Falsche Schlange - Irene Dorfner - E-Book

Falsche Schlange E-Book

Irene Dorfner

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Beschreibung

Vor den Toren der oberbayerischen Stadt Töging am Inn wird die Leiche einer sehr attraktiven Frau auf einem Acker gefunden. Sie wurde ermordet. Das Opfer ist keine Unbekannte, aber niemand will etwas mit ihr zu tun haben - und das aus sehr gutem Grund...

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Irene Dorfner

Falsche Schlange

Krimi

Inhaltsverzeichnis

Impressum

VIELEN DANK!!

ANMERKUNG

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

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14.

15.

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21.

22.

23.

24.

25.

26.

Liebe Leser!

Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum

Copyright © 2023 Irene Dorfner

Verlag:

Irene Dorfner, Postfach 1128, 84495 Altötting

www.irene-dorfner.com

All rights reserved

ISBN: 978-3-98738-102-7

Lektorat:

Earl und Marlies Heidmann, Spalt

Sabine Thomas, Stralsund

FTD-Script, Altötting

VIELEN DANK!!

Leo Schwartz hat seinen 43. Fall gelöst.

Diesmal agiert die Mühldorfer Kriminal-polizei im benachbarten Töging am Inn.

Ganz besonders möchte ich mich bei folgenden Personen bedanken, denn durch eure Unterstützung wurde der Krimi sehr viel authentischer:

Michael Orthuber

Nadine Stieger, Massagepraxis Töging

Kleintierzuchtverein B80 Töging und Umgebung (Gerhard Vattes)

Ludmila Hauerhof, Stadtbücherei Töging

Alexandra Richter

Doris und Stefan Glatz

Die Nadine ist harmlos und versteht etwas von ihrem Job.

Der Kleintierzuchtverein ist im normalen Leben ein gemütlicher, bodenständiger Verein, der sich über neue Mitglieder sehr freuen würde!

Ludmila Hauerhof ist die gute Seele der Stadtbücherei Töging. Ich freue mich schon auf unsere nächste Lesung!

Vielen, vielen Dank, dass ihr den Spaß mitgemacht habt!!

ANMERKUNG

Die Personen und Namen in diesem

Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten

mit lebenden oder verstorbenen

Personen sind rein zufällig.

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie

der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

…und jetzt geht es auch schon los:

1.

Ich habe mich schuldig gemacht und fühle mich gut damit. Vielleicht hätte ich eine andere Lösung finden sollen, aber ich war am Ende und wusste keinen anderen Ausweg. Mit den Problemen und dem Druck der letzten Wochen konnte ich nicht weiterleben, ich wäre daran zugrunde gegangen. Außerdem wäre mein Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen, das durfte ich nicht erlauben. Wie in Trance habe ich meinen schrecklichen Plan einfach in die Tat umgesetzt. Es war so, als würde ich neben mir stehen und mich beobachten. Nicht mahnend, sondern prüfend, ob ich auch alles richtig mache. Jeder einzelne Handgriff saß genau so, wie ich es mir so oft vorgestellt habe. Ich war mit mir und meiner Arbeit zufrieden, ich hätte nichts besser machen können. Jetzt ist sie tot. Als ich sie vor mir liegen sah, war meine Seele auf einmal beruhigt. Ich konnte meine Lungen wieder mit frischem Sauerstoff füllen, die Atemnot war plötzlich weg. Den Leichnam hierher zu bringen war leichter als gedacht. Niemand hatte mich gesehen, alles lief perfekt ab. Jetzt waren sie und ich auf diesem Acker, um uns herum war alles still. Nur einige wenige Fahrzeuge fuhren um diese unchristliche Zeit auf der Straße vorbei, aber die waren zu weit weg, wir waren hier vor neugierigen Blicken sicher. Mir kam entgegen, dass sich jeder nur um sich selbst kümmert, dass man für seine Mitmenschen kaum mehr etwas übrig hatte. Daran änderte auch die bevorstehende Weihnachtszeit nichts, die ich schon immer für scheinheilig hielt.

Wir beide sind hier ganz allein, nur sie und ich. Die kühle Luft spürte ich noch nie so intensiv wie in diesem Moment. Ein Gefühl, das ich so schnell nicht vergessen werde, denn ich fühle, wie langsam wieder Leben in meinem Körper emporsteigt. All das viele Leid, die fast unüberwindbaren Sorgen und die unerträglichen Demütigungen waren mit einem Schlag vergessen, als alles Leben den Körper dieser wunderschönen Frau verließ. Fassungslos hatten mich die betörend blauen Augen angestarrt. Bis zuletzt konnte sie nicht glauben, dass ich zu so einer Tat fähig bin. Diese Gewissheit tat mir unendlich gut. Sie war sich ihrer Sache zu sicher, sie hatte nicht mit meiner Entschlossenheit gerechnet. Aber ich musste etwas tun. Es gab nur die eine Möglichkeit: Entweder sie oder ich. Die Wahl habe ich getroffen, es gab kein Zurück mehr. Seit sie tot war, machte sich eine Ruhe breit, die mich wie eine schützende Aura umgab. Eine Ruhe, die mir wahnsinnig guttat und die ich sehr genoss. Die Frau, die jetzt leblos vor mir lag, bezeichnete mich nicht selten als Waschlappen und Versager, wobei diese Bezeichnungen noch harmlos waren. In ihren Augen war ich ein Niemand, den man frei nach Belieben quälen konnte. Das hatte sich vorher noch niemand getraut, aber in ihrer Gegenwart konnte ich mich nicht wehren. Wenn ich allein war, malte ich mir aus, was ich alles zu ihr sagen würde, wenn sie mich nochmal so schlecht behandelte, aber das konnte ich nie in die Tat umsetzen. Sie hatte eine ganz besondere Macht über mich, was ich nie für möglich gehalten hätte. Überall sonst fürchtete man mich, aber sie hatte nicht den Hauch von Respekt vor mir. Schon von Anfang an war sie dominant, herablassend und beleidigend. Warum ich mir das gefallen ließ? Ich konnte nicht anders. Je schlechter sie mich behandelte, desto mehr liebte ich sie. Damit war es jetzt für immer vorbei. Endlich kann ich wieder ein ganz normaler Mensch sein. Jetzt, da sie tot ist, kann ich wieder leben. Ohne Liebe, aber ich bin am Leben. Das ist mir wichtiger als die Liebe zu dieser Frau. Bin ich sadistisch? Egoistisch? Nein, das denke ich nicht. Ich bin ein ganz normaler Mensch, der genug von allem hatte. Gibt es ein Maß dafür, wie viel Druck und Demütigungen man ertragen kann und muss? Ich habe in den letzten Wochen sehr viel darüber nachgeforscht und gelesen, habe aber nichts gefunden, das zu meiner Situation passt. Auch mein Psychologe wusste keine Antwort darauf. Doktor Bartsch. Ihm habe ich natürlich nicht die Wahrheit gesagt. Es war leicht gewesen, eine Geschichte zu erfinden, die nicht annähernd der meinen glich. Ich berichtete ihm nur einige Szenen, nannte falsche Namen – er glaubte mir jedes einzelne Wort. Der gute Mann sieht die Welt durch eine rosarote Brille und versucht, sein nur durch Fachbücher erlangtes Wissen an die Patienten weiterzugeben. In meinem Fall vergeblich. Ich habe wirklich versucht, meine Einstellung und mein Verhalten zu ändern, aber ich bin nun mal so wie ich bin. Hätte ich die Frau vielleicht nicht doch einfach verlassen sollen? Sie aus meinem Gedächtnis streichen und nie wieder an sie denken sollen? So, wie es mir der gute Doktor immer wieder geraten hatte? Dazu war ich nicht fähig, ich war zu schwach. Außerdem wusste der Mann nicht die Wahrheit, die wusste niemand. Ich konnte nicht einfach gehen, das war mir nicht möglich. Sie hatte mich in der Hand. Ich war wie ein Spielball, den man nach Belieben benutzen, dirigieren und wieder weglegen konnte. Anfangs hatte mir das nichts ausgemacht. Ich war einfach nur froh darüber, dass sie bei mir war und dass sie mich auserwählt hatte, wenn auch nur für die wenigen Stunden, in denen wir zusammen waren. Dass sie auch andere Bekanntschaften hatte, wusste ich, schließlich ging sie offen damit um. Das hatte mich anfangs geschockt und auch gestört, aber irgendwann gewöhnte ich mich daran. Sie liebte nur mich. Das habe ich mir so lange eingeredet, bis ich schließlich daran glaubte. Ich war dieser Frau hörig, das weiß ich seit vielen Wochen - und es störte mich nicht. Bei ihr fühlte ich mich trotz allem wohl. Sie hatte es geschafft, dass ich mein Innerstes nach außen kehren konnte. Durch sie spürte ich, wie schön das Leben sein konnte, dass ich so sein durfte, wie ich war. Dass das alles nur Berechnung war und sich stückweise ihr wahres Ich zeigte, merkte ich viel zu spät. Geschenke forderte sie frech ein, was ich toll fand. Schnell folgten auch Geldforderungen, denen ich nur zu gerne nachkam. Warum auch nicht, ich hatte ja genug davon. Sie war dankbar, sehr dankbar sogar, aber das änderte sich schnell. Irgendwann wurden die Summen zur Routine, auch das stieß mich nicht ab. Trotzdem hielt ich mich an ihr fest. Wie ein Ertrinkender suchte ich Halt bei dieser Frau, die mich mit aller Gewalt immer wieder nach unten drückte. Je länger ich sie kannte, desto weniger konnte ich ohne sie leben. Ich war abhängig und tat alles, was sie von mir verlangte. Bin ich wirklich ein Versager, ein Weichei ohne Charakter? Ich war lange davon überzeugt. Früher hätte ich es nie für möglich gehalten, dass man von einem Menschen so abhängig sein kann, aber ich wurde eines Besseren belehrt. Sie war mein Leben, nur für sie habe ich existiert.

Jetzt war alles vorbei. Sie hatte den Bogen überspannt und wollte mich vernichten, wenn ich ihren immer unverschämteren Forderungen nicht nachkäme. Ihr Druckmittel waren Fotos. Wie eine Trophäe hielt sie mir das Smartphone unter die Nase und drohte mit der Veröffentlichung. Außerdem hatte sie etwas gefunden, das niemand jemals gesehen hatte – das Foto einer toten Frau. Ich konnte damals nicht anders und habe auf den Auslöser meines Smartphones gedrückt, das Foto später ausgedruckt und es dann sicher in meiner Brieftasche verwahrt. Nur ich sollte es sehen – aber sie hatte es gefunden. Wann und wie war mir egal. Das Foto war in ihren Händen und könnte mich mit all den Fotos, die sie von mir – von uns – gemacht hatte, für immer vernichten. Die durften niemals an die Öffentlichkeit gelangen. Das wäre mein Untergang. Das ist keine Floskel, das ist die Wahrheit, die niemand kannte. Diese Erpressung war meine persönliche Grenze. Alles, wofür ich so viele Jahre gearbeitet hatte, wollte sie einfach vernichten – und das hätte sie machen können. Ich musste mir die Fotos ansehen, mit einem hämischen Lachen hat sie mir eins nach dem anderen gezeigt. Auch das der toten Frau musste ich mir ansehen, obwohl sie keinen blassen Schimmer hatte, was das zu bedeuten hatte. Sie hatte richtig gedeutet, dass mir der Anblick ordentlich zusetze, und das reichte ihr. Unverhohlen drohte sie mit der Veröffentlichung und schließlich auch mit der Polizei. Das war zu viel, das konnte ich nicht dulden. Wie oft ich versucht habe, mit ihr zu reden und sie zur Vernunft zu bringen, kann ich nicht mehr zählen. Sie war sich ihrer Sache zu sicher, sie hatte sich und ihre Macht über mich überschätzt. Während sie schlief, habe ich sie getötet. Das war einfach. So einfach, dass ich es immer wieder tun würde. Ihr Smartphone war jetzt in meiner Hand, die Fotos werden sehr bald nicht mehr existieren. Niemand würde sie je zu Gesicht bekommen. Auch das der toten Unbekannten musste ich jetzt loslassen, das zu besitzen war viel zu gefährlich, das war mir inzwischen klar geworden.

Ich weine und wische mir die Tränen aus dem Gesicht. Damit muss ich sofort aufhören, denn dadurch könnte ich mich verraten. Wütend über mich selbst laufe ich umher, bis ich mich wieder beruhigt habe. Warum ich weine? Um Gloria? Um die tote Unbekannte? Wegen dem, was ich getan habe? Wegen der Anspannung der letzten Wochen? Ich weiß es nicht und es ist mir auch egal. Es ist vorbei, die Tränen sind versiegt. Ich knie neben dieser wunderschönen Frau und streiche ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Warum war sie so gierig geworden? Finanziell ging es ihr gut. Wenn sie mehr Geld gebraucht hätte, hätte sie es mir doch nur sagen müssen. Warum diese Erpressung mit den Fotos? Sie hatte sich verplappert und damit wusste ich von der Kamera in dem Stofftier auf dem Regal, die Speicherkarte habe ich bei mir. Alles, mit dem man mein Leben ruinieren könnte, ist jetzt in meinen Händen.

Ich fühle mich plötzlich wieder unendlich gut und lache laut. Das kann ich mir erlauben, denn hier auf dem Acker hört mich niemand. Ein letztes Mal würde ich die Frau gerne küssen, aber das würde Spuren hinterlassen. Ich war vorsichtig und ging klug und strukturiert vor, das würde ich durch eine unüberlegte Handlung kaputt machen. Nur einen letzten Blick in ihre Augen kann ich mir erlauben, mehr ist nicht drin. Leb wohl, mein Täubchen! Ich werde wieder in mein langweiliges Leben zurückkehren, in ein Leben ohne dich. Ob ich Mitleid empfinde? Mit wem? Mit Gloria? Mit der Polizei? Nein. Mit mir hatte auch niemand Mitleid.

Drei Stunden später sehe ich dabei zu, wie sich die Beweise in Rauch auflösen, die lodernden Flammen tanzen vor meinen Augen. Ein herrlicher Anblick! Glorias Smartphone, die Speicherkarte, die Lederhandschuhe und die Kleidung, die ich getragen habe, verbrennen vor meinen Augen zwischen trockenem Holz, Papier und Pappe. Von zuhause habe ich einen Jogginganzug mitgenommen, den ich jetzt trage. Ich stehe auf dem Firmengelände meiner eigenen Firma vor einer alten Tonne, in der ich gestern Abend das Brennmaterial gestapelt habe, daneben stand Brennspiritus parat. Alles war perfekt vorbereitet, niemand hatte dumme Fragen gestellt. Auch die Spritze und das Fläschchen verschwinden jetzt in den gierigen Flammen fast spurlos. Dass es stark qualmt, interessiert mich nicht. Warum sollte es? Bis sich jemand darüber aufregen könnte, wären alle Beweise verschwunden. Außerdem war es unwahrscheinlich, dass um diese Uhrzeit irgendjemand auf war. Ich sehe auf die Uhr und erschrecke – es ist kurz vor sechs. Wahnsinn, wie schnell die Zeit vergangen war. Ich habe mich verschätzt, was die Uhrzeit betrifft, trotzdem liege ich noch gut in der Zeit. Wie lange es dauerte, bis jemand das Feuer bemerkte? Das ist jetzt auch egal. In aller Ruhe trinke ich eine Flasche Bier und gönne mir eine Zigarre. Ja, das ist um diese Uhrzeit sehr ungewöhnlich, aber jetzt entscheide nur noch ich, was in meinem Leben passiert.

Noch immer sehe ich das hübsche Gesicht vor mir, das ich jetzt niemals mehr sehen würde. Gloria war Geschichte, ich musste sie aus meinem Gedächtnis streichen. Sie war jetzt nicht mehr Teil meines langweiligen Lebens. Ich fühle mich euphorisch und könnte Bäume ausreißen, denn ich hatte es tatsächlich geschafft, das Problem, das mich lange beschäftigte und nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, aus der Welt zu schaffen. Hämisch lachend gehe ich zu Fuß nach Hause. Um die letzten Reste des Feuers brauche ich mich nicht mehr kümmern, das würde von allein ausgehen. Die Leiche habe ich mit einem der Firmenfahrzeuge transportiert. Gleich zu Arbeitsbeginn muss ich meine Leute bitten, alle Fahrzeuge zu reinigen, dann würden auch die letzten Spuren beseitigt sein.

Zuhause angekommen gönne ich mir noch ein Bier. Ob meine Frau inzwischen aufgewacht war? Ich denke nicht, schließlich habe ich ihr ein starkes Schlafmittel gegeben, so wie immer, wenn ich bei Gloria war. Nein, meine Frau war kein Problem, die war einfältig, fast dumm. Außerdem liebte sie mich, die fraß mir aus der Hand. Sollte sie wach werden, würde ich ihr irgendeine Geschichte erzählen, die sie nicht hinterfragen würde. Die würde sowieso niemals glauben, wozu ich fähig war. Nein, sie war kein Problem. Mein Problem war einzig die Polizei. Ob die mir jemals auf die Spur kam? Warum sollte sie? Und wenn doch, müsste ich Spuren auf andere Personen lenken. Zum Glück war ich Gloria einige Wochen gefolgt und kannte ihre Gewohnheiten - und auch ihre Liebhaber. Das würde eine Kleinigkeit werden.

2.

Es schneite, was für Ende November nicht ungewöhnlich war. Der achtundfünfzigjährige Kriminalhauptkommissar Leo Schwartz stand mit seinen alten Cowboystiefeln im Schnee, was ihm unter normalen Umständen echt stinken würde. Aber heute war alles anders. Als er zu diesem ungewöhnlichen Tatort mitten auf einem Acker zwischen Winhöring und Töging gerufen wurde, ahnte er nicht, dass das der Beginn eines sehr persönlichen Falles werden würde, der ihm sehr viel abverlangte. Es war noch nicht ganz hell, was die Arbeit der Polizei nicht erleichterte. Die Spurensicherung hatte dafür gesorgt, dass einige Scheinwerfer aufgestellt wurden, was wiederum Schaulustige anlockte, die man hinter die weiträumige Absperrung verbannte.

Schon nach den ersten Schritten bemerkte Leo die Handtasche, die der seiner Frau Sabine sehr ähnlich war: braun mit Lederfransen, womit er sie nicht selten aufzog. Für ihn sah das Teil aus wie eine Kindergartentasche, die ihn an frühere Zeiten erinnerte. An der Seite bemerkte Leo eine kleine gelbe Plüschfigur, wie sie auch Sabine hatte. Welches Tier das war? Er erinnerte sich nicht daran, für diese Kleinigkeiten hatte er keinen Sinn. Für einen kurzen Moment blieb ihm bei dem Anblick die Luft weg, was niemand bemerkte. Und wenn, dann wäre es ihm auch egal gewesen. Dass ein Kollege gerade dabei war, die Handtasche in einen Beutel zu stecken, beobachtete er zwar, aber begriff es nicht. Die Gedanken kreisten, ihm wurde schlecht. Leo rannte zur Leiche, was sein einundsechzigjähriger Kollege und Freund Hans Hiebler mit Kopfschütteln begleitete. Die Leiche war bereits abgedeckt worden. Noch ahnte Leo das Schlimmste. Er riss das Tuch zur Seite, was vor allem Friedrich Fuchs, den Leiter der Spurensicherung, sehr ärgerte.

„Sie können doch nicht…“, schimpfte Fuchs los und versuchte, den Kollegen Schwartz an seinem Vorhaben zu hindern, denn die Leiche gehörte vorerst ihm und nur er hatte darüber zu bestimmen, was damit geschah.

Leo wimmelte ihn barsch ab, was alle verwundert beobachteten.

Dann blickte er in das Gesicht einer Frau, die ihm unbekannt war. Es war nicht seine Sabine! Diese Erleichterung würde Leo nie vergessen, der Schreck saß tief. In Gedanken sah er dabei zu, wie einige Schneeflocken auf dem Gesicht der Unbekannten landeten. Einige lösten sich auf, andere blieben liegen. Unwillkürlich griff er nach der Haarsträhne, die der Wind in ihr Gesicht wehte.

„Jetzt ist es aber genug!“, schritt Fuchs energisch ein. „Sie fassen die Leiche erst an, wenn ich es erlaube. Sie haben ja noch nicht einmal Handschuhe an! Das ist doch nicht zu fassen!“

Die Kollegen machten sich über Leo lustig, was Hans nicht durchgehen lassen konnte. Leo war schließlich der Leiter der Mordkommission und keine Witzfigur, auch wenn er sich heute echt merkwürdig verhielt. Er wies die Kollegen zurecht, dann zog er Leo zur Seite.

„Was ist los mit dir? Du führst dich auf wie ein Verrückter!“, herrschte Hans ihn an.

„Die Tasche“, zeigte Leo auf die Handtasche in dem Plastikbeutel, neben der ein Fähnchen mit der Nummer vier steckte.

„Was ist damit?“

„Sabine hat dieselbe.“

Jetzt verstand Hans und klopfte Leo auf die Schulter.

„Du hast angenommen, dass das Opfer deine Frau ist. Komm runter und atme tief durch, damit wir unseren Job machen können. Du standest für einen Moment neben dir, was ich gut verstehe. Geht es wieder?“

Leo nickte, der Schock war verdaut.

„Was haben wir?“, fragte er nur wenige Augenblicke später den Kollegen Fuchs. Leo tat so, als wäre nie etwas gewesen.

„Weibliche Leiche, Alter etwa um die fünfzig.“

„Keine Papiere oder ein Handy?“

„Nein. In der Tasche befinden sich lediglich eine Sonnenbrille, ein Hausschlüssel und Taschentücher.“

„Ein Raubmord?“

„Das gilt es zu klären. Sie wissen doch, dass ich mich nicht mit Vermutungen abgebe, für mich gelten nur Fakten.“

„Hinweise auf einen Wagenschlüssel?“

„Nein.“

„Todesursache?“

„Schwer zu sagen, da es keine sichtbaren Verletzungen gibt. Wir sind hier in einer Stunde fertig, dann soll sich die Pathologie darum kümmern.“ Fuchs hatte seinen Besuch bereits angemeldet. Seine Partnerin Lore Pfeiffer arbeitete in der Pathologie München und war unter anderem für die Einteilung der Obduktionen zuständig, was ihn immer an die vorderste Stelle brachte. Ja, das war nicht ganz korrekt, aber warum sollte er das nicht ausnutzen? Von Lore wusste er, dass Doktor Schnabel Dienst hatte, weshalb er sich auf dessen Liste setzen ließ.

„Wer hat die Leiche gefunden?“

„Der Radlfahrer dort hinten.“

„Der in rot?“

„Wer denn sonst? Sehen Sie einen anderen Radlfahrer?“

Leo und Hans ignorierten den unfreundlichen Ton. Sie sahen den älteren Herrn mit der Glatze.

„Alte Männer im Radldress sehen echt lächerlich aus“, bemerkte Hans, der in den letzten Jahren registrierte, dass die Anzahl der Extremsportler unter Rentnern immer größer wurde. „Früher alterte man noch in Würde, davon ist heute nicht mehr viel zu sehen. Haben die alle keine Enkel, um die sie sich kümmern können, anstatt den Körper im hohen Alter mit Sport zu schinden?“

„Aus dir spricht doch nur der Neid. Lass doch die Rentner mit ihrer Zeit machen was sie wollen. Außerdem würde ich an deiner Stelle den Ball ganz flachhalten. Zum einen hast du gar keine Enkel, und zum anderen siehst du auch nicht so aus, wie man es bei einem Mann um die sechzig erwarten würde.“ Leos Augen scannten Hans ab, denn der sah auch heute aus, als würde er einem Modekatalog entspringen und sich gerade in Saint Tropez befinden. Bei diesem Wetter trug er eine Leinenhose, ein kurzärmeliges Hemd und Lederslipper – Letztere waren nach diesem Einsatz sicher ruiniert. „Außerdem ist dein Parfum heute wieder sehr grenzwertig.“

„Du bist derjenige, der neidisch ist“, sagte Hans patzig und winkte nur ab, obwohl er sehr froh darüber war, dass sich Leo wieder gefangen hatte.

Das Gespräch mit dem Zeugen war ernüchternd, denn der hatte nichts gesehen und nichts gehört.

„Jeden Morgen um dieselbe Zeit fahre ich eine Runde mit meinem Fahrrad, ob Sommer oder Winter. Immer um halb sieben geht es los, gegen halb neun bin ich dann wieder zuhause.“

„Lobenswert“, murmelte Leo, der sich dafür nicht interessierte. „Fahren Sie immer dieselbe Runde?“

„Selbstverständlich, sonst könnte ich meinen Leistungsgrad nicht messen.“ Der Mann beschrieb ausführlich die tägliche Strecke. „Die fahre ich am Morgen, am Nachmittag und am Abend fahre ich natürlich eine andere Strecke, sonst wird es langweilig.“

„Wann haben Sie die Leiche entdeckt?“

„Exakt um 6.40 Uhr habe ich die Frau auf dem Acker liegen sehen. Natürlich bin ich sofort zu ihr, aber da war nichts mehr zu machen. Dann habe ich die Polizei gerufen.“

„Haben Sie etwas angefasst?“

„Natürlich nicht, das kennt man doch aus den Krimis im Fernsehen.“ Der Zeuge wurde entlassen und konnte endlich seine Tour fortsetzen.

„Okay, dann an die Arbeit.“ Leo und Hans wussten sehr gut, was jetzt anstand. Es galt, alle Vermisstenmeldungen zu überprüfen. Wenn diese Arbeit erfolglos blieb, musste das Bild der Toten an die Medien gegeben werden.

Was nach Routinearbeit aussah, entwickelte sich zu einem Fall, den die Kriminalbeamten so schnell nicht mehr vergessen sollten.

3.

Doktor Schnabel war nicht nur erfreut darüber, Fuchs zu sehen, sondern umarmte ihn auch noch, was dem Leiter der Spurensicherung sehr zuwider war. Solche Intimitäten mochte er nicht. Trotzdem ließ er es geschehen.

„Ich freue mich immer, wenn ich Sie sehe, Doktor Fuchs. Was haben Sie mir heute mitgebracht?“

„Weibliche Leiche, circa fünfzig Jahre alt, Todesursache unbekannt. Die Leiche wurde auf einem Acker gefunden, deshalb gibt es einen sehr großen Zeitrahmen, was die Todeszeit angeht.“

„Um die Todeszeit kümmern wir uns später. Zunächst werden wir uns um die Todesursache kümmern. - Das hört sich doch vielversprechend an, Doktor Fuchs. Machen wir eine kleine Kaffeepause oder wollen wir sofort anfangen?“

„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich sofort mit der Obduktion beginnen.“

„Immer in Eile, der gute Doktor Fuchs“, lachte Schnabel. Dann zog er das Tuch zur Seite und betrachtete die Leiche. „Eine sehr hübsche Frau“, murmelte er. Er besah sich die Leiche an manchen Stellen genauer, was Fuchs nicht verstand.

„Nach was suchen Sie?“

„Die Frau hat einige Eingriffe hinter sich, die sicher schmerzhaft waren. Mehrfache Brust-OPs, mindestens ein Face-Lifting – das letzte dürfte noch nicht allzu lange her sein. Diverse Bauchstraffungen, Fettabsaugungen an Po, Oberschenkeln und Armen. Sehen Sie hier!“ Doktor Schnabel gab Fuchs ein Vergrößerungsglas und zeigte auf diverse Stellen. „Ich möchte nicht wissen, wie viel das alles gekostet hat. Ich nehme an, dass man sich dafür eine kleine Eigentumswohnung kaufen könnte. Nicht in München, da sind die Immobilienpreise unverschämt hoch“, schweifte Doktor Schnabel für einen kurzen Moment ab. Dann nahm er Fuchs das Vergrößerungsglas aus der Hand und desinfizierte den Handgriff. „Grausam, wie manche Leute mit ihrem von Gott gegebenen Körper umgehen. Aber was macht man nicht alles für die Schönheit. Zum Glück bin ich vor solchen OPs gefeit, denn ich würde mich niemals nur wegen Äußerlichkeiten unters Messer legen.“

Fuchs sagte nichts dazu, denn diese OPs gingen ihn nichts an. Ihn interessierte momentan nur die Todesursache und später der Todeszeitpunkt, mehr nicht. Doktor Schnabel ging sehr gründlich vor, trotzdem schien es so, als würde er nichts finden. Dann interessierte er sich für ein Muttermal zwischen den üppigen Brüsten des Opfers. Erst, als Schnabel eine Lupe nahm und das Mal genauer ansah, grinste er Fuchs an.

„Ich denke, ich habe da etwas gefunden, das nicht uninteressant ist. Sehen Sie selbst.“ Schnabel gab Fuchs erneut die Lupe.

„Ein Einstich?“

„Direkt ins Herz. Eine sehr geschickte Stelle für eine Injektion.“ Plötzlich wurde der sonst so behäbige Doktor Schnabel hektisch und auch sehr ernst. „Wann wurde der Fund der Leiche gemeldet?“

„Um 6.40 Uhr, wir waren nur knapp zwanzig Minuten später am Fundort.“

„Jetzt ist es halb zehn, wir müssen uns beeilen.“ Doktor Schnabel entnahm einige Proben und ließ sich bei seiner Arbeit nicht stören. Fuchs behielt die Lupe in der Hand. Eine Kollegin, die eine Frage hatte, wies Schnabel barsch ab. Fuchs konnte nichts tun. Er sah verwundert zu und sagte kein Wort, obwohl er etliche Fragen hatte. „Es gibt Substanzen, die sich schnell zersetzen, dazu gehört auch Kaliumchlorid“, erklärte Schnabel schließlich, nachdem er dem Leichnam etliche Proben entnommen hatte.

Fuchs kannte das Kaliumsalz der Salzsäure, allerdings war es sehr lange her, dass er damit zu tun hatte. Es juckte ihn in den Fingern, im Netz nach mehr Informationen dazu zu suchen, aber damit würde er vermutlich Doktor Schnabel stören, oder schlimmer noch, einiges von dem, was der Pathologe machte oder sagte, verpassen. Also hielt er sich ruhig und sah Schnabel über die Schulter, als der die Proben untersuchte.

„Mein Verdacht hat sich bestätigt: Kaliumchlorid. Es wurde der Frau direkt ins Herz injiziert, wodurch ein sofortiger Herzstillstand verursacht wurde. Wir haben unsere Todesursache.“

„Sicher?“

„Ganz sicher. Wir hatten Glück, es hatte sich noch nicht ganz abgebaut. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn wir länger gewartet hätten. Die Kälte der letzten Nacht, der schnelle Fund der Leiche, die schnelle Arbeit der Polizei und die Tatsache, dass Sie sich mal wieder mit Hilfe von Lore an die Spitze gemogelt haben, kam uns zugute. Kaliumchlorid bekommt man für wenige Euro im Netz. Es löst sich bei normaler Zimmertemperatur von zwanzig Grad in Wasser auf. Dann braucht man nur noch eine Spritze, die man in jeder Apotheke und auch im Netz bekommt. Im Internet kann man heute ja alles kaufen, dabei nehme ich mich nicht aus. Was ich alles online bestelle, darf ich gar keinem sagen. Ich hatte vor einigen Monaten nach einem besonderen Mittel gegen Schildläuse gesucht, die es sich auf meinen Rosen gemütlich gemacht haben…“ Es folgte eine ausführliche Beschreibung, um welche Schädlinge es sich genau handelte, was Fuchs überhaupt nicht interessierte. Er hatte zwar selbst einen großen Garten, aber darum kümmerte sich ein Gärtner. „Da mir die Handhabung zu kompliziert schien und der Preis des Mittels auch nicht ohne war, habe ich mich dazu entschlossen, dass die Schildläuse meinen Garten bewohnen dürfen. Das ist ja auch sehr viel umweltfreundlicher. Gerade in unserer heutigen Zeit muss man sich mit Giften jeglicher Art zurückhalten. Schließlich wollen wir nicht dafür verantwortlich sein, dass die nachfolgende Generation unter unserem unüberlegten Handeln leiden muss und unsere Fehler ausbaden darf.“

„Braucht man für diese Todesart keine medizinischen Kenntnisse?“, kam Fuchs auf die Todesursache zurück, da ihn die Schildläuse und Gartengifte kein bisschen interessierten.

„Gute Frage, Doktor Fuchs. Das Herz ist etwa Faustgroß und befindet sich entgegen der landläufigen Meinung nicht auf der linken Brustseite, sondern eher mittig, etwa hier. Das brauche ich Ihnen nicht erklären, Sie kennen sich ja aus. Wenn man jemanden auf diese Art töten möchte, wäre es schon von Vorteil, wenn man wüsste, wo sich das Herz befindet.“ Schnabel lachte, jetzt war er wieder ganz der Alte. „Also ich würde medizinische Kenntnisse voraussetzen. Ja, man kann sich Vieles im Netz aneignen, aber die Gefahr, einige Zentimeter nach oben oder unten zu rutschen, wäre meines Erachtens nach viel zu groß.“

Fuchs dachte ähnlich und war zufrieden. Mit diesen Informationen konnte er etwas anfangen.

„Was ist mit der Todeszeit?“

„Sachte, junger Freund, die zu bestimmen wird ein Problem werden. Die Leiche lag nachts um die Null Grad auf dem Acker“, las er vom Blatt ab. „Es müssen einige Faktoren berücksichtigt werden, weshalb ich Untersuchungen und Berechnungen vornehmen muss, die ich nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln kann. Ich bin zwar gut, aber so gut dann auch wieder nicht, obwohl es nicht wenige Menschen gibt, die mich als Genie bezeichnen. Wissen Sie eigentlich, dass ich früher der Houdini der Pathologie genannt wurde?“ Schnabel lachte. Das war nicht gelogen, so bezeichneten ihn früher viele, heute nur noch wenige. Das war nicht seinem Können geschuldet, sondern dem Automatismus, dem auch die Pathologie unterlag. Wo früher noch ein angenehmes Arbeiten herrschte und man sich untereinander kannte und schätzte, wurde heute eine Leiche nach der anderen beinahe im Schichtdienst durchgewunken. Die unterschiedlichen Arbeitszeiten und der ständige Personalwechsel waren ebenfalls schuld daran, dass Schnabel nicht mehr alle Kollegen kannte. Das fand er zwar schade, aber das war nun mal der Lauf der Zeit.

Fuchs hatte keine Ahnung, wie er auf Schnabels Aussage reagieren sollte. Der Houdini der Pathologie? Ja, das hatte was, aber was hatte Doktor Schnabel davon? In Fuchs‘ Augen war ein solcher Name überflüssig, also schwieg er.

„Wie geht es Christine? Haben Sie sie in den letzten Tagen gesehen?“ Doktor Schnabel war seit einigen Monaten mit der pensionierten Pathologin Christine Künstle befreundet, die seit geraumer Zeit auf dem ausgebauten Bauernhof von Tante Gerda lebte, der Vermieterin von Leo Schwartz. Alle wohnten unter einem Dach – eine Vorstellung, die Fuchs zuwider war. Für ihn wäre das nichts. Außerdem vermied er privaten Kontakt mit Kollegen und deren Anverwandten oder Freunden, das musste er nicht haben.

„Ich habe Frau Doktor Künstle lange nicht gesehen“, sagte er deshalb wahrheitsgemäß.

„Das ist schade, mein Freund. Von dieser Frau könnten Sie sehr viel lernen. Was die alles weiß, ist unglaublich. Neben ihr sehe ich aus wie ein Stümper.“

Doktor Schnabel öffnete die Leiche und untersuchte die Organe, wobei er sich vor allem auf das Herz konzentrierte. Alle Untersuchungen bestätigten seine Vermutung: Die Frau wurde mit einer direkten Injektion mit Kaliumchlorid ins Herz getötet. Fuchs wurde erlaubt, einige Fotos zu machen, damit er für die Kollegen etwas in der Hand hatte. Er überließ Doktor Schnabel die Feststellung des Todeszeitpunktes, darauf mussten die Kollegen vorerst noch warten.

Fuchs konnte wieder nach Mühldorf fahren und dort die bisherigen Ergebnisse verkünden. Dass er seine Ausführungen mit Bildmaterialien und Infos über Kaliumchlorid ausschmücken würde, stand für ihn fest, schließlich waren das wichtige Details für die Kollegen.

Der Leiter der Mühldorfer Kriminalpolizei Rudolf Krohmer und die Kollegen mussten den verdienten Feierabend wegen Fuchs verschieben. Der Leiter der Spurensicherung wartete bereits im Besprechungszimmer, der Beamer war startklar. Die dazugehörigen Mappen für die Kollegen lagen vor ihm.

Der Vortrag war sehr langatmig. Darin gab es vorab nur einen brauchbaren Hinweis – der Fundort der Leiche konnte nicht der Tatort sein, darin war sich Fuchs sehr sicher, aber das ahnte er bereits und wurde von Doktor Schnabel bestätigt. Dann ging Fuchs über zur Obduktion und dem Kaliumchlorid; in beiden Punkten holte Fuchs sehr weit aus.

„Können wir das nicht alles überspringen?“, maulte Leo. Er hatte seine Lederjacke bereits angezogen, wodurch Krohmer das T-Shirt mit dem hellgrünen Totenkopf und der heraushängenden Zunge nicht sehen konnte. Zum Glück, denn der Chef konnte mit dieser Art Humor nicht viel anfangen. „Soweit ich verstanden habe, geht es um Kaliumchlorid. Wurde das Opfer damit getötet? Wenn ja: Wie? Wann?“

„Ich möchte Sie bitten, meine Ausführungen abzuwarten, schließlich habe ich mir damit sehr viel Mühe gegeben. Außerdem wird es nicht schaden, die Todesursache komplex zu verstehen“, pampte Fuchs zurück, der nicht vorhatte, sich drängen zu lassen. Seine Ausführungen dauerten nun mal so lange, wie sie dauerten.

„So ein Wichtigtuer“, murmelte Leo.

Die Kollegen Diana Nußbaumer, Alfons Demir und Hans mussten lachen, Krohmer sah ihn aber verärgert an. Das war Leo egal. Er wollte nach Hause. Das alles hier hätte man sicher auch sehr viel kürzer halten können.

„Ich fasse die Todesursache zusammen: Dem Opfer wurde Kaliumchlorid direkt ins Herz injiziert.“ Fuchs schien langsam zum Ende zu kommen.

„Woher bekommt man Kaliumchlorid?“ Leo wurde jetzt hellhörig, nachdem er fast eingeschlafen war.

„Hätten Sie aufgepasst, wüssten Sie, dass man das überall beziehen kann, und zwar sehr günstig.“ Krohmer war sauer. Was war los mit Schwartz?

„Sorry, ich war abgelenkt, das hatte ich nicht mitbekommen.“

„Abgelenkt? Wodurch? Wenn der Kollege Fuchs den Obduktionsbericht erläutert, sollten Sie sich gefälligst zusammenreißen und ihm zuhören.“

„Wir bekommen doch sowieso Mappen, oder etwa nicht?“

„Selbstverständlich, so wie immer.“ Fuchs war enttäuscht, dass Schwartz nicht aufgepasst hatte. Beleidigt teilte er die Mappen aus.

„Entschuldigen Sie, Doktor Fuchs, ich war nicht bei der Sache.“ Er blätterte die Mappe durch und fand sofort die Stellen, die ihn interessierten. „Wir suchen also nach einem Täter mit medizinischen Vorkenntnissen.“

„Richtig.“ Fuchs war zufrieden, dass der Kollege Schwartz wenigstens die Zusammenhänge sehr schnell verstand.

„Könnte es auch jemand sein, der einfach nur Glück hatte und das Herz zufällig traf?“, hakte Leo nach.

„Möglich ist alles, aber das halte ich für sehr weit hergeholt.“

„Die Nadel wurde genau am Muttermal angesetzt. Das sieht nach Vorsatz aus, aber ich halte die Glückstheorie auch für möglich“, sagte Hans, der Leos Annahme damit stützte.

„Wenn das so ist, suchen wir nach der Nadel im Heuhaufen“, warf Alfons Demir ein.

„Wie so oft“, murmelte Leo.

„Wie dem auch sei“, fasste Fuchs zusammen. „Wir haben es mit einem Mord zu tun, der meiner Meinung nach sehr raffiniert ausgeführt wurde. Doktor Schnabel hat die Einstichstelle zum Glück gefunden, die vermutlich von anderen Pathologen übersehen worden wäre. Mit bloßem Auge war die nicht zu sehen, ich habe sie auch nicht bemerkt. Außerdem meinte Doktor Schnabel, dass man Kaliumchlorid nach einigen Stunden nicht mehr hätte nachweisen können, da sich das Salz im Körper sehr schnell zersetzt. Es war ein glücklicher Umstand, dass die Tote so schnell entdeckt wurde. Dass wir nur wenige Minuten später vor Ort waren, ist zwar kein Glücksfall, sondern unserer Arbeitseinstellung geschuldet, womit ich vor allem meine Kollegen ganz besonders loben möchte.“ Fuchs sah Krohmer an, der das zur Kenntnis nahm. „Darüber hinaus hatten wir nicht nur Glück mit dem Pathologen, sondern auch damit, dass die Obduktion umgehend vorgenommen wurde.“ Alle wussten, dass Fuchs das seiner Lebensgefährtin Lore Pfeiffer zu verdanken hatte. Ein Glücksfall, dass sie für die Einteilung der Leichen in der Pathologie zuständig war.

„Was ist mit der Todeszeit?“, warf Leo ein. „Hier steht nichts darüber.“

„Daran arbeitet der Pathologe noch. Sobald er die Todeszeit eingrenzen kann, wird er sich melden.“

„Das ist blöd. Ohne Todeszeit erübrigt sich die Frage nach den jeweiligen Alibis.“ Hans war enttäuscht, denn eine Todeszeit wäre sehr hilfreich.

„Dann müssen wir eben diesbezüglich noch warten. Vielen Dank, Kollege Fuchs“, griff Krohmer ein, dem das hier auch schon viel zu lange ging. Ja, die Ausführungen waren aufschlussreich und sehr informativ, aber das wäre tatsächlich sehr viel kürzer gegangen. Er sah die Kriminalbeamten eindringlich an. „Was ist mit der Identität des Opfers?“

„Die haben wir noch nicht. Es gibt keinen Vermisstenfall in unserem Bereich, zu dem die Beschreibung der Frau passen würde.“ Leo war immer noch erschrocken darüber, wie viele Frauen in den letzten Jahren vermisst wurden.

„Dann an die Arbeit. Sie wissen ja, was Sie zu tun haben.“ Krohmer stand auf und ging. Allen war klar, dass der Feierabend gestrichen war.

Die Suche bei den Vermisstenmeldungen wurden ausgeweitet, aber auch darin wurden sie nicht fündig. Die Öffentlichkeit musste um Hilfe gebeten werden. Die Suche nach Kaliumchlorid lief ins Leere, denn das konnte tatsächlich für ein paar Euro überall bestellt werden. Trotzdem wurden Anfragen gestellt und dazu auch Apotheken im Umkreis befragt, was sehr viel Zeit in Anspruch nahm.

Als am nächsten Tag Fotos der Toten in der Zeitung, im Lokalfernsehen und eine Beschreibung im Radio erschienen, blieben die erhofften Hinweise aus. Konnte es tatsächlich sein, dass die Frau niemand vermisste? War es sogar möglich, dass sie eine Urlauberin war? Befragungen in Hotels und Pensionen waren negativ, niemand vermisste einen Gast. Gab es ein Fahrzeug auf einem der zahlreichen Parkplätze, das nicht abgeholt wurde? Die Informationen an die Bevölkerung wurden in den nächsten Tagen aufgestockt. Auch jetzt gab es keine brauchbaren Hinweise.

Das Opfer war eine auffällige Erscheinung. Wie war es möglich, dass sie niemand vermisste oder gar kannte? Wer war die Tote?

4.

Drei Tage später, Donnerstag 1. Dezember…

Leos Frau Sabine arbeitete bei der hiesigen Tageszeitung, die sehr froh über eine derartige Journalistin war. Sabine hatte hervorragende Referenzen, die ihr sofort alle Türen öffneten. Storys von ihr wurden in der ganzen Welt veröffentlicht und gelobt. Auch deshalb wurde sie nicht selten für brenzlige Reportagen angefordert. Damit war es jetzt vorbei. Sie hatte eingesehen, dass sie ihren Job zwar liebte, aber der nicht allein zählte. Ein Leben an Leos Seite war es, für das sie sich entschied, weshalb sie von München nach Altötting gezogen war. Die örtliche Tageszeitung hatte ihre Bewerbung sofort angenommen. Allerdings war momentan nur in der Lokalredaktion eine Stelle frei, was Sabine anfangs zwar nichts ausmachte, sie aber auch langsam langweilte. In dieser Woche hatte sie bereits den achten Termin bei einem der vielen örtlichen Vereine. Auch wenn sie darauf hoffte, dass sie vielleicht doch etwas Spektakuläres erfuhr oder einer heißen Spur nachgehen könnte, geschah einfach nichts dergleichen. Zu den fast durchweg langatmigen Geschichten, die sich alle sehr ähnelten, und den üblichen Fotos gab es nicht viel, was sie reizte und wo sie nachhaken könnte.

Das änderte sich schlagartig. Als sie einen Termin beim Kleintierzuchtverein B80 in Töging hatte, spürte sie sofort die dortige Unruhe. Wie so oft, wenn die Presse vor Ort war, wimmelte es von Mitgliedern, so auch hier. Sabine bemerkte sehr wohl, dass man es vermied, ihr in die Augen zu sehen oder sich in ihrer Nähe aufzuhalten, was sehr unüblich war. Ein Pressetermin war immer eine sehr gute Gelegenheit, neue Mitglieder zu werben oder sogar das eigene Gesicht in der Zeitung zu sehen, aber heute war alles anders. Gab es Unstimmigkeiten oder Ärger unter den Mitgliedern? Dass hier etwas nicht stimmte, lag auf der Hand. Sie musste wachsam sein und ihre Augen und Ohren überall haben. Der Mann, wegen dem sie hier war und den sie aufgrund seines Jubiläums interviewen sollte, war nicht ganz bei der Sache. Alois Hansbauer antwortete zwar höflich, schien aber mit den Gedanken ganz woanders zu sein. Endlich etwas, was Sabine Schwartz reizte. Sie beendete das Interview und bat darum, sich in dem überschaubaren Vereinsheim umsehen zu dürfen, was ihr zähneknirschend gewährt wurde.

Die Räumlichkeiten interessierten sie nicht wirklich, obwohl sie jede Menge Fotos machte. Nach Bildern von Hasen, Kaninchen und Hühnern suchte sie vergeblich, was nicht üblich war. Dekorationen – ob vorhanden oder nicht – waren Geschmacksache. Sabine fand lediglich einen Bronzehasen auf einem Kühlschrank im Vorraum des Vereinsheimes, aber der interessierte sie nicht. Sabine hielt Ausschau nach Personen, die sie ausfragen konnte. Das war nicht leicht, denn sobald sie auf jemanden traf, der nicht schnell genug vor ihr flüchten konnte, hielt man sich bedeckt und sagte nichts oder nur sehr wenig. Das machte sie nur noch neugieriger. Trotz all ihrer Bemühungen fand sie niemanden, der mit ihr sprechen wollte. Sabine verabschiedete sich und ging nochmals um das Vereinsheim herum, um Aufnahmen zu machen. Sie fand aber auch hier nichts, das für sie interessant wäre. So ein Mist! Als sie resigniert aufgeben wollte, bemerkte sie einen Jungen, der geduckt hinter einem Altglas-Container stand und rauchte. Immer wieder sah er verstohlen zu den Häusern auf der anderen Straßenseite, die dem Vereinsheim sehr nahe waren.

„Wie alt bist du?“

Der Junge erschrak und verschluckte sich am Rauch.

„Vierzehn“, antwortete er hustend. „Bitte verpetzen Sie mich nicht!“, bettelte der rothaarige, sommersprossige Bub, der für sein Alter sehr viel jünger aussah.

„Keine Sorge, ich bin keine Petze. Trotzdem muss ich dir sagen, dass Rauchen in deinem Alter noch nichts ist. Es mindert das Wachstum.“ Sabine machte sich jetzt auch klein, damit sie und der Junge nicht gesehen und dadurch gestört wurden. „Hast du eine Zigarette für mich?“

Der Junge grinste und zündete auch für sich noch eine an.

„Ich bin die Sabine. Wie ist dein Name?“

„Georg. Du bist wegen dem Jubiläum vom Alois hier, stimmt’s?“

„Richtig. Du weißt davon?“

„Hier kennt jeder jeden, hier weiß man alles voneinander. Du musst wissen, dass meine Eltern auch Mitglieder der Haserer sind.“ Georg zeigte auf das Wohnhaus schräg gegenüber. Hier wohnte der Junge also.

„Haserer?“

„So nennt man den Verein in Töging, den echten Vereinsnamen spricht hier keiner aus. Und wenn, dann weiß man, dass derjenige nicht von hier ist. Du weißt, dass das Vereinsheim die Giggerlbar genannt wird?“

„Nein, das wusste ich nicht. Gut zu wissen, damit wird mein Bericht noch viel authentischer. Vielen Dank, Georg. - Mein Job heute hat echt keinen Spaß gemacht. Alle verhalten sich sehr merkwürdig. Niemand will mit mir sprechen. Hast du vielleicht eine Ahnung, was los ist? Hast du etwas mitbekommen?“

Georg fühlte sich verpflichtet, die Wahrheit zu sagen, was seinem schlechten Gewissen geschuldet war. Wenn die Frau von der Zeitung, wegen der alle panisch reagierten, zu seinem Vater ging, war das neue Smartphone zu Weihnachten dahin. Seine Mutter war kein Problem, die liebte ihn über alles, aber sein Vater war ein ganz anderes Kaliber. Er liebte ihn zwar auch, erzog ihn aber sehr viel strenger. Nein, sein Vater durfte hiervon nichts erfahren, das war klar. Das Smartphone wollte er nicht riskieren, denn darauf freute er sich schon das ganze Jahr.

„Es ist wegen der Toten in der Zeitung“, gab er schließlich zu. „Du musst wissen, dass meine Eltern Mitglieder in dem Verein sind. Ich nicht, das wäre nichts für mich, aber meine Eltern schon. Trotzdem kenne ich jedes Mitglied, das lässt sich nicht vermeiden. Es kommt nicht selten vor, dass ich gezwungen werde, bei den Festen mitzuhelfen. Das ist echt ätzend. Sobald ich volljährig bin, mache ich das nicht mehr. Aber noch bin ich das nicht, deshalb muss ich mich fügen, auch wenn mir das nicht gefällt.“ Georg plauderte munter einige Anekdoten aus, die Sabine aber nicht interessierten. Die Bemerkung über die Tote aus der Zeitung war es, die wichtig war. Sabine hatte gestern Abend mit Leo über die Tote gesprochen, allerdings war er sehr wortkarg gewesen, und sie musste ihm jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Sie wusste also, dass die Identität der Unbekannten noch nicht geklärt war, weshalb es öffentliche Aufrufe gab, die sich seit Tagen wiederholten.

„Soll das heißen, dass ihr die Tote kennt?“, hakte sie deshalb bei Georg nach. Er sah sich um, dann fuhr er fort.

„Das ist die Gloria Häckelsberger. Sie war Mitglied des Vereins, bis man sie rausgeschmissen hat.“

„Warum das denn?“

„Sie hat mit dem Alois und dem Siggi rumgemacht. Deshalb musste sie gehen.“

„Du meinst Alois Hansbauer und Siegfried Bichler?“, überflog sie die Mitgliederliste des Vereins.

Georg nickte und sah sich erneut um. Niemand durfte sehen, dass er sich mit der Journalistin unterhielt, vor der alle Angst hatten. Warum das so war, konnte er nicht nachvollziehen, denn die Frau war eigentlich ganz nett.

„Es gab eine Sitzung, bei der man über ihren Ausschluss abgestimmt hat. Es gab nur wenige, die für die Gloria waren. Es gibt keine Beweise dafür, dass sie was mit den beiden Männern hatte, aber ich weiß es, ich habe sie gesehen. Meine Eltern wissen es auch, aber die sagen nichts. Ich finde, dass uns das nichts angeht, das ist doch Privatsache. Außerdem verstehe ich nicht, warum die Gloria bestraft wurde, der Alois und der Siggi aber nicht. Trotzdem war es so, die Gloria musste gehen. Die haben vielleicht gestritten, das kannst du dir nicht vorstellen! Ich habe jedes Wort gehört. Die Fenster waren offen“, zeigte er auf die vergitterten Fenster des Vereinsheims. „Wenn die offen sind und ich hier rauche, verstehe ich jedes Wort.“

„Ich muss dir zustimmen, Georg. Man hätte nicht nur die Frau, sondern auch die Männer bestrafen sollen.“

„Dem Alois seine ekelhafte Tussi hat gegen die Gloria gehetzt, die wollte sie unbedingt loswerden. Die Irmi ist eine blöde Kuh. Ich habe gesehen, wie sie etwas in Glorias Tasche gesteckt hat. Ich habe das meinem Vater erzählt, aber er hat gesagt, ich soll das für mich behalten und mich raushalten.“

„Warum?“

„Weil alle vor der Irmi kuschen. Mein Vater sagt, dass sie sehr gefährlich ist. Er meinte, dass sie einen mit ihrem Mundwerk töten kann. Ich weiß, dass das übertrieben ist, trotzdem haben alle Angst vor ihr.“

„Ich danke dir, Georg. Schön, dass ich dich kennenlernen durfte.“

„Verpetzt du mich bei meinem Vater?“

„Nein, warum sollte ich? Ich gebe dir meine Karte. Wenn dir noch etwas einfällt, würde ich mich freuen, wenn du dich bei mir meldest. Hier hast du einen Kaugummi, damit übertünchst du den Geruch der Zigarette. Vergiss nicht, dir die Hände zu waschen, an den Fingern bleibt ordentlich Nikotin hängen.“

Georg grinste, als Sabine ging. Er war sich sicher, dass er sich auf sie verlassen konnte. Den Kaugummi steckte er ein. Da er hier unbeobachtet war, konnte er eine weitere Zigarette riskieren.

Sabine ging nochmal zurück ins Vereinsheim. Alle befanden sich in dem engen Versammlungsraum und diskutierten, einige saßen auf den wenigen Stühlen, die meisten standen. Als man Sabine bemerkte, verstummten alle, einige drängten sich an ihr vorbei und gingen. Sabine gab sich alle Mühe, doch noch jemanden zu finden, der mit ihr sprechen wollte, aber alle hielten sich zurück. Dann stand sie direkt vor der resoluten Mittvierzigerin Irmgard Hansbauer, die alle nur Irmi nannten. Die Frau gab sich sehr freundlich, aber man konnte ihre Feindseligkeit spüren. Sabine beschloss, aufs Ganze zu gehen.

„Was können Sie mir über Gloria Häckelsberger erzählen?“

Alle Gesichtszüge entgleisten.

„Wer hat mit Ihnen gesprochen?“, schrie die Irmi und suchte nach dem oder der Schuldigen.

Sabine antwortete nicht, sie wartete einfach nur ab. Sie hatte einige Sätze der eben geführten Diskussion aufschnappen können, in der es vor allem um die Tote ging. Dass die Frau vor ihr aufgebracht war, konnte man ihr ansehen.

„Sie wollen etwas über die Schlampe Gloria hören? Sie hat alle Männer verrückt gemacht und nur Unruhe verbreitet. Sie hat ihren riesigen, falschen Busen nicht nur zur Schau gestellt, sondern jedem Mann ins Gesicht gedrückt. Es gibt keinen, den sie nicht belästigt hat. Ekelhaft! Seit sie weg ist, ist es endlich wieder ruhig bei uns.“ Die erste Wut hatte sich entladen.

„War Ihr Mann auch betroffen?“

„Natürlich nicht! Was fällt Ihnen ein? Mein Alois ist ein guter Mann! Wir sind seit achtundzwanzig Jahren verheiratet und waren uns immer treu! Ich verbitte mir Anspielungen auf ein Verhältnis meines Mannes, das wäre eine Lüge! Sollten Sie es wagen, auch nur andeutungsweise in diese Richtung zu berichten, werde ich mich wehren.“

Sabine ignorierte die Drohung.

„Ich wollte Ihnen nicht zu nahetreten, aber Sie sprachen vorhin von allen Männern.“

„Das war doch nur so dahingesagt.“ Irmi sah Sabine von oben bis unten abschätzend an. „Sie sind nicht von hier, oder?“

„München.“

„Dachte ich mir. Wissen Sie was? Schreiben Sie doch einfach was Sie wollen. Wenn Sie Lügen verbreiten sollten, werden wir das nicht auf uns sitzen lassen. In dem Fall würden wir rechtliche Schritte einleiten, darauf können Sie sich verlassen!“

„Das sagten Sie bereits, ich habe Sie verstanden.“

„Dann ist es ja gut. Und jetzt sage ich kein Wort mehr!“ Irmi Hansbauer verschränkte die Arme vor der Brust.

„Wurde die Polizei informiert?“

„Die Polizei? Warum?“

„Wegen der Identität der Toten natürlich, schließlich bittet die Polizei um Mithilfe der Bevölkerung.“

„Das können Sie gerne übernehmen. Wir wollen damit nichts zu tun haben, darin sind wir uns einig. Ich denke, dass Sie alles für einen Artikel in der Zeitung haben. Sie dürfen jetzt gehen.“

Das war ein Rausschmiss, den sich Sabine nicht zwei Mal geben wollte. Sie rief ihren Mann Leo an.

Leo sah auf sein Smartphone. Es war Sabine. Ob er sie einfach wegdrücken sollte? Sie wusste, dass er private Gespräche während der Arbeit nicht mochte. Vielleicht rief sie nicht ohne Grund an? Er zögerte, nahm das Gespräch dann doch an.

„Was gibt es, mein Engel?“ Der Ton war vielleicht etwas genervt.

„Ich kenne die Identität der Toten, nach der ihr sucht. Es handelt sich um Gloria Häckelsberger.“

„Woher weißt du das?“

Sabine berichtete ausführlich.

„Du hast uns sehr geholfen, vielen Dank.“

„Wir sehen uns heute Abend. Hast du pünktlich Feierabend?“

„Keine Ahnung. Du weißt ja, dass die Arbeit immer vorgeht.“

Ja, das war Sabine bekannt, trotzdem hoffte sie auf einen gemütlichen Abend. Vielleicht konnte sie von Leo auch mehr über die Tote erfahren.

Dass der gemeinsame Feierabend noch Folgen haben würde, war in diesem Moment nicht absehbar.

5.

Leo Schwartz suchte umgehend nach Informationen über Gloria Häckelsberger. Als ein Bild der Frau vor ihm auftauchte, nickte er, ohne es zu merken – das war tatsächlich die Tote, auch wenn sich am Gesicht der Frau einiges geändert hatte. In dem Obduktionsbericht wurden die Schönheitsoperationen erwähnt, was die Veränderungen erklärte. Die waren auch der Grund dafür, dass man nicht auf Frau Häckelsberger kam. Die Informationen über sie waren sehr spärlich. Die achtundvierzigjährige Kosmetikerin war ledig und hatte keine Kinder. Leo notierte, dass sie seit Jahren ohne Anstellung war. Warum das so war, war momentan nicht wichtig, das würden sie schnell herausfinden. Dann entdeckte er einen Hinweis, der ihn sehr interessierte: Gegen die Frau gab es vor Jahren eine Anzeige wegen Erpressung, die wurde aber wieder zurückgenommen. Den Namen des Mannes, der die Anzeige aufgab, notierte er sich ebenfalls: Christian Zobel. Nach einem Fahrzeug, das auf das Opfer gemeldet ist, suchte Leo vergebens.

Leo und Hans Hiebler machten sich sofort auf den Weg nach Töging.

„Das Zuhause des Opfers oder der Verein? Wo sollen wir zuerst hin?“, wollte Hans wissen.

„Vor einer Stunde waren noch alle Mitglieder vor Ort, vielleicht ist das noch so. Damit würden wir uns viel Arbeit sparen, dann könnten wir alle Mitglieder auf einmal befragen. Außerdem würde mich brennend interessieren, warum sich wegen der Identität der Toten niemand bei uns gemeldet hat. Die Mitglieder des Vereins kannten die Frau und niemand hat es für nötig erachtet, die Polizei zu informieren. Das ist echt ätzend.“

„Sei fair, Leo. Heutzutage will niemand freiwillig mit der Polizei zu tun haben. – Du willst also zuerst ins Vereinsheim?“

„Von mir aus sehr gerne.“

Hans war es egal, wo sie mit ihren Befragungen begannen. Es gab keine Angehörigen, weshalb das Zuhause der Toten nicht eilte.

Das Vereinsheim lag am Beethovenplatz 12 mitten in Töging.

„Worum handelt es sich bei dem Verein überhaupt?“

„Kleintierzuchtverein B80 Töging und Umgebung e.V.“, murmelte Hans.

„B80? Was soll das heißen?“

„B für Bayern, 80 ist die Nummer des Kleintierzuchtvereins.“

„Dann wurde der Verein als Nummer 80 registriert?“

„So ist es. Ich weiß, dass der Verein die Haserer genannt wird.“

„Aha. Und warum sagst du mir das?“

„Damit man nicht sofort merkt, dass du nicht von hier bist.“

„Das kannst du vergessen, meinen schwäbischen Akzent merkt man doch sofort. Haserer – hört sich lustig an.“

„Vor allem, wenn du es sagst. Das A spricht man dumpf aus.“

„Das ist mir doch egal. Ein Kleintierzuchtverein also, warum nicht. Kürzlich habe ich gelesen, dass es sogar Schnupftabakdosen- und Porzellanbutterdosen-Vereine geben soll. – Ah, wir sind da, das hier ist der Beethovenplatz. Schau mal. Ich denke, wir haben Glück“, sagte Leo mit Blick auf die parkenden Fahrzeuge, die die Straße ordentlich verstopften. Das recht kleine Vereinsheim, das laut Hans Giggerlbar genannt wurde und von Leo auch nicht korrekt ausgesprochen werden konnte, lag direkt am Eck eines Areals, das von mehreren Vereinen genutzt wurde. Zwischen den Gebäuden befand sich ein Spielplatz. Da rund herum ein Zaun angebracht war, war das hier ein idealer Ort für Feiern jeglicher Art.

Leo zählte zwölf Autos und machte Fotos. Seit einigen Wochen hatte er ein neues Smartphone, das sehr viel übersichtlicher war. Damit kam er sehr, sehr gut zurecht, zumal seine Sehkraft zusehends nachließ. Nicht mehr lange und er brauchte tatsächlich eine Brille – nicht nur zum Lesen, sondern auch für tagsüber. Die Qualität der Fotos war brillant, weshalb er so oft wie möglich Fotos machte. Endlich mal eine Anschaffung, die sich gelohnt hatte, denn dieses Smartphone gehörte nicht zur Ausrüstung der Polizei, das hatte er privat gekauft. Auch nicht üblich für einen Schwaben.

Schon beim Betreten des Vereinsheims hörten die Kriminalbeamten Stimmen aus dem Raum, der an den Eingangsbereich angrenzte. Es war hier niemand zu sehen, an den sie sich hätten wenden können. Die Tür des Raumes, aus dem die Stimmen zu ihnen drangen, war nur angelehnt.

„Wir müssen die Polizei informieren!“, hörten sie eine Männerstimme. „Das hätten wir schon längst tun sollen! Wir machen uns strafbar, wenn wir Informationen zurückhalten.“ Konrad Maier war heute ausnahmsweise auch hier, was sonst nicht der Fall war. Maier war vor Jahren ins benachbarte Winhöring gezogen, blieb aber dem Verein als Mitglied erhalten. Seine heutige Anwesenheit erklärte er damit, dass er einen Termin beim hiesigen Bürgermeister hatte, was alle so zur Kenntnis nahmen. Warum auch nicht? Jeder wusste um Maiers politische Ambitionen. Seit Maier nicht mehr in Töging wohnte, interessierte sich kaum noch jemand für ihn.

---ENDE DER LESEPROBE---