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Diplomarbeit aus dem Jahr 2006 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,0, Technische Hochschule Köln, ehem. Fachhochschule Köln, Sprache: Deutsch, Abstract: Sowohl in meinem privaten als auch in meinem beruflichen Umfeld hatte und habe ich immer wieder mit Erwachsenen und Kindern zu tun, die von Trennung und Scheidung betroffen sind. Sie zeigten ganz unterschiedliche Reaktionen und Verhaltensweisen, waren wütend, traurig, kampfeslustig oder auch resigniert, doch eines hatten sie alle gemeinsam: Trennung und Scheidung stellten für sie eine große Belastung dar, die lange Zeit anhielt und sich stark auf ihr gesamtes Leben auswirkte. Als Außenstehende empfand ich es oft als schwierig, wirklich nachzuvollziehen, was in den Betroffenen vorging. Ich fragte mich, was genau eigentlich passiert, wenn Familien zerbrechen und die ehemaligen Partner eigene Wege gehen. Dies warf sofort die nächste Frage auf: Worüber spreche ich eigentlich, wenn von Familie die Rede ist? Die meisten Menschen in Deutschland werden in eine Familie hineingeboren, wachsen in dieser auf und meinen daher ganz genau zu wissen, was eine Familie ist. Sobald jedoch mehrere Menschen anfangen, miteinander über dieses Thema zu sprechen, wird schnell klar: Die Vorstellungen sind sehr individuell und können ganz erheblich voneinander abweichen. Was also ist eine Familie und wie hat sich die ‚moderne Familie’ entwickelt? Welchen aktuellen Veränderungen ist sie unterworfen? Welche Anforderungen und Erwartungen der Familienmitglieder an die Familie gibt es? Und welchen Erwartungen der Gesellschaft soll Familie gerecht werden? Kann sie das alles leisten? Mit diesen Fragen werde ich mich im ersten Teil meiner Arbeit beschäftigen. Im zweiten Teil gehe ich darauf ein, was passiert, wenn das Zusammenleben in der Familie nicht (mehr) gelingt: Wie laufen die Trennungs- und Scheidungsprozesse ab? Welche Auswirkungen haben Trennung und Scheidung sowohl auf die Erwachsenen als auch auf die Kinder? Wie kann eine Reorganisation der Familie gelingen? Gibt es Gemeinsamkeiten, die bei den meisten Familien zu beobachten sind, oder laufen die Prozesse ausschließlich individuell ab? Im dritten Teil meiner Arbeit stehen die Unterstützungsangebote für Familien in Trennungs- und Scheidungsprozessen im Mittelpunkt. Ich stelle verschiedene Unterstützungsangebote vor und beschäftige mich sowohl mit den Chancen und Möglichkeiten als auch mit den Grenzen von Unterstützungsangeboten.
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„Als meine Kinder noch klein waren,
hab ich immer ein Spiel mit ihnen gespielt.
Ich habe jedem einen Stock in die Hand gedrückt.
Jedem einen.
Und dann hab ich gesagt, sie sollten ihn durchbrechen.
Natürlich ging das ganz leicht.
Dann sagte ich, sie sollten die Stöcke zu einem Bündel zusammenschnüren und das versuchen durchzubrechen.
Was natürlich nicht ging.
Dann sagte ich, dieses Bündel, das ist die Familie.“
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
I FAMILIE
1 Annäherung an den Begriff ‚Familie’
1.1 Familienbegriffe
1.2 Annäherung an den in dieser Arbeit verwendeten Familienbegriff
2 Familie und Ehe im Wandel
3 Kennzeichen des aktuellen Wandels
3.1 Wandel der Einstellung zur Ehe
3.2 Veränderte Erwartungen an Familie
3.3 Steigende Pluralität der Familienformen und Individualisierung
3.4 Zeitliche Veränderungen der Lebens- und Familienzyklen
3.5 Veränderung der Rollen von Vater und Mutter
3.6 Kindheit und Rolle des Kindes im Wandel
4 Familie und Gewalt
4.1 Annäherung an den Begriff ‚Gewalt’
4.2 Physische Gewalt
4.3 Weitere Gewaltformen
II TRENNUNG UND SCHEIDUNG
1 Veränderte Sichtweise auf Trennung und Scheidung
2 Trennungs- und Scheidungsursachen
2.1 Wertwandel in der Sinnzuschreibung an Ehe und Partnerschaft
2.2 Abnahme traditioneller Rollenvorgaben
2.3 Veränderung der Partnerbeziehung nach Übergang zur Elternschaft
3 Trennungs- und Scheidungszyklus
3.1 Vorscheidungsphase
3.1.2 Entscheidungskonflikte
3.2 Scheidungsphase
3.3 Nachscheidungsphase
4 Günstige und ungünstige Trennungs- und Scheidungsverläufe
4.1 Schutz- und Risikofaktoren für die Kinder
4.2 Was Kinder sich von ihren getrennten Eltern wünschen
4.3 Schutz- und Risikofaktoren für die Erwachsenen
4.4 Zusammenspiel von Schutz- und Risikofaktoren
III UNTERSTÜTZUNGSANGEBOTE BEI TRENNUNG UND SCHEIDUNG
1 Unterstützung durch soziale Netzwerke
1.1 Unterstützung durch verwandtschaftliche Netzwerke
1.2 Unterstützung durch Selbsthilfegruppen
2 Unterstützung durch professionelle Angebote
2.1 Beratungsangebote allgemein
2.2 Scheidungsberatung
2.3 Mediation
2.4 Gruppenintervention für Kinder aus Trennungs- und Scheidungsfamilien
3 Möglichkeiten und Grenzen von Unterstützungsangeboten
IV EMPIRISCHER TEIL:INTERVIEWS MIT BETROFFENEN
1 Vorüberlegungen und methodisches Vorgehen
2 Auswertung der Interviews
2.1 Beginn der Beziehung bzw. Familiengründung
2.2 Vorscheidungsphase
2.3 Scheidungsphase
2.4 Nachscheidungsphase / heute
2.5 Möglichkeiten und Grenzen von Unterstützungsangeboten
3 Ausblick
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
Anhang
Anhang A
Anhang B
Anhang C
Anhang D
Anhang E
Anhang F
Anhang G
Anhang H
Anhang I
Anhang J
Anhang K
Anhang L
Anhang M
Anhang N
Anhang O
Anhang P
Anhang Q
Literatur
Sowohl in meinem privaten als auch in meinem beruflichen Umfeld hatte und habe ich immer wieder mit Erwachsenen und Kindern zu tun, die von Trennung und Scheidung betroffen sind. Sie zeigten ganz unterschiedliche Reaktionen und Verhaltensweisen, waren wütend, traurig, kampfeslustig oder auch resigniert, doch eines hatten sie alle gemeinsam: Trennung und Scheidung stellten für sie eine große Belastung dar, die lange Zeit anhielt und sich stark auf ihr gesamtes Leben auswirkte.
Als Außenstehende empfand ich es oft als schwierig, wirklich nachzuvollziehen, was in den Betroffenen vorging. Ich fragte mich, was genau eigentlich passiert, wenn Familien zerbrechen und die ehemaligen Partner eigene Wege gehen. Dies warf sofort die nächste Frage auf: Worüber spreche ich eigentlich, wenn von Familie die Rede ist?
Die meisten Menschen in Deutschland werden in eine Familie hineingeboren, wachsen in dieser auf und meinen daher ganz genau zu wissen, was eine Familie ist. Sobald jedoch mehrere Menschen anfangen, miteinander über dieses Thema zu sprechen, wird schnell klar: Die Vorstellungen sind sehr individuell und können ganz erheblich voneinander abweichen.
Was also ist eine Familie und wie hat sich die ‚moderne Familie’ entwickelt? Welchen aktuellen Veränderungen ist sie unterworfen? Welche Anforderungen und Erwartungen der Familienmitglieder an die Familie gibt es? Und welchen Erwartungen der Gesellschaft soll Familie gerecht werden? Kann sie das alles leisten? Mit diesen Fragen werde ich mich im ersten Teil meiner Arbeit beschäftigen.
Im zweiten Teil gehe ich darauf ein, was passiert, wenn das Zusammenleben in der Familie nicht (mehr) gelingt: Wie laufen die Trennungs- und Scheidungsprozesse ab? Welche Auswirkungen haben Trennung und Scheidung sowohl auf die Erwachsenen als auch auf die Kinder? Wie kann eine Reorganisation der Familie gelingen? Gibt es Gemeinsamkeiten, die bei den meisten Familien zu beobachten sind, oder laufen die Prozesse ausschließlich individuell ab?
Im dritten Teil meiner Arbeit stehen die Unterstützungsangebote für Familien in Trennungs- und Scheidungsprozessen im Mittelpunkt. Ich stelle verschiedene Unterstützungsangebote vor und beschäftige mich sowohl mit den Chancen undMöglichkeiten als auch mit den Grenzen von Unterstützungsangeboten.
Um die in den ersten drei Teilen der Arbeit gewonnenen theoretischen Erkenntnisse mit Leben zu füllen, habe ich drei Interviews mit Betroffenen geführt, die ich im vierten Teil meiner Arbeit auswerte. Dabei folge ich thematisch dem Trennungs- und Scheidungszyklus und beschäftige mich abschließend mit den Möglichkeiten und Grenzen von Unterstützungsangeboten. Ich gebe Aussagen meiner Interviewpartner zu den jeweiligen Themenbereichen zunächst wörtlich wieder und verknüpfe sie dann mit Ergebnissen aus dem Theorieteil.
In meiner Arbeit beziehe ich mich auf die Situation von Familien in Deutschland und beschäftige mich dabei sowohl mit verheirateten als auch mit unverheirateten Paaren mit Kindern. Auf die Trennungs- und Scheidungsprozesse bei Paaren ohne Kinder sowie bei gleichgeschlechtlichen Paaren mit Kindern gehe ich nicht gesondert ein.
Was ist eine Familie? Was macht sie aus und wer gehört alles dazu? Welche Werte gelten? Welche ‚Spielregeln’ und Traditionen regeln das Zusammenleben? Was ist tabu? Werden diese Fragen gestellt, hat jeder sofort ein Bild vor Augen und Antworten parat. Doch ‚Familie’ ist kein statisches Gebilde und nicht zu allen Zeiten und rund um die Welt gleich beschaffen, sondern sehr lebendig und unterschiedlich. Jeder empfindet sein eigenes Bild als ‚normal’, davon abweichende Modelle werden oft als sehr fremd und ‚unnormal’ erlebt. Wie das subjektive Bild von Familie aussieht, hängt stark von sozialen und kulturellen Entwicklungen, vom ‚Zeitgeist’ und von den individuellen Erfahrungen ab.
„Die Familie (familia domestica communis, die gemeine Hausfamilie) kommt in Mitteleuropa wild vor und verharrt gewöhnlich in diesem Zustande. Sie besteht aus einer Ansammlung vieler Menschen verschiedenen Geschlechts, die ihre Hauptaufgabe darin erblicken, ihre Nasen in deine Angelegenheiten zu stecken. Wenn die Familie größeren Umfang erreicht hat, nennt man sie ‚Verwandtschaft’“ (Tucholsky, 1985, S. 307).
Es gibt keine einheitliche, allgemeingültige und anerkannte Definition, die all den Facetten und Spielarten von ‚Familie’ gerecht wird. Jeder Definitionsversuch ist geprägt von der Einstellung und dem Blickwinkel des Menschen, der ihn unternimmt. Tucholsky liefert mit seiner Definition von Familie - die natürlich keinerlei wissenschaftlichen Ansprüchen gerecht wird und dies sicherlich auch nicht will - ein sehr schönes Beispiel dafür. Jeder Definitionsversuch gibt nur einen Ausschnitt wieder und kann sich an den Begriff Familie allenfalls annähern. Um zu zeigen, wie vielfältig sie sein können, habe ich exemplarisch einige Familienbegriffe ausgewählt, die ein Spektrum verschiedener Blickwinkel und Ansichten widerspiegeln.
Bei vielen Familienbegriffen liegt der Schwerpunkt auf dem Vorhandensein von Kindern, vor allem bei den älteren wird oft eine Ehe der Eltern vorausgesetzt. Im 1. Familienbericht von 1968 wird unter Familie „eine Gruppe verstanden, in der ein Ehepaar mit seinen Kindern zusammenlebt. Diese reine Eltern-Kinder-Gemeinschaft (‚Kernfamilie') stellt eine soziale Gruppe besonderer Art dar, gekennzeichnet durch eine biologisch-soziale Doppelnatur und eine in anderen sozialen Gruppen in diesem Umfang nicht anzutreffende ‚Totalität' der sozialen Beziehungen" (Bundesminister für Familie und Jugend, 1968, S. 7).
Die Ehe als Grundlage für eine Familie hat im Laufe der Jahre an Bedeutung verloren, der Blick auf die Kinder bleibt jedoch: „In sehr enger Abgrenzung wird als Familie eine Mutter mit ihrem Kind bezeichnet, ein Vater mit seinem Kind sowie – normalerweise – Mutter, Vater und Kind oder Kinder. Dieser Begriff setzt nicht das Bestehen einer legalen Ehe voraus […]. Auch nicht verheiratete Partner und alleinstehende Mütter mit Kindern sind Formen von Familie“ (Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen des Bundesfamilienministeriums, 1984, S. 27).
In der selben Quelle ist auch eine sehr weite Fassung des Begriffs Familie zu finden: „Familie kann in einer sehr weiten Abgrenzung die Gruppe von Menschen bezeichnen, die miteinander verwandt, verheiratet oder verschwägert sind, gleichgültig, ob sie zusammen oder getrennt leben, ob die einzelnen Mitglieder noch leben oder – bereits verstorben – ein Glied in der Entstehung von Familie sind. Familie kann unabhängig von räumlicher und zeitlicher Zusammengehörigkeit als Folge von Generationen angesehen werden, die biologisch und rechtlich miteinander verbunden sind“ (ebd., S. 27).
Dieser Familienbegriff ist so weit gefasst, dass er schwammig wirkt. Allerdings macht er unmissverständlich klar, dass jeder Mensch ein ‚Familienmensch’ und mit zahlreichen anderen Menschen dauerhaft verbunden ist, selbst wenn er keinen Kontakt zu seinen Familienangehörigen hat. Jeder Mensch ist von einem anderen Menschen geboren worden und tritt durch seine Geburt in ein Netzwerk ein, das er nicht auslöschen kann.
Es gibt viele Familienbegriffe, die sich zwischen dem sehr engen Verständnis von Familie als ‚Kernfamilie’ und der sehr weit gefächerten Auffassung von Zugehörigkeit über mehrere Generationen bewegen. Für Rolff und Zimmermann ist „eine Familie eine Verbindung, in der Eltern oder ein Elternteil mit ihren bzw. seinen Kindern zusammenleben, zumeist in einer Haushaltsgemeinschaft“ (Rolff/Zimmermann, 1997, S. 19). Dabei werden Drei-Generationen-Familien von Eltern-Familien und Ein-Eltern-Familien unterschieden. Eine Ein-Eltern-Familie kann eine Vater- oder Mutter-Familie sein (vgl. ebd., S. 19).
Im 11. Kinder- und Jugendbericht wird Familie verstanden als „Lebensform von Personensorgeberechtigten mit Kind oder Kindern“ (BMFSFJ, 2002, S. 122). Dieses Verständnis umfasst verschiedene mögliche Spielarten von Familie, von der Kleinfamilie über Alleinerziehende, homosexuelle Paare mit Kindern und Patchworkfamilien bis hin zu Mehrgenerationenhaushalten. Auch hier ist das Vorhandensein von Kindern für die Konstituierung der Familie ausschlaggebend.
Petzold und Nickel betonen, dass „der Begriff Familie nur dann sinnvoll ist, wenn ein Spannungsfeldvon wenigstens zwei Generationen vorliegt. Dieses Kriterium bezieht sowohl Familien mit Kindern ein, als auch Familien, in denen ältere Menschen von der nachfolgenden Generation versorgt werden. Ob dieses Zusammenleben durch die rechtliche Form der Ehe festgeschrieben ist oder nicht, spielt dabei aus psychologischer Sicht im Hinblick auf die Definition als Familie keine Rolle“ (Petzold/Nickel, 1989, S. 243; Hervorhebungen auch im Original).
Nave-Herz benennt drei Merkmale, die ‚Familie’ ausmachen und durch die sie sich von allen anderen Lebensformen in sozialen Gemeinschaften unterscheidet (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 15):
‚Familie’ ist durch eine biologisch-soziale Doppelnatur gekennzeichnet, da sie Reproduktions- und Sozialisationsfunktionen übernimmt. Weitere Funktionen sind kulturabhängig.
Darüber hinaus zeichnet sich ‚Familie’ durch ein besonderes Kooperations- und Solidaritätsverhältnis aus, das über die gängigen Gruppenmerkmale wie z. B. ‚gemeinsames Ziel’ und ‚Wir-Gefühl’ hinausgeht. Dies zeigt sich in dem Umstand, dass ‚Familie’ „in allen Gesellschaften […] eine ganz spezifische Rollenstruktur mit nur für sie geltenden Rollendefinitionen und Bezeichnungen (z. B. Va-ter/Mutter/Tochter/Sohn/Schwester usw.) zugewiesen“ (ebd., S. 15) wird. Wie viele Rollen es gibt und mit welchen Erwartungen diese verknüpft sind, ist abhängig von der vorherrschenden Kultur.
Das dritte Merkmal von ‚Familie’ ist die Generationsdifferenzierung. Die Geschlechtsdifferenzierung, z. B. in Form eines Ehesubsystems, darf hingegen nicht als grundlegendes Kriterium gelten, da „es zu allen Zeiten und in allen Kulturen auch Familien gab (und gibt), die nie auf einem Ehesubsystem beruht haben oder deren Ehesubsystem im Laufe der Familienbiographie durch Rollenausfall, infolge von Tod, Trennung oder Scheidung, entfallen ist. Damit bilden alleinerziehende Mütter und Väter sowie Nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern auch Familiensysteme“ (ebd., S. 15).
Nach Bertram kann es keinen einfachen und allgemeingültigen Familienbegriff geben, da die möglichen Personenkonstellationen zu komplex und vielfältig sind. Darüber hinaus sind viele der gängigen Familienbegriffe auf einen gemeinsamen Haushalt konzentriert, erfassen die außerhalb lebenden und dennoch zur Familie gehörenden Personen nicht als Familienmitglieder und beschreiben infolgedessen immer nur Teile der Familienstruktur.
Bertram wählt daher einen netzwerkorientierten Blick: Um ‚Familie’ zu erfassen, stellt er nicht die gemeinsame Wohn- oder Haushaltsform in den Mittelpunkt, sondern konzentriert sich auf die Netzwerke sozialer Beziehungen, in die Menschen eingebunden sind, und auf die gelebten Beziehungen zwischen ihnen. Er geht von dem Konstrukt des Familienetzes aus, denn „Familie lebt durch Handlungen, die von ihren Mitgliedern gemeinsam vollzogen werden. Diese Mitglieder können, aber müssen nicht im gleichen Haushalt leben. Familienmitglieder sind meist Verwandte, müssen es aber nicht sein. Aus der Sicht der Befragten sind jedoch nicht alle, die zur Familie gehören könnten, auch tatsächlich Mitglieder ihrer Familie. Andererseits werden Personen zur eigenen Familie gerechnet, die nach dem allgemeinen Verständnis nicht dazu gehören“ (Bertram, 1991, S. 43).Das Familiennetz vermittelt ein umfassendes Bild, da es den Familienraum des jeweils in den Mittelpunkt der Untersuchung gestellten Menschen annähernd komplett abbildet (vgl. ebd., S. 43).
Im weiteren Verlauf meiner Arbeit wird der Schwerpunkt auf Eltern und ihren Kindern liegen, die aufgrund von Trennung und Scheidung nicht mehr alle zusammen in einem gemeinsamen Haushalt leben. Dennoch gehört auch der nicht mehr bei den Kindern lebende Elternteil oft weiterhin zumindest zur Familie der Kinder. Dies schließt für mich alle Familienbegriffe aus, die sich hauptsächlich auf eine gemeinsame Haushaltsform konzentrieren. Ich werde mich im Folgenden an den Familienbegriffen von Bertram und Nave-Herz orientieren, da sie sich meiner Meinung nach gut ergänzen.
Bertram stellt bei seinem Modell des Familiennetzes die gelebte Beziehung zwischen den Menschen sowie deren subjektive Wahrnehmung von Familie in den Mittelpunkt seiner Betrachtungsweise. Die von ihm beschriebene Familie ist von außen nicht ohne weiteres als solche zu identifizieren, eben da sie auf subjektiven Wahrnehmungen und Empfindungen beruht, und kann von dem nach außen sichtbaren ‚Familienbild’ abweichen. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit, dass Menschen nicht – oder nicht mehr - als zur Familie gehörig empfunden werden, obwohl sie biologisch mit Familienmitgliedern verwandt sind. Darüber hinaus können Familienmitglieder derselben Familie voneinander abweichende Vorstellungen davon haben, wer zu ‚ihrer’ Familie gehört und wer nicht. Nave-Herz nennt objektive Merkmale, die es ermöglichen, von außen zu erfassen, ob es sich bei einer sozialen Gemeinschaft um eine Familie handelt oder nicht.
Beide Sichtweisen sind mir wichtig: Unter einer Familie verstehe ich in dieser Arbeit eine soziale Gemeinschaft, die sich durch die drei von Nave-Herz genannten Merkmale - biologisch-soziale Doppelnatur, besonderes Kooperations- und Solidaritätsverhältnis mit spezifischer Rollenstruktur und Generationsdifferenzierung – auszeichnet, und deren Mitglieder gemeinsam in einem Haushalt leben können aber nicht müssen. Um der Komplexität – und auch der Lebendigkeit – von ‚Familie’ gerecht zu werden, behalte ich im Blick, dass Menschen eine subjektive Wahrnehmung von ihrer Familie haben, welche sich nicht vollständig mit der von außen erkennbaren Familienstruktur decken muss und die für jedes Familienmitglied etwas anders aussehen kann.
Die Begriffe ‚Ehe’ und ‚Familie’ werden oft in einem Atemzug genannt und sind so eng miteinander verknüpft, dass sie eine Einheit zu bilden scheinen. Von vielen Menschen werden sie auch heute noch als Einheit wahrgenommen, doch es findet zunehmend eine Entkoppelung statt: ‚Familie’ ist nun auch denk- und lebbar, ohne dass sie zwangsläufig auf eine Ehe gegründet sein muss. Auch die Vorstellungen davon, was eine Ehe ausmacht und welche Funktionen sie erfüllen soll, haben sich stark gewandelt.
Noch vor 200 Jahren dominierte in Deutschland ein ökonomisch-rechtliches Ehemodell. Die Ehe diente zur Absicherung und Weitergabe von Besitz. Familienrechtliche Fragen wurden im Rahmen des Eigentumsrechts geregelt (vgl. Fthenakis, 2004, S. 145). Eine Ehe durfte nur geschlossen werden, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt waren, daher war vielen Menschen niederen Standes eine Eheschließung nicht möglich: Es fehlte ihnen an Besitz, an Mitgift oder an einem Beruf.
Kamen Ehen zustande, wurden sie unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten geschlossen und hatten zum Ziel, den Hausstand zu erhalten und zu vergrößern. Ausschlaggebend für die Wahl des Partners waren Stand, Zunft und Besitz, Gefühle spielten bei diesen Überlegungen kaum eine Rolle (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 17).
In der zu dieser Zeit agrarisch und handwerklich orientierten Gesellschaft waren Arbeit und Familie in der Institution des ‚ganzen Hauses’ unter einem Dach vereint, alle Mitglieder der Hausgemeinschaft zählten zur Familie. Familienzugehörigkeit war also nicht zwingend an Blutsverwandtschaft gekoppelt, sondern über die Zugehörigkeit zum ‚ganzen Haus’ definiert und schloss auch die Mägde, Knechte und Lehrlinge mit ein (vgl. Fthenakis, 2004, S. 139). Diese wirtschaftliche Gemeinschaft wurde vom Hausherrn geleitet und dominiert. Seine Macht war von Größe und ökonomischer Bedeutung des Hauses abhängig. Die ehelichen Verbindungen erwiesen sich meist als sehr stabil und tragfähig, was sich sowohl auf die starke soziale Kontrolle im Familienverband als auch auf das gemeinsame Interesse an Erhalt und Ausbau der Wirtschaftsgemeinschaft zurückführen lässt (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 17).
Während der Industrialisierung, die in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzte, kristallisierte sich eine Trennung von Arbeit und Familie heraus. Im Verlauf des gesellschaftlichen Wandels wurde das ökonomisch-rechtliche Ehemodell von einem institutionell-rechtlichen Ehemodell abgelöst: Die Motivation zur Ehe bestand jetzt nicht mehr darin, Besitz zu mehren und weiterzugeben, sondern es wurde nun die Gründung einer Familie angestrebt (vgl. Fthenakis, 2004, S. 145). Ehe und Elternschaft wurden eng miteinander verknüpft und die Kinder bekamen einen sozial-normativen Wert zugeschrieben: (eheliche) Kinder zu haben, führte zu einem Statusgewinn in der Gesellschaft. Sie fungierten als Träger des Familiennamens sowie als Wahrer von Familienbesitz, -stand und -tradition (vgl. ebd., S. 150).
Im Zuge der Trennung von Arbeit und Familie kam es innerhalb der Familie zu einer Spezialisierung der Rollen: Während der Mann einer Erwerbsarbeit außerhalb des Hauses nachging, blieb die Frau zu Hause. Sie hatte nun nicht mehr die Rolle der Wirtschaftsleiterin im ‚ganzen Haus’ und somit der Arbeitsgefährtin des Mannes, sondern wurde zur ‚Hausfrau’, die sich um die Kinder und den Haushalt kümmerte (vgl. Petzold, 1999, S. 6f). Ihr Lebenszusammenhang erfuhr eine Einschränkung, da sich ihr neuer Zuständigkeitsbereich ausschließlich auf den häuslichen Bereich bezog, der sich zum privaten familialen Binnenraum entwickelte. Der Mann wurde zum Ernährer der Familie und gewann so Autorität über Frau und Kinder, die von seiner Arbeitskraft abhängig waren. Eine patriarchalische Binnenstruktur der Familie entstand (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 18).
Ehen wurden nun immer weniger unter Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit geschlossen, Gefühle spielten zunehmend eine Rolle und der Faktor ‚Liebe’ gewann an Einfluss (vgl. Petzold, 1999, S. 8). Es kam zu einer Emotionalisierung und Intimisierung sowohl der Ehe als auch der Eltern-Kind-Beziehung (vgl. Fthenakis, 2004, S. 139). Die Partnerwahl wurde jedoch nach wie vor stark durch die Eltern, den Staat, die Kirche und andere bestimmt, die rechtliche und soziale Kontrolle war groß und die Scheidungsrate entsprechend gering (vgl. ebd., S. 145).
Eine weitere Folge des gesellschaftlichen Wandels war die allmähliche Befreiung von standesrechtlichen Beschränkungen. Nach und nach wurde es allen Erwachsenen möglich, eine Ehe einzugehen (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 19).
Der Wandel vom ‚ganzen Haus’ zur ‚privaten Familie’ ging mit der Entstehung des bürgerlichen Familienideals einher, welches auf dem neu entstandenen familialen Binnenraum basierte. Es war gekennzeichnet durch die Ideologie einer ‚glücklichen Familie’, bestehend aus einer ‚liebevollen Ehefrau’, ‚gehorsamen Kindern’ und einem Ehemann, der als ‚Ernährer’ fungierte. Das bürgerliche Familienideal durchdrang im 19. Jahrhundert alle Klassen und Schichten und wurde zum Vorläufer der traditionellen Kleinfamilie[1], die das 20. Jahrhundert prägte (vgl. Rolff/Zimmermann, 1997, S. 18).
In den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg, angesichts der krisenhaften Zeiten und des Umbruchs, besannen sich die Menschen verstärkt auf die Familie. Es waren nun nicht mehr vorrangig ökonomische oder sozial-normative Faktoren für die Familiengründung entscheidend, vielmehr waren psychologische Gründe ausschlaggebend. Das Kind hatte nun die Aufgabe, seinen Eltern Freude zu bereiten und ihrem Leben (wieder) einen Sinn zu geben. Ein kindzentriertes Ehemodell etablierte sich (vgl. Fthenakis, 2004, S. 145).
Die starke Familienorientierung wurde auch in einem veränderten Freizeitverhalten deutlich: Vor dem zweiten Weltkrieg wurde Freizeit hauptsächlich dazu genutzt, um sich in Gruppen zu integrieren und zu engagieren, z. B. in einer Kirchengemeinde, der Nachbarschaft oder in Gleichaltrigengruppen. Nach dem zweiten Weltkrieg, besonders Ende der 1950er und in den 1960er Jahren, wurde sie zunehmend als Möglichkeit wahrgenommen, um sich in den familialen Binnenraum zurückzuziehen und die Freizeit gemeinsam mit den Familienangehörigen zu verbringen. Heute erscheint uns die Funktion der Familie, gemeinsam Freizeit zu gestalten, vielfach bereits als selbstverständlich (vgl. Nave-Herz, 2002, S.90).
Die traditionelle Kleinfamilie, bestehend aus einem verheirateten Paar, das mit seinen gemeinsamen Kindern in einer selbständigen Haushaltsgemeinschaft zusammenlebt, erlebte seine Blütezeit von Mitte der 1950er Jahre bis Mitte der 1960er Jahre. In dieser Zeit dominierte sie alle anderen Modelle des familialen Zusammenlebens und stellte eine „kulturelle Selbstverständlichkeit“ (Peuckert, 2004, S. 20) dar, die von den meisten Menschen auch ganz selbstverständlich und unhinterfragt gelebt wurde (vgl. ebd., S. 20).
Seit den 1960er Jahren jedoch sind Veränderungen sowohl in der Familienstruktur als auch in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern und zwischen den Partnern festzustellen. Zahlreiche Kennzeichen deuten auf einen erneuten tiefgreifenden Wandel von ‚Familie’ hin (vgl. Fthenakis, 2004, S. 140).
3.1.1 Gesellschaftliche Veränderungen zeigen Einstellungswandel an
Die Einstellung der Menschen zur Ehe verändert sich. So ist z. B. zu beobachten, dass ein auf Partnerschaft angelegtes Modell in Konkurrenz zu den bisherigen Ehemodellen tritt und zunehmend an Einfluss gewinnt.
Die Überlegung, ein Kind bekommen zu wollen, scheint bei vielen Menschen nicht mehr ausschlaggebend für die Wahl eines Partners oder eine Eheschließung überhaupt zu sein. Stattdessen wird eine qualitativ hochwertige Beziehung angestrebt, von der sich die Partner eine „Maximierung des individuellen Glücks“ (Fthenakis, 2004, S. 146) erhoffen. Die Parameter dieser auf Dauer angelegten Beziehung werden direkt zwischen den Partnern ausgehandelt. Diese Form des Zusammenlebens entzieht sich dadurch der sozialen Kontrolle wie kein anderes Modell zuvor, es ist weniger institutionalisiert und daher auch leichter aufzulösen als die bisherigen Modelle (vgl. ebd., S. 146).
Auch an weiteren Punkten wird ein Einstellungswandel deutlich:
Immer mehr Menschen leben allein. Der Anteil der Einpersonenhaushalte in Westdeutschland stieg in den Jahren 1972 bis 2000 um 10,3 Prozent. Im Jahr 2000 waren ca. ein Drittel aller Haushalte in Deutschland Einpersonenhaushalte (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 48f). Doch wenn Menschen alleine leben, bedeutet dies nicht zwingend auch das Fehlen einer intimen Partnerschaft: Die Lebensform ‚Living-apart-together’, bei der Paare in getrennten Haushalten leben, scheint vor allem für junge Leute und Geschiedene besonders attraktiv zu sein. Es gibt bisher keine aussagekräftigen Untersuchungen in diesem Bereich, doch wahrscheinlich wird ‚Living-apart-together’ überwiegend in solchen Fällen gewählt, in denen nicht Eltern- sondern Partnerschaft die zentrale Motivation für die Beziehung darstellt (vgl. Fthenakis, 2004, S. 141).
Bis in die 1970er Jahre hinein gab es eine Entwicklung hin zu Eheschließungen in immer jüngeren Jahren, seither hat sich der Alterstrend jedoch umgekehrt (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 63): 1989 schlossen Frauen in Ostdeutschland im Mittel im Alter von 23,7 Jahren ihre erste Ehe, im Jahr 2000 waren sie bei diesem Schritt im Durchschnitt bereits 28 Jahre alt. In Westdeutschland gaben die Frauen im Jahr 2000 im Mittel im Alter von 28,5 Jahren ihr Ja-Wort, die westdeutschen Männer waren bei ihrer Erstheirat im Schnitt 31,3 Jahre alt (vgl. ebd., S. 66).
Die Menschen heiraten nicht nur immer später, es ist auch ein deutlicher Rückgang der Erstheiratshäufigkeit festzustellen. Im Zeitraum von 1991 bis 1999 stieg in Deutschland die Anzahl lediger Männer im Alter von 40 bis 44 Jahren von 12,1 Prozent auf 18,2 Prozent. Bei den gleichaltrigen Frauen erhöhte sich die Quote von 6,8 Prozent auf 10,8 Prozent und bei fünf Jahre jüngeren Männern und Frauen ist ein noch stärkerer Anstieg zu beobachten.
Dies lässt darauf schließen, dass die Anzahl der Menschen, die langfristig oder auch dauerhaft ledig bleiben werden, weiter zunehmen wird (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 67). Wie viele der ledigen Menschen auch partnerlos sind, ist aus den Daten nicht ersichtlich. Aus der Entwicklung der Anzahl von Nichtehelichen Lebensgemeinschaften wird jedoch geschlossen, dass lediglich „ein Teil des sinkenden Erstheiratsumfangs […] durch die Zunahme unverheirateter Paare ‚kompensiert’“ (ebd., S. 68) wird.
Die Anzahl der Nichtehelichen Lebensgemeinschaften hat sich im Zeitraum von 1972 bis 2000 in Westdeutschland fast verzwölffacht. Im Jahr 2000 lebten in Deutschland insgesamt ca. 2,1 Millionen unverheiratete Paare in einem gemeinsamen Haushalt zusammen, in knapp einem Drittel der Haushalte zusammen mit einem Kind oder Kindern.
Viele Paare durchlaufen vor der Eheschließung eine Phase, in der sie unverheiratet zusammenleben. Doch die Nichteheliche Lebensgemeinschaft ist nicht nur als Vorphase zur Ehe zu verstehen. Sie hat sich als eigene Lebensphase etabliert, kann viele Jahre andauern und mündet nicht zwangsläufig in eine Ehe. Besonders beliebt ist diese Lebensform bei kinderlosen Paaren und in der Altersgruppe der 25- bis 34-jährigen (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 44f). Es besteht eine enge Verknüpfung zwischen Elternschaft und Eheschließung. Mit der Geburt eines Kindes werden daher viele Nichteheliche Lebensgemeinschaften zu Ehen umgewandelt (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 19).
Immer mehr Ehen werden nicht durch den Tod eines Ehepartners sondern durch Scheidung beendet (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 80). Auf diesen Aspekt gehe ich in Teil II der Arbeit näher ein.
Die Anzahl der Alleinerziehenden[2] nimmt zu. Im Jahr 2000 gab es in Deutschland 1,77 Millionen Alleinerziehende, wovon 85,5 Prozent Mütter waren. Seit 1975 ist die Zahl der Alleinerziehenden um ca. 50 Prozent gestiegen. In den vergangenen Jahrzehnten führten oft Ereignisse wie Verwitwung oder ledige Elternschaft zu dieser Lebensform, heute ist sie vermehrt die Folge von Scheidungen und Trennungen (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 39f).
Patchworkfamilien hat es zwar schon immer gegeben, doch ihr Gründungsanlass hat sich gewandelt. Noch vor einigen Jahrzehnten entstanden sie häufig durch Wiederheirat nach dem Tod eines Partners, heute resultieren sie immer öfter aus einer neuen Partnerschaft nach Trennung oder Scheidung (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 42). Bedingt durch das hohe Risiko, im Kindbett zu sterben, war die Lebenserwartung von Frauen lange Zeit deutlich niedriger als die der Männer. Daher waren Patchworkfamilien, in denen nicht mehr die leibliche Mutter der Kinder sondern eine neue Partnerin des Vaters lebte, bis vor wenigen Jahrzehnten sehr verbreitet (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 111).
Auch in diesem Punkt sind Veränderungen festzustellen: Heute leben ca. 90 Prozent der Kinder in Patchworkfamilien mit ihrer leiblichen Mutter und einem neuen Partner der Mutter zusammen. In etwa jeder zweiten Patchworkfamilie leben leibliche Kinder des Vaters und/oder leibliche Kinder der Mutter mit gemeinsamen Kindern des Paares zusammen. Im Jahr 1999 gab es in Deutschland etwa 850.000 Kinder, die in einer Patchworkfamilie lebten. Ungefähr 60 Prozent dieser Kinder lebten bei einem verheirateten Paar (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 42f).
3.1.2 Bedeutungswandel der Institution Ehe
An den Veränderungen in der Gesellschaft wird deutlich, dass sich die Einstellung der Menschen zur Ehe wandelt. Die Frage, ob dieser Wandel mit einem Bedeutungsverlust der Institution[3] Ehe einhergeht, wird in unterschiedlichen Erklärungsansätzen diskutiert.
So geht die These der Deinstitutionalisierung von einem absoluten Bedeutungsverlust der Ehe aus, da diese ihren verbindlichen Charakter verliert und die Familienform zunehmend frei gewählt wird. Die Ehe ist somit nur noch eine Option unter vielen und büßt ihre Verbindlichkeit als ‚das’ gesellschaftlich vorgegebene Lebensmodell ein, welches viele Jahre einen geradezu verpflichtenden Charakter hatte und die Lebensgestaltung vieler Menschen prägte (vgl. Dorbritz, 1999, S. 2).
Die These der institutionellen Anpassung geht nicht von einem Bedeutungsverlust sondern von einem Bedeutungswandel der Ehe aus. Sie stützt sich auf die These der ‚kindorientierten Ehegründung’[4] und vertritt die Ansicht, dass die Institution Ehe sowohl an Gewicht gewonnen als auch verloren hat: Wird Partner- und nicht Elternschaft angestrebt, wird oft der Nichtehelichen Lebensgemeinschaft der Vorzug gegeben, ‚Ehe’ erfährt eine Schwächung. Doch sobald es um Elternschaft geht, ändert sich das Bild, die Ehe gewinnt an Gewicht (vgl. Dorbritz 1999, S. 2). In dieser engen Verknüpfung von Ehe mit Elternschaft hat die Ehe „damit ihre eigentliche Bestimmung gefunden, nämlich sozialer Raum für das Leben mit Kindern“ (ebd., S. 2) zu sein.
Die Vertreter der These der begrenzten Deinstitutionalisierung gehen von einer geschwächten Institution Ehe aus, da sich ihre Verbindlichkeit als Lebensmodell vermindert, sie verstehen Deinstitutionalisierung jedoch nicht als Verfall und Auflösung. Sie sprechen der Ehe eine Selektionsfähigkeit zu, die die Gesellschaft polarisiert: Über die Institution der Ehe werden auch in Zukunft alle Lebensformen den Kategorien familial – nichtfamilial oder ehelich – nichtehelich zugeordnet, jedoch ohne dabei die nichtfamilialen und nichtehelichen Lebensformen zu diskriminieren (vgl. ebd., S. 2). Die Gesellschaft wird auf diese Weise in zwei Gruppen unterteilt: Zum einen in einen Familiensektor, der alle Lebensformen mit Kindern umfasst und dem die Verhaltensweisen ‚heiraten’ und ‚Kinder haben’ zugeordnet werden, zum anderen in einen Nichtfamiliensektor, dem alle Lebensformen ohne Kinder angehören und der mit den Verhaltensweisen ‚nicht heiraten’ und ‚kinderlos bleiben’ verknüpft ist (vgl. Strohmeier, 1993, S. 15f).
Dem Nichtfamiliensektor gehören nicht nur die Menschen an, die die Ehe grundsätzlich ablehnen. Oft hängt die Entscheidung für oder gegen Kinder – und Ehe - letztendlich eng mit der Vereinbarkeit bzw. der Unvereinbarkeit von Elternschaft und Beruf zusammen. Es kommt zu einem Entscheidungskonflikt und in vielen Fällen wird das angestrebte Ziel, Familie mit Erwerbstätigkeit zu vereinbaren, aufgegeben, da die Vereinbarkeitsbedingungen zu ungünstig erscheinen (vgl. Dorbritz, 1999, S. 3f).
Dorbritz deutet den Anstieg der Scheidungsquote und die Etablierung der Nichtehelichen Lebensgemeinschaft als Alternative zur Ehe als Schritte in Richtung einer Deinstitutionalisierung, die jedoch kurz- und mittelfristig nicht voll eintreten wird. Er geht zunächst von einem relativ stabilen Nebeneinander von Familien- und Nichtfamiliensektor im Sinne einer begrenzten Deinstitutionalisierung aus, mit einer schrittweisen Ausweitung des Nichtfamiliensektors. Doch auf lange Sicht „könnte die Einrichtung der Ehe […] auf dem Weg zu einer Institution sein, deren rechtliche, traditionelle und kirchliche Stützung fortbesteht, deren handlungsorientierender Charakter aber verloren gegangen ist“ (Dorbritz, 1999, S. 5).
Nave-Herz geht davon aus, dass nicht die Ehe an sich an Bedeutung verliert, sondern dass sich die Erwartungen der Menschen an die Ehe verändert haben. Der institutionelle Charakter der Ehe tritt in den Hintergrund. Die Ehe ist im Laufe der Zeit unverbindlicher geworden und ihr ‚Regelsystem’ ist heute mit weniger Normen verbunden als noch vor 50 Jahren. Der Beziehungsaspekt zwischen den Partnern tritt in den Vordergrund, die Qualität der Beziehung wird immer wichtiger und die Beziehung an sich wird als Ressource empfunden.
Erfüllt die Beziehung die Erwartungen nicht, kann dies heute schneller zum Bruch führen, die Scheidungsraten steigen (vgl. Nave-Herz, 2002, S.125f). Doch „dass die institutionelle Sichtweise von Ehe im Zeitablauf abgenommen hat, heißt […] eben nicht, dass damit generell die Ehe infrage gestellt wird, sondern nur die eigene. Man löst die Ehe nämlich auf, weil man den Wunsch auf Erfüllung einer idealisierten Partnerschaft und die hohen emotionalen Erwartungen an Ehe nicht aufgibt“ (ebd., S.126).
Nicht nur die Ansprüche an die Partnerschaft haben sich gewandelt, auch die Erwartungen an ‚Familie’ haben sich verändert. Die Familie wird heute nicht mehr vorrangig als Wirtschaftsgemeinschaft verstanden. Sie ist auch mehr als nur eine soziale Gemeinschaft, in der Kinder geboren und sozialisiert werden.
Angesichts des Leistungsdrucks und der hohen Anforderungen in der Erwerbswelt ist ‚Familie’ heute für viele Menschen der Ort, an den sie sich zurückziehen können, um sich zu regenerieren. Hier möchten sie Ruhe, Geborgenheit, Liebe, Zärtlichkeit, Harmonie, Schutz und Rückhalt finden. Die Familie soll Raum bieten für Persönlichkeitsentwicklung und Selbstverwirklichung des Einzelnen, hier erhoffen sich die Menschen ihr persönliches Glück. Darüber hinaus soll die Familie dem Anspruch gerecht werden, ein idealer Ort für die Entwicklung von Kindern zu sein (vgl. Petzold, 1999, S. 7). Aufgrund des gestiegenen Drucks und des immer stärkeren Zwangs, mobil und flexibel zu sein, hat die Familie als scheinbarer ‚Garant’ für Verlässlichkeit und Erholung heute einen höheren Stellenwert als noch in den 1980er Jahren (vgl. Meier, 2002, S. 3).
Doch nicht nur die Familienmitglieder selbst haben Vorstellungen davon, was ‚Familie’ leisten soll, auch von der Gesellschaft, deren Teil die Familien sind, werden Erwartungen an sie herangetragen: Der Hauptanspruch besteht sicher darin, dass in einer Familie Kinder geboren und durch ‚gute’ Erziehung zu ‚wertvollen’ Mitgliedern der Gesellschaft ‚gemacht’ werden sollen. Hier sollen nicht nur Werte und Verhaltensweisen vermittelt werden, auch an der Bildung der Kinder im Sinne der Lernstoffvermittlung sollen sich die Eltern beteiligen. Es wird erwartet, dass sie ihre Kinder bei den Hausaufgaben unterstützen, ihnen bei Problemen helfen und – falls nötig – für Nachhilfeunterricht sorgen. Darüber hinaus besteht die Erwartung der gegenseitigen Unterstützung innerhalb der Familien. Alte Menschen werden von ihren Angehörigen gepflegt und finanziell schlecht gestellte Familienmitglieder finden familieninterne Unterstützung.
Dem Idealbild nach soll ‚Familie’ heute ein Ort sein, an dem sich der Mensch einfach ‚fallen lassen’ kann, an dem seine emotionalen Bedürfnisse erfüllt werden, der einen optimalen Schutz-, Regenerations- und Entwicklungsraum bietet und dabei möglichst weder Arbeit noch Einsatz erfordert. Darüber hinaus sollen im Rahmen der Familie gesellschaftliche Aufgaben bewältigt und soziale Probleme aufgefangen und gelöst werden.
Als weitere Kennzeichen für den Wandel der Familie werden in der Literatur vielfach eine steigende Pluralität der Familienformen und eine zunehmende Individualisierung angeführt.
In der Pluralitätsthese wird davon ausgegangen, dass sich zunehmend unterschiedliche Familienformen etablieren und die ‚traditionelle’ Familie als verbindliches Lebensmodell verdrängen. Kombiniert man die denkbaren Rollenzusammensetzungen von Familie (Zwei-Eltern- oder Ein-Eltern-Familie) mit den heute – auch rechtlich – möglichen Familienbildungsprozessen, so ergibt sich eine ganze Reihe unterschiedlicher Familienformen, die zumindest denkbar sind (vgl. Abb. 1).
Die Wahl einer Familienform ist nicht unbedingt endgültig, es können unterschiedliche Familienformen durchlaufen werden: So kann z. B. auf eine Ehe eine Mutter-Familie folgen, die durch Scheidung oder durch den Tod des Partners entstanden ist, und sich vielleicht durch eine neue Partnerschaft schließlich zu einer Nichtehelichen Lebensgemeinschaft wandeln. Die ‚traditionelle’ Familie, basierend auf einem Ehepaar, das mit seinen leiblichen Kindern zusammenlebt, ist in diesem Schema nur noch eine Option unter vielen (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 16f).
Abb. 1, Typologie von Familienformen
Keine dieser Familienformen, die in der Typologie erscheinen, ist neu. Vor allem in der Zeit vor der Industrialisierung stellten sie jedoch überwiegend keine eigenständigen Systeme dar, sondern waren Teil eines größeren Systems, z. B. einer großen Haushaltsfamilie. Sie traten vorrangig in den unteren sozialen Schichten auf.
Im Laufe der Zeit nahm die Verbreitung der anderen Familienformen zugunsten der ‚traditionellen’ Familie ab, welche in den 1950er und 1960er Jahren eine hohe Popularität genoss und ihre stärkste Verbreitung erfuhr. Danach wurde sie wieder zunehmend durch die anderen Familienformen ergänzt, die heute mehr und mehr ebenfalls gesellschaftlich akzeptiert werden und inzwischen auch unter finanziellen Gesichtspunkten reale Alternativen darstellen. Heute sind diese Lebensformen in allen gesellschaftlichen Schichten zu finden (vgl. ebd., S. 23).
Eine Vielfalt der familialen Lebensformen ist also denkbar, doch die Realität sieht anders aus: Die ‚traditionelle’ Familie besitzt auf normativer Ebene nach wie vor eine hohe subjektive Bedeutung und wird von vielen Menschen als bevorzugte Familienform angestrebt. 82% aller Kinder in Deutschland wachsen nach wie vor in ihr auf (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 26).
Bei den Lebensformen ohne Kinder sieht das Bild ganz anders aus: Hier haben sich neue Wohn- und Lebensformen etabliert, es gibt z. B. zahlreiche Nichteheliche Lebensgemeinschaften, ‚Singlehaushalte’ und ‚Living-apart-together’. „Auf diese kinderlosen Lebensformen kann sich also realiter nur die Pluralitätsthese beziehen; in Bezug auf die Familienformen verweist sie – bisher jedenfalls noch – überwiegend lediglich auf Optionen“ (ebd., S. 29).
Im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel in Deutschland wird auch von einer Individualisierung der Lebensverläufe gesprochen, also von einer „Freisetzung der Individuen aus traditionellen Bindungen“ (Dorbritz, 1999, S. 1). Dies führt dazu, dass Lebensverläufe individueller gestaltet werden können – aber auch müssen – da sie nicht mehr durch traditionelle Werte und Vorgaben ‚vorgezeichnet’ sind. Die Optionen, die ein Mensch bei der Gestaltung seines Lebens hat, nehmen also - faktisch - zu.
Doch auch Tendenzen zur Individualisierung lassen sich hauptsächlich bei den Lebensformen ohne Kinder beobachten, z. B. durch die Orientierung weg von der ‚Hausfrauenehe’, hin zu beruflichen und persönlichen Herausforderungen und Karriere. Bei den Lebensformen mit Kindern ist keine deutliche Zunahme der Biographieoptionen zu erkennen (vgl. Dorbritz, 1999, S. 4).
Die Lebens- und Familienzyklen der Menschen in Deutschland verändern sich. So hat sich z. B. die Lebensphase bis zur Familiengründung, die noch bis vor ca. 30 Jahren durch die Abfolge geprägt war ‚Partner kennen lernen, sich verloben, dann heiraten und gemeinsame Kinder bekommen’, stark verändert.
Wie unter ‚3.3 Steigende Pluralität der Familienformen und Individualisierung’ in Teil I beschrieben, haben sich neue Lebensformen etabliert, die in dieser Zeit durchlaufen werden. Viele Menschen erproben mehrere dieser Formen und wechseln - je nach Lebenslage – von einer zur anderen (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 26).
Darüber hinaus erfolgt der Übergang zur Elternschaft immer später[5], doch wenn er erfolgt, entscheiden sich viele Paare für eine Eheschließung (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 19). Nach Eheschließung und Geburt eines Kindes verläuft für zwei Drittel aller Paare das weitere Leben in folgenden Phasen ab: Familienphase, nachelterliche Phase, Tod des Mannes / Verwitwung der Frau, Tod der Frau.
Die Phasen an sich sind nicht neu, doch die Dauer der einzelnen Phasen hat sich stark verändert. Wie in Abbildung 2 dargestellt, erfuhr die nachelterliche Phase eine Verlängerung, während sich die Familienphase, in der Kinder versorgt werden, deutlich verkürzte: Noch vor 100 Jahren nahm die Familienphase mehr als die Hälfte der Lebenszeit in Anspruch, heute hingegen nur noch ein Viertel (vgl. ebd., S. 26f).
Diese Veränderungen sind hauptsächlich auf die sinkende Geburtenrate, die mit einer geringeren Kinderzahl in den Familien einhergeht, und auf die steigende Lebenserwartung der Menschen zurückzuführen[6] (vgl. Fthenakis, 2004, S. 140).
Abb. 2, Veränderungen der Familienphasen seit 1949/1950
Der Rückgang der Kinderzahl pro Familie wird daran deutlich, dass ein immer größer werdender Anteil der sechs- bis neunjährigen Kinder noch keine Geschwister hat. Da diese Kinder mit hoher Wahrscheinlichkeit Einzelkinder bleiben werden, wird langfristig von einer Zunahme der Ein-Kind-Familien ausgegangen (vgl. BMFSFJ, 2003, S. 73).
Diese Entwicklung ist durch viele miteinander verflochtene Faktoren bedingt. Ich möchte einen Faktor herausgreifen, der eng mit dem Wandel der Familie zusammenhängt: Das Selbstverständnis vieler Eltern hat sich verändert, sie haben einen hohen Anspruch an sich selbst und wollen ihre Elternrolle möglichst gut erfüllen, was viel Zeit und Energie erfordert. Vor allem die Mütter verwenden heute sehr viel mehr Ressourcen als früher darauf, eine intensive Beziehung zu ihrem Kind zu entwickeln, Zeit mit ihm zu verbringen und ihm Aufmerksamkeit zu schenken (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 34f).
Darüber hinaus sind Veränderungen im Erziehungsverhalten festzustellen: Viele Eltern legen zunehmend Wert darauf, ihre Entscheidungen zu begründen und so für das Kind einsichtig zu machen. Sie suchen mit den Kindern gemeinsam nach Lösungen für Probleme und streben an, mehr zu reden und zu verhandeln als zu befehlen und zu verbieten. Auch dies erfordert viel Zeit und Energie (vgl. ebd, S. 69). Diese hohen Leistungen zu erbringen ist nur bei einer geringen Anzahl von Kindern überhaupt möglich.
Erst nach der Geburt des ersten Kindes merken die Eltern, wie hoch die tatsächliche Belastung durch das Kind – bzw. auch durch ihre eigenen Ansprüche an sich selbst als Eltern – ist, und geben daraufhin den Wunsch nach weiteren Kindern oft auf. Durch die Einzelkindsituation ist das Kind jedoch noch stärker auf die Eltern als Ansprechpartner angewiesen, was von den Eltern wiederum einen höheren Einsatz erfordert (vgl. ebd., S. 33ff).
Die höhere Lebenserwartung der Menschen führt zu einer extremen Verlängerung der nachelterlichen Phase und macht es heute vielfach möglich, dass Kinder ihre Großeltern und zum Teil auch ihre Urgroßeltern kennen lernen (vgl. ebd., S. 26). Die Phase der Großelternschaft beginnt oft bereits im mittleren Lebensalter, die Beziehungen zwischen Großeltern und Enkelkind können sich über viele Jahre entwickeln und bleiben zum Teil bis ins Erwachsenenalter der Enkel erhalten.
Die geringere Geburtenrate und die zunehmende Anzahl von Einzelkindern führen dazu, dass es innerhalb der Generationen immer weniger Seitenverwandte wie z. B. Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen oder Geschwister gibt. Viele Großeltern haben deshalb nur noch eine kleine Anzahl von Enkeln. Dies ermöglicht eine enge Beziehung, die meist relativ frei von Erziehungsverantwortung gestaltet werden kann.
Die Phase der Großelternschaft wird zunehmend als besondere Lebensphase empfunden, in der es nicht nur um die Weitergabe von Werten und Wissen geht, sondern in der auch die eigene Vergangenheit als Kind und Elternteil reflektiert werden kann und die Fortsetzung der Familie in die Zukunft erlebt wird. Besonders in Krisensituationen wie Trennung oder Scheidung haben die Großeltern darüber hinaus in vielen Familien eine unterstützende Funktion (vgl. Fthenakis, 2004, S. 142f).
Wie in Teil I unter ‚3.4 Zeitliche Veränderungen der Lebens- und Familienzyklen’ beschrieben, hat sich die Familienphase, also die Phase, in der Eltern ihre Kinder versorgen und meist mit ihnen in einer Haushaltsgemeinschaft leben, im Verlauf der letzten 100 Jahre stark verkürzt und macht jetzt – statistisch gesehen - nur noch ca. ein Viertel der Lebenszeit aus.
Diese Entwicklung hat nach Nave-Herz vor allem Folgen für die Lebensgestaltung von Frauen: Wenn sie sich normativ auf die Rolle als Mutter festschreiben lassen, warten sie - statistisch gesehen - ein Viertel ihres Lebens darauf, dass das ‚richtige’ Leben in Form der Familienphase beginnt, und verbringen zwei Viertel ihres Lebens mit der Gewissheit, dass das Leben eigentlich schon vorbei ist, da sie ihre Aufgabe bereits erfüllt haben (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 27).
Tatsächlich ist zu beobachten, dass sich immer mehr Mütter nicht mehr nur auf die Familie konzentrieren, sondern auch aktiv am Erwerbsleben teilnehmen. War im Jahr 1950 erst jede vierte Mutter mit minderjährigen Kindern erwerbstätig, so stehen heute fast zwei Drittel der Mütter mit Kindern unter 15 Jahren im Berufsleben (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 40).
Vor allem höher gebildete Frauen wollen oft nicht einfach ‚nur’ erwerbstätig sein, sondern streben auch eine Karriere an. Ihre Karrieremotivation ist heute in vielen Fällen genauso hoch wie die von Männern, manchmal auch höher. Viele Frauen streben Erwerbstätigkeit und/oder Karriere an, haben jedoch außerdem den Wunsch, Kinder zu bekommen. Oft beschäftigen sie sich bereits bei der Berufswahl mit den Möglichkeiten der Vereinbarung von Familie und Beruf. Je nachdem, ob sie ihre Priorität auf die Familiengründung oder auf Erwerbstätigkeit und Karriere legen, stellen sie entweder die beruflichen Ziele oder den Kinderwunsch etwas zurück, doch angestrebt wird eine Vereinbarung beider Bereiche[7] (vgl. Kümmerling/Dickenberger, 2001, S. 1f).
Diese Doppelorientierung führt in vielen Fällen zu einer Doppelbelastung, da auch heute noch sehr viele Frauen – ob erwerbstätig oder nicht – die Hauptverantwortung für Haushalt und Kindererziehung tragen. Das Dilemma dieser Frauen besteht darin, dass sie einerseits mit der Bewältigung beider Bereiche überlastet sind. Wenn sie sich andererseits jedoch zwischen ihnen entscheiden und sich entweder nur mit dem häuslichen Bereich oder ausschließlich mit ihrem Beruf begnügen sollten, so wäre ihnen das zu wenig (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 43).
Nicht nur die Rolle der Mutter, auch die Vaterrolle verändert sich: Viele ‚werdende’ Väter begleiten heute ihre Frauen während der Schwangerschaft und sind bei der Geburt dabei. In der Säuglings- und Kleinkindphase beteiligen sie sich stärker an der Betreuung des Kindes als z. B. die Väter vor 40 Jahren und spielen mit ihren Kindern. Es ist eine Entkoppelung des emotionalen Verhaltens gegenüber Kindern von der Mutterrolle festzustellen: Es wird nun auch von Vätern gezeigt, was noch vor wenigen Jahrzehnten als ‚unmännlich’ und daher unvorstellbar galt (vgl. ebd., S. 58ff). Diese Veränderungen spiegeln sich auch in den Vaterschaftskonzepten vieler Paare wider: Die soziale Funktion des Vaters wird als etwas höher eingeschätzt als seine ‚Brotverdienerfunktion’. Jeweils 66 Prozent der Väter und Mütter sehen den Vater als Erzieher, die anderen nehmen ihn als ‚Ernährer’ wahr (vgl. Fthenakis/Minsel, 2002, S. 196f).
Doch grundlegend verändert hat sich die Vaterrolle deshalb noch nicht: Kinderlose Männer haben Idealvorstellungen von der Aufgabenteilung in der Familie nach der Geburt eines Kindes, die stark von ihrem Geschlechtsrollenverständnis abhängen. Traditionell eingestellte Männer streben eine Aufgabendifferenzierung, egalitär eingestellte hingegen eine gleichmäßige Beteiligung beider Partner an. Nach der Geburt eines Kindes kommt es jedoch bei den meisten Paaren zu einer Traditionalisierung der Rollen, der Vater zieht sich aus den häuslichen Aufgabenbereichen zurück und die Frau übernimmt mehr Aufgaben allein (vgl. ebd., S. 94).
Es sind nach wie vor überwiegend die Mütter, die für die Organisation des Tagesablaufs und für Routineaufgaben zuständig sind, während sich die Väter hauptsächlich auf gemeinsames Spielen mit dem Kind und weitere Tätigkeiten ähnlicher Art beschränken. Auch der häusliche Bereich fällt nach wie vor oft in den Verantwortungsbereich der Mutter (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 60).
Die Einstellung der Väter wirkt sich nur gering auf die tatsächliche Aufgabenverteilung aus. Es kommt zu einer Differenz zwischen dem angestrebten Ideal- und dem Realzustand, wobei diese Differenz bei den Personen am größten ist, die egalitär eingestellt sind. Traditionell eingestellte Mütter sind nach der Geburt eines Kindes daher meist zufrieden, während Mütter mit auf Gleichheit bedachten Vorstellungen in Bezug auf die Arbeitsteilung in der Familie am unzufriedensten sind.
Bezüglich des Vaterschaftskonzepts der Männer treten nach der Geburt unter Umständen Veränderungen auf, die mit der Partnerschaftsqualität in Verbindung stehen: Je höher die Qualität der Partnerschaft eingeschätzt wird, desto eher tendieren sie zu dem Konzept ‚Vater als Erzieher’. Mit abnehmender Beziehungsqualität kommt es zu einem Rückzug aus der Erzieherrolle und zu einer verstärkten Orientierung auf die Funktion des Ernährers (vgl. Fthenakis/Minsel, 2002, S. 94f).
In unserer Gesellschaft ist auch heute noch die Vaterrolle eng mit der Erwartung verknüpft, für die materielle Sicherheit der Familie zu sorgen. Dass ein Mann auf seine Karriere verzichtet, um sich um seine Kinder zu kümmern, wird von ihm nicht verlangt. Doch wenn er es tut, ruft dies bei vielen Leuten Erstaunen, Be- oder Verachtung oder auch Bewunderung hervor. Diese Reaktionen zeigen, dass ein solches Verhalten nicht als selbstverständlich empfunden wird (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 60f). Auch wenn „der Entdifferenzierungsprozess zumindest im Hinblick auf einige Rollensegmente begonnen hat, so kann man dennoch nicht von einem grundsätzlichen Wandel der Vater-Rolle sprechen, da letztlich der Prozess der Aufhebung der Polarität zwischen der Vater- und Mutterrolle noch nicht abgeschlossen ist“ (Nave-Herz, 2004, S. 184).
Das Verständnis davon, was ‚Kindheit’ eigentlich ist und was genau sie ausmacht, unterliegt einem ständigen Wandel, eine einheitliche Definition kann es daher kaum geben. Schlägt man den Begriff im Lexikon nach, stößt man z. B. auf folgende Formulierung: „Im allgemeinen Sprachgebrauch bezieht sich die Bezeichnung Kind […] auf den Menschen bis zum Eintritt ins Jugendalter. Der dabei durchlaufene Zeitraum, die Kindheit, wird zwar in den meisten Kulturkreisen vom Erwachsenenalter abgegrenzt, die Vorstellung von der Natur und der Dauer des Kindesalters unterliegt jedoch beträchtlichen historischen Veränderungen, bei denen vor allem ethnospezifische und soziokulturelle Faktoren eine Rolle spielen“ (Brockhaus, 1990, S. 680).
Lange Zeit besaßen Kinder in Deutschland keinen eigenen gesellschaftlichen Wert: Man konnte sich ihrer problemlos entledigen, gab sie fort oder nutzte sie als preiswerte Arbeitskräfte. Eine Kindheit im heutigen Sinne war unbekannt, Kinder galten als ‚kleine Erwachsene’ und wurden entsprechend behandelt. Die Abgrenzung der Kindheit als eigene, wichtige Lebensphase erfolgte erst im 18. Jahrhundert und war begleitet von dem Bemühen der Eltern, das ‚speziell Kindliche’ an ihren Kindern zu erkennen und ihre Bedürfnisse sowie ihr Handeln, Denken und Erleben zu verstehen (vgl. Petzold, 1999, S. 9f).
Während Kinder noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Besitz ihres Vaters verstanden wurden und kaum Rechte oder staatlichen Schutz genossen, änderte sich diese Sichtweise ab Mitte des 19. Jahrhunderts: Erste Kinder- und Jugendschutzgesetze wurden auf den Weg gebracht, die allgemeine Schulpflicht wurde eingeführt und der Staat begann, Verantwortung für Heim- und Waisenkinder zu übernehmen (vgl. unicef, 2001, S. 11). Der Bereich der Bildung und Ausbildung wurde neu gestaltet und ausgebaut. Kinder sollten nun nicht mehr nur körperlich ‚großgezogen’, sondern auch in die komplexe Gesellschaft eingegliedert werden. Sozialisation war zu einer wichtigen gesellschaftlichen Aufgabe geworden (vgl. Petzold, 1999, S. 10).
Nichtsdestotrotz wurden Kinder bis in das 20. Jahrhundert hinein vielfach begriffen als „Objekte der Fürsorge, als Unfertige, deren Hauptaufgabe darin bestand, sich auf eine Zukunft als Erwachsene vorzubereiten“ (unicef, 2001, S. 11). Vom Ende des Zweiten Weltkriegs an bis heute entwickelte sich ein Verständnis von Kindern als eigenständige Persönlichkeiten, die sich in einer besonderen und wertvollen Lebensphase befinden. Sie sind zwar aufgrund ihrer mangelnden – auch körperlichen – Reife und ihrer geringen Lebenserfahrung in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt und schutzbedürftig, verdienen aber dennoch Respekt und müssen ernst genommen werden (vgl. unicef, 2001, S. 11).
Auch die ‚Nutzenerwartung’ an Kinder hat sich verändert. In unserer heutigen Industriegesellschaft werden Kinder nicht mehr vorrangig mit materiellen und sozial-normativen Werten verbunden und z. B. als Arbeitskräfte im Familienbetrieb oder als ‚Alters- und Krankenversicherung’ für die Eltern benötigt. Dass Kinder als Wahrer von Familienbesitz und -namen auftreten, spielt in vielen Familien keine entscheidende Rolle mehr und auch der ‚Statusgewinn’, der durch den Stand der Elternschaft erreicht werden kann, ist in unserer Gesellschaft nicht mehr stark ausgeprägt (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 32).
Stattdessen versprechen sich heute viele Eltern einen psychischen ‚Nutzen’ von ihren Kindern. Sie empfinden Freude, wenn sie das Aufwachsen des Kindes erleben und gestalten können, erleben sich selbst als wichtig für das Kind und das eigene Leben als sinnvoll. Die Eltern-Kind-Beziehung wird vielfach partnerschaftlich gestaltet, die kindliche Autonomie wird zunehmend anerkannt und die Kinder werden in ihrer persönlichen Entwicklung unterstützt und gefördert (vgl. Fthenakis, 2004, S. 150). Eltern beschäftigen sich mit den Vor- und Nachteilen unterschiedlicher Erziehungsmethoden. Für Erziehungsratgeber und Bücher über kindliche Entwicklung, für Fernsehsendungen zu diesen Themen und viele verschiedene Unterstützungsangebote wie z. B. Elternkurse scheint der Markt uferlos.
Doch über all das darf man dennoch nicht aus dem Blick verlieren, dass auch heute noch Kinder in Deutschland die ‚Schattenseiten’ von Familie erleben, z. B. in Form von Gewalt in den verschiedensten Ausprägungen (siehe ‚4 Familie und Gewalt’ in Teil I).
Eine weitere Veränderung der Sozialisationsbedingungen von Kindern besteht heute darin, dass sie zunehmend ohne Geschwister aufwachsen (siehe in Teil I ‚3.4 Zeitliche Veränderungen der Lebens- und Familienzyklen’). Dies hat unter anderem zur Folge, dass sie bestimmte soziale Erfahrungen nicht machen können.
So können z. B. Geschwister – im Gegensatz zu Einzelkindern - ein eigenes System in der Familie bilden, welches ein Gegengewicht zu den Eltern darstellt und sowohl zu große Nähe als auch distanziertes Verhalten der Eltern zumindest zum Teil auffangen kann. In dieser Gemeinschaft kann Loyalität, gegenseitige Unterstützung, Kooperation und Vertrauen erlebt werden und als Koalition haben die Geschwister eine bessere ‚Verhandlungsposition’ gegenüber den Eltern. Die Geschwister können sich aufeinander beziehen und verlassen und sind daher nicht so sehr auf die Eltern als Ansprechpartner angewiesen wie ein Einzelkind. Doch diese positiven Aspekte werden durch negative ergänzt: Eine Geschwistergemeinschaft kann ebenso geprägt sein von Konkurrenz, Neid, Rivalität, Abneigung bis zu Hassgefühlen und gegenseitiger Erniedrigung (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 75f).
Die Einzelkindsituation an sich lässt sich also nicht einfach als durchweg negativ oder positiv bewerten, die individuelle Situation jedes Kindes muss Beachtung finden. Auch Kompensationsmöglichkeiten, z. B. in Form von Spielgruppen, müssen dabei berücksichtigt werden.
Nicht nur die Stellung des Kindes in der Gesellschaft und in der Familie hat sich verändert, auch die Kindheit selbst hat Veränderungen erfahren. Das Lebensumfeld vieler Kinder ist heute so, dass sie nicht allein draußen spielen können. Vor allem Kinder, die in Städten leben, sind durch ein stark erhöhtes Verkehrsaufkommen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Auch in kleineren Städten und ländlichen Gebieten lassen viele Eltern ihre Kinder aus Angst vor Übergriffen nur noch ungern allein nach draußen.
Darüber hinaus stehen den Kindern Freizeitbeschäftigungen zur Verfügung, die noch vor wenigen Jahrzehnten undenkbar waren: Sie haben Zugriff auf Fernseher und Computer, auf Playstation und andere elektronische Spielzeuge. Die Freizeitgestaltung vieler Kinder verlagert sich von draußen nach drinnen, in die Wohnung, wo oft allein gespielt wird. Treffen mit Freunden und Freizeitaktivitäten in Sportvereinen, Musikschulen oder ähnlichen Einrichtungen können oft nur realisiert werden, wenn die Eltern – oft die Mütter – die Kinder mit dem Auto bringen und abholen. Eine spontane Freizeitgestaltung ohne Absprachen und die Einhaltung von Terminen tritt in den Hintergrund.
Gewalt ist in den unterschiedlichsten Ausprägungen in vielen Familien zu finden, obwohl dies den idealisierten Vorstellungen von Familie zuwiderläuft und den Erwartungen an sie in keiner Weise entspricht. ‚Familie und Gewalt’ ist ein so komplexes, vielschichtiges und umfassendes Thema, dass ich es im Rahmen dieser Arbeit nur in verkürzter Form thematisieren kann. Doch da es für die Lebensrealität vieler Familien bedeutsam ist und oft im Zusammenhang mit Trennung und Scheidung steht, ist mir wichtig, es anzusprechen.
Gewalt innerhalb der Familien hat es schon immer gegeben und war lange Zeit – in bestimmten Grenzen – als Erziehungsmittel anerkannt[8]. Gewalt, die über diesen Rahmen hinausging, wurde bis vor ca. 30 Jahren tabuisiert und ignoriert, da sie dem idealisierten Bild der ‚harmonischen Familie’ so stark zuwiderlief, dass sie schlichtweg undenkbar war (vgl. Nave-Herz, 2002, S. 82f). Inzwischen setzt sich immer mehr die Einsicht durch, dass es Gewalt in Familien gibt – und zwar in allen gesellschaftlichen Schichten. Obwohl sie heute vielfach in der Gesellschaft thematisiert, von vielen Menschen als Problem erkannt und auch bearbeitet wird, ist die Dunkelziffer hoch: Es wird nach wie vor nicht gerne darüber gesprochen.
Doch selbst wenn darüber gesprochen wird: Was genau ist denn Gewalt? Wo fängt Misshandlung an? Diese Fragen sind zwar viel diskutiert aber nicht abschließend geklärt, da der Begriff ‚Gewalt’ ebenso wenig zu fassen ist, wie der Begriff ‚Familie’. Auch er ist von subjektiven Empfindungen und individuellen Erfahrungen geprägt. Was der eine Mensch bereits als Gewalt empfindet, muss für einen anderen Menschen noch lange keine sein. Auch an den Gewaltbegriff ist daher nur eine Annäherung möglich.
Um jedoch überhaupt über Gewalt reden zu können, ist es wichtig, sich auf eine solche Annäherung an den Gewaltbegriff zu verständigen, die als ‚gemeinsamer Nenner’ dienen kann. Je nach Gesichtspunkt fällt diese Annäherung unterschiedlich aus und beleuchtet jeweils nur einen Ausschnitt des gesamten Spektrums. Um dies zu verdeutlichen, stelle ich kurz vier unterschiedliche Blickwinkel auf Gewalt vor:
Bei der Annäherung an den Begriff der Gewalt spielt der Beziehungsaspekt eine wichtige Rolle, denn alle Formen familialer Gewalt werden zur Durchsetzung von Macht in sozialen Beziehungen genutzt und können sowohl zu psychischen als auch zu physischen Schäden bei den betroffenen Menschen führen (vgl. Rothe, 1994, S. 192). Die Gewalt bezieht sich „nicht nur auf sichtbare Handlungen von Familienmitgliedern, sondern insgesamt auf das konkrete Zusammenleben, auf die Beziehung der Geschlechter (Frau und Mann) und der Generationen (Eltern und Kinder), deren Beziehungen strukturiert werden durch die Bedürfnisse der einzelnen Individuen und ihre Deutungsmuster und gegenseitigen Erwartungen“ (ebd., S. 189).
Pernhaupt und Czermak führen die – auch langfristig möglichen - Folgen von Gewalt vor Augen: „Misshandlung im weitesten Sinne ist jede gewalttätige oder unnötig einengende Handlung an Kindern (oder deren Vernachlässigung), als deren Folge Angst, seelisches Leid und/oder körperliche Verletzung auftreten. Die Misshandlung muss keine sofort feststellbaren seelischen oder körperlichen Spuren hinterlassen; die Auswirkungen einer Misshandlung können auch erst nach einer sehr langen Latenzzeit sichtbar werden“ (Pernhaupt/Czermak, 1980, S. 86; Hervorhebung auch im Original).
Das Kinderschutzzentrum Berlin nimmt verschiedene Ebenen in den Blick und setzt sie in Beziehung zueinander, wodurch eine sehr komplexe aber auch umfassende Konstruktion des Begriffs ‚Kindesmisshandlung’ entsteht:
„KINDESMISSHANDLUNG
- ist ein das Wohl und die Rechte eines Kindes (nach Maßgabe gesellschaftlich geltender Normen und begründeter professioneller Einschätzung) beeinträchtigendes Verhalten oder Handeln bzw. ein Unterlassen einer angemessenen Sorge
- durch Eltern oder andere Personen in Familien oder Institutionen (wie z. B. Kindertagesstätten, Schulen, Heimen oder Kliniken),
- das zu nicht-zufälligen, erheblichen[9] Verletzungen,
zu körperlichen und seelischen Schädigungen
und/oder Entwicklungsgefährdungen eines Kindes führt,
- die die Hilfe und eventuell das Eingreifenvon Jugendhilfe-Einrichtungenin die Rechte der Inhaber der elterlichen Sorgeim Interesse der Sicherung der Bedürfnisse und des Wohls eines Kindes notwendig machen“ (Kinderschutz-Zentrum Berlin, 2000, S. 26; Hervorhebungen und Fußnote auch im Original).
Nave-Herz nennt einen Gewaltbegriff, bei dem das Motiv für Gewaltausübung in den Blick genommen wird: „Mit ‚Gewalt’ bezeichnet man jede aktive Handlung (oder auch Duldung bzw. Unterlassung), die an der Durchsetzung des eigenen Zieles bei einer anderen Person orientiert ist, ohne Rücksicht auf damit verbundene physische oder psychische Schäden bei dieser“ (Nave-Herz, 2002, S. 84).