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Der Töginger Alex Zankl hat vor über 6 Jahren einen Mord beobachtet, seitdem wird er unter Druck gesetzt. Er fügt sich und lebt in ständiger Angst. Als sein Kater Luis getötet wird, hat er genug und will sich endlich wehren. Seine Peiniger sollen sterben. Sein erstes Ziel ist ein Mann, der vor seinen Augen in voller Absicht überfahren wird. Der Sterbende gibt Zankl einen Hinweis auf ein Treffen im Wildmann-Hölzl. Aus Neugier geht er dort hin – und wird erneut Zeuge eines Mordes…
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Impressum
Vorwort
Anmerkung
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Bisher im Verlagshaus Wanninger erschienen:
Über die Autorin Irene Dorfner:
Töginger
Mordwelle
Krimi
Irene Dorfner
Copyright c 2024
Verlagshaus Wanninger, Eichenweg 8a, 84556 Kastl
www.verlagshaus-wanninger.de
All rights reserved.
ISBN: 978-3-98738-209-3
Lektorat:
FTD-Script Altotting,
Earl und Maries Heidmann, Spalt
Sabine Thomas, Stralsund
Leo Schwartz hat seinen 49. Fall gelöst!
Auch in diesem Fall gibt es reale Personen, die
„mitgespielt“ haben: Birgit Münds und Babsi Mück.
Da ich selbst nie weiß, was aus diesen Figuren wird, ist das
auch für mich immer sehr spannend.
Vielen Dank euch beiden!!
Vielen Dank auch an Waltraut, Renate und Gerhard, die
mich mit sehr viel Töging‐Wissen unterstützt haben!
Da wir Autoren keine privaten Adressen verwenden
dürfen, bedanke ich mich bei den Familien Vattes und
Mück, dass ich die Adressen mit reinnehmen durfte.
Und allen Tierfreunden kann ich versichern:
der Kater Luis der Familie Vattes lebt!
Irene Dorfner
Die Personen und Namen in diesem Buch sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen
sind rein zufällig.
Auch der Inhalt des Buches ist reine Phantasie der Autorin.
Auch hier sind Ähnlichkeiten rein zufällig.
Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.
Und jetzt geht es auch schon los…
Dienstag, 5.30 Uhr, Töging, Gluckstraße 1
Die Angst hielt ihn auch heute wieder fest umklammert. Die Nacht war beschissen, wie alle anderen Nächte auch. Der siebenundvierzigjährige Alex Zankl konnte nicht schlafen und irrte durchs Haus. Wie immer. Er wusste, dass er unter Beobachtung stand, und das schon seit vielen Jahren. Wie viele Jahre seit damals vergangen waren? Er musste nicht lange nachdenken. Es waren sechs Jahre, vier Monate und zwölf Tage. Seit damals war nichts mehr so wie es war. Er hatte den Mord mit eigenen Augen gesehen. Eine junge Frau wurde erschossen, ihre Leiche wurde in den Inn geworfen. Einfach so, vor seinen Augen. Ja, er hatte nicht nur die Tat, sondern auch den Mörder gesehen, genauso wie dessen beide Handlanger. Und ja, er hatte sich einschüchtern lassen und nahm das Geld, das immer noch in dem Umschlag in der Schublade der Kommode lag. Keinen Cent hatte er angerührt. Das war für ihn schmutziges Geld, das er niemals anrühren würde. Warum er das Geld nahm und mit allem einverstanden war? Weil er Schiss hatte, ganz einfach. Er war noch nie der Mutigste gewesen, aber damals hatte er den Höhepunkt der Jämmerlichkeit erreicht, der nicht mehr abflachte. Seitdem lebte er in ständiger Angst, wagte es nicht, während seiner Freizeit vor die Tür zu gehen oder irgendwelche Kontakte zu pflegen. Er war einsam und vermeintlich sicher, solange er diese schrecklichen Männer nicht provozierte. Und das machte er nicht. Er ging zur Arbeit, erledigte Einkäufe und Arztbesuche. Mehr gab es seitdem nicht mehr, er saß nur noch zuhause. Während die ganze Welt über Corona jammerte, änderte sich dadurch für ihn nichts. Ganz im Gegenteil. Mit der schützenden Maske fühlte er sich sehr viel wohler. Aber damit war es schon lange vorbei, längst hatte der Alltag wieder alles fest umklammert und Corona war Geschichte. Alex Zankl führte ein langweiliges, ängstliches Leben, das keinerlei Ablenkung bot. Bis auf eine Zeugenaussage bei der Polizei wegen eines harmlosen Remplers auf dem Parkplatz eines Supermarktes in der Erhartinger Straße vor zwei Wochen gab es absolut keine Besonderheiten in seinem Leben. Alex verhielt sich ruhig. Und zwar so ruhig, wie es ihm damals eingetrichtert wurde. An die damaligen Schreie, Drohungen und brutalen Schläge konnte er sich auch nach all der Zeit noch sehr gut erinnern. Auch daran, dass in der Nähe eine Frau stand, die auch alles beobachtete. Er hatte noch versucht sie zu warnen, aber sie schien unfähig zu reagieren und blieb einfach stehen. Das konnte er so gut verstehen. Ob es ihr genauso erging wie ihm? Ob auch sie unter Druck gesetzt wurde und genauso litt wie er?
Seit damals hatte sich alles verändert. Hätte er diesen Mord nicht gesehen, könnte er leben wie jeder normale Mensch. Aber das war ihm nicht vergönnt. Tagaus, tagein lebte er in ständiger Angst. Und diese Verbrecher sorgten dafür, dass er seine Angst nicht verlor. In unregelmäßigen Abständen fand er Nachrichten in seinem Briefkasten, vor der Tür und an seinem Wagen. Immer wieder wurde er daran erinnert, sich ruhig zu verhalten und kein Wort über das zu sagen, was damals geschah. Die Drohungen waren unmissverständlich, und er fügte sich. Was sollte er auch anderes tun? Mutig sein und diese Verbrecher der Polizei ausliefern? Das wäre sein Todesurteil, davon war er überzeugt. Dieser einzige Tag, dieser kurze Moment am Inn veränderte sein ganzes Leben, und das vermutlich für immer. Warum er damals am Inn in der Nähe Neuöttings saß? Er ging einfach nur spazieren, wollte den Kopf freimachen von den ungerechten und fiesen Angriffen der hinterfotzigen Kollegen in der Baufirma, in der er seit fünfzehn Jahren in der Buchhaltung arbeitete. Er wollte sich damals nur auf diese Bank am Inn setzen und nachdenken, mehr nicht. Während dieser wenigen Minuten geschah der Mord fast vor seinen Augen. Alex Zankl schüttelte den Kopf, weil er so dumm gewesen war und sich genau zu dem Zeitpunkt dort aufhielt, aber daran konnte er nichts mehr ändern. Seit damals verhielt er sich ruhig und unauffällig und fügte sich - aber jetzt war alles anders. Vor einer halben Stunde hatte sich sein Leben erneut verändert. Was war passiert? Er hatte nichts getan, was diese Männer verärgern könnte. Aber sein einziger Freund war tot. Fassungslos starrte er auf die tote Katze vor seiner Haustür. Luis lebte nicht mehr. Mit Tränen in den Augen kniete er neben dem toten Tier, dessen Augen ihn anzustarren schienen. Vorsichtig hob er den Kopf an, um sich zu vergewissern, ob das auch wirklich sein Luis war. Der Knick im linken Ohr war deutlich zu sehen. Das war sein über alles geliebter Kater, ohne Zweifel. Er wollte ihn aufheben, aber seine Hände zitterten, also ließ er den Kopf wieder los. Dann sah er den Zettel, auf dem das Tier lag. Ganz vorsichtig, als wolle er seinem toten Luis nicht wehtun, zog er den Zettel hervor. Letzte Warnung, das nächste Mal bist du dran! stand darauf. Mehr nicht. Eine Nachricht wie viele vorher, aber zu dieser gab es seinen Kater als Leiche dazu. Das war mehr als eine Drohung. Alex Zankl wusste sehr gut, was mit diesem Satz gemeint war, auch wenn ihm der Grund dafür ein Rätsel war. Er stand auf und sah sich um. Dann entdeckte er einen Mann, der direkt vor seinem Grundstück unter der Laterne stand. Wer das war, konnte man nicht erkennen, aber es war eindeutig ein Mann.
„Was wollt ihr von mir? Ich habe nichts getan!“, schrie Alex aufgebracht in die Stille.
Der Mann sagte nichts darauf. Er sah ihn nur an. Sekunden vergingen, in denen nichts geschah. Und dann machte der Mann eine unmissverständliche Geste. Er hob den Arm und tat so, als würde er mit einer Pistole auf ihn zielen und dann langsam abdrücken. Eine Erklärung gab es nicht.
Alex Zankl nickte, die Warnung war angekommen. Fast genauso wie damals. Aber nur fast, denn diesmal waren diese Leute zu weit gegangen. Sie hatten seinen liebsten Freund getötet – und das durfte er nicht hinnehmen. Zum ersten Mal seit dem Ereignis am Inn spürte er Wut in sich. Er ballte die Hände zu Fäusten, atmete tief ein und beobachtete, wie der Fremde lachend in einen Wagen stieg und wegfuhr. Hier stand Zankl nun. Wütend, hasserfüllt und voller Trauer. Von Angst war nichts mehr zu spüren. Der fremde Mann war längst weg, aber Alex stand immer noch vor seiner Haustür. Alles war ruhig, die Bewohner der Gluckstraße und des angrenzenden Beethovenplatzes schienen noch zu schlafen. Für Zankl nichts Neues. Jeder kümmerte sich nur um sich selbst. Niemand interessierte sich für ihn und seine Probleme. Während sich Alex in Selbstmitleid badete, dachte er nur an seinen kleinen Freund Luis, der ihm vor zwei Jahren zugelaufen war und der seitdem sein bester, sein einziger Freund war. Warum hatte niemand seinem kleinen Liebling geholfen?
Alex holte einen Karton, legte Luis behutsam hinein und begann, unter Tränen im Garten ein Loch zu graben und seinen einzigen Freund zu beerdigen. Er brauchte lange, bis er endlich so weit war und ins Haus ging. Es war kalt geworden, außerdem war es inzwischen hell. Für Anfang November nicht ungewöhnlich. Alex setzte sich an den Küchentisch und weinte. So lange, bis er keine Tränen mehr hatte. Er nahm sein Smartphone und sah sich ein Foto nach dem anderen an. Niemand wusste, dass er Beweise der damaligen Tat besaß, die er sich jetzt nach all den Jahren zum ersten Mal wieder ansah. Jede Sekunde dieser schrecklichen Tat war präsent. Jedes Geräusch und jedes gesprochene Wort. Alles lief wie ein Film vor seinem inneren Auge ab. Ein Bild nach dem anderen sah er sich genau an. Der Mord geschah im Sommer. Er konnte die Vögel hören, das Wasser des Inns rauschte in seinen Ohren. Es war fast so, als säße er wieder dort. Dann erschien ein Foto, das nichts mit der Tat zu tun hatte. Er sah in das vertraute Gesicht des kleinen Luis, der ihm so viel gab und der wegen ihm sterben musste. Alex spürte erneut diese unglaubliche Wut in sich, sehr viel stärker als zuvor. Und dann fasste er einen Entschluss, der ihn selbst überraschte. Er hatte genug von diesem Leben und diesen Leuten. Es war an der Zeit, sich endlich zu wehren und Rache zu nehmen. Luis soll nicht umsonst gestorben sein. Dieser Mord an seinem kleinen Freund war ein Zeichen, da war er sich absolut sicher. Ein Zeichen dafür, sich endlich zusammenzureißen und sein Leben wieder zurückzubekommen. Und nicht nur das. Er wollte endlich ein Leben führen, wie er es sich wünschte. Unabhängig, mutig und frei. Jede Sekunde wollte er in sich aufsaugen und versuchen, das nachzuholen, worauf er verzichtet hatte. Um das zu erreichen, musste er sich wehren, sich seinen Gegnern stellen und sie vernichten.
Entschlossen ging er in den Keller und suchte nach einer bestimmten Schachtel, die er dort vor über zwanzig Jahren deponiert hatte – und zwar nach dem Tod seines Großvaters, der ein glühender Anhänger des Dritten Reichs und der damaligen Ideologie war. Alex teilte die Ansichten des alten Mannes nicht, liebte aber die hitzigen Diskussionen, die ihm besonders in den letzten Jahren der Einsamkeit fehlten. Großvater Adolf war nach dem frühen Tod der Mutter für seine Erziehung verantwortlich gewesen. Er war der einzige, der bereit war, sich um ihn zu kümmern. Während sich alle anderen abwandten und sich mit fadenscheinigen Erklärungen entschuldigten, stellte sich der betagte Mann der Verantwortung.
„Der Bub bleibt bei mir“, bestimmte er und alle anderen schienen erleichtert. Also wuchs Zankl bei ihm auf, in diesem Haus in der Gluckstraße 1. Der alte Mann war hart, aber gerecht. Alex erbte außer dem Haus nicht viel von Opa Adolf, schon gar nicht dessen Ansichten. Aber er erbte eine alte Armeewaffe und jede Menge Munition, die sein Opa von seinem Vater geerbt hatte und die er hegte und pflegte. Schon allein aus Sentimentalität behielt Alex diese Waffe, auch wenn er sich selbst immer als Pazifist bezeichnete. Damit war jetzt Schluss. Wo war diese verdammte Schachtel? Endlich fand er, wonach er suchte. Er hielt die Waffe in Händen, die gut eingefettet in einem Tuch sorgfältig eingewickelt war und an der kaum Spuren der vielen Jahrzehnte zu erkennen waren. Bilder seines Großvaters waren präsent, als er die Waffe wieder zurücklegte. Lächelnd nahm Alex die Schachtel mit nach oben. Dort setzte er sich an den Küchentisch und säuberte die Waffe so, wie es ihm Opa Adolf immer wieder gezeigt hatte. Alex legte die Patronen ein. Ob die noch funktionierten? Das musste er dringend vorher testen, schließlich musste jede Kugel sitzen.
Die alte Waffe glänzte im Schein der Deckenlampe. Wie eine Trophäe hielt Alex sie in Händen und lächelte immer noch. Er war zufrieden mit sich und spürte die Energie, die seinen Körper einnahm. Was für ein herrliches Gefühl. Opa Adolf wäre mächtig stolz auf ihn. Alex blickte nach oben und grüßte den toten Ersatzvater. Ob es so war, dass jetzt, mit Ende Vierzig, die Gene durchkamen? Es war ihm gleichgültig. Man zwang ihn dazu so zu sein, wie er nie werden wollte.
Alex Zankl stand entschlossen auf. Es konnte losgehen.
Alex Zankl lebte nicht ganz so anonym wie er dachte. Die Nachbarin Birgit Münds, die schräg gegenüber wohnte, beobachtete ihn seit vielen Jahren. Die Frau lebte seit ihrer Kindheit in der oberbayerischen Kleinstadt Töging und kannte hier jeden. Als gläubige und praktizierende Katholikin war Nächstenliebe ihre oberste Pflicht, auch wenn die nicht selten in Neugier und aufdringlichen Nachfragen mündete. Trotzdem kümmerte sie sich um ihre Mitmenschen und nahm an deren Leben regen Anteil. Sie gratulierte zu jedem Nachwuchs, machte Krankenbesuche und war selbstverständlich bei jeder Beerdigung anwesend. Und während dieser Gelegenheiten erfuhr sie alle Neuigkeiten, die sie auch gerne weitertrug. Überall verteilte sie ihre kleinen Holzkreuze, die sie extra in der Altöttinger Magdalenenkirche und im Bruder-Konrad-Kloster segnen ließ. Birgit Münds war davon überzeugt, dass die kleinen Kreuze nicht nur Kraft und Schutz boten, sondern auch wertvolle Glücksbringer waren. Dass diese Kreuze oft nur teilnahmslos und widerwillig angenommen wurden und in irgendeiner Schublade oder sogar im Müll landeten, war ihr nicht bewusst. Sie war davon überzeugt, dass man ihre Holzkreuze schätzte und man sich darüber freute. Auch ihre Anteilnahme, Fürsorge und ihr Interesse schienen überall beliebt zu sein. Aber auch in diesem Punkt irrte sich Birgit Münds gewaltig. Wenn man sie irgendwo entdeckte, machte man nicht selten einen großen Bogen um sie. Und es gab nicht wenige, die sie und ihre scharfe Zunge fürchteten. Warum sie das nicht merkte? Sie war zu sehr von sich und ihrer Mission überzeugt, daher kam sie nicht auf die Idee. Birgit war in Töging bekannt und auch gefürchtet, denn wenn sie etwas erfuhr, sah oder ihr im Vertrauen mitgeteilt wurde, musste sie das in Umlauf bringen. Sie war einsam und hatte sonst nichts, mit dem sie ihr Leben füllen konnte, deshalb sah man ihr vieles nach.
Ihren Nachbarn Adolf Zankl kannte Birgit Münds sehr gut. Der alte Mann war ein brummiger Zeitgenosse gewesen, der überall lautstark seine Meinung äußerte und jede Ungerechtigkeit – ob echt oder vermeintlich – sofort im Keim erstickte. Adolf Zankl geriet nicht selten mit seiner Nachbarin in Streit, bis der eines Tages eskalierte und die beiden kein Wort mehr miteinander wechselten. Als der alte Grantler damals den Jungen zu sich nahm, war Birgit Münds erschrocken, so wie viele andere auch. Hinter vorgehaltener Hand wurde viel getratscht, als Nachbarin sorgte Birgit Münds für reichlich Nachschub. Als der alte Zankl davon Wind bekam, stauchte er die Nachbarin gehörig zusammen und drohte ihr damit, ihr nach seinem Tod jede Nacht zu erscheinen und sie nicht mehr in Ruhe zu lassen, wenn sie sich nicht endlich aus seinem Leben und dem seines Enkels raushalten sollte. Auch wenn diese Drohung nicht mit ihrem Glauben vereinbar war, schreckte sie die Vorstellung doch ab. Trotzdem brachte Birgit Münds hinter vorgehaltener Hand das eine oder andere Gerücht in Umlauf, dass sie sich mit ihren Beobachtungen zusammenreimte. Das meiste war völliger Unsinn, aber da niemand direkt mit Adolf Zankl oder gar mit Alex sprach, war das Gegenteil nicht zu beweisen. Man ließ die beiden Zankls in Ruhe. Man beobachtete nur und lästerte, aber irgendwann ließ das Interesse nach und man nahm die Opa-Enkel-Beziehung als gegeben hin. Trotzdem machte man einen riesigen Bogen um die Zankls, was die beiden an den Rand der Töginger Gesellschaft drängte. Birgit Münds verlor das Interesse nicht, auch nicht nach dem Tod des Großvaters. Sie behielt Alex Zankl immer im Auge, die wenigen Gespräche hielten sich in Grenzen. Alex war abweisend und sprach nur das Nötigste mit ihr.
Birgit Münds hatte gemerkt, dass vor gut sechs Jahren irgendetwas passiert sein musste, wodurch sich Alex völlig zurückzog. Er ging kaum noch vor die Tür. Außerdem hatte er einen anderen Gang. Die Schultern hingen immer nach unten, der Kopf war gesenkt. Dass er keinen Besuch bekam, war nichts Neues, aber dass er nicht mehr wegging, war ungewöhnlich. Er verließ das Haus nur für die Arbeit und für Besorgungen, sonst war er immer zuhause. Es schien, als würde sich Alex zurückziehen und eine Last mit sich herumtragen, der er nicht gewachsen war. Birgit gab sich viel Mühe mit Alex, der ihr leidtat. Sie brachte Essen, kleine Geschenke und überhäufte ihn mit guten Wünschen und mit ihren Holzkreuzen, aber Alex öffnete sich ihr gegenüber nicht. Er war nie der Kontaktfreudigste gewesen, aber dieses zurückgezogene Leben war für einen Mann seines Alters nicht normal und nicht gesund. Alex war einsam, das war klar. Was für ein armseliges, einsames Leben. Während sie mit ihren vielen Aufgaben völlig ausgelastet war und oft nicht wusste, wie sie die Termine koordinieren sollte, lebte Alex Zankl ganz allein mit seinem Kater Luis. Birgit Münds fütterte den kleinen Kerl hin und wieder, sie ließ ihn sogar ins Haus. Aber heute Morgen musste sie mit ansehen, wie Alex seinen Kater tot vor der Tür fand. Sie konnte den Schmerz mitfühlen. Doch dann tauchte ein Mann auf, der in dieser Straße nichts zu suchen hatte. Was war das für eine Handbewegung? Birgit erschrak. Das war eine Drohung! Dieser Fremde drohte Alex mit einer vermeintlichen, auf ihn gerichteten Waffe. Und wie reagierte Alex darauf? Der nickte nur. Was war da los? Was lief hier ab?
Birgit Münds entschied, dem Ganzen auf den Grund zu gehen, obwohl wichtige Termine anstanden. Es gab Nachwuchs in der Kirchstraße und zwei alte Damen, die im Krankenhaus lagen, warteten sicher schon auf ihren Besuch. Diese Termine musste sie verschieben, jetzt war Alex an der Reihe.
„Ist das nicht wunderschön? Komm, gib es zu, Leo, es gibt kaum etwas Schöneres“, schwärmte Sabine Schwartz von der schönen Aussicht auf das Tal, das vor ihnen wie ein Teppich ausgebreitet lag. Sie saß mit ihrem Mann Leo wie so oft vor dem umgebauten Bauernhof vor den Toren der oberbayerischen Kleinstadt Altötting. „Der Oktober war schon sehr schön, der November ist bis jetzt auch nicht übel. Die Natur zeigt sich in diesem Herbst von ihrer schönsten Seite. Was haben wir nur für ein Glück.“
„Mmmmmmh“, brummte Leo und trank seinen Kaffee.
„Schau mal! Dort hinten stehen zwei Rehe!“
„Mmmmmmh.“
Schweigen, wie so oft in den letzten Monaten.
„Wann hört das endlich auf, Leo! Ja, du leidest, aber meinst du wirklich, dass dein ganzes Umfeld mitleiden muss? Meinst du nicht, dass es an der Zeit wäre, den Tod deiner Kollegin endlich zu verarbeiten? Es ist Monate her, dass Diana starb…“
„Ich sagte doch, dass ich ihren Namen nicht hören möchte und nicht über ihren Tod sprechen will!“, maulte Leo.
„Das weiß ich, das wissen alle. Trotzdem musst du den Verlust endlich verarbeiten. Warum nimmst du den Vorschlag deines Chefs nicht an und gehst zu dieser Psychologin? Frau Doktor Liebling kann dir sicher helfen.“
„Mit einer Fremden über den Tod einer Kollegin sprechen, die sie überhaupt nicht kannte? Wie soll die mir helfen?“
„Sie kann dich dabei unterstützen, deine Schuldgefühle loszuwerden.“
„Das kann sie nicht! Ich bin schuld an Dianas Tod. Wenn ich sie nicht mit nach Südtirol genommen hätte, wäre sie Esposito nicht über den Weg gelaufen und dann wäre das alles nicht passiert.“
„Das ist doch Schwachsinn! Die beiden wurden erschossen. Erschossen von einem durchgeknallten Verbrecher und nicht von dir. Du kannst nichts dafür! Geh doch bitte zu dieser Psychologin und rede mit ihr.“
Leo sagte nichts dazu, stand auf und ging zu seinem Wagen. Sabine sah ihm hinterher. Ihn aufzuhalten und nochmal mit ihm zu sprechen wäre sinnlos, er würde ihr ja doch nicht zuhören. Wie lange das noch so ging? Sabine verzweifelte so langsam. Leo litt, und sie konnte ihm nicht helfen. Er ließ sich von niemandem helfen und verschanzte sich hinter einer dicken Mauer, durch die niemand durchdrang. Auch die Kollegen, allen voran Hans Hiebler, konnten ihn nicht aufmuntern. Leo hörte auf niemanden.
Dass sich die Situation sehr bald sehr schnell ändern sollte, ahnte sie noch nicht.
Das erste Opfer…
Alex Zankl brauchte keinen Plan, wie er vorgehen musste. Er wusste genau, wohin er zuerst ging und wie er den Mann töten wollte. Einfach zielen und abdrücken – was war daran schwer? Einer der Handlanger des Mörders hatte ihn damals brutal zusammengeschlagen und sich über ihn lustig gemacht. Die höhnischen Worte und das Lachen des ätzenden Mannes waren in seinem Gedächtnis eingebrannt. Dieser Mann war Fabian Lehrmüller. Die Identität dieses Mannes herauszufinden war nicht schwer, denn der war in Töging bekannt wie ein bunter Hund. Ein arbeitsloser Loser, der noch nicht mal dreißig Jahre alt war, bisher aber noch nichts in seinem Leben auf die Beine gestellt hatte. Wovon er lebte? Vermutlich vom Staat und von seinen Verbrechen. Wo er den Mann fand? Das war einfach, denn er wohnte immer noch bei den Eltern. Nicht einmal zur Eigenständigkeit hatte es Fabian geschafft. Ein brutaler Mann, der immer noch am Rockzipfel der Mutter hing. Peinlich. Alle hatten Angst vor Lehrmüller und machten einen großen Bogen um ihn, sobald er irgendwo auftauchte. Alex verzog das Gesicht, als er an die damaligen Schläge dachte. Der Mann war brutal gewesen, er schlug besonders hart zu. Alex hatte sich nicht gewehrt und lag sofort nach dem ersten Schlag am Boden, aber Lehrmüller trat wieder und wieder auf ihn ein. Das Lachen, das er dabei von sich gab, hörte Alex heute noch. Ein schrilles, krankes Lachen, das für ihn nicht normal klang. Alex atmete tief durch. Ja, dieser brutale Mann war der erste auf seiner Liste. Ihn zu finden war für ihn ein Kinderspiel, zumal Lehrmüller auch in Töging lebte und er es bis zu dessen Elternhaus in der Weichselstraße nicht weit hatte, die kurze Strecke konnte er gut zu Fuß bewältigen. Alex Zankl steckte die gereinigte und geladene Waffe in die Tasche seiner spießigen Jacke und lief los. Es war kurz vor Mittag. Alex fühlte sich gut, zum ersten Mal seit Jahren. Er hatte die Waffe gleich heute früh im nahegelegenen Waldstück, im Harter Hölzl, getestet. Sie funktionierte einwandfrei. Sie war zwar sehr laut, aber ihn störte das nicht. Sie musste nur ihren Zweck erfüllen, mehr nicht. Ob ihn jemand bei seinen Schießübungen gesehen oder gehört hatte? Möglich, aber auch das war ihm egal. Er hatte niemanden gesehen und konnte ungehindert nach Hause gehen. Da in den nächsten beiden Stunden niemand vor seiner Tür auftauchte, konnte Alex sicher sein, dass seine Schießübungen tatsächlich unbeobachtet blieben. Es war Zeit für den ersten Schritt. Er musste nur in die Weichselstraße gehen und auf Fabian Lehrmüller warten, um ihn einfach zu erschießen. Mehr musste er nicht tun. Alex war bester Laune, was ihn überraschte. Ob die Nervosität später kam?
Birgit Münds saß am Fenster und wartete. Als Alex Zankl das Haus verließ, war Eile geboten. Sie zog rasch ihren Pelzmantel über, da der als einziger an der Garderobe hing und dort auf seinen Einsatz für eine bevorstehende Beerdigung wartete. Birgit zog das Erbstück nur zu diesen besonderen Anlässen an, da sie den wertenvollen Pelz schonen wollte. Wofür sie ihn hegte und pflegte? Sie hatte keine Kinder, dafür aber eine Nichte. Sie war nicht ihre Nichte im eigentlichen Sinn, sondern die Tochter ihres Neffen, also ihre Großnichte. Aber so genau ging es nicht. Die zwanzigjährige Babsi Mück lebte mit ihren Eltern in Erharting, einem Ort, der nur einen Katzensprung von Töging entfernt war. Die kleine Babsi würde alles von ihr erben, auch diesen wunderschönen Pelzmantel. Bisher zeigte Babsi kein Interesse daran, aber das würde sich irgendwann ändern, schließlich floss dasselbe Blut in ihren Adern. Birgit Münds warf einen kurzen Blick in den Spiegel. Der musste sein, bevor sie das Haus verließ, schließlich legte sie immer großen Wert auf ihr Äußeres. Der hellblaue Pullover mit dem Strass bestickten Lamakopf passte zwar nicht wirklich zu dem edlen Pelzmantel, aber zum Umziehen war keine Zeit mehr. Kurzerhand schloss sie die beiden Haken und war zufrieden. Sie sah für ihre zweiundsiebzig Jahre noch sehr gut aus, was ihr immer wieder von allen Seiten bestätigt wurde. Sie hatte noch fast all ihre Zähne und auch die Haare waren echt – lang, dünn, zu einem Knoten gebunden und inzwischen schneeweiß, aber alle echt. Die Frisur saß, dazu gab es einen Hauch Parfum, auf das sie nie verzichtete. Birgit wurde hektisch. Die Zeit drängte, sie musste sich beeilen. Für feste Schuhe blieb keine Zeit mehr, Alex war schon am Beethovenplatz vorbei, also ging sie in Pantoffeln auf die Straße und lief Alex hinterher, so schnell sie nur konnte. Alex Zankl ging zu Fuß, was unüblich war. Was hatte er vor? Wo wollte er hin? Dass irgendetwas bevorstand, lag für Birgit Münds auf der Hand, denn Alex‘ Körperhaltung war eine andere. Er wirkte entschlossen, was nicht zu ihm passte. Er wird doch keine Dummheiten machen?
Nach knapp zehn Minuten zu Fuß merkte sie, dass die Pantoffeln eine schlechte Wahl waren. Sie waren alt und ausgetreten, zuhause aber sehr bequem. Hier auf dem Asphalt waren sie allerdings eine Katastrophe, denn sie spürte jeden noch so kleinen Stein. Außerdem bekam sie langsam kalte Füße, denn die wärmenden Puschen funktionierten nicht bei der Kälte des Bodens. Sie hätte umkehren können, aber sie entschied, Alex weiter zu folgen, denn sie spürte, dass er irgendetwas vorhatte, das nicht gut war. Aber was hatte er vor? Die Neugier, die immer stärker wurde, trieb sie voran.
Als Alex Zankl in der Weichselstraße ankam, musste er nicht lange nach der richtigen Hausnummer suchen, denn vor dem fraglichen Haus standen einige Einsatzfahrzeuge der Polizei und ein Krankenwagen. Kam er zu spät? Hatte es Lehrmüller bereits erwischt?
Alex wurde nervös und mischte sich unter die Schaulustigen hinter der Absperrung.
Die Gerüchteküche brodelte. Als man Fabian Lehrmüller entdeckte, wie er rauchend vor das Haus trat, verstummten alle. Für viele war klar, dass er etwas verbrochen hatte und dass die Polizei wegen ihm hier war. Aber er wurde nicht abgeführt, die Polizisten gingen sogar freundlich mit ihm um. Was war hier los? Warum dieser Aufwand? Dann fuhr ein Leichenwagen vor. Zwei Männer stiegen aus, holten einen Zinksarg von der Ladefläche und gingen ins Haus. Jetzt war allen klar, dass jemand gestorben war. Aber wer? Als man Fabians Mutter schließlich entdeckte, ging ein Raunen durch die Menschenmenge. Es ging also um den Vater, um Franz Lehrmüller. Der freundliche, gutmütige Mann war überall beliebt, während man die Frau und den Sohn missachtete. Mutter und Sohn waren vom selben Holz geschnitzt. Sie waren faul, unfreundlich, schlampig, brutal und achteten nur auf ihren eigenen Vorteil. Wie Franz Lehrmüller ums Leben kam? Die ersten Gerüchte machten sich breit.
Alex Zankl war das Geschwätz der anderen egal. Ja, ihm war die Familie Lehrmüller und deren Lebensumstände bekannt, aber deshalb war er nicht hier. Ihm ging es nur um Fabian. Dieser Mann hatte ihn brutal getreten und geschlagen, er musste zuerst seine Rache spüren. Ob er der Mann war, der seinen Kater auf dem Gewissen hatte? Möglich, aber Alex glaubte nicht daran, dazu passte dessen Statur nicht. Der Fremde von heute Morgen war viel größer und auch schlanker. Oder täuschte er sich?
Alex wurde immer nervöser. Was sollte er jetzt tun? Er war hier, um Fabian Lehrmüller zu töten, aber hier und jetzt konnte er nichts ausrichten. Enttäuscht gab er sein Vorhaben auf, aber nur vorerst, denn aufgeschoben war nicht aufgehoben. Auch ein Satz, den sein Großvater sehr gerne verwendete. Alex musste geduldig sein und warten. Irgendwann bekam er seine Chance.
Birgit Münds hatte nur Augen für Alex Zankl. Sie konzentrierte sich auf das, was sein Interesse weckte. Ihr war schnell klar, dass es um Fabian Lehrmüller ging. Auf ihn hatte es Alex abgesehen. Aber warum? Was hatte der sanftmütige, ruhige, fleißige Alex mit diesem Verbrecher zu tun?
Dass Birgit Münds hier war, überraschte niemand. Aber dass sie sich nicht für das interessierte, was im Lehrmüller-Haus vor sich ging, war außergewöhnlich. Sie stellte keine Fragen und interessierte sich auch nicht für Informationen, die man ihr auf dem Silbertablett servierte. Aber sie reagierte nicht, sie konzentrierte sich nur auf Alex. Dass sie den Mann im Visier hatte, bemerkte niemand. Von mehreren Seiten wurde Birgit auf ihr seltsames Outfit angesprochen. So schäbig gekleidet sah man sie sonst nie. Man kannte sie nur adrett und jedes Detail perfekt aufeinander abgestimmt, was daher für einiges Gelächter sorgte. Das war ihr jetzt alles egal, sie winkte nur ab und kümmerte sich nicht um das Geschwätz der anderen. Da Birgit auf nichts einging, verlor man schnell das Interesse und beachtete sie nicht weiter. Birgit war fixiert auf Alex, sie durfte sich von nichts und niemand ablenken lassen. Sollte sie Alex aus den Augen verlieren, würde sie sich das nicht verzeihen.
Zwischen den Polizisten im Lehrmüller-Haus befanden sich auch zwei Beamte der Kriminalpolizei, die sich zunächst im Haus umsahen, um sich ein Bild zu machen. Leo Schwartz und Hans Hiebler übernahmen, als die Meldung eines Kollegen reinkam. Sie gingen in diesem Fall so vor wie in allen anderen Fällen auch. Erst nach Sichtung der Räumlichkeiten waren die Bewohner an der Reihe. Helga und Fabian Lehrmüller, Mutter und Sohn, sollten draußen warten, worum Leo ausdrücklich gebeten hatte. Helga Lehrmüller war zwar nicht begeistert davon, dass auch sie gehen musste, aber Leo bestand darauf. Also stand die korpulente Frau unter wüsten Beschimpfungen von dem durchgelegenen Sofa auf, schlüpfte in die alten Pantoffel und schlurfte vor die Tür.
„Die hat ja die Ruhe weg“, schüttelte der zweiundsechzigjährige Hans Hiebler den Kopf. „Die liegt seelenruhig auf der Couch, während der Gatte tot in seinem Bett liegt. Wahnsinn.“ Hans erwartete keine Antwort. Er hatte es aufgegeben, Leo zu drängen und ließ ihm den Raum, den er brauchte. Hans zog Handschuhe an und machte sich an die Arbeit. Leo tat es ihm gleich, auch wenn ihm die Arbeit seit diesem schrecklichen Vorfall in Südtirol nicht nur sehr schwer fiel, sondern auch immer weniger Spaß machte. Der Gedanke, den Job aufzugeben und nochmal etwas Neues anzufangen, gefiel ihm mehr und mehr. Er war zwar inzwischen 60 Jahre alt, aber warum sollte er nicht nochmal ganz von vorn anfangen? Auf keinen Fall etwas mit Polizei und Verbrechen, das war klar. Was er stattdessen machen wollte? Er hatte keine Ahnung.
Lustlos, begleitet mit einigem Stöhnen, fing er an, alles zu durchsuchen. Anfangs ging er routinemäßig vor, aber in der Küche blieb er plötzlich stehen und stutzte. Er stand einfach nur da und sah sich um. Hier stimmte etwas nicht. Aber was war es? Leo versuchte zu verstehen, was ihm nicht passte. Was war es, was ihm missfiel? Plötzlich war das Desinteresse wie weggeblasen. Akribisch sah er sich ein Detail nach dem anderen an, wobei er sich sicher war, dass er irgendwann das fand, wonach er suchte. Minuten vergingen, in denen er scheinbar nur untätig dastand.
„Was ist los?“, fragte Hans, nachdem er aus der oberen Etage zurück war und Leo lange beobachtet hatte.
„Fällt dir nichts auf?“
„Nein. Was soll mir auffallen?“
Wieder herrschte Schweigen. Leo hatte noch nicht herausgefunden, was ihn störte. Hans kannte das und dränge Leo nicht. Aber er nutzte die Zeit auch, um sich selbst umzusehen.
„Das Geschirr und die Spüle“, sagte Leo in die Stille.
Hans sah sich alles genauer an, da er nicht wusste, worauf Leo hinauswollte. Dann nickte er.
„Ich verstehe. Die Spüle ist einigermaßen sauber, während der Rest schmuddelig aussieht.“ Hans drückte auf den versifften Spülschwamm. „Er ist nass, aber das Geschirr wurde nicht gespült.“
„Ja, das meine ich, aber das allein ist es nicht.“ Wieder herrschte lange Stillschweigen. „Sieh dir die Ecke dort an. Da stapeln sich Kartonagen, Leergut und Glasflaschen, der Mülleimer ist aber leer.“
Hans nickte. Er hätte das nicht bemerkt, zumal die Ecke völlig zugemüllt war.
Leo öffnete den Geschirrspüler.
„Der lief schon lange nicht mehr“, sagte er und zeigte auf das völlig verdreckte Sieb, das dazu auch fürchterlich stank. „Und trotzdem steht dort ein einzelnes Glas.“ Leo nahm es in die Hand und hielt es ins Licht. „Wassertropfen. Es wurde kürzlich erst benutzt, wenn es nicht sogar abgespült wurde. Entweder ist eine der Personen pingelig sauber, oder die Familie Lehrmüller hatte Besuch, der keine Spuren hinterlassen wollte.“
Hans nickte und lächelte, Leo hatte offenbar seinen Spürsinn wieder. Ihm war auch nicht entgangen, dass dieser ekelhaft jämmerliche Unterton, mit dem Leo seit Monaten sprach, komplett verschwunden war.
„Ich rufe Fuchs an, der soll sich das genauer ansehen“, reagierte Hans. Er beobachtete Leo, wie der sich alles nochmals genauer ansah. Kam sein Freund und Kollege endlich wieder aus seinem Schneckenhaus?
„Mutter und Sohn nehmen wir mit“, bestimmte Leo, als er das Glas in einen Beutel steckte.
„Hast du die Gaffer vor dem Haus nicht gesehen? Das sind Nachbarn, Freunde, Bewohner. Vor all den Leuten willst du die beiden mitnehmen? Wie sieht das denn aus?“
„Das ist mir egal. Wenn die beiden mit dem Tod nichts zu tun haben und nichts zu verbergen haben, sind sie spätestens heute Abend wieder draußen. Wenn nicht, sperren wir sie direkt ein. Nicht, dass nochmal so ein Fehler wie mit Diana passiert.“
Hans war einverstanden, auch wenn er das etwas überzogen fand. Dass der Staatsanwalt damals einen Verdächtigen laufenließ, der dann die Kollegin Diana Nußbaumer und deren Verlobten erschoss, war eine Tragödie, die niemand vorausahnen und verhindern konnte. Ob Leo jetzt bei allen Verdächtigen auf Nummer Sicher gehen wollte? Hoffentlich nicht, denn dafür war die Mühldorfer Polizeiinspektion mit den beiden Arrestzellen nicht ausgerüstet. Hans beobachtete seinen Freund und Kollegen. Täuschte er sich, oder fand Leo tatsächlich wieder zur alten Form zurück? Brauchte es dazu wirklich nur einen Fall, der sein Interesse weckte? War die Lösung so einfach?
Fabian Lehrmüller stieg in das Fahrzeug, maulte zwar, fügte sich aber. Seine Mutter Helga schrie und zeterte, wobei sie es nicht lassen konnte, die Polizisten und auch die Schaulustigen anzuschreien und zu beleidigen. Die Wortwahl und Ausdrucksweise der Frau war unterste Schublade. Anfangs amüsierte man sich über die ätzende Frau, aber als sie dann sehr beleidigend wurde, ärgerten sich nicht wenige über die widerliche Helga Lehrmüller, von der man zwar einiges gewohnt war, aber diese Beleidigungen gingen dann doch zu weit. Schnell machten Mordgerüchte die Runde, denn für viele war es möglich, dass die Frau ihren Mann eiskalt umgebracht hatte.
„Das war doch nur eine Frage der Zeit, dass die den umbringt“, meinte eine Frau, die extra aus der Dortmunder Straße gekommen war, um sich das Spektakel anzusehen. „Der Franz hätte dieses Miststück niemals heiraten dürfen. So ein netter Mann und dieser Drachen – das konnte nicht gutgehen. Und dann der widerliche Sohn, der ganz nach seiner Mutter kommt. Der arme Mo.“ Andere Passanten stimmten mit ein. Dass das Ehepaar Lehrmüller seit gut dreißig Jahren verheiratet war, interessierte momentan niemanden.
Alex Zankl war das Geschwätz gleichgültig. Auch die Verdächtigungen und alten Geschichten waren ihm egal. Für ihn zählte nur, dass Fabian Lehrmüller von der Polizei mitgenommen wurde und er ihn deshalb nicht töten konnte. Alex umklammerte wütend den Griff seiner Waffe. Was sollte er jetzt tun? Er musste sich etwas einfallen lassen, denn so schnell wollte er nicht aufgeben. Er rannte zurück zur Gluckstraße. Er brauchte seinen Wagen, um damit zur Polizei zu fahren. Er durfte diesen Drecksack nicht entkommen lassen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, den Mann zu töten, später hatte er vielleicht nicht mehr den Mut dafür. Entschlossen lief er los.
Die inzwischen humpelnde Birgit Münds kam kaum hinterher. Sie interessierte sich nicht für die Umstände der Familie Lehrmüller, ihr Interesse galt einzig ihrem Nachbarn Alex, für den sie sich mehr denn je verantwortlich fühlte, denn sie spürte, dass Unheil drohte.
„Was ist denn mit dir los, Birgit? Wie siehst du denn aus?“, rief eine Frau, die mit ihrem Wagen neben ihr stehenblieb.
„Das geht dich nichts an, kümmere dich um deinen eigenen Mist!“, fauchte Birgit, die die neugierige Rosemarie nicht leiden konnte.
„Was ist denn los? Warum bist du so biestig? So kenne ich dich ja gar nicht. Warst du schon im Krankenhaus?“
„Nein“, war die knappe Antwort.
„Und bei unserem neuen Erdenbürger? Ich habe den kleinen Moritz schon gesehen. Ein strammer Kerl, kann ich dir sagen.“
„Ich hab jetzt keine Zeit!“, rief Birgit verärgert.
„Was ist denn heute los mit dir?“ Rosemarie sah sie von oben bis unten an. „Warum trägst du den Pelzmantel? Du gehst doch nicht zur Beerdigung.“
Birgit Münds winkte nur ab.
„Du weißt schon, dass du Pantoffel anhast?“, gab Rosemarie nicht auf. „Pelzmantel und Pantoffel passen nicht zusammen, und dazu noch dieser bunte Pullover. Ich mache mir ernsthaft Sorgen. Wirst du dement, Birgit? Soll ich dich zum Arzt fahren?“
„Lass mich endlich in Ruhe“, schrie Birgit und humpelte weiter. So eine Unfreundlichkeit war sonst nicht ihre Art. Sie ärgerte sich darüber und nahm sich vor, sich bei Gelegenheit bei Rosemarie zu entschuldigen. Ein Stück Torte und alles war vergessen, mehr brauchte es bei der Frau nicht. Zum Glück war die neugierige Matz verschwunden. Birgit bog in den Beethovenplatz ein und registrierte gerade noch, dass Alex in seinen Wagen stieg. Sie versuchte, schneller zu humpeln und gab ein komisches Bild ab. Immer mehr Vorhänge und Fenster wurden geöffnet, was Birgit sehr wohl registrierte. Aber auch das war ihr jetzt egal. Alex fuhr aus der Einfahrt, jetzt war noch mehr Eile geboten. Birgit rannte fast, strauchelte, konnte sich aber gerade noch an dem Altglas-Container des Beethovenplatztes festhalten. Obwohl einer ihrer Pantoffel gelitten hatte und vorn jetzt ein Loch aufwies, ging sie unvermittelt weiter und erreichte endlich ihren Wagen. Sie stieg ein und fuhr ohne Rücksicht zu nehmen einfach aus der Einfahrt. Wäre ein Auto gekommen, ein Radfahrer oder gar ein Fußgänger, hätte es ein schreckliches Unglück gegeben. Aber niemand kam, die Straße war frei. Sie gab Gas. Alex bog am Ende der Gluckstraße nach links, mehr wusste sie nicht. Sie fuhr von der Schubertstraße in die Mozartstraße. Dort stand sie unschlüssig, wie sie sich entscheiden sollte. Nach rechts zu den Tennisplätzen und damit zum Harter Hölzl, oder nach links in den Harter Weg Richtung Innenstadt? Birgit entschied sich für Letzteres. Wo war Alex? Sie hielt unentwegt Ausschau nach dem dunklen Kleinwagen, aber hier wimmelte es nur von ähnlichen Fahrzeugen. Warum sahen die alle gleich aus? Nach der 50er-Zone wurde wegen der Comenius-Schule auf 30 km/h begrenzt, worauf Birgit aber jetzt keine Rücksicht nehmen konnte. Die Kinder waren alle in der Schule, sie gefährdete also niemanden. Sie brauste auf die Ampel zu und konnte ihr Glück kaum fassen. Zwei Fahrzeuge vor ihr stand Alex und blinkte nach rechts. Immer noch in Pelzmantel und ihren ausgelatschten, jetzt auch lädierten Pantoffeln klebte Birgit fast am Lenkrad und hatte nur Augen für Alex‘ Auto, an dem sie dranbleiben musste. Er fuhr nach Mühldorf, dort ging es kreuz und quer. Wo wollte er hin? Dann verstand sie und war überrascht und erleichtert zugleich: Alex fuhr direkt zur Polizei. Aber dort stieg er nicht aus, er saß in seinem Wagen und schien zu warten. Worauf? Wollte er jemanden abholen? Eine Aussage machen und traute sich nicht? Birgit entschied, ebenfalls zu warten. Da sie jetzt schwitzte, schälte sie sich mühsam aus ihrem Pelzmantel, den sie unter größter Sorgfalt auf dem Beifahrersitz zusammenlegte. Jetzt fühlte sich Birgit sehr viel wohler. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und war gespannt darauf, was jetzt passierte. Aber alles war ruhig. Alex blieb in seinem Wagen und wartete. Auf was?
Dann überschlugen sich die Ereignisse.
Inzwischen im Verhörraum 1 der Mühldorfer Kriminalpolizei…
Die Befragungen waren mühsam. Fabian Lehrmüller war aufmüpfig und frech, außerdem wurde deutlich, dass ihm der Tod seines Vaters nicht wirklich naheging. Er ließ sich sogar zu Beschimpfungen hinreißen, die teilweise sogar unter die Gürtellinie gingen. Leo und Hans waren nicht überrascht von dem Verhalten, schließlich hatten sie schon Schlimmeres erlebt. Da Fabian sich schlussendlich gesprächsbereit zeigte, glaubhaft versicherte, dass er mit dem Glas in der Spüle und auch mit dem Müll nichts zu tun hatte und auch sonst auf alle Fragen antwortete, wurde er entlassen.
„Sie können gehen. Sie verreisen nicht und halten sich zu unserer Verfügung“, sagte Hans.
„Logo. Ganz, wie Sie wünschen, Herr Wachtelmeister“, lachte Fabian laut über seinen flachen Witz. „Was ist mit meiner Mutter?“
„Sie wird gleich nach Ihnen befragt. Wenn sie kooperativ ist, kann sie schnell wieder gehen. Wenn nicht, kann das dauern.“
„Dann stellen Sie sich schon mal auf eine komplizierte Vernehmung ein. Meine Mutter kann ein Biest sein, wenn sie schlecht gelaunt ist. Und ich fürchte, sie ist sehr schlecht gelaunt. Normalerweise sieht sie sich jetzt eine ihrer Lieblings-Fernsehserien an, die sie nie verpasst, unter keinen Umständen.“ Lehrmüller lachte laut, er schien trotz der Umstände bester Laune zu sein. „Ich gehe nach Hause, sagen Sie ihr das.“
Fabian Lehrmüller sollte Recht behalten. Seine Mutter fluchte, schimpfte und warf mit Beleidigungen nur so um sich. Dass die in Beamtenbeleidigungen mündeten, war ihr völlig gleichgültig. Leo und Hans blieben trotz allem ruhig, was beiden nicht leicht fiel.
„Jetzt beruhigen Sie sich endlich, Frau Lehrmüller. Wir untersuchen die Todesumstände Ihres Mannes, was auch in Ihrem Interesse sein sollte. Wir wollen doch nur…“
„Ihr wollt Mörder aus mir und meinem Buben machen, das wollt ihr! Aber nicht mit mir, ihr windigen Bürschal! Mein Franz ist einfach so gestorben, dass das klar ist! Mit seinem Tod habe ich nichts zu tun und mein Bub schon gleich gar nicht. Ihr wisst schon, dass man auch normal sterben kann? Das passiert jeden Tag auf der ganzen Welt. Ihr müsst doch nicht aus allem immer einen Mordfall machen! Ihr tut ja grad so, als wären alle normalen Bürger Verbrecher. Aus mir macht ihr keine Mörderin, das lasse ich nicht mit mir machen und aus meinem Sohn auch nicht! Was ist mit meinem Bub? Wo ist er?“
„Ihr Sohn hat kooperiert und durfte wieder gehen, ihm können wir nichts nachweisen“, sagte Hans, dem die Frau mächtig auf die Nerven ging. Schon allein ihre schrille Stimmlage bereitete ihm Kopfschmerzen.
„Natürlich könnt ihr ihm nichts nachweisen, er hat ja nichts getan! Hört ihr mir eigentlich zu? Sitzt ihr auf den Ohren? – Moment! Wenn mein Bub gehen darf, wieso darf ich dann nicht gehen?“
„Wenn Sie sich zusammenreißen und unsere Fragen beantworten würden, wären Sie vielleicht schon längst zuhause. Aber Sie sind stur und bockig, was das hier unnötig in die Länge zieht!“ Leo war lauter als geplant, aber auch ihn nervte die Frau gewaltig.
„Ich bin stur und bockig? Sie beleidigen mich und sehen mir dabei auch noch frech ins Gesicht?“
„Das macht mir keinen Spaß, das können Sie mir glauben“, murmelte Leo leise.
Helga Lehrmüller hatte aber jedes Wort verstanden und wurde noch wütender. Sie bekam einen Tobsuchtsanfall, wobei sie sich immer mehr in Rage redete. Dann spuckte sie Leo ins Gesicht. Der nahm sein T-Shirt und wischte den Schnodder angeekelt weg. Ohne ein weiteres Wort stand er auf und rief einen Kollegen in den Vernehmungsraum.
„Nehmen Sie die Frau mit.“
„Ich darf gehen? Das wurde ja auch Zeit! Ich hätte Sie früher anspucken sollen, dann wäre das hier sehr viel schneller vorbei gewesen.“ Noch triumphierte Helga Lehrmüller. Erst, als ihr Handschellen angelegt wurden, verstand sie. „Sie sperren mich weg? Das können Sie doch nicht machen! Ich habe nichts getan!“
„Sie haben uns keine Chance gegeben, anders zu reagieren. Der Kollege bringt Sie in eine Zelle, wo Sie sich beruhigen können. Vielleicht finden wir später eine Möglichkeit, nochmal ganz von vorn anzufangen. Ob das allerdings heute noch passiert, ist fraglich.“
„Ich muss die Nacht hier verbringen? Das können Sie nicht machen!“
„Doch, das können wir.“ Leo gab dem Kollegen ein Zeichen, die Frau endlich weg zu bringen. Angewidert ging Leo zu seinem Spind und entnahm daraus ein frisches T-Shirt, das einen weißen Totenkopf auf schwarzem Grund zeigte. Wann er das hier deponiert hatte? Leo konnte sich nicht mehr daran erinnern, aber das musste schon Monate her sein. Dass das von seinem Chef nicht gern gesehen wurde, konnte er jetzt nicht ändern, er hatte kein anderes Ersatz-T-Shirt. Nachdem er sich gewaschen hatte, zog er das T-Shirt mit dem Totenkopf an, das angesaute Shirt wusch er im Waschbecken und hing es zum Trocknen über einen Stuhl, der neben der Tür stand.
Auf dem Parkplatz vor der Polizeiinspektion saßen immer noch Alex Zankl und Birgit Münds. Beide sahen den Mann, der aus dem Polizeigebäude spazierte: Fabian Lehrmüller.
Alex Zankl ließ den verhassten Mann nicht aus den Augen. Der brutale Schläger stand vor dem Gebäude und telefonierte. Das Gespräch verlief augenscheinlich nicht sehr gut. Fabian Lehrmüller gestikulierte, wurde wütend, schrie, dann legte er auf und wählte erneut. Das jetzige Gespräch verlief sehr viel besser, jetzt lachte er sogar. Nach dem Telefonat ging er nicht, sondern blieb einfach stehen. Alex umklammerte das Lenkrad seines Wagens. Die Polizei ließ diesen Verbrecher also gehen, das war interessant. Offenbar hatte er nichts mit dem Tod seines Vaters zu tun. Wo war die Mutter? Von der war weit und breit nichts zu sehen.
Alex brannte innerlich vor Wut, als er den verhassten Mann lachen sah. Unbekümmert stand er einfach nur da. Noch lachte Lehrmüller, aber bald würde er nichts mehr zu lachen haben. Alex wurde nervös. Was sollte er machen? Wie sollte er den Mann töten? Mit der rechten Hand griff er in die Jackentasche und umklammerte den Griff der alten Schusswaffe. Nein, hier direkt vor der Polizei konnte er ihn nicht erschießen, das war Wahnsinn. Alex Zankl war völlig durcheinander.
Birgit Münds hatte keine Ahnung von dem, was in Alex vorging und welchen Plan er verfolgte. Der junge Lehrmüller, der Sohn der verhassten Helga, stand wartend vor der Polizei. Birgit schüttelte den Kopf, als sie an Helga dachte. Was war nur aus ihr geworden? Früher stand für die beliebte Helga die ganze Welt offen. Sie war das hübscheste Mädl in der ganzen Schule. Die Mädchen wollten mit ihr befreundet sein, die Jungs waren alle verliebt in sie. Als wäre das nicht genug, glänzte sie mit guten Noten, was sie unter den Lehrern zur Lieblingsschülerin machte. Überall war die Helga willkommen und beliebt, ihr schien echt die Sonne aus dem Arsch. Nach der Schule wollte Helga ins Ausland und dort ein soziales Jahr machen, worum sie alle beneideten. Aber daraus wurde nichts. Helga ging nicht ins Ausland. Sie lernte einen Mann kennen, dem sie nach München folgte. Nach sechs Jahren kam sie zurück und von dem einstigen Glanz, der Helga umgab, war nichts mehr übrig. Helga trank und wirkte verwahrlost, außerdem war sie derb und ätzend jedem gegenüber, der ihr dumm kam. Dass der Franz sie zur Frau nahm, überraschte alle. Der Franz war zwar gutmütig, hilfsbereit und beliebt, aber auch einfältig und schien kein Rückgrat zu haben. Und er hatte Geld. Äcker und Wiesen, die er geerbt hatte, wurden zu Bauland. Das Geld floss in Strömen, was Helga wahrscheinlich beeindruckte und in ihrer Entscheidung, den Franz zu heiraten, bestärkte. Das viele Geld zerrann in den Händen der Familie Lehrmüller wie nichts, schließlich blieb nur noch das alte Elternhaus in der Weichselstraße, in dem die Familie heute lebte. In Töging war bekannt, dass die Familie – inklusive des nichtsnutzigen Sohnes – vom Staat lebte, was aber niemanden überraschte. Birgit sprach seit vielen Jahren nicht mehr mit Helga, die beiden gingen sich aus dem Weg. Birgit war die einstige Schulfreundin zu derb und unter ihrem Niveau, und Helga wollte mit der bigottischen, nervigen, neugierigen Birgit nichts zu tun haben. Die beiden mieden sich erfolgreich. Birgit verstand nicht, was der anständige Alex Zankl mit dem Verbrecher Fabian Lehrmüller zu tun hatte. Ob sie es jemals herausfand?
Nach wenigen Minuten näherte sich ein Fahrzeug der gehobeneren Klasse, auf das Fabian Lehrmüller winkend zuging. Alex wurde nervös. Wenn Fabian weg war, konnte er ihn nicht mehr töten. Was sollte er jetzt tun? Aussteigen und ihn doch einfach erschießen? Vor der Polizei?
Dann aber geschah etwas, mit dem niemand rechnete. Die Luxuskarre gab unvermittelt Vollgas und fuhr direkt auf Lehrmüller zu. Fabian stand einfach nur da, unfähig, irgendwie zu reagieren. Der Aufprall war heftig und erschreckte Alex Zankl und auch Birgit Münds. Fabian flog im hohen Bogen über das Auto und knallte mit voller Wucht auf den Asphalt. Der Wagen blieb stehen. Der Fahrer stieg aus, nahm etwas an sich, stieg wieder ein und fuhr einfach davon.
Es stand außer Frage, dass das Absicht war. Obwohl Alex seinem Erzfeind Lehrmüller selbst den Tod wünschte und kurz davor war, ihn zu erschießen, war er von dem, was er mit ansehen musste, sehr erschrocken. Er stieg aus und lief zu dem Verletzten. Ob der das überhaupt überlebt hatte? Fabian Lehrmüller sah schrecklich aus. Er war blutüberströmt und sah Alex direkt an. Der schien ihn zu erkennen, zumindest hatte Alex den Eindruck. Lehrmüller röchelte.
„Bleib ruhig, ich rufe den Notarzt“, sagte Alex.
Lehrmüller griff seinen Arm und sah ihn an.
„Bank, zwanzig Uhr“, röchelte Lehrmüller.
„Welche Bank?“
Alex bemerkte die Polizisten, die durch den Aufprall aufgeschreckt nach draußen liefen und auf sie zukamen.
„Wildmo-Hölzer.“ Mehr konnte Fabian Lehrmüller nicht sagen.
Alex verstand nicht, was gerade geschah. Wie schwer war Lehrmüller verletzt? Starb er sogar? Dass das nicht gut aussah, war Alex klar.
Die Polizisten stellten Fragen, wobei einer die Hand des Verletzten von Alex‘ Arm trennte. Alex konnte nicht antworten. Er war geschockt und sah den Polizisten einfach nur an.
„Gehen Sie da rüber, wir übernehmen“, sagte der Polizist und schob Alex zur Seite. „Später werden wir Ihre Aussage aufnehmen. Sie warten dort. Haben Sie mich verstanden?“
Jetzt kam Alex zu sich. Der Polizist wollte seine Aussage. Wie sollte er erklären, was er hier wollte? Panik stieg in ihm auf.
„Ich habe nichts gesehen, ich kam nur zufällig vorbei“, log Alex und stand auf. Er sah zu, wie die Polizisten dem Verletzten eine Frage nach der anderen stellten, aber Lehrmüller antwortete nicht mehr. Fabian Lehrmüller sah Alex noch ein einziges Mal an, dann schloss er die Augen und der Kopf kippte zur Seite. Sofort wurden Reanimationsmaßnahmen eingeleitet, die aber keine Wirkung zeigten.
Die schreckliche Wahrheit erreichte auch Alex, der nicht fassen konnte, dass Fabian Lehrmüller tatsächlich tot war.