Zeugen unerwünscht - Irene Dorfner - E-Book

Zeugen unerwünscht E-Book

Irene Dorfner

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Beschreibung

Als ihr Geliebter sie abserviert, erschlägt sie ihn. Sie möchte in ihr altes Leben zurück und beseitigt alle Spuren, die sie mit der Tat und dem Geliebten in Verbindung bringen. Dabei hinterlässt sie eine Blutspur, denn sie tötet alle, die ihr gefährlich werden könnten…

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Irene Dorfner

Zeugen unerwünscht

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Copyright

VORWORT

ANMERKUNG:

1.

2.

3.

4 .

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11 .

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

Liebe Leser!

Von der Autorin sind bisher folgende Bücher erschienen:

Über die Autorin Irene Dorfner:

Impressum neobooks

Copyright

Copyright © 2020 Irene Dorfner

All rights reserved

www.irene-dorfner.com

Lektorat: Sabine Thomas, Stralsund

EarL und Marlies Heidmann, Westheim

FTD-Script, Altötting

Kein Teil dieses Buches darf ohne ausdrückliche schriftliche Genehmigung der Autorin reproduziert oder in einem Abrufsystem gespeichert oder in irgendeiner Form oder auf irgendeine Weise elektronisch, mechanisch, fotokopiert, aufgezeichnet oder auf andere Weise übertragen werden.

VORWORT

„Keinem vernünftigen Menschen würde es einfallen, Tintenflecke mit Tinte, Ölflecken mit Öl wegwaschen zu wollen.

Nur Blut soll immer wieder mit Blut abgewaschen werden.“

Bertha von Suttner

Leo Schwartz hat seinen 36. Fall gelöst.

Ich möchte mich ganz besonders bei einigen Menschen bedanken, die mich bei diesem Buch unterstützt haben (und die auch nach jedem noch so kleinen Fehler gesucht haben):

EarL und Marlies Heidmann

Sabine Thomas

Tommy und Frank

Vielen, vielen Dank, ihr seid die Besten!!

Allen Lesern und Leo-Schwartz-Freunden wünsche ich jetzt ganz viel Spaß mit „Zeugen unerwünscht“

Herzliche Grüße aus Altötting

Irene Dorfner

ANMERKUNG:

Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Der Inhalt des Buches ist reine Fantasie der Autorin. Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig. Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.

…und jetzt geht es auch schon los:

1.

Das Wasser in der Dusche verfärbte sich rot. Sie stützte sich an den Fliesen ab und sah zu, wie die Farbe immer heller und heller wurde. Dass Tränen über ihre Wangen liefen, bemerkte sie nicht. Nachdem sie sich gründlich abgeseift hatte, waren an ihrem Körper die Spuren der Tat verschwunden. Immer noch zitternd zog sie sich an und stopfte ihre blutverschmierte Kleidung in einen Sack, ging in den Garten und zündete den großen Grill an, was sie sonst nie machte. Sie hasste Grillen und alles, was damit zusammenhing, aber ihr Mann bestand auf regelmäßige Grillabende, bei denen er sich wichtigmachen konnte. Jetzt wollte sie das sündhaft teure Ding, das für Kohle und Holz gedacht war, zum ersten Mal sinnvoll verwenden. Geschickt brachte sie das trockene Holz zum Brennen, was ihr ein leichtes Schmunzeln entlockte. Ihr Mann machte immer einen Zinnober um das Anzünden, was wahrlich kein Hexenwerk war. Sie machte sich nicht die Mühe, alle Kleidungsstücke einzeln zu verbrennen, sondern legte den ganzen Sack auf die lodernden Flammen. Das Feuer nahm rasch Besitz von dem, was gleich für immer vernichtet war. Es war ihr gleichgültig, ob die neugierigen, ätzenden Nachbarn sie beobachteten. Bis irgendjemand hier war, waren auch die letzten Spuren beseitigt. Der Wagen war längst in der Werkstatt - für eine gründliche Innenreinigung, falls ihre Kleidung oder die Hände Blutspuren hinterlassen hatten. Vor dem Haus stand ein Leihwagen. Ob ihrem Mann das überhaupt auffiel? Sie zweifelte daran, denn der egoistische Mistkerl kümmerte sich nur um das, was ihn persönlich betraf.

Sie ging ins Haus, schenkte sich ein Glas Wein ein und bemerkte, dass ihre Hände immer noch zitterten. Sie hatte Manuel tatsächlich umgebracht. Dass sie dazu fähig gewesen wäre, hätte sie nie für möglich gehalten. Sie war immer ein fügsamer, zurückhaltender Mensch gewesen, der lieber still litt, als sich zu wehren – aber heute war sie über sich hinausgewachsen. Diesmal hatte sie sich nicht einfach zurückgezogen und hingenommen, dass sie übel beleidigt und sehr mies behandelt wurde. Manuel musste dafür bezahlen, denn so schäbig durfte niemand mit ihr umgehen.

Sie stand wieder auf der Terrasse und starrte in die Flammen, die fast schon alles verschlungen hatten. Sie wollte es nicht, musste aber an die Tat denken. Manuel servierte sie heute Morgen mit einer simplen Nachricht per Handy einfach ab. Boshafte, fiese Worte, die sie nicht verdiente, sollten eine wunderbare Beziehung beenden. So verletzend, dass sich jedes der Worte tief in ihre Seele einbrannte. Das konnte sie sich nicht gefallen lassen. Sie war nach der Nachricht sofort zu Manuel gefahren und wollte ihn zur Rede stellen, aber er war nicht da. Endlich tauchte er auf – mit einem riesigen Blumenstrauß in der Hand. Sie lächelte, denn sie war sich sicher, dass der für sie bestimmt war und er sich bei ihr entschuldigen wollte. Sie ging auf ihn zu und wollte ihn umarmen, aber er stieß sie rüde von sich.

„Hast du nicht verstanden, dass es aus ist? Ich will nichts mehr von dir! Wir haben nichts gemeinsam. Außerdem bist du alt und gleichst mittlerweile einer Vogelscheuche. Ich kann dein Gesicht und dein Gejammer nicht mehr ertragen! Geh nach Hause zu deinem Mann!“

Sie war verletzt. Worte zu lesen war die eine Sache, sie aber direkt zu hören eine ganz andere. Das war nicht ihr Manuel, wie sie ihn kannte und liebte. Es musste etwas passiert sein, sonst würde er sie nie so mies behandeln. Sie kombinierte schnell, dass er eine andere haben musste. Sie wollte Klarheit, aber Manuel wollte sich nicht erklären. Er drängelte sich an ihr vorbei, schubste sie zur Seite, ging ins Haus und machte vor ihrer Nase die Tür zu. Sie stand einfach nur da und verstand die Welt nicht mehr. Was war nur los mit ihm? Als sie sich vor drei Tagen das letzte Mal trafen, war alles noch in bester Ordnung. Und jetzt das! Mit gesenktem Kopf setzte sie sich in ihren Wagen und startete den Motor der Luxuskarosse, die ihr nie etwas bedeutete. Sie hatte bereits mit dem Gedanken gespielt, den Wagen Manuel zu schenken. Sie lachte bitter und merkte nicht, dass Tränen über ihre Wangen liefen. Das soll es jetzt gewesen sein?

Als sie wegfahren wollte, bemerkte sie eine junge Frau, die auf das Haus zuging. War sie es, die Manuels Herz erobert hatte? Das war doch nicht möglich! Diese billige Frau, die augenscheinlich der untersten Gesellschaftsschicht angehörte, sollte sie ersetzen? Der Motor des Wagens war aus, denn jetzt konnte sie nicht mehr wegfahren, sie musste mehr erfahren. Die Eifersucht nagte tief und sie begann, die Frau genau zu mustern, die wartend vor der Tür stand. So stellte sie sich eine Straßenhure vor, auch wenn sie noch nie eine gesehen hatte. Dieses Flittchen war mit ihr nicht zu vergleichen, das stand außer Frage. Kein Niveau und einfach nur billig. Wie alt diese Schlampe wohl war? Zwanzig? Der Altersunterschied von über dreißig Jahren traf sie tief. War es das, was Manuel wollte? Eine junge Frau an seiner Seite, die vermutlich noch nicht einmal was im Kopf hatte? Nein, so sehr konnte sie sich doch nicht in ihm getäuscht haben! Noch war nicht sicher, ob diese Frau zu Manuel wollte. Es glich einem Stich in ihrem Herzen, als ihr geliebter Manuel tatsächlich die Tür öffnete! Das war Verrat - an ihr und an allem, was sie gemeinsam hatten. Sie konnte sich nicht jünger machen, aber sie hatte sich in den zwei Jahren ihres Verhältnisses alle Mühe gegeben, um jung und attraktiv für ihn auszusehen. Zahllose Eingriffe, die mit vielen Schmerzen verbunden waren, waren schon fast zur Routine geworden. Die Haaransätze wurden beinahe wöchentlich gefärbt, weshalb ihr Haar dünner und dünner wurde. Ihr Friseur war ein Künstler und brachte ihre dunkle Mähne mit Extensions wieder zur alten Fülle. Sie machte sehr viel Sport mit Hilfe eines Personaltrainers, der sie quälte und regelmäßig an ihre Grenzen brachte. Der straffe Ernährungsplan war selbstverständlich, wozu auch viele Zusatzpräparate gehörten, um den Alterungsprozess aufzuhalten. Selbst vor Tattoos hatte sie nicht zurückgeschreckt, um sich der Jugend anzupassen. Das hatte einige heftige Auseinandersetzungen mit ihrem Mann nach sich gezogen, denn der war von dem neuen Körperschmuck entsetzt. Er war regelrecht angewidert und bestand darauf, dass sie sie in der Öffentlichkeit abdeckte, denn für ihn gehörten Tattoos zur untersten Gesellschaftsschicht und damit wollte er nichts zu tun haben. Manuel liebte ihre Tattoos, von denen einige sehr gewagt waren. Das alles hatte sie nur für Manuel gemacht und das war jetzt der Dank dafür!

Sie saß in ihrem Wagen und ballte die Fäuste, sodass sich die langen, frisch manikürten Nägel tief ins Fleisch bohrten. Dass ein Mann das Haus wenig später betrat, beachtete sie nicht. Sie war rasend vor Wut, diese Behandlung wollte sie sich nicht gefallen lassen. Aber was sollte sie tun? Sie musste sich entscheiden, denn je mehr Zeit verging, desto wütender wurde sie. Dann traf sie eine Entscheidung: Es war an der Zeit, Manuel zur Rede zu stellen – und zwar im Beisein dieser billigen Frau!

Gerade, als sie aussteigen wollte, verließ dieses Flittchen mit einem Fremden das Haus. Das Stelldichein hatte nicht allzu lange gedauert, da musste etwas schiefgegangen sein. Erleichtert zog sie sich wie immer ein Kopftuch über und setzte die Sonnenbrille auf, um nicht erkannt zu werden. Dann ging sie auf das Haus zu. Nachdem sie vergeblich klingelte, kam jemand aus dem Haus und ließ sie rein. Manuels Wohnungstür stand offen und sie trat ein. Sie fand den Geliebten auf der Couch in einer hilflosen Lage. Er röchelte, Speichel rann aus seinem Mundwinkel. Der Blumenstrauß lag auf dem Tisch. Daneben standen eine Flasche Sekt und zwei Gläser, seines war leer. Sie kombinierte schnell, dass Manuel Opfer eines Verbrechens geworden war. Wie ein verliebter Schuljunge war er in die Falle getappt. Ob sie ihm das verzeihen würde? Die Wut war wie weggeblasen, sie sorgte sich um ihn. Sie war eine liebende Frau und war fähig, Fehler zu verzeihen. Manuel würde einsehen, was er an ihr hatte und alles war wieder gut. Einen kurzen Moment zögerte sie. War es nicht ratsam, die Polizei zu rufen? Nein, das würde Manuel nicht wollen, dafür kannte sie ihn zu gut.

Sie holte Wasser und ein nasses Tuch. Liebevoll brachte sie ihn langsam wieder zu Bewusstsein. Sie küsste und streichelte ihn. Manuel würde seinen Fehler einsehen und alles war wieder wie vorher. Aber statt eines Dankes oder einer Entschuldigung beschimpfte er sie und schrie sie an.

„Was machst du hier? Wie kommst du in meine Wohnung?“

„Wie geht es dir, mein Liebling? Soll ich einen Arzt rufen? Oder die Polizei?“

„Nein, mir geht es gut. Lass mich endlich in Ruhe! Hau endlich ab, hörst du? Ich kann deine künstliche Visage nicht mehr sehen! Ich ertrage dich einfach nicht länger! Hast du mich jetzt verstanden? Verschwinde!“

Das war zu viel für sie. Sie nahm die Sektflasche und schlug mit aller Kraft zu. Wie im Traum lief der Moment vor ihr ab, der ihrem Leben eine Wende geben sollte. Manuel war tot. Die kalten Augen schienen sie anzustarren. Wie lange sie nicht fähig war, irgendetwas zu tun, wusste sie nicht. Sie starrte Manuel an und konnte nicht glauben, was geschehen war. Erst, als sie sich beruhigt hatte, bemerkte sie das viele Blut an ihrer Hand und auf ihrem hellen Kostüm. Sie geriet in Panik. Der erste Instinkt war, einfach wegzulaufen. Aber dann besann sie sich anders. Sie wischte die Flasche ab, säuberte den Wasserhahn und steckte das Wasserglas und das Tuch in einen Müllsack, den sie in der Schublade des Küchentisches fand. Sie durfte keine Spuren hinterlassen, weshalb sie alles nur noch mit einem Taschentuch anfasste. Sie betrachtete sich im Spiegel: Nein, so blutverschmiert konnte sie nicht nach draußen gehen, das war unmöglich. Panik stieg in ihr auf und sie musste sich zwingen, ruhig zu bleiben. Rasch ging sie ins Schlafzimmer und suchte eine Jogginghose und ein Sweatshirt. Dass ihre hochhackigen Schuhe nicht dazu passten, war jetzt völlig gleichgültig. Das Kostüm steckte sie in den Müllbeutel. Noch ein letztes Mal sah sie Manuel an, der ihr sehr viel bedeutet hatte. Sie hatte sich von ihm und seinen süßen Worten blenden lassen. Sie war glücklich mit ihm gewesen, denn er war anders als die Männer, die sie bis dahin kannte. Manuel war aufmerksam, verständnisvoll, charmant, humorvoll, zärtlich und sehr ehrlich. Was für ein verlogenes Schwein er war, war ihr erst heute aufgefallen. Er war nicht anders als die anderen Männer, er war viel schlimmer. Jetzt war er tot und das war gut so.

„Du grillst? Was ist denn in dich gefahren?“

Ihr Mann riss sie aus ihren Gedanken. Rasch wischte sie die bitteren Tränen weg, die niemand sehen sollte, auch er nicht. Sie kannte ihren Mann schon seit vielen Jahren und wusste, dass er jede noch so kleine Schwäche schamlos ausnützen würde.

„Mir war kalt. Gute Nacht.“ Sie ging an ihrem Mann vorbei und schenkte sich Erklärungen, die ihm sowieso völlig gleichgültig waren. Er interessierte sich schon lange nicht mehr für sie, ihre Wünsche oder Träume waren ihm schon immer gleichgültig gewesen. Ihm ging es nur darum, dass sie an seiner Seite war, hübsch aussah und die perfekte Ehegattin abgab, denn mehr hatten sie schon lange nicht mehr gemeinsam. Dass ihr Mann nicht reagierte und sich einen Drink einschenkte, registrierte sie mit einem bitteren Lächeln auf dem Weg nach oben in ihr Schlafzimmer. Sie blieb kurz stehen und sah ihn an. Warum hatte sie nur so ein Pech mit Männern? Vielleicht wäre es gut, wenn auch ihr Mann sterben würde.

2.

Am selben Tag, Stunden vorher:

Der gutgläubige und verblendete Manuel Sosnowski merkte zu spät, dass etwas nicht stimmte. Das anfängliche Gähnen schob er auf den anstrengenden Tag und die Aufregung vor dem Besuch der Frau, die er abgöttisch liebte, auch wenn sie sich heute zum ersten Mal persönlich sahen. Seit Wochen gab es einen regen Austausch über die sozialen Netzwerke, worüber sie sich kennengelernt hatten. Cora schien perfekt zu sein, denn sie teilte alle seine Vorlieben und sie hatten ähnliche Ansichten, und dazu war sie auch noch verdammt hübsch – das war das erste Mal, dass er so etwas erlebte. Mit seinen zweiunddreißig Jahren hatte er einige flüchtige Beziehungen gehabt, die aber nicht lange hielten. Ja, es gab eine Geliebte, aber sie sahen sich nur sehr selten. Außerdem war die Frau sehr viel älter und nervte, denn sie wollte immer nur Komplimente hören, was ihn mehr und mehr ankotzte. Außerdem betrieb sie einen wahren Körperkult, den er nicht verstand und auch nicht mochte. Sie war verheiratet, was ihn nie gestört hatte. Eine gemeinsame Zukunft würde es nicht geben, das war ihm von Anfang an klargewesen. Sie trafen sich sporadisch und alles lief prima, aber irgendetwas fehlte ihm. Dann trat Cora in sein Leben. Sie änderte alles, denn mit ihr an seiner Seite würde sein Leben ganz anders werden. Heute Morgen hatte er seiner Geliebten mitgeteilt, dass es aus war, denn er wollte nicht zweigleisig fahren und sich nur auf Cora konzentrieren. Ja, er war sehr verletzend gewesen, aber die Frau verstand ihn sonst nicht. Sie war wie eine Klette, die er nur loswurde, wenn er sie rüde von sich stieß. Die Geliebte war Geschichte, an sie dachte er nicht mehr. Endlich hatte er eine Chance auf eine feste Beziehung mit einer Frau in seinem Alter, die ihm bisher verwehrt war. An was es lag? Vermutlich an seinen Hobbies, denen er nachging und die viel Zeit kosteten. Züge waren seine Leidenschaft, er hatte sogar für seine Modelleisenbahn ein eigenes Zimmer. Außerdem spielte er seit frühester Kindheit Trompete in einem Musikverein, in deren Proberaum er regelmäßig üben durfte, da er das seinen Nachbarn nicht zumuten wollte. Darüber hinaus gab es noch seine demente Mutter, die in einem Heim in Emmerting lebte und die er beinahe täglich besuchte. Viel freie Zeit blieb ihm da nicht, da er ja auch noch arbeiten musste. Die Stelle in der Stadtverwaltung war interessant und er liebte sie, weshalb er jede Schulung und jede Veranstaltung annahm, die angeboten wurde. War das alles nicht normal? Würde das nicht jeder machen? Keine Frau hatte bisher Verständnis dafür gehabt, aber Cora war anders. Sie wiederholte immer wieder, dass sie ihm alle Freiheiten geben würde, die er brauchte. Das war Musik in seinen Ohren! Konnte es sein, dass er jetzt endlich sein Glück gefunden hatte und auch eine Möglichkeit für ein ganz normales Familienleben mit allem Drum und Dran bekam? Wäre es nicht schön, sogar eigene Kinder zu haben und nach einem arbeitsreichen Tag zur eigenen Familie nach Hause zu kommen? Dass er insgeheim davon träumte, war ihm erst klargeworden, als die Verbindung zu Cora enger und enger wurde. Anfangs war es nur ein Spaß für ihn gewesen, mit allen möglichen Frauen zu schreiben und ihnen Komplimente zu machen. Meist war nach einem anfänglichen Strohfeuer alles schnell vorbei. Aber diesmal nicht. Cora war anders, sie war die Frau seiner Träume!

Manuel hatte alle Vorkehrungen für ein perfektes erstes Date getroffen. Sogar an Blumen hatte er gedacht. Noch nie vorher war er in einem Blumenladen gewesen. Die lustlose Verkäuferin schwatzte ihm schlussendlich die teuersten Exemplare auf. Fünfunddreißig Euro blätterte er dafür hin, aber die waren es ihm wert gewesen. Jetzt lag der Strauß auf seinem Wohnzimmertisch, den er bereits heute früh liebevoll gedeckt hatte. Das unschöne Aufeinandertreffen mit seiner Geliebten vor dem Haus war längst vergessen. Er wollte nichts mehr mit ihr zu tun haben und er befand, dass ein sauberer Schnitt das Beste für alle Beteiligten war. Manuel wollte nicht mehr an die Frau denken, die seit zwei Jahren ein kleiner Teil seines Lebens war, den es jetzt nicht mehr gab. Das war vorbei und jetzt wollte er nur nach vorn schauen.

Nervös wartete er auf seinen Besuch. Er ging auf und ab, wobei er immer wieder in den Spiegel sah. Den ersten Eindruck konnte man nicht wiederholen, deshalb musste er perfekt aussehen. Die Friseurin hatte ganze Arbeit geleistet. Mit dem neuen Hemd und der teuren Hose gefiel er sich sogar selbst.

Endlich kam Cora, die noch sehr viel hübscher war, als auf den Fotos. Kuchen und Kaffee standen schon seit Stunden bereit, aber Cora wollte lieber ein Schlückchen Sekt trinken, den sie selbst mitgebracht hatte. Natürlich trank er sehr gerne mit ihr. Der Sekt war warm und schmeckte schal, was ihn aber nicht störte. Ihm war es nur wichtig, dass Cora hier war. Er starrte sie an und konnte nicht glauben, dass sie wirklich bei ihm war. Träumte er?

Cora saß vor ihm und schien jede seiner Bewegungen zu beobachten. Der Typ war überhaupt nicht ihre Kragenweite. Er war viel zu alt und altmodisch für sie, außerdem konnte sie förmlich riechen, dass das ein Langweiler vom Typ Muttersöhnchen war. Es rührte sie zwar, wie sehr er sich bemühte, aber wegen ihm war sie nicht hier. Sie musste stark bleiben und Manuel dazu bringen, den Sekt endlich zu trinken.

Manuel trank. Seine Zunge wurde schwer. So sehr er sich auch bemühte, brachte er kein vernünftiges Wort heraus. Dann versagten die Arme ihre Dienste. Das Sektglas, das er umklammerte, entglitt ihm und fiel auf den dicken, alten Teppich. Manuel lehnte sich zurück und stöhnte. Was war nur los mit ihm? Erst letzte Woche hatte er sich von seinem Hausarzt durchchecken lassen und der bestätigte, dass er kerngesund war. Warum passierte ihm das gerade jetzt? Er fixierte die alte Lampe und versuchte, sich zu konzentrieren. Aber es gelang ihm nicht. Ihm wurde schwindelig und er wurde immer müder. Reiß dich zusammen! Dann sah er Cora an, die ihn nicht aus den Augen ließ. Erst jetzt kapierte er endlich, dass er gelinkt worden war. Noch ein letztes Aufbäumen und er sank in sich zusammen.

„Der Loser ist endlich eingeschlafen“, sprach Cora in ihr Handy, nachdem sie die Kurzwahlnummer gedrückt hatte. Sie stand auf und drückte auf den Öffner der Haustür. Der Mann vor der Tür war mit demselben Zug angekommen, war der Frau gefolgt und hatte wie immer nicht weit entfernt vor dem Haus gewartet.

„Warum suchst du immer solche Trottel für mich aus?“, schimpfte Cora, als sie die Wohnungstür hinter ihm geschlossen hatte.

„Weil die auf dich anspringen und alles für ein Date mit dir machen würden. Diskutieren wir nicht, machen wir uns lieber an die Arbeit.“ Systematisch durchsuchten die beiden Manuels Wohnung. Alles, was sich schnell und problemlos zu Geld machen ließ, wanderte in die mitgebrachte Sporttasche.

„Sieh an, sieh an“, lächelte Bernhard, den alle nur Hardy nannten. In dem Umschlag, den er zwischen den T-Shirts im Kleiderschrank gefunden hatte, befand sich ein dickes Geldscheinbündel. Das waren grob geschätzt etwa fünfhundert Euro, nicht schlecht!

„Der Schmuck ist uralt und potthässlich“, verzog Cora das Gesicht, als sie einige Ketten und Ringe in einer vollgestopften Schublade hervorzog und angeekelt zwischen den Fingern hielt.

„Alter und Aussehen sind völlig egal. Das Zeug bringt viel Kohle, steck den Schmuck ein!“ Hardy erschrak. „Wo sind deine Handschuhe?“

„Davon bekomme ich immer Ausschlag. Außerdem sind diese Latexdinger nicht gut für meine Fingernägel.“

„Und dafür riskierst du, dass du überall Fingerabdrücke hinterlässt? Wie dämlich bist du eigentlich?“ Hardy war sauer.

Widerwillig und demonstrativ umständlich zog Cora die Handschuhe an.

„Vergiss nicht, alles abzuwischen, was du bis jetzt angefasst hast. Du weißt, dass unsere Fingerabdrücke bei der Polizei registriert sind. Ich habe keine Lust, wegen deiner Nachlässigkeit in den Knast zu gehen.“

Cora nahm einen Lappen und wischte lustlos über Gegenstände, mit denen sie in Kontakt gekommen war – allerdings nur die, die in Hardys Blickwinkel waren. Dann hatte sie keine Lust mehr. Sie stand im Wohnzimmer und sah sich die altbackene Einrichtung an. Wie konnte man in diesem Museum leben?

„Was machst du hier? Du sollst nach Wertvollem suchen!“

„Lass uns gehen, bei dem Typen ist nicht mehr zu holen. Sieh dich doch um! Der Kerl ist nicht reich. Außerdem kommt er langsam zu sich. Soll ich ihm noch eine Ladung geben?“

„Das ist nicht nötig. Ich bin ganz deiner Meinung, wir haben genug. Gehen wir!“

Das Pärchen verschwand und freute sich, dass alles glattgelaufen war.

„Lass uns nach Hause fahren“, schlug Cora vor. „Schon allein der hässliche Schmuck reicht für die nächsten Wochen.“

„Seit wann bist du zur Schmuckexpertin geworden? Noch wissen wir nicht, was das ganze Zeug wert ist. Außerdem können wir noch nicht nach Hause fahren. Hast du vergessen, dass du noch ein Date hast? Es gibt einen weiteren Trottel in Mühldorf, der auf dich wartet. Den nehmen wir auch noch aus. Mal sehen, was der alles in seinen Schubladen versteckt hat. Der Zug fährt in einer halben Stunde, das schaffen wir locker.“

„Muss das sein?“ Cora wurde bockig.

„Komm schon, hör auf zu schmollen. Nur noch den Kerl in Mühldorf, dann fahren wir nach Hause. Ich kaufe dir auch etwas Schönes dafür“, sagte Hardy. Er legte seinen Arm um sie, zog sie zu sich und küsste sie. Er wusste, dass sie alles für ihn tun würde, sie war wie Wachs in seinen Händen. Als sie schließlich nachgab, war er sehr stolz auf sich. Wie es ihm gelungen war, dass ihm die hübsche Cora aus der Hand fraß, blieb ihm ein Rätsel – aber es funktionierte. Je länger er mit Cora erfolgreich unterwegs war, desto stolzer war er auf sich und seine Wirkung auf Frauen, der er sich vorher nicht bewusst gewesen war. Wie lange das gutging? Hoffentlich noch sehr lange, denn Cora war ein Glücksgriff, auch wenn ihm ihre einfältige Art manchmal echt auf die Nerven ging. Trotzdem lief die Betrugsmasche mit einsamen, naiven und dankbaren Männern auf den sozialen Plattformen sehr gut. Hardy knüpfte unter Coras Profilen Kontakte zu Männern aus der näheren Umgebung und tauschte sich mit ihnen aus. Wenn er sich sicher war, dass er sie so weit hatte, vereinbarte er Treffen, die alle bei den Opfern zuhause stattfanden. Cora nahm von ihm präparierte Sektflaschen mit. Es war für sie nicht schwer, die leichtgläubigen Männer zum Trinken zu animieren. Sobald die Typen schliefen, durchsuchten sie gemeinsam die Wohnung nach Geld und Wertgegenständen. Konnte man leichter sein Geld verdienen? Drei Jahre hatte er in einer Autowerkstatt geschuftet. Als er wegen unbezahlten Strafzetteln vor Gericht landete, wurde er gefeuert. Einfach so! Mit dem Chef war nicht zu reden, er wollte keinen Kriminellen unter seinen Leuten haben. An einen neuen Job war nach der Verhandlung, bei der er zu einer Bewährungsstrafe verdonnert wurde, nicht zu denken, zumal seine Vorstrafe in der Branche schnell die Runde machte. Er war arbeitslos und niemand wollte ihn haben. Um an Kohle zu kommen, musste ihm etwas einfallen. Nach einer Durststrecke lief ihm Cora über den Weg und seitdem ging es nur noch bergauf. Eines Nachts kam er auf die grandiose Idee, mit Hilfe seiner Cora Männer abzuzocken. Und das lief super! Es gab jede Menge einsame Männer, die man leicht um den Finger wickeln konnte. Nicht mehr lange und er hatte genug Geld zusammen, um sich endlich ein Auto kaufen zu können, denn die Bahnfahrten kotzten ihn an. Aber noch war es nicht so weit, er musste sich gedulden.

Während Cora munter dämliches Zeug plapperte, war er mit den Gedanken längst bei diversen Fahrzeugmarken. An ein Auto würde er sehr viel schneller kommen als gedacht, aber daran hatte er nicht lange Freude, denn das Schicksal nahm seinen Lauf, er konnte es nicht mehr aufhalten.

3.

Drei Wochen später.

„Der sieht nicht gut aus“, sagte der neunundfünfzigjährige Hauptkommissar Hans Hiebler mit Blick auf den Toten, wobei er sich wegen des Gestanks zusätzlich zu seiner Maske die Nase zuhielt. Der Schädel des Opfers war zertrümmert, das Blut hatte sich über den Körper und einen großen Teil der alten Couch ergossen. Die Natur hatte längst damit angefangen, das Opfer langsam aufzulösen. Maden krochen über den Körper, was Hans an einen billigen Horrorfilm erinnerte.

Leo Schwartz kämpfte mit dem Inhalt seines Magens, denn in der Wohnung stank es fürchterlich. Eine Kollegin hatte Mitleid mit dem Fünfundfünfzigjährigen und reichte ihm eine Dose mit einer Paste, die er sich gerne unter die Nase rieb. Sofort ging es ihm besser. An die außergewöhnliche Kleidung des gebürtigen Schwaben hatten sich die Kollegen längst gewöhnt, weshalb niemand etwas zu dem neongrünen T-Shirt mit dem Kopf einer Frau, die niemand kannte, sagte. Allerdings tuschelten einige über den eigentümlichen Mundschutz, denn der glich der Schnauze eines Affen. Leo hatte diesen letzte Woche in München gekauft und fand den Mundschutz sehr lustig, andere rümpften die Nase, denn so etwas gehörte für viele in die Freizeit und nicht zum Job.

„Wie heißt das Opfer?“, wandte sich Leo an Friedrich Fuchs, den Leiter der Spurensicherung.

„Manuel Sosnowski. Zweiunddreißig Jahre alt, ledig, keine Kinder“, brummte Fuchs.

„Wie lange liegt die Leiche schon hier? Wie lange ist die Tat her?“ Leo atmete trotz der Salbe schwer.

„Sicher schon einige Wochen. Wie lange genau erfahren wir nach der Obduktion.“ Fuchs sah nicht auf, sondern machte weiter seine Arbeit. Warum konnten ihn die Kollegen nicht in Ruhe arbeiten lassen und warten, bis der Bericht fertig war? Die Kollegin Struck war als Erste am Tatort und hatte ihn bereits mit Fragen gelöchert, auf die er keine Antwort hatte. Wie auch, wenn er sich die Leiche noch nicht einmal richtig angesehen hatte?

„Lass Fuchs seine Arbeit machen, der ist heute wieder besonders gut gelaunt“, sagte Tatjana Struck, die nach einer Corona-Odyssee in Italien und einer anschließenden Quarantäne endlich wieder zurück war. Leo genoss es, dass alles wieder so war wie vorher und die Aushilfe endlich weg war, denn er mochte keine Veränderungen. „Das ist die Tatwaffe“, zeigte Tatjana auf die kaputte Sektflasche.

„Fingerabdrücke?“

„Das musst du Fuchs fragen.“

„Wer hat die Leiche gefunden?“

„Die Nachbarin von gegenüber hat den Hausmeister informiert. Sie hatte sich über den Gestank beschwert.“

„Dann hat der Hausmeister die Leiche entdeckt und die Polizei informiert?“

„So ist es. Ich habe ihn bereits befragt. Der arme Mann ist völlig fertig, ich habe ihn nach Hause geschickt. Zur Tat selbst kann er nichts sagen, er hat nichts gehört oder gesehen. Er sagte, dass Sosnowski ein ruhiger und angenehmer Mieter war, der nie negativ auffiel. Er hatte die Wohnung seiner Eltern übernommen, nachdem der Vater verstarb und die Mutter kurz darauf ins Pflegeheim kam. Die Rechnungen wurden immer pünktlich gezahlt, es gab nie Beschwerden.“

„Das heißt, dass es noch eine Mutter gibt, der wir die Todesnachricht überbringen müssen?“

„Die Mutter ist laut Aussage des Hausmeisters dement, allerdings gibt es noch eine Schwester. Ihr Name ist Andrea Sosnowski, sie lebt in Burghausen.“

Leo stöhnte. Eine Todesnachricht überbringen zu müssen war der Teil der Arbeit, den er hasste. Aber auch das musste gemacht werden, auch wenn die Wahrheit diesmal besonders grausam war. Eine der beiden, Schwester oder Mutter, mussten den Bruder beziehungsweise den Sohn identifizieren, was noch dazu kam.

Leo und Hans sahen sich in der Wohnung um. Auch sie waren überrascht, dass ein so junger Mann in dieser altbackenen Wohnung lebte. Allerdings gab es nach all den Berufsjahren nicht viel, was sie wirklich schockierte.

„Hier wurde alles durchwühlt“, bemerkte Hans.

„Ja, das sehe ich auch so, auch wenn man sich Mühe gab, es nicht danach aussehen zu lassen. Wurden Fingerabdrücke sichergestellt?“, fragte Leo einen von Fuchs‘ Kollegen.

„Die haben wir. Ob sie vom Opfer oder vom Täter stammen, kann ich noch nicht sagen, dafür müssen Sie die Auswertungen abwarten.“

Leo nickte, damit hatte er gerechnet.

„Laptop? Handy?“

Der Mann schüttelte den Kopf.

„Dann spricht alles für einen Raubmord“, sagte Leo.

„Dazu kann ich nichts sagen“, schnauzte der Mann, der sich angesprochen fühlte.

„Ein richtiges Herzchen“, lachte Hans, „der kommt ganz nach Fuchs. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich darauf wetten, dass die beiden verwandt sind.“

„Wer ist der Typ?“

„Christoph Laubinger. Er ist seit einem knappen halben Jahr bei uns. Bis jetzt ist er nicht aufgefallen, aber ich fürchte, dass sich das noch ändert.“

„Hauptsache, er macht gute Arbeit, alles andere ist mir egal. Sprechen wir mit den Nachbarn, vielleicht haben die etwas gesehen oder gehört.“

Die Befragungen ergaben nichts. Die Nachbarn wollten keinen Ärger und interessierten sich offenbar nicht füreinander, was die Kriminalbeamten nicht überraschte. In diesem Haus war es wie überall - man kannte sich vom Wegsehen. Wenn es Ärger gab, hielt man sich lieber zurück und beschwerte sich anonym, da man es sich nicht mit den anderen verscherzen wollte. Für Leo und Hans unverständlich, wenn nicht sogar feige. Aber was konnte man dagegen machen?

Nach den ergebnislosen und ernüchternden Befragungen fuhren Hans und Leo nach Burghausen. Das Ziel war klar – die Schwester des Opfers, die in dem Burghausener Malerbetrieb Specht arbeitete. Hans kannte das Traditionsunternehmen, das auch in Mühldorf eine Filiale hatte.

„Was macht die Schwester?“, fragte Hans, der den Wagen fuhr. Das machte er oft, denn Leo war kein sicherer Fahrer. Außerdem war er nicht von hier, Hans kannte sich sehr viel besser aus. Leo übergab sehr gerne das Steuer, damit hatte er kein Problem, schließlich musste man nicht alles können.

„Sie arbeitet im Büro“, las Leo von seinem Tablet ab, das er, sowie die Kollegen auch, vor drei Wochen vom Chef überreicht bekam. Anfangs tat er sich sehr schwer damit und lehnte dieses technische Gerät ab, aber der Chef bestand darauf, dass er mit dem Tablet arbeitete. Nachdem er von der jungen Kollegin Diana Nußbaumer eine Einweisung bekam, die beide sehr viel Nerven gekostet hatte, kam er inzwischen erstaunlich gut damit zurecht. Je länger er damit arbeitete, desto mehr mochte er die Vorteile, die sich daraus ergaben – allem voran die viel größeren Buchstaben, mit denen er auf dem Handy mehr und mehr seine Probleme hatte. Viele Menschen in seinem Umfeld bemerkten die zunehmende Sehschwäche, die Leo aber vehement abstritt, er war ja schließlich nicht alt!

„Hast du einen anderen Mundschutz dabei? Mit dem Affenmaul eine Todesnachricht zu überbringen wäre lächerlich.“

„Selbstverständlich! Schließlich weiß ich, was sich gehört.“ Leo zog einen neutralen Mundschutz aus dem Handschuhfach.

„Das glaube ich kaum“, lachte Hans. Er fand den neuen Mundschutz lächerlich und war gespannt darauf, wie der Chef darauf reagierte, wenn er Wind davon bekam.

Die achtunddreißigjährige Andrea Sosnowski saß an ihrem Schreibtisch und war in Unterlagen vertieft. Frau Sosnowski blickte noch nicht einmal auf, als Leo anklopfte, die Tür öffnete und die beiden Kriminalkommissare eintraten. Die Einrichtung war zweckmäßig und sehr kühl. Hier gab es nicht eine Pflanze oder irgendeinen persönlichen Gegenstand, was beiden Polizisten sofort auffiel.

„Frau Sosnowski? Hallo?“, sagte Leo sehr laut, da sie nicht hörte.

„Ja?“

„Wir sind von der Kriminalpolizei Mühldorf. Mein Name ist Schwartz, das ist mein Kollege Hiebler.“ Beide zeigten ihre Ausweise vor.

„Polizei?“ Die Frau blickte auf und sah die beiden herablassend an. „Ich habe wenig Zeit. Was kann ich für Sie tun?“

„Manuel Sosnowski ist Ihr Bruder?“

Sie nickte nur und sah dabei auf ihre Armbanduhr. Dass die Polizei hier war, erschreckte sie nicht, auch das fiel den Kriminalbeamten sofort auf.

„Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihren Bruder tot aufgefunden haben.“

„Das ist tragisch, aber wohl nicht mehr zu ändern. Was wollen Sie von mir?“ Wieder der Blick auf die Uhr, was Leo sehr sauer aufstieß.

„Haben Sie mich eigentlich verstanden?“ Hans hatte die Todesnachricht sehr vorsichtig und mit ruhigem Ton vorgebracht. Warum reagierte sie so? Stand sie womöglich unter Schock?

„Selbstverständlich habe ich jedes Wort verstanden. Mein Bruder ist tot. Ich verstehe nicht, was Sie von mir erwarten. Muss ich jetzt in Tränen ausbrechen oder hysterisch werden?“ Sie lehnte sich zurück und sah Hans in die Augen. Er erschrak, denn von Trauer oder einem Schock war nicht die geringste Spur zu erkennen.