arm. Sie zwinkerte ihm zu und warf einen freundlichen Seitenblick zur Maskenbildnerin.
„Okay, wenn du willst. Gut. Wir haben noch zehn Minuten. Clarissa Stadler macht die Anmoderation, dann wird ein kurzer Bericht eingespielt, währenddessen führe ich dich an deinen Platz. Bitte geh schon einmal vor.“
„Hast du ein Glück, dass ihr Mann nicht hier ist“, hörte sie noch die wütende Stimme des Aufnahmeleiters, als sie den Raum verließ.
Die Moderatorin des kulturMontags hätte nicht professioneller auf ihr schlechtes Make-up reagieren können: „Hallo, Frau Didier. Wie toll, ein ganz neuer Look. Ich war gestern in Ihrer Vorstellung im Burgtheater. Sie waren unbeschreiblich. Es war überwältigend. Am Ende konnte ich nicht aufhören zu weinen.“ Sie schüttelten einander die Hände, noch ein kurzer Small Talk, dann nahmen sie Platz und das rote Licht der Liveübertragung fing auf der Kamera an zu blinken.
Wie zwei alte Freundinnen plauderten sie über den Film und ihre Arbeit mit der französischen Regisseurin. Clarissa Stadler fragte, wie sie sich auf ihre unterschiedlichen Rollen vorbereitete und wie es sich anfühlte, nach so langer Zeit wieder Theater zu spielen.
Sie wollte wissen, wie es so gut funktionierte, vom eigenen Ehemann gemanagt zu werden.
Julia beugte sich in Richtung der Moderatorin, als würde sie ihr ein Geheimnis verraten: „Wir haben uns darauf geeinigt, dass er Montag bis Freitag von neun bis siebzehn Uhr nicht mein Ehemann ist.“ Clarissa Stadler lachte. Touché.
Es war ein ganz normales Interview, Julia schmunzelte gekonnt an den richtigen Stellen, streute Selbstironie ein, zeigte sich dankbar und bescheiden, wie man es von erfolgreichen Frauen erwartete.
Sie ging wie immer so in ihrer Rolle der berühmten und dennoch bodenständigen Schauspielerin auf, dass sie den Tumult erst bemerkte, als Clarissa Stadler einen überraschten Blick Richtung Kameramann warf. Irgendwas spielte sich vor der Tür des Studios ab, Stimmen, die durcheinanderriefen, waren zu hören.
„Ich glaube, es ist Zeit für die Überraschung, die wir für Frau Didier vorbereitet haben“, sagte Clarissa Stadler in die Kamera und stand auf. „Frau Didier, darf ich Sie bitten, mich zu begleiten? Wir müssen kurz das Studio verlassen und hinaus zum Eingang. Ihr Mann hat uns ein kleines Geheimnis verraten. Darum wartet da draußen jetzt jemand auf Sie, den Sie bei Ihrem letzten Dreh sehr liebgewonnen haben.“
Julia wurde schlecht, ihr Magen krampfte sich zusammen. Verdammt. Was sollte das?
Ein Kameramann mit umgeschnallter Steadycam ging ihnen voraus, das Objektiv auf sie gerichtet. Ihr Herz schlug so rasant, dass sie Angst hatte, man könnte es durch das angesteckte Mikrophon hören. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und freundlich zu lächeln, während sie durch die Gänge des ORF-Gebäudes gingen. Endlich waren sie beim Haupteingang. Durch die Glastür konnte man nichts sehen, draußen war es stockdunkel. Die Beleuchtung schien ausgeschaltet zu sein.
Die Moderatorin ging voraus. Es war ein stürmischer Herbstabend, der Wind fegte über sie hinweg. Aus der Ferne hörte Julia ein „Los“, im nächsten Moment erstrahlte das grelle Licht zweier Scheinwerfer.
„Anatol“, presste sie hervor. Ihre Knie wurden weich.
„Genau, das ist Anatol“, sagte Clarissa Stadler in die Kamera, „er ist der Hengst aus Frau Didiers letztem Film. Ein Menorquiner mit ordentlichem Temperament. Darum ist es besser, seine Trainerin hält ihn am Zaumzeug. Hallo.“ Sie winkte der jungen brünetten Frau zu, keine 20 Jahre alt, die mehr wie eine Komparsin neben dem stattlichen Pferd stand und in die Kamera lächelte. Julia hatte sie noch nie gesehen. Zum Glück war es nicht Tanja, Anatols echte Trainerin.
„Ich bleibe lieber hier stehen, aber Sie, Frau Didier, kennt er gut. Bitte, gehen Sie ruhig zu ihm und begrüßen Ihren Anatol.“
Julia kamen die Tränen. Sie trat zu dem Pferd, blieb einen Moment stehen. Erst, als er seinen Kopf senkte, legte sie ihre Stirn auf seinen Nasenrücken, schloss die Augen und streichelte über seine Kehle. Wie sie es unzählige Male in den Drehpausen getan hatte. Er blies beruhigend aus den Nüstern.
Der Wind wurde stärker, fegte über sie hinweg und sie krallte sich an Anatols schwarzglänzendem Fell fest.
„Was ist …?“, hörte sie Clarissa Stadlers Stimme. „Moment, was …? Entschuldigen Sie, liebes Publikum, ich höre gerade von der Regie, der Wind ist zu stark, wir müssen die Übertragung für einen Moment unterbrechen, wir sind gleich wieder da.“ Im nächsten Moment änderte sich ihr Tonfall. „Okay, was ist passiert? Müssen wir weg?“, fragte die Moderatorin panisch.
Ein Mann sagte Julias Namen, als wäre es eine Frage. „Frau Didier?“
Sie reagierte nicht.
„Frau Didier?“
Sie seufzte lautlos, wahrscheinlich mussten sie wieder ins Gebäude gehen. Sie hob den Kopf, küsste Anatols Nasenrücken und drehte sich um.
Der Kameramann stand abseits, sein Objektiv war nicht mehr auf sie oder Clarissa Stadler gerichtet, sondern zur anderen Seite. Es sah nicht so aus, als wäre der Wind dafür verantwortlich, dass abgebrochen wurde. An der Hausmauer stand aufgereiht eine Gruppe Polizeibeamter in Uniform.
„Entschuldigen Sie bitte, das gehört natürlich nicht zu der Überraschung, es muss etwas passiert sein“, hörte sie wie aus weiter Ferne Clarissa Stadlers Stimme, obwohl sie nur ein paar Meter entfernt stand. „Ich gehe kurz hinein und kläre, was los ist und wie wir weitermachen.“
Einer der Polizeibeamten löste sich aus der Menge und kam auf Julia zu. Anatol trabte ruckartig zurück, zog am Zaumzeug, blähte die Nüstern. Der Polizist schien sich davon nicht irritieren zu lassen. Julia trat ein paar Schritte von dem Pferd weg, stoisch, als wäre es eine Filmszene, die gerade gedreht wurde.
„Vor Julia dachte ich immer, das Leben imitiert nur die Kunst“, hatte Erich gerne auf Partys gesagt, wenn er auf ihre Ehe angesprochen wurde. „Ich dachte, die große Liebe gibt es ausschließlich auf der Leinwand, nicht in den eigenen vier Wänden. Wahrscheinlich war ich deshalb immer so ins Kino verliebt. Doch dann … dann ist etwas Magisches passiert. Ich habe meine Frau kennengelernt.“
Bereits drei Mal hatte Erich Didier ihr Leben komplett verändert. Nun würde er es zum vierten und letzten Mal tun.
Der Polizist war um zwei Köpfe größer als Julia, er beugte sich zu ihr.
„Sie sind Frau Didier?“
„Ja, die bin ich.“
Er bedeutete ihr, in das Gebäude zu gehen. Julia machte ein paar Schritte, doch dann drehte sie sich um und schüttelte den Kopf.
„Warum sind Sie hier?“, fragte sie.
„Frau Didier, es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten mitzukommen. Es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, zu Ihrem eigenen Schutz. Nur bis wir sicher sein können, dass für Sie keine Gefahr besteht. Es geht um Ihren Mann“, sagte er leise. Es klang fast ehrfürchtig. „Es tut mir sehr leid.“
„Was soll das? Das ist ein Scherz“, widersprach irgendwer, der in der Zwischenzeit aus dem Gebäude getreten war, wahrscheinlich der Aufnahmeleiter. Julia hatte das Gefühl, als gäbe es nur noch sie und diesen Polizisten im Scheinwerferlicht. „Das ist versteckte Kamera, richtig?“, kreischte der Aufnahmeleiter. „Hören Sie, das war nicht abgesprochen. Regie, es muss sofort wer aus der Regie herkommen, ich … Moment, die Kamera läuft noch. Sind wir auf Sendung? Oh Gott, Abbruch, Abbruch, das ist …“
„Es ist nichts dergleichen“, unterbrach ihn Julia, ohne den Blick von dem Polizisten abzuwenden. Ihre Stimme klang ruhig und fest. „Sie sind hier, weil mein Mann tot ist.“
Die Augen des Polizisten weiteten sich. Er nickte langsam: „Wieso wissen Sie das?“
„Weil ich ihn umgebracht habe.“
Niemand rührte sich. Als wäre die Szene angehalten worden. Eine Böe wirbelte, einer der Scheinwerfer fiel krachend zu Boden, Glas zerbrach, jemand schrie. Im Augenwinkel bemerkte Julia, wie Anatol sich losriss.
„Vorsicht“, brüllte eine männliche Stimme. Alle stoben auseinander. Der Polizist packte sie am Arm, wollte sie wegreißen. Doch er stolperte und ließ sie los. Julia knickte auf dem Absatz ihrer High Heels um und stürzte.
Hinter sich hörte sie die Hufe auf Asphalt. Blitzschnell drehte sie sich um. Anatol stürmte auf sie zu. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie den Impuls, zur Seite zu rollen. Doch dann war dieser Moment vorbei. Sie blieb liegen.
Das Letzte, was sie sah, war der Huf des Pferdes, der sie am Kopf traf, als es über sie hinwegtrampelte.
Dann verschluckte sie der Schmerz und alles wurde schwarz.
„Sie sind der Detektiv, den mein Vater engagiert hat“, hörte Edgar eine Frauenstimme hinter sich.
Er fluchte innerlich. Das war ohne Zweifel sein Zielobjekt. Dazu musste er sie nicht mal sehen. Wer sonst sollte ihn so ansprechen, er befand sich immerhin auf der Herrentoilette des Café Gerstner im ersten Bezirk und wusch sich gerade die Hände. Sollte er sie ignorieren? So tun, als wäre er ein Tourist und würde sie nicht verstehen?
Aus einer der Toilettenkabinen war ein Rumpeln zu hören. Er hob den Kopf. Im Spiegel sah er, wie erwartet, die junge Frau Mitte 20 mit tief ins Gesicht gezogener, dunkelgrüner Baseballmütze und Brille mit Goldrand, die sie garantiert nicht brauchte. Entweder war sie nicht sehr intelligent, weil sie laut ihrem Vater immer diese Verkleidung für ihre Wienbesuche wählte. Edgar hatte ein Foto von ihm in genau dieser Aufmachung bekommen, man musste also kein besonders guter Detektiv sein, um sie sofort in der Ankunftshalle des Flughafens Wien-Schwechat zu entdecken. Oder sie wollte gefunden werden, aus welchem Grund auch immer. So oder so, es ging Edgar nichts an, es interessierte ihn nicht mal. Bis jetzt, da sie ihm offenbar auf die Toilette gefolgt war.
Er war müde nach der dritten zu kurzen Nacht in Folge und wollte diesen Auftrag endlich hinter sich bringen. Die junge Frau lebte in London und war für ein paar Tage nach Wien gekommen. Ihr Vater hatte ihn engagiert. Weil seine Tochter nach einem Rosenkrieg mit seiner mittlerweile verstorbenen Exfrau den Kontakt zu ihm abgebrochen hatte. Der Vater wusste nicht, an welchem Tag genau sie kommen würde, aber es wäre ein Direktflug in der letzten Oktoberwoche und sie würde nicht nach 15 Uhr landen. Anscheinend hatte er es über ihre Kreditkartenabrechnung herausgefunden. Edgar bezweifelte das, doch er hatte nicht genauer nachgefragt. Manchmal war es besser, nicht alles zu wissen.
Neun Flüge zwischen neun Uhr am Vormittag und sechzehn Uhr kamen infrage. Edgar war heute den dritten Tag am Flughafen in der Ankunftshalle gewesen, an dem er auf die junge Frau gewartet hatte. Am Sonntag hatte Edgar seine Assistentin Toni dabeigehabt, was die ganze Angelegenheit nicht nur einfacher, sondern auch bedeutend angenehmer gemacht hatte. Aber Toni arbeitete nur nebenbei für ihn, sie war Schauspielschülerin und hatte unter der Woche meistens Unterricht im Konservatorium.
Ihre Zusammenarbeit war hervorragend, sie war klug, zuverlässig und loyal. Doch nicht nur deswegen hatte er ihr den Job angeboten. Toni war ihm ans Herz gewachsen, vielleicht verschwieg er auch aus diesem Grund manchmal, dass er sie brauchte. So wie heute.
Nach zermürbend langweiligen Stunden alleine am Flughafen war sein Zielobjekt mit der Maschine um 15:40 Uhr angekommen. Es war sehr einfach, ihr zu folgen, sie schlenderte durch die Ankunftshalle. Edgar nahm ein paar Sitze von ihr entfernt Platz, als sie in den Zug nach Wien stieg, und hörte dabei zu, wie sie sich am Telefon mit einer Edith in einer halben Stunde auf einen Kaffee im ersten Bezirk verabredete.
Weiter ging es von Wien Mitte mit der Straßenbahn zur Staatsoper. Edgar hatte sie nie aus den Augen verloren. Kaum hatte die junge Frau in den prachtvollen Salons Privés des Café Gerstner im zweiten Stock Platz genommen und eine Melange und einen Kaiserschmarrn bestellt, hatte Edgar ihren Vater angerufen und ihm mitgeteilt, wo er seine Tochter antreffen konnte. Das war alles. Der Mann wollte einfach nur mit ihr reden. Es war ein ganz simpler Auftrag.
In spätestens 15 Minuten wäre er da, sagte der Vater am Telefon gehetzt, bedankte sich überschwänglich und Edgar hörte noch, wie der Mann ins Taxi stieg und dem Fahrer das Ziel nannte.
Nun wäre es Edgars Aufgabe gewesen, vor dem Eingang des Cafés Stellung zu beziehen, bis sein Auftraggeber eintreffen würde. Doch so lange konnte Edgar nicht warten.
Er musste so dringend pinkeln, dass er keinen Schritt mehr gehen konnte. Das war der Nachteil, wenn man alleine arbeitete: Er musste die Getränkemenge ebenso wie die Toilettenpausen während seiner Observationen genau timen. Das war eine der unrühmlichen Seiten seines Berufs. Aus diesem Grund hatte er sich auf einen Espresso im Café der Ankunftshalle beschränken wollen. Doch er war so müde, dass aus dem einen Kaffee vier wurden. Dazu hatte er extra nur an den kleinen Gläsern Wasser genippt, die danebenstanden. Bis ihm plötzlich schwindlig geworden war und er Tonis mahnende Worte in seinem Kopf gehört hatte, er müsse sich mehr um seine Gesundheit kümmern. Daraufhin hatte er ein großes Glas Wasser bestellt. Danach ging es ihm zwar besser, aber nicht lange. Doch er hatte keine Wahl gehabt, schließlich hätte er dem Kellner ja nicht das Foto seines Zielobjekts in die Hand drücken und ihn bitten können, die Augen nach der Frau offen zu halten. Aber es war heute die letzte Maschine, die in Frage kam, nur so lange musste er noch warten. Doch dann war genau in dem Moment sein Zielobjekt in der Ankunftshalle aufgetaucht. Vielleicht sollte er die Sache mit einer Hilfskraft doch nochmal überdenken. Später, aber nicht jetzt. Jetzt musste das Glas Wasser dringend wieder heraus.
Nachdem Edgar sich vergewissert hatte, dass die junge Frau mit ihrem Handy beschäftigt war und auf ihre Bestellung und anscheinend auch auf ihre Freundin wartete, war er eiligst auf die Toilette gelaufen. Was ein großer Fehler war, wie er jetzt bei seinem Blick in den Spiegel feststellen musste.
„Ich weiß, dass Sie mir seit dem Flughafen folgen. Sie müssen nichts sagen, bitte hören Sie mir nur eine Minute zu“, sagte sein Zielobjekt.
Eine der Toilettenkabinentüren schwang auf. Ein Mann, den Edgar auf den ersten Blick als Tourist einschätzte, kam heraus. Noch mehr Aufmerksamkeit war das Letzte, was Edgar brauchen konnte. Er drehte sich um und gab der jungen Frau mit einer Kopfbewegung zu verstehen, draußen weiterzureden. Sie schüttelte den Kopf und blieb einfach stehen, bis der erstaunte Mann den Waschraum verließ. Dann schloss sie die Tür und lehnte sich dagegen.
„Ich weiß nicht, was mein Vater Ihnen erzählt hat, es geht mich auch nichts an. Aber ich zahle Ihnen, was Sie auch verlangen, wenn Sie ihm sagen, dass ich nicht angekommen bin. Nennen Sie mir einfach den Preis.“ Sie nahm ein Kuvert aus ihrer Handtasche, es war prall gefüllt mit Geldscheinen. Wie selbstverständlich fing sie an, die Scheine zu zählen. „Also?“
Normalerweise hätte Edgar sofort abgelehnt, aber irgendetwas am Verhalten dieser jungen Frau irritierte ihn – und es war nicht, dass sie ihm gefolgt war und ihm jetzt Geld anbot. Er konnte es nicht festmachen. Bis jetzt hatte er sie nur auf den Fotos, die ihr Vater ihm gegeben hatte, gesehen und aus einigen Metern Entfernung bei seiner Verfolgung. Noch nie aus der Nähe. Sie war im Internet nicht auffindbar und laut Toni benutzte sie auch keine sozialen Medien.
„Wieso kommen Sie darauf, dass ich auf Ihr Angebot eingehe?“
„Weil das bis jetzt alle Detektive getan haben, die er nach mir hat suchen lassen“, sagte sie nüchtern. „Wie viel kostet es mich, damit Sie mich in Ruhe lassen?“
„So arbeite ich nicht.“
„Wenn Sie damit meinen, das Bargeld im Kuvert reicht Ihnen nicht, dann nennen Sie mir die Summe und ich überweise Ihnen …“
Edgar nahm ein Papierhandtuch aus dem Spender. Er sollte seine Zeit nicht mit dem Gespräch vergeuden, sondern vor dem Café auf seinen Klienten warten. Und dann musste er nach Hause, sich frisch machen und umziehen. Um 19 Uhr war er mit Ralph verabredet. Seit ihrer letzten Begegnung auf der Hochzeit von Tonis Oma Martha Lorenz waren zehn Tage vergangen. Vor zehn Tagen hatte Ralph Edgar vor der versammelten Gästeschar geküsst. Ralph, der Mann, den er mehr als jeden anderen geliebt und der ihm vor Jahren gleich mehrfach das Herz gebrochen hatte. Edgar hätte gerne gesagt, es wäre vergeben und vergessen, doch so einfach war das nicht. Oder doch? Die Wahrheit war, er wusste es nicht. Alles, was er wusste, war, wie sehr er sich auf Ralph freute. Vor zehn Tagen hatten sie sich für heute verabredet. Ralph musste nach Rom, in den Vatikan. Anscheinend gehörte das zum Prozedere, wenn man das Priesteramt zurücklegte.
„Ich will Ihr Geld nicht. Sie können sich wieder an Ihren Tisch setzen und auf Ihre Freundin warten“, sagte Edgar zu seinem Zielobjekt.
Ein leises Lachen entkam der jungen Frau. „Es gibt keine Freundin. Das Telefonat war vorgetäuscht. Ich musste nur herausfinden, wer mir diesmal folgt.“
Jetzt erkannte Edgar, was ihn so irritiert hatte. Es war ihm nicht aufgefallen, aber es war ihre Haltung. Sie war leicht nach vorne gekrümmt. Als wäre sie darauf bedacht, irgendetwas an sich zu verstecken. Hoffentlich keine Waffe, dachte Edgar und ging auf sie zu, um die Tür zu öffnen, die sie immer noch blockierte. Er wollte hier raus. Doch sie rührte sich nicht von der Stelle.
„Haben Sie sich nicht gefragt, warum mein Vater nicht einfach selbst am Flughafen auf mich gewartet hat, wenn er doch offensichtlich gewusst hat, wann ich ungefähr ankomme?“
„Weil er eine Firma und keine Zeit dafür hat?“
Der Mann hatte sein eigenes Unternehmen mit mehreren Mitarbeitern und sich auf hochwertige Schreibtische, alles Spezialanfertigungen, spezialisiert.
Sie verschränkte die Arme, doch ihre Geste wirkte nicht abwehrend. Sondern zerbrechlich.
„Das klingt nicht so, als hätte er Ihnen von dem Annäherungsverbot erzählt, das es ihm seit der Scheidung meiner Eltern verbietet, mir nahe zu kommen?“
Edgar unterdrückte ein Seufzen. So etwas war nicht unüblich, er musste sich oft alle möglichen erfundenen Geschichten anhören.
„Ich weiß, dass Sie Ihren Vater um eine hohe Geldsumme betrogen haben. Aber er will sein Geld nicht, das möchte er Ihnen sagen“, sagte er.
Sie lachte auf: „Das hat er Ihnen erzählt? Was für eine schöne Geschichte. Wieso hat er dann nicht einfach einen Detektiv in London engagiert?“
„Keine Ahnung, hören Sie …“
„Weil er in London sofort von der Polizei festgenommen werden würde“, fiel sie ihm ins Wort. „Die sehen einen Mordversuch nämlich nicht so locker wie die Behörden in Wien.“
Edgar stockte. Er hatte in seinem Berufsleben schon unzählig viele Ausreden gehört. Es war nicht seine Aufgabe, über deren Wahrheitsgehalt zu urteilen, er erledigte lediglich seine Aufträge. Aber die Abgeklärtheit, mit der diese junge Frau zu ihm sprach, irritierte ihn. Vielleicht war er auch einfach nur sentimental, was wahrscheinlich mit Toni zu tun hatte, die sich ihren Glauben an das Gute trotz ihrer gemeinsamen Ermittlungen und ihrer persönlichen Erfahrungen einfach nicht abgewöhnte. So etwas färbte ab.
„Klären Sie das bitte mit Ihrem Vater“, sagte er.
Sie sah ihn an, als würde sie überlegen. Dann griff sie an den Saum ihres Sweatshirts. Ohne den Blick von Edgar abzuwenden, zog sie es hoch und streckte Edgar die nackte Haut entgegen. Wie Nester rankten sich unzählige verwachsene Narbengebilde auf dem Bauch der jungen Frau, der Nabel war gar nicht mehr zu erkennen.
„Sieht das für Sie wie die Möglichkeit aus, mit ihm etwas zu klären?“ Edgar hatte in seiner Zeit als Polizist vor mittlerweile über 20 Jahren schon einmal solche Narben gesehen. Bei einem Brandopfer, zu dessen 24-Stunden-Schutz er abgestellt worden war. „Nachdem meine Mutter meinem Vater gesagt hat, dass sie sich von ihm scheiden lässt, hat er gedroht, mich anzünden, wenn sie ernst macht. Was er getan hat“, sagte sie emotionslos und zog das Sweatshirt wieder herunter. „Also nehmen Sie jetzt mein Geld?“
Edgar holte sein Handy aus der Innentasche des Sakkos und rief die Liste der ausgehenden Anrufe auf. „Nein, nehme ich nicht“, sagte er.
Er sah sie nicht an, aber er spürte, wie die junge Frau zurückzuckte. „Aber …“
Vor acht Minuten hatte er seinen Auftraggeber angerufen. Was bedeutete, sie hatten bis zu seinem Eintreffen im besten Fall noch ein paar Minuten Zeit. Er wählte die Nummer und bedeutete der jungen Frau, leise zu sein. Ihr Vater ging nicht ran. Keine Mobilbox, nur eine Ansage, man solle es später erneut versuchen. So ein Mist. Er legte auf.
„Ich weiß nicht, ob Sie hier irgendein Spiel veranstalten, aber ich will es nicht darauf ankommen lassen. Sie müssen sofort gehen. Vielleicht gibt es einen Hinterausgang, nur um sicher zu sein.“ Er steckte sein Handy wieder ein. „Ihr Vater wird in ein paar Minuten hier sein. Ich habe ihn angerufen, als Sie …“
„Er kommt her?“ Sie riss die Augen auf, schnappte nach Luft.
„Ja. Er ist bereits im Taxi. Aber ich kann ihm sagen, ich hätte mich geirrt, Sie wären es nicht gewesen.“
Ihr Kinn bebte, sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Er wird Ihnen niemals glauben.“
Edgar wollte widersprechen, es wäre nicht die erste Verwechslung, die ihm passierte. Doch sie ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„So etwas ist schon einmal vorgekommen, bei einem anderen Detektiv, dem ich Geld angeboten habe. Er wird Ihnen nicht glauben. Er weiß jetzt, dass ich in Wien bin. Er wird mir keine Ruhe lassen. Das tut er nie, wenn er weiß, wo ich bin. Ich muss zurück zum Flughafen. Sofort.“
Ihre Stimme überschlug sich, Tränen waren ihr in die Augen gestiegen.
Edgar starrte sie an, wie Puzzleteilchen fiel nun alles an den richtigen Platz. Darum ihre Verkleidung. Deshalb hatte sie sich am Flughafen und auf dem Weg in die Innenstadt so viel Zeit gelassen. Sie wollte sichergehen, dass jeder Detektiv, der auf sie angesetzt war, sie erkennen würde und ihr problemlos folgen konnte. Damit sie ihr Angebot unterbreiten konnte. Sein Handy klingelte. Das war sicher ihr Vater.
„Das ist er, oder? Er ist es!“, weinte sie.
Edgars letzte Zweifel, sie könnte ihn anlügen, lösten sich in Luft auf. Diese Frau hatte Todesangst.
„Es tut mir leid, ich hatte keine Ahnung“, sagte Edgar.
Sie verschränkte wieder die Arme, krümmte sich zusammen und keuchte.
„Bis eben war ich mir nicht sicher, dass Sie der Detektiv sind.“ Es klang wie ein Vorwurf, aber Edgar nahm es ihr nicht übel. „Ich dachte, Sie sind irgendein Geschäftsmann oder so was.“
„Das ist nicht Ihr Vater“, stellte Edgar beim Blick auf das Display fest. Wie versprochen meldete sich Toni nach dem Unterricht, um zu fragen, ob Edgar am Flughafen Erfolg gehabt hatte oder ob er noch ihre Hilfe brauche.
Edgar sah vom Handy wieder zu seinem Zielobjekt. Die beiden Frauen waren ungefähr gleich alt, doch Toni hatte kurze schwarze Haare, die junge Frau lange blonde. Aber wer konnte das schon unter der Baseballkappe so genau sehen?
„Ziehen Sie sich sofort aus“, sagte Edgar zu der jungen Frau. Sie öffnete den Mund, als wollte sie widersprechen, doch er winkte ab. „Das ist kein Annäherungsversuch. Beeilen Sie sich.“
Er sah ihr an, dass sie ihm misstraute.
„Wirklich, ich schwöre es Ihnen. Ich will Ihnen helfen.“
Sie zögerte noch immer, natürlich.
„Erstens werden Sie es gleich verstehen und zweitens brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, ich bin schwul.“
Sie runzelte die Stirn, er nahm den Anruf an und kam gerade noch dazu, Tonis Namen zu sagen, da hörte er den Riegel einer der Toilettenkabinen. Im nächsten Moment schwang die Tür auf. Ein Mann mit kurzen braunen Haaren, ungefähr Mitte 40, in einem dunkelbraunen Leinensakko, der offenbar nach Edgar die Toilette betreten hatte, trat aus einer der Kabinen. Er sah mehrmals zu Edgar, als würde er ihn erkennen, wäre sich aber nicht sicher, und verließ schließlich den Raum.
Sechs Minuten später trat Toni aus der Herrentoilette in einem nach fremdem Veilchenparfum duftenden Sweatshirt, Baseballkappe am Kopf und Brille mit Goldrand auf der Nase. Als sie Edgar vorhin angerufen hatte, war sie gerade aus dem Konservatorium in der Johannesgasse gekommen und mit dem Handy am Ohr Richtung Karlsplatz zur Badner Bahn gegangen. Sie hatte eigentlich vorgehabt, ihre Oma zu besuchen. Davor wollte sie Edgar aber fragen, ob er sie heute noch brauchte. Wenn ja, würde sie endlich mit ihm reden. Schon seit einer Woche schleppte sie das, was ihr so am Herzen lag, mit sich herum. Sie musste es ihm sagen. Alles andere war Irrsinn. Nächtelang hatte sie sich den Kopf nach einer Lösung zerbrochen, aber ihr war keine eingefallen. Vorgestern am Flughafen wäre die perfekte Möglichkeit gewesen, Edgar alles zu erzählen. Aber immer, wenn sie es sich vorgenommen hatte, war ihr etwas anderes, Banales über die Lippen gekommen. Nicht mal Ralphs 20 Sekunden Mut – oftmals reichen schon 20 Sekunden Mut, um etwas zu tun, was einem schwerfällt – hatten ihr geholfen. Das passte gar nicht zu ihr. Sie war vernünftig und klug und so etwas Leichtsinniges zu tun, belastete sie sehr.
Vielleicht wusste ja ihre Oma Rat. Auch, was die Sache mit Tim betraf, die ihr zusätzlich seit heute Morgen im Kopf herumspukte.
Sie wollte also nicht nach Hause, die Frage war nur noch, welches Ziel sie anpeilen würde. Ihre Gedanken fuhren Karussell und das hatte ausnahmsweise nichts mit der schrecklichen Stunde bei der Schmitz zu tun. Die Schmitz war nicht nur die Schulleiterin, sondern auch Tonis Dramatiklehrerin. Sie erarbeiteten gerade einen neuen Monolog – die Johanna von Orleans aus George Bernard Shaws Die heilige Johanna.
Doch während des gesamten Unterrichts hatte Toni beschämenderweise nur an Tim Ravinger denken können. Er drehte gerade die zweite Staffel einer Netflix-Serie in Hamburg. Eine der Hauptrollen natürlich. Toni und er schickten sich wie zwei verliebte Teenager täglich WhatsApp-Sprachnachrichten und Fotos und sie hatten etliche Male per Video telefoniert.
Toni hatte ihn im Sommer kennengelernt. Der junge erfolgreiche Schauspieler hatte einen Workshop im Konservatorium für höhere Jahrgänge geleitet und Toni hatte daran teilgenommen.
Sie wurde schlussendlich aber aus dem Kurs geschmissen, weil Tim und sie sich privat getroffen hatten, da gab es ein strenges Reglement, was Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern betraf. Sie hatte noch seine Worte von damals im Ohr, als er ihr die Entscheidung der Schmitz mitteilte: „Ich bin froh, dass ich dich nicht mehr unterrichte. Das wäre ein schlimmer Interessenskonflikt. Ich denke, man sollte niemanden unterrichten, den man so umwerfend findet.“
Ihr wurde noch immer ganz merkwürdig, wenn sie daran dachte. Als würden Freude und Angst Hochzeit feiern und die Party fände in ihrem Herzen statt. Wieso fühlte sie so und konnte nicht einfach genießen, was sich da entwickelte? Hatte es mit Felix zu tun, der sie während ihrer gesamten Beziehung belogen und bestohlen hatte und wegen dem ihr Vertrauenskonto nahezu aufgebraucht war? Wenn man bedachte, wie viele untreue Eheleute sie in den letzten Monaten mit Edgar beschattet hatte, war das auch nicht sonderlich hilfreich.
Oder spielte das alles doch keine so große Rolle und hatte es in Wahrheit mit Tim selbst zu tun? Weil er eben Tim Ravinger war, mit dem man nicht mal einfach so ins Kaffeehaus gehen konnte, ohne dass er erkannt wurde. Nicht verwunderlich, dass sie heute beim Aufwachen eine Nachricht von ihm völlig überrascht hatte:
Hey, guten Morgen, ich hab gerade erfahren, ich hab dieses Wochenende drehfrei. Die Produktion besteht darauf, dass ich bleibe, sonst wäre ich nach Wien geflogen. Also dachte ich, du hast doch am Freitag Geburtstag und vielleicht hast du Lust, mich in Hamburg zu besuchen und ein bisschen zu feiern? … Was meinst du?
Toni hatte noch im Bett gelegen und auf die Nachricht gestarrt. Natürlich freute sie sich, dass er an ihren Geburtstag dachte und sie einlud. Aber sie wusste dennoch nicht, was sie darauf antworten sollte. Das blaue Häkchen verriet ihm aber, dass sie den Text gesehen hatte.
Ich kümmere mich gerne um Flug und Unterkunft, schrieb er. Wahrscheinlich nahm er an, ihr Zögern hatte finanzielle Gründe. Und du musst auch nicht bei mir übernachten. Außer du willst. Die Wohnung, die mir die Filmproduktion zur Verfügung gestellt hat, ist riesig. Du könntest hier einziehen und wir müssten uns nicht mal begegnen. Was hältst du davon?
Einerseits wollte sie sofort zusagen. Andererseits hatte sie bei dem Gedanken, die Einladung anzunehmen, einen riesigen Knoten im Bauch. Deshalb redete sie sich heraus:
Hey, das klingt toll. Kann ich dir später Bescheid geben, ich hab gleich Unterricht und bin spät dran.
Spät dran stimmte immer. Toni war die Königin der Verspätungen. Als würde ihre innere Uhr mit jeglichem Zeitmanagement kollidieren.
Lena, ihre beste Freundin, mit der sie auch das Konservatorium besuchte, erklärte ihr in der Pause fachmännisch, Tims Einladung sei die Gelegenheit, Tonis Misstrauen abzubauen und sich wieder ins Liebesleben zu stürzen. Aber Toni war sich bei Lenas Diagnose nicht so sicher, außerdem war Lena frisch verliebt und deshalb nicht gerade objektiv.
„Wie schnell kannst du in der Konditorei Gerstner sein?“, hatte sich Edgar auf Tonis Anruf gemeldet.
„Wahrscheinlich in zwei Minuten, wieso?“
„Du sollst vorgeben, unser Zielobjekt zu sein. Komm in die Herrentoilette in den zweiten Stock.“
Toni hatte keine Zeit gehabt, alles zu verstehen, aber das, was Edgar in Stichworten mitgeteilt hatte – der Auftraggeber hatte gelogen, er war offenbar gewalttätig und durfte sich seiner Tochter per Gerichtsbeschluss nicht nähern –, war ausreichend.
Sie hatte mit der jungen Frau außer der Jeans die gesamte Kleidung gewechselt und dabei die Narben auf ihrem Bauch gesehen. Dieser völlig unerwartete Anblick hatte ihr kurz den Atem verschlagen.
„Setz dich an den Tisch in der rechten Ecke vor dem Fenster. Ich werde unseren Auftraggeber unten abfangen und zu dir bringen. Das Reden überlass mir, okay?“, sagte Edgar. Er schien ein wenig besorgt. Aber was sollte schon passieren! Sie waren in einer der besten Konditoreien der Stadt, die von Gästen fast aus den Nähten platzte.
„Und falls du einen Mann in einem braunen Leinensakko siehst, der vermutlich an einem Tisch in der Nähe sitzt …“
„Was ist mit ihm?“
„Ich hoffe, er ist nicht der, für den ich ihn halte. Ich muss runter“, sagte Edgar nur und ließ sie allein.
Zielstrebig ging Toni an den freien Tisch beim Fenster in der rechten Ecke des Salons, den die junge Frau ihr beschrieben hatte. Dort standen bereits ein Teller mit dampfendem Kaiserschmarrn und eine Melange.
Toni sah sich um, sie kannte die Konditorei, aber war noch nie hier oben im zweiten Stock gewesen. Die Einrichtung war prunkvoll: antike Möbel, goldverzierte Holzvertäfelungen, mehr als beeindruckende Deckengemälde, kristallene Kronleuchter und imposante Marmorsäulen. Sie nahm Platz, das Ambiente und die fremde Kleidung wirkten unwirklich, als wäre sie in einer Filmkulisse und gleich würde irgendwo eine Filmklappe geschlagen werden.
Und dann sah sie den Mann im braunen Leinensakko, den Edgar gemeint hatte. Er stand neben der Kuchenvitrine und hielt eine Zeitung in der Hand, in der er nicht las. Ihre Blicke trafen sich. Er schaute nicht weg, sondern nickte Toni zu. Ein leichtes Lächeln blitzte in seinen Augen. Wer war das und warum sah er sie so unverfroren an? Tonis Arbeit mit Edgar hatte ihren Blick geschärft, sie prägte sich sofort sein Äußeres genau ein: rundes Gesicht, Grübchen am Kinn, freundlicher Blick, das hellblaue Hemd spannte ein wenig über seinem üppigen Bauch. Sein Gesicht kam ihr irgendwie bekannt vor. Ja, sie hatte ihn schon mal gesehen. Aber wo war das?
Während sie unauffällig die Kameraapp am Handy öffnete, ließ sie ihren Blick weiter durch den Raum gleiten. Keiner der anderen Gäste schien davon Kenntnis zu nehmen, dass eine zwar gleich gekleidete, aber andere junge Frau an dem Tisch Platz genommen hatte. Als sie wieder zu dem Mann sah, hatte er sich umgedreht und betrachtete die Torten in der Auslage. Sie wartete, doch er blieb abgewandt.
Toni blieb keine Zeit, sich weiter darüber zu wundern, denn da stürmte ein Mann in den Salon. Er blieb beim Eingang stehen, keuchte. Wahrscheinlich hatte er die Treppen statt des Lifts genommen. Er war um die 50, groß und sehr schlank, hatte eine Glatze und einen grauen Bart. Toni wusste nicht, wie Edgars Auftraggeber aussah, weil sie nicht in der Detektei gewesen war, als er da war. Aber dieser Mann wirkte nicht wie ein gewalttätiger Mensch, im Gegenteil. Er machte einen sympathischen Eindruck.
Er sah in Tonis Richtung, stutzte, dann steuerte er durch den weitläufigen Raum auf ihren Tisch zu. Mit jedem Schritt wurde er langsamer.
„Sie sind nicht meine Tochter“, sagte er irritiert. Vor Enttäuschung schien er in sich zusammenzufallen. „Wo ist sie?“ Er klang besorgt, Toni wusste nicht, was sie antworten sollte. Wo war Edgar, er wollte doch mitkommen? „Wer sind Sie? Wieso tragen Sie die Sachen meiner Tochter?“
Er sah sich um und ließ die Schultern noch mehr hängen, als er sie nicht entdeckte.
Passte dieses Verhalten zu dem Mann, den die Tochter Edgar beschrieben hatte und wovon Edgar ihr kurz am Telefon erzählt hatte? Toni suchte nach den richtigen Worten, denn eines war klar: Was auch immer dieser Mann getan hatte – wenn er überhaupt irgendwas getan hatte –, schien nicht zu der Geschichte der jungen Frau zu passen. Vielleicht hatten ihre Narben einen völlig anderen Ursprung und die junge Frau war in Tonis Kleidung bereits aus der Konditorei abgehauen. Toni musste sofort Edgar anrufen.
„Können Sie bitte einen Moment warten?“, bat sie.
Der Mann sah sie an, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er schlug so unvermittelt mit der Faust auf den Tisch, dass Toni zusammenzuckte. Die Melange schwappte aus, die Gabel fiel zu Boden, Kaiserschmarren-Klümpchen sprangen vom Teller auf den Marmortisch. Er wurde knallrot, die Muskeln an seinem Hals traten hervor.
„Was soll das? Du kleine Schlampe, wo ist meine Tochter?“, brüllte er. Dabei verteilten sich Spucketröpfchen auf dem Tisch.
Schlagartig verstummten alle Gespräche an den Nachbartischen. Nur das Aufschäumen von Milch war noch zu hören. Oder war das Tonis Blut, das in ihren Ohren rauschte?
„Du sagst mir sofort, wo sie ist, oder ich …“, schrie er, beugte sich vor und ballte die Faust.
Sein Gebrüll hatte auf Toni eine doppelte Wirkung. Jeder Zweifel, seine Tochter hätte gelogen, war augenblicklich in Luft aufgelöst. Und sie wurde gleichzeitig ganz ruhig und sehr wütend. Sie hatte keine Angst, ihr war nur sehr heiß und da war brennende, grenzenlose Wut. So hatte sie noch nie empfunden.
Ganz langsam stand sie auf. Der Tisch war zwischen ihnen, sie war viel kleiner als er. Sie beugte sich vor, fixierte den Mann mit ihrem Blick, ohne zu blinzeln.
Ganz bedächtig nahm sie ihr Handy hoch, das sich noch immer im Kameramodus befand, und drückte auf den Auslöser. Es machte „Klick“, als sie das Foto schoss. Er wollte sofort nach dem Handy greifen, doch sie hatte damit gerechnet, zog es weg und steckte es sofort in die Gesäßtasche der Jeans.
„Ihre Tochter ist in London“, sagte Toni. Ihre Stimme zitterte und kiekste, aber das war egal. „Sie kommt nicht mehr nach Wien. Nie wieder. Sie wusste, dass Sie nach ihr suchen würden. Darum bin ich hier. Sollten Sie jemals wieder nach ihr suchen, werden sehr viele Frauen, die so gekleidet sind wie Ihre Tochter, die Verfolgung dokumentieren. Und wahrscheinlich würde schon mein Foto für die Polizei reichen, um zu beweisen, dass Sie das Annäherungsverbot missachtet haben.“ Wo kam denn das her? Toni war über sich selbst überrascht. Als wäre das gar nicht sie, die da sprach.
Doch leider zeigte ihre Drohung nicht die erhoffte Wirkung. Stattdessen lachte der Mann auf. Als hätte Toni einen Witz gemacht.
„Du bist so lächerlich, kleines Mädchen. Du sagst mir jetzt, wo meine Tochter ist, und dann gehst du zurück auf deinen Spielplatz.“
„Du beschissener Dreckskerl …“ Das Zittern aus Tonis Stimme war verschwunden. „Dieses kleine Mädchen hier ruft jetzt die Polizei und …“
In diesem Moment schrie der Mann auf, packte so schnell den Tisch und warf ihn um, dass Toni zu überrumpelt war, um zu reagieren. Er ging auf sie los. Sie hob instinktiv die Arme vor ihr Gesicht. Doch bevor seine geballten Fäuste sie erreichten, wurde er zurückgeschleudert. Jemand hatte ihn am Kragen gepackt. Es ging so schnell, erst als der Mann von seinem Angreifer zu Boden gedrückt wurde, erkannte Toni: Es war Edgar, der ihr zu Hilfe geeilt war.
Er war außer sich, schrie dem Mann ins Gesicht.
Toni verstand nur „Angriff“, „Betrug“, „Vorgabe falscher Tatsachen“, „juristische Konsequenzen“, „Anzeige“, neben dem bunten Mix an Beschimpfungen, die sie Edgar noch niemals hatte sagen hören. Der Mann hatte sich anfangs noch gewehrt, doch mittlerweile wirkte es, als würde er unter Edgars Gebrüll schrumpfen.
Einer der Kellner, ein junger blonder Mann mit aufgeregten roten Wangen, kam zu den beiden, beugte sich zu Edgar und fragte drei Mal, ob man die Polizei rufen solle, bevor Edgar ihn registrierte. Erst da ließ Edgar von dem Mann ab. Der Kerl rappelte sich sofort hoch, zog seine Jacke zurecht. Sein Blick war gehässig, Toni wünschte sich, dass ihm irgendwer eine reinhauen würde. Am liebsten sie selbst.
„Ihnen wird die Lizenz entzogen“, keuchte der Auftraggeber.
„Ich geb Ihnen drei Sekunden zu verschwinden“, zischte Edgar.
„Das wird ein Nachspiel haben“, fauchte er.
„Ja, für Sie“, antwortete Edgar, ohne ihn anzusehen.
Der Mann rempelte den Kellner an, als er den Salon verließ.
Edgar wandte sich Toni zu: „Hat er dich erwischt?“
Toni schüttelte den Kopf. Edgar war genau im richtigen Moment aufgetaucht. Eine Sekunde später … nein, sie wollte nicht daran denken.
„Es tut mir so leid, Toni“, sagte Edgar und wischte sich über die schweißnasse Stirn. „Ich hab ihn unten verpasst. Geht es dir wirklich gut?“
Sie wollte nicken, doch so schlagartig, wie das Adrenalin vorhin von ihr Besitz ergriffen hatte, so schnell verschwand es auch wieder. Toni fing an zu zittern, ihre Knie wurden weich und ihr Herz raste. Mit raschem Griff klammerte sie sich an Edgars Arm fest.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte der junge Kellner hinter ihnen.
„Ja, danke“, sagte Edgar und winkte über seine Schulter hinweg. „Tut mir leid, das alles.“
„Die Polizei kommt gleich“, sagte der Keller. Die anderen Gäste wisperten in den unterschiedlichsten Sprachen.
Toni spürte, wie Edgar leicht zusammenzuckte. Zwar hatte sich sein Verhältnis zu seinem ehemaligen Arbeitgeber seit ihrem letzten Fall gebessert – der wahre Täter wäre ohne sie nie gefasst worden –, trotzdem wusste Toni, dass sich Edgars Misstrauen in die Behörde über Jahre hinweg angesammelt hatte. Und das würde sich nicht wegen einer Gegebenheit ändern.
„Die Tochter soll hier auf die Polizei warten, aber wir werden gehen.“
„Edgar, wir müssten doch bleiben.“
„Es gibt genug Zeugen“, murmelte Edgar entschieden. „Ich geb ihr rasch Bescheid.“
Er ging zur Herrentoilette und kam mit der jungen Frau zurück. Sie hätte längst abhauen können, doch offenbar hatte sie befürchtet, beim Verlassen des Cafés ihrem Vater zu begegnen. Von dem Tumult im zweiten Stock hatte sie nichts mitbekommen. Deshalb wollte sie auch nicht mit der Polizei reden. Ihre Angst vor ihm war zu groß, um wieder Anzeige zu erstatten. Erst als sie zu dritt die Konditorei verließen, setzte Toni Brille und Baseballkappe ab. Die sich nähernden Polizeisirenen waren bereits zu hören.
Sie gingen rasch Richtung Kärntnerstraße und mischten sich in den Strom aus Touristen, nicht ohne sich immer wieder zu vergewissern, dass sie nicht von ihrem Auftraggeber oder jemand anderem verfolgt wurden. In einem Hauseingang wechselten Toni und die junge Frau, von Edgar verdeckt, wieder die Kleidung. Sie war sehr wortkarg, es war ihr anzusehen, wie verstört sie war. Sie bestand darauf, Edgar ein Kuvert zu geben. Toni wusste nicht, was sich darin befand, wahrscheinlich Geld. Auf jeden Fall nahm er es nicht an.
„Darf ich Sie etwas fragen? Wenn Sie in London vor Ihrem Vater sicher sind, wieso kommen Sie dann immer wieder nach Wien?“, fragte Edgar.
Sie nickte, als hörte sie diese Frage nicht zum ersten Mal.
„Weil er sonst gewonnen hat“, sagte sie und Toni verstand, was sie meinte. Gleichzeitig fragte sie sich, ob der Preis dafür nicht zu hoch war. Am Stephansplatz tauschte Edgar mit ihr Telefonnummern aus, dann setzten sie die junge Frau in ein Taxi.
Toni hoffte, dass sie recht hatte und ihr Vater die Suche nach ihr nicht weiterverfolgte. Doch Toni hatte in den letzten Monaten genug an Edgars Seite erlebt, dass ihr mittlerweile klar war, wie naiv dieser Wunsch war.
„Geht es dir wirklich gut, Toni?“, fragte Edgar. Er fühlte sich elend. Seine Idee, Toni als Stellvertreterin für diese junge Frau einzusetzen, war ein riesiger und dummer Fehler, für den er sich nicht nur Vorwürfe machte, sondern auch schämte. Was hatte er sich nur dabei gedacht? In welche Gefahr er Toni gebracht hatte! Nein, nicht er, dieser Mistkerl hatte Schuld. Trotzdem. Er mit seiner jahrelangen Berufserfahrung hätte es besser wissen müssen. Was war nur los mit ihm?
Er ließ seinen Blick über den Stephansplatz gleiten. Touristen tummelten sich neben als Mozart verkleideten Männern, die Konzertkarten verkauften. Junge Leute posierten mit ihren Handys vor der Kirche und machten Selfies. Ein paar Fiaker warteten auf Kunden. Vor dem Souvenirgeschäft gegenüber der Kirche hatte sich eine Schlange gebildet. Der Mistkerl war glücklicherweise nirgends zu sehen.
Das hatte Edgar auch nicht angenommen, der Typ war gerissen genug. Die ganze Story, die er ihm aufgetischt hatte, wenn Edgar nur daran dachte, wurde er wütend.
„Ja, alles okay, danke … was für ein Mistkerl“, sagte Toni, als hätte sie Edgars Gedanken gelesen. „Was machen wir jetzt?“
„Was meinst du?“
„Ich hab ein Foto von ihm gemacht. Man kann ihn doch nicht einfach so davonkommen lassen.“
Edgar seufzte.
„Ich fürchte, das werden wir müssen. Solange seine Tochter ihn nicht anzeigt …“
„Und das war’s? Einfach so?“
Es war keine Antwort, die er geben wollte, als er „Ja“ sagte. Es war nicht sein erster Fall, bei dem er akzeptieren musste, was ihm nicht gefiel.
Toni ließ den Kopf hängen.
„Dieser Typ hat so normal gewirkt im ersten Moment. Und dann … zack … ich hätte das nie gedacht.“
„Ich auch nicht.“ Der Mann war ihm sympathisch gewesen, als er zu ihm in die Detektei gekommen war. Nicht einen Moment hatte er an dessen Geschichte gezweifelt, im Gegenteil. Sein Mitgefühl für den verstoßenen Vater hatte ihn selbst verwundert, obwohl Edgar sich sonst eine gesunde Distanz zu seinen Klienten bewahrte.
Oder hatte sein getrübtes Urteilsvermögen einen anderen Ursprung? War ihm seit der Hochzeit von Tonis Großmutter nicht fast jeder irgendwie sympathisch? Seit Ralph ihm gesagt hatte, dass er kein Priester mehr war? Edgar musste die Erinnerung an den Kuss von Ralph immer wieder verdrängen, er schüttelte über sich selbst den Kopf. Seine Gefühle für Ralph hin oder her, sie durften auf keinen Fall seine objektive Wahrnehmung im Job beeinflussen. Meine Güte, er war ein Mann Mitte 50 und kein verliebter Teenager, der die Welt durch eine rosarote Brille sah. Zumindest sollte er das nicht sein. Dabei hatte er sich erst heute Morgen ertappt, wie er beim Gedanken an Ralph völlig bescheuert sein Spiegelbild angegrinst hatte.
Jetzt aber fühlte sich Edgar ziemlich flau, am liebsten wollte er sich irgendwo hinsetzen, ein Kaffee wäre auch kein Fehler. Obwohl sein Herz schon so genug raste. Das schlechte Gewissen nagte an ihm. Toni hatte recht, man konnte diesen Kerl nicht ungeschoren davonkommen lassen. Ihm war nur noch nicht klar, was er tun sollte. Er sah auf seine Armbanduhr, es war schon so spät, in einer halben Stunde war er bereits mit Ralph verabredet. Bei dem Gedanken wurde ihm noch flauer. Den Plan, sich vorher noch umzuziehen und ein wenig frisch zu machen, konnte er auf jeden Fall verwerfen.
„Ich bring dich nach Hause“, sagte er, das würde zwar knapp werden, aber sich ausgehen.
„Danke, aber ich wollte nach Baden zu Oma. Der Kapitän und sie sind doch gestern von der Hochzeitsreise zurückgekommen. Sie haben Geschenke mitgebracht, die soll ich holen.“
„Verstehe. Dann lass mich dir wenigstens ein Taxi zahlen.“ Es sah, dass sie widersprechen wollte, darum sagte er rasch: „Verrechne ich ja sowieso als Spesen an diesen Idioten.“
Worüber er sich jedoch nicht sicher war, im Gegenteil, sein Honorar konnte er sich wahrscheinlich abschminken. Aber es gab Schlimmeres, die Detektei lief zwar nicht mehr auf Hochtouren wie im Sommer – er hatte aus Zeitmangel und weil er niemand zusätzlich einstellen wollte, zu viele Aufträge ablehnen müssen –, aber sie lief auch nicht schlecht.
Sie gingen nebeneinander Richtung Taxistand her, als Toni plötzlich etwas einfiel, das sie in dem Trubel völlig vergessen hatte: „Wer war eigentlich der Mann in dem braunen Sakko? Und woher hast du gewusst, dass er im zweiten Stock sein würde?“
„Ich glaube, er ist auch ein Detektiv, er war auf der Toilette, als mir die Tochter unseres Auftraggebers dort alles erzählt hat. Wahrscheinlich wollte der Kerl auf Nummer sicher gehen und hat uns beide engagiert.“
„Wirklich?“ Sie sah hoch zu Edgar. „Meinst du, der Irre weiß jetzt doch, dass seine Tochter in Wien ist?“
„Davon muss man leider ausgehen.“
Toni legte den Kopf in den Nacken.
„Ich hab es vorhin gar nicht richtig registriert … aber ich hab mich im Salon nochmal umgeschaut. Dieser Mann – er war da, bevor ihr Vater aufgetaucht ist, er hat mich sogar angesehen. Aber nachher … bevor wir gegangen sind, war er weg. Er ist mir so bekannt vorgekommen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Ich komm nur nicht drauf, wo ich ihn schon mal gesehen habe.“
„Wahrscheinlich am Flughafen. Er wird wie wir auf sie gewartet haben.“
„Oh.“ Toni verzog das Gesicht. „Daran hab ich nicht gedacht. Ja, das kann sein.“
Edgar nickte, hob die Hand, um ein Taxi heranzuwinken. Ein weißer Mercedes setzte den Blinker und hielt an.
„Entschuldigen Sie bitte“, rief eine Männerstimme hinter ihnen. Sie drehten sich gleichzeitig um.
Es war der Mann im braunen Sakko. Er hatte einen schwarzen Mantel über dem Arm und kam auf sie zugelaufen, die Hand erhoben. Sportlich war er auf jeden Fall nicht, aber das war auch keine Grundvoraussetzung für einen Detektiv. Wie lange war er ihnen wohl bereits gefolgt und warum war er ihnen nicht aufgefallen? Edgar öffnete die Hintertür des Taxis und bedeutete Toni, einzusteigen.
„Augenblick, bitte, haben Sie einen Moment für mich?“, rief der Mann.
Toni blieb am Gehsteig stehen, sie warf Edgar einen ernsten Blick zu, und er wusste sofort, dass sie sicher nicht mit dem Taxi wegfahren würde. Manchmal hatte er den Eindruck, sie wollte ihn beschützen und nicht umgekehrt. Nun hatte der Mann sie erreicht.
„So ein Glück … ich … Sie aus den Augen verloren … mein Name … Alfred Strömer“, sagte er und schnappte nach Luft. „Ich … Sie … gerne … etwas fragen …“
Er bemühte sich um ein entschuldigendes Lächeln, stützte sich auf den Knien ab und keuchte.
„Was wollen Sie?“, fragte Edgar genervt.