Familien- und Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert. Jenny Erpenbecks Roman "Aller Tage Abend" - Hans-Georg Wendland - E-Book

Familien- und Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert. Jenny Erpenbecks Roman "Aller Tage Abend" E-Book

Hans-Georg Wendland

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Beschreibung

Wissenschaftlicher Aufsatz aus dem Jahr 2016 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: "-", Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover (Deutsches Seminar), Sprache: Deutsch, Abstract: In Jenny Erpenbecks Romanen verläuft die Zeit gewöhnlich nicht chronologisch-linear als ununterbrochenes und unumkehrbares Kontinuum. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, Jugend, Erwachsensein und Alter sind ineinander verwoben, „unwiderruflich miteinander verflochten und voneinander bedingt“. Die auf verschiedenen Zeitebenen angesiedelten Generationen - Großeltern, Eltern und Enkel - können in verschiedenen Stadien ihrer Lebensgeschichte einander begegnen und ganz andere Richtungen einschlagen. In „Aller Tage Abend“ bildet die Familiengeschichte eine literarische „Konstruktion“, mit der durch die Fähigkeit des Erinnerns und die schöpferische Kraft des Erzählens Vergangenes wieder sichtbar gemacht, Tote zu neuem Leben erweckt und bereits geschehene Dinge wieder zurückgenommen werden. Auf diese Weise werden Möglichkeiten ausgelotet, wie das Leben unter vielleicht nur geringfügig geänderten Bedingungen auch hätte verlaufen können. Zum Schluss des Romans erwirbt die gealterte Protagonistin die Fähigkeit, „sich in der Zeit frei zu bewegen“. Das erinnert an die Hauptfigur in „Geschichte vom alten Kind“, die gelernt hat, „in der Zeit herumzuspazieren wie in einem Garten“, anstatt ihr Leben „in seiner diachronischen Abfolge“ zu durchlaufen. Das Leben ist kein bis ins Detail berechen-, plan- und voraussehbarer Prozess, sondern voller Unwägbarkeiten, Zufälle und unerwarteter Schicksalsschläge, die die Stabilität der Verhältnisse von einem Moment auf den anderen ins Wanken und zum Einsturz bringen können. Die Fähigkeit des Erinnerns ist mit zunehmendem Alter von Auflösungs- und Zersetzungsprozessen bedroht, wie bei der neunzigjährigen dementen Frau Hoffmann in Buch V des Romans. Durch die Brüchigkeit der Erinnerung ist der „Ariadnefaden der Tradition“ in Gefahr zu zerreißen. Damit wird eine weit über das Romangeschehen hinausgehende Bedeutungsebene anvisiert. Als Bestandteil des „kulturellen Gedächtnisses“ kann historisches Geschehen in Vergessenheit geraten und in der Versenkung verschwinden, wenn es nicht im Rahmen einer grenzübergreifenden „europäischen Erinnerungskultur“ bewahrt wird. Mit „Aller Tage Abend“ hat Jenny Erpenbeck einen Text verfasst, in dem Teile der jüngeren europäischen Geschichte mit der Geschichte einer Familie verzahnt werden, deren „individuelle Schicksale“ als „pars pro toto für einen historischen Zusammenhang einstehen können.“ Ihr Text bildet einen literarischen Beitrag, um dem Vergessen historischen Geschehens vorzubeugen.

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Gliederung

 

1. Die Brüchigkeit der Erinnerung und die Bedeutung von Erinnerungsobjekten

2. Verheimlichen, Verschweigen, Vertuschen, Lügen, Betrügen, Verdrängen und der Begriff der Wahrheit

3. Christentum, Judentum und Antisemitismus

4. Elemente der Ironie und der Komik

Benutzte Literatur

 

1. Die Brüchigkeit der Erinnerung und die Bedeutung von Erinnerungsobjekten

 

In Jenny Erpenbecks Romanen verläuft die Zeit gewöhnlich nicht chronologisch-linear als ununterbrochenes und unumkehrbares Kontinuum. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft, Jugend, Erwachsensein und Alter sind ineinander verwoben, „unwiderruflich miteinander verflochten und voneinander bedingt“. (Biendarra in: Marx/Schöll, 143) Die auf verschiedenen Zeitebenen angesiedelten Generationen - Großeltern, Eltern und Enkel - können in verschiedenen Stadien ihrer Lebensgeschichte einander begegnen und ganz andere Richtungen einschlagen. In „Aller Tage Abend“ bildet die Familiengeschichte eine literarische „Konstruktion“, mit der durch die Fähigkeit des Erinnerns und die schöpferische Kraft des Erzählens Vergangenes wieder sichtbar gemacht, Tote zu neuem Leben erweckt und bereits geschehene Dinge wieder zurückgenommen werden. Auf diese Weise werden Möglichkeiten ausgelotet, wie das Leben unter vielleicht nur geringfügig geänderten Bedingungen auch hätte verlaufen können.

 

Zum Schluss des Romans erwirbt die gealterte Protagonistin die Fähigkeit, „sich in der Zeit frei zu bewegen“. (A 260) Das erinnert an die Hauptfigur in „Geschichte vom alten Kind“, die gelernt hat, „in der Zeit herumzuspazieren wie in einem Garten“ (Geschichte vom alten Kind. München: Eichborn Verlag 2001, 124), anstatt ihr Leben „in seiner diachronischen Abfolge“ (Vedder in: Marx/Schöll, 55) zu durchlaufen. Das Leben ist kein bis ins Detail berechen-, plan- und voraussehbarer Prozess, sondern voller Unwägbarkeiten, Zufälle und unerwarteter Schicksalsschläge, die die Stabilität der Verhältnisse von einem Moment auf den anderen ins Wanken und zum Einsturz bringen können. Die Fähigkeit des Erinnerns ist mit zunehmendem Alter von Auflösungs- und Zersetzungsprozessen bedroht, wie bei der neunzigjährigen dementen Frau Hoffmann in Buch V des Romans. Durch die Brüchigkeit der Erinnerung ist der „Ariadnefaden der Tradition“ (Mein in: Marx/Schöll, 68) in Gefahr zu zerreißen. Damit wird eine weit über das Romangeschehen hinausgehende Bedeutungsebene anvisiert. Als Bestandteil des „kulturellen Gedächtnisses“ (ebd.) kann historisches Geschehen in Vergessenheit geraten und in der Versenkung verschwinden, wenn es nicht im Rahmen einer grenzübergreifenden „europäischen Erinnerungskultur“ (Biendarra in: Marx/Schöll, 131) bewahrt wird. Mit „Aller Tage Abend“ hat Jenny Erpenbeck einen Text verfasst, in dem Teile der jüngeren europäischen Geschichte mit der Geschichte einer Familie verzahnt werden, deren „individuelle Schicksale“ als „pars pro toto für einen historischen Zusammenhang einstehen können.“ (Ebd., 143) Ihr Text bildet einen literarischen Beitrag, um dem Vergessen historischen Geschehens vorzubeugen.

 

Durch sein erzählerisches Verfahren hebt sich „Aller Tage Abend“ deutlich von Klassikern des Familienromans wie beispielsweise Thomas Manns „Buddenbrooks“ ab, wo in einer chronologisch gegliederten Abfolge der Ereignisse über vier Generationen der „Verfall einer Familie“, wie es im Untertitel heißt, literarisch beschrieben und dokumentiert wird. Für solche Klassiker des Familienromans sind symbolische Objekte oder Dokumente wie Stammbaum, Ahnengalerie oder Familienchronik von ausschlaggebender Bedeutung, weil durch sie größere Entwicklungszeiträume einer Familie in sich verändernden historischen Verhältnissen konserviert und der Nachwelt zugänglich gemacht werden können. In Thomas Manns „Zauberberg“ erfolgt zum Beispiel im zweiten Kapitel eine Rückschau auf die Familiengeschichte des Protagonisten Hans Castorp. In dem hier entworfenen Familienporträt spielt die „Taufschale“ des Großvaters als symbolisches Erinnerungsobjekt eine besondere Rolle. Sie stellt eine Verbindung zu Hans Castorps Vorfahren her, die bis ins Jahr 1650 zurückreicht und bei der Taufe des jeweils ältesten männlichen Vertreters der Erbfolge wie ein heiliges Sakrament weitergereicht wurde. Im soeben erwähnten Roman „Buddenbrooks“ gibt es auch ein sakrales Erinnerungsobjekt in Gestalt einer Mappe mit den Familienpapieren, in denen der Stammbaum der Buddenbrooks seit Bestehen der Familie lückenlos erfasst und übersichtlich nach Daten geordnet worden ist. Allerdings unterbricht der schwächliche Sprössling Hanno die Kontinuität dieses Dokuments, indem er mit einer Goldfeder einen doppelten Strich quer über das letzte Blatt zieht in der Erwartung, es käme nichts mehr. (Vgl. Buddenbrooks. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 2002, 524)

 

In dieser Hinsicht gibt es Berührungspunkte mit Erpenbecks „Aller Tage Abend“. Hier tauchen über das gesamte Romangeschehen verteilte Erinnerungsobjekte auf, die vom letzten Spross der Familie, dem Sohn der Protagonistin, als solche nicht mehr erkannt werden, von deren Bedeutung er nichts mehr weiß, die irgendwann irgendwo verloren gegangen oder nur noch Relikte ohne dokumentarischen Wert geworden sind. Nachdem seine Mutter am Ende von Buch IV als hoch verehrte Schriftstellerin der DDR begraben wurde, versucht der hier Siebzehnjährige, sich darüber klar zu werden, welche der vielen Gegenstände, die seine Mutter hinterlassen hat, von Bedeutung sind und verdienen aufbewahrt zu werden. Die hinterlassenen Stücke bilden aus seiner Sicht ein bunt zusammengewürfeltes Sammelsurium, ein zusammenhangloses Durcheinander, dessen Teile auf gut einer Seite der Reihe nach aufgezählt werden. (Vgl. A 234 f.) Auch in Buch V, als die Mutter in einer abgewandelten Version des Geschehens als Neunzigjährige im Pflegeheim lebt, kann der inzwischen verheiratete Sohn aus der Hinterlassenschaft seiner Mutter nicht zwischen Objekten mit oder ohne dokumentarischen Wert unterscheiden.