Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Rieger, einstiger V-Mann, jetzt Schwerkrimineller und Waffenschieber, landet auf der CIA-Abschussliste. Er flieht von Beirut nach Deutschland, um seine Finanzmisere zu beenden, bevor er sich in ein CIA-freies Land absetzen kann. Sein Ex-Führungsoffizier und ein paar ausrangierte Staatsschützer haben einen anderen Plan. Sie wollen zurück ins Geschäft. Dazu muss Rieger zwangsweise reaktiviert werden. Er soll wieder tun, was er früher hervorragend getan hatte: Ein gewaltiges FANAL setzen . . .
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 202
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Rieger pumpte zwei 9-mm Kugeln in die Brust des Angreifers. Der landete in einer Öllache und bekam eine dritte Kugel in den Schädel. Die beiden anderen Verfolger erreichten die Kreuzung. Für Sekundenbruchteile erhellte das Mündungsfeuer ihrer großkalibrigen Pistolen die Nacht. Geduckt überquerte Rieger die unbeleuchtete Straße und lief in eine schmale Gasse, vorbei an gammeligen Ölfässern, Haufen von grobem Schutt und stinkendem Müll. Schlieriges Wasser spritzte hoch. Er rutschte aus und schlug sich ein Knie auf. Parabellum-Projektile hämmerten über ihn hinweg ins Mauerwerk. Querschläger rissen Putz und ganze Ziegelstücke aus den Häuserwänden. Nur noch wenige Meter bis zum Eingang des Souks. Rieger kam wieder auf die Beine, feuerte blindlings auf seine Verfolger und humpelte hastig weiter. In der Nachricht des Schleusers stand, das Boot würde um zwei Uhr morgens auslaufen. Er musste sich beeilen. Aber konnte er dem Kerl noch trauen? Inzwischen wusste der halbe Libanon von dem Preis auf seinen Kopf …
Es regnete unablässig. Rieger fror. Nur die Kälte oder schon eine Grippe im Anmarsch? Er schlug den Kragen hoch und schob die Hände tief in die Jackentaschen. Ansagen dröhnten durch die große, offene Halle. Routinemäßig erfasste sein Blick den Bahnsteig. Aus dem nahegelegenen Treppenaufgang erschienen Bundespolizisten, gefolgt von privaten Sicherheitskräften in dunklen Uniformen. Rieger war kaum überrascht. Er hatte sich auf den aufgepumpten Sicherheitsapparat und die verschärften Kontrollen nach dem 11. September, besonders nach den misslungenen Kofferbomben-Anschlägen letztes Jahr eingestellt. Bullen und Kapos beäugten kritisch die zu den Ausgängen strömenden Reisenden und deren Gepäck: Koffer, Taschen, Plastiktüten, mit Bindfäden oder Gummizügen gesicherte Kartons. Rieger reiste nur mit einer Zahnbürste.
Er dachte: Besser nicht auffallen, zog seine Mütze tiefer ins Gesicht und mischte sich unter eine Rentnertruppe, die einer Frau mit einem Schild folgend zu den Treppen am anderen Ende des Bahnsteigs trottete. Auf den Stufen überholte er die Rentner und wandte sich unten nach links in Richtung Hinterausgang. Dort kontrollierten Bundespolizisten ein paar Jugendliche mit Protestschildern. Rieger las: „Ihr spekuliert mit unserem Leben“ und „Arm ist, wer arm macht“. Im Rücken der Bullenschweine verließ er den Hauptbahnhof auf der dem Dom abgewandten Seite.
Es war inzwischen dunkel geworden. Auf dem überfüllten Bahnhofsvorplatz duckten sich die Leute gegen den strömenden Regen, drängten mit aufgespannten Schirmen, mit heruntergezogenen Kapuzen, mit schützend über die Köpfe gehaltenen Aktentaschen an ihm vorbei. Sie alle telefonierten oder texteten oder starrten in die leuchtenden Monitore ihrer Smartphones. Aus zahllosen Ohrhörern tönten ihm schrille Höhen und dumpfe Bässe entgegen. Hörten sie den Soundtrack zu ihrem geilen Leben oder die endlosen Anfeuerungstiraden ihrer Erfolgsgurus? Jeder schien für sich allein in der Menge zu sein. Überall sah Rieger Isolierte, Verwirrte, Obdachlose und dachte: Da bist du wieder. Willkommen in Dunkelland.
Sein ganzer Besitz bestand aus einer goldenen Rolex Submariner als finanzielle Notreserve, einem alten Notizbuch mit kodierten Kontakten und Lageskizzen sowie zehn Euro in bar. Die hatte ihm ein Migrant mit verkrüppelten Händen geschenkt, dem er in Augsburg zwei jugendliche Neo-Nazis vom Halse schaffte. Im Nachhinein ärgerte er sich, die beiden glatzköpfigen Arschlöcher mit ihrem eigenen Baseballschläger an der Bushaltestelle verprügelt zu haben. Ein unnötiges Risiko. Es gab schließlich an jeder Ecke Kameras. Sicherheitshalber tauschte er in einem türkischen Secondhandladen seinen Lederblouson gegen eine abgeranzte Winterjacke und eine billige Mütze ein und nahm einen größeren Umweg Richtung Norden. Die Rolex trug er ab jetzt nur noch in der Hosentasche.
Das Sprit war genauso dreckig und düster wie in seiner Erinnerung. Am Tresen hingen ein paar erbärmliche Gestalten ab, die lallend gute Laune verbreiteten. Rieger blickte in lauter fremde Gesichter. Ein Glück. Er sollte nicht an alte Kampfstätten zurückkehren. Rieger trank ein Kölsch und zerpflückte zum hundertsten Mal die katastrophale Nummer in Beirut.
Als vor sechs Tagen das libanesische Militär die zweite Waffenlieferung für den syrischen Bürgerkrieg konfiszierte, fiel seine Halbwertzeit gegen null. Ihr Kunde, eine im Westen als gemäßigt geltende fanatische islamistische Miliz, stellte unmissverständlich klar: Ware her oder Geld zurück. Weil Rieger den Kontakt beim Militär rekrutiert hatte, bezichtigte sein langjähriger Geschäftspartner ihn des Betrugs. Die Syrer verlangten Riegers Kopf. Der Kontakt beteuerte auf Knien seine Ehrlichkeit, weigerte sich aber, das Bakschisch zu retournieren. Rieger kassierte das Geld und knallte ihn ab. Dumm, dass dein Kontakt unschuldig war. Er nahm sich seinen Geschäftspartner vor. Der gestand am Ende, den konfiszierten Container an eine rivalisierende syrische Miliz verscherbelt zu haben. Er knüpfte die Ratte auf und ließ es wie Selbstmord aussehen. Doppelt dumm, dass dein Geschäftspartner ein wertvolles CIA asset war, dachte Rieger noch, als die Amis ihn auf die Abschussliste setzten und eine hohe Belohnung ausschrieben. Er ballerte sich den Weg frei und floh nur mit dem, was er am Leibe trug.
Bis zum Autonomen Zentrum musste er viel zu lange durch die nasse Kälte traben. Hier bot die Küche nach wie vor billiges warmes Essen (große Portion Chili con Carne für zwei Euro), unten im Keller spielte eine Punkband. Noch so eine alte Kampfstätte. Sie bekam heute allerdings Zuschüsse von der Stadt, wie er auf einem Schild las. Subventionierte Antihaltung. Berichteten im Gegenzug die Mitarbeiter an den Verfassungsschutz? Auf einem Tisch vor dem Eingang zum Saal lagen CDs und Pamphlete aus, die über den Freiheitskampf im Chiapas aufklärten, dem sich die mexikanische Band verpflichtet fühlte. Spontan ballte Rieger die Revoluzzerfaust. Hasta siempre. Ein wohlig warmes Gefühl beschlich ihn, was aber auch an seiner ersten warmen Mahlzeit in zwei Tagen liegen konnte.
Drinnen war es heiß und stickig. Riff-Stakkatos knallten wie Maschinengewehrsalven. Er drängte an alten und jungen Punk-Fans vorbei zur Bühne. Der Sänger rotzte ins Publikum. Als der Pogo explodierte, war Rieger mittendrin, brüllte, schrie sich die Lunge aus dem Hals, rammte hart in seine Mittänzer. Nur ein Punkerpärchen hielt dagegen. Bald bildete sich ein Kreis um die drei wild zuckenden Freaks.
Diese Nacht verbrachte er bei dem Punkerpärchen und ihrer Schäferhund-Labradorhündin in einem Bauwagen auf einem besetzten Gelände. Gegenüber leuchteten die Lichter von zwei Laufhäusern, trostlose Verrichtungsklötze aus Beton mit roten Neonlampen in den Fenstern. Rieger verschwendete keine Gedanken an den Zustand der Welt, er benötigte eine Lösung für seine akuten Geldprobleme. Die Schäferhund-Labradorhündin spürte seine Unruhe und kuschelte sich an ihn. Am nächsten Morgen fand er in einer alten Kaffeedose 104 Euro, von den Punks zusammengebettelt, in Fünfern, Zehnern und Hartgeld. Rieger gönnte sich davon eine Übernachtung in einer billigen Absteige mit Dusche und drei Mahlzeiten. Er begann nach Georg zu suchen. Als er dessen neue Adresse ausfindig gemacht und ihn zur Sicherheit 24 Stunden observiert hatte, riskierte er die Kontaktaufnahme in einem Backshop. Georg frühstückte hier ein Croissant.
„Jan …?“ Er schaute entgeistert.
Der dunkle Raum in der Abteilung 5 war fensterlos und klimatisiert. Horst war allein. Noch knapp eine Stunde bis zum Ende seiner öden Nachtschicht, dann würden die Kollegen kommen und der Führungsebene wieder eine Zusammenfassung der Vortagesereignisse nebst Videoauswertung präsentieren. Die Lage hieß das offiziell. Es gab mal eine Zeit, da hatte es keine Lage ohne ihn gegeben.
Horst sah zu den zwölf Monitoren, die das Occupy-Camp auf dem Platz vor der EZB aus verschiedenen Blickwinkeln zeigten. Unzählige Scheinwerfer überstrahlten die anbrechende Dämmerung. Zwischen einzelnen Bäumen und ins Erdreich gerammten Holzstangen hingen große Banner, auf denen in bunten Buchstaben halbgare Parolen standen. Völlig an der Realität vorbei, wie alles von den Spinnern im Camp, dachte er. Eine regungslose Stille lag über den vielleicht dreißig Zelten mitten im Frankfurter Bankenviertel. Die Studentenbrut pennte noch. Im Hintergrund reihten sich die Übertragungswagen der TV- und Radiosender aneinander. Die Medienfuzzis pennten ebenso. Seit Wochen war die Lage festgefahren und Horst gezwungen, tatenlos zuzusehen. Die feigen Verantwortlichen in Berlin faselten was von Verständnis und ließen die illegalen Platzbesetzer einfach gewähren. Diese diskutierten endlos mit Journalisten und Politikern im Fernsehen, hielten Vorträge für Rentner und Schülergruppen und verteilten Flugblätter mit unsinnigen Forderungen an Banker und Manager.
„Ihr renitenten Schwachköpfe“, rief Horst laut. Er hätte diesen Affenzirkus längst beendet. Radikal und konsequent. Aber ihn fragte ja keiner. Horst unterdrückte seine Wut und blickte erneut zur Uhr. Kniepmeier müsste gleich eintreffen. Er leerte seinen Kaffeebecher, griff seine Gauloises und das Zippo und erhob sich schwerfällig.
Wie immer parkte Kniepmeier ganz hinten in der Tiefgarage. Horst achtete genau darauf, im toten Winkel der Überwachungskameras zu bleiben, als er sich dem schwarzen 3er BMW näherte. Er stieg auf der Beifahrerseite ein.
„Mensch, Horst, mach bitte die Kippe aus.“
„Hör auf, meine filterlosen Freunde zu diskriminieren.“ Er nahm noch zwei Züge, bevor er den Stummel hinauswarf und die Tür schloss.
Kniepmeier zog ein unglückliches Gesicht.
„Na, was musst du mir beichten?“, fragte Horst.
„Ich werde nach Berlin versetzt.“
„Wann?“
„Montag.“
„Das erzählst du mir jetzt erst?“
„Sei doch froh, dass ich es dir erzähle.“
Kniepmeiers Versetzung schnitt Horst endgültig vom Zugang zur internationalen Terrorlage ab. Nach bald vierzig Jahren im Geschäft vollends isoliert. Zum Verrücktwerden. Er steckte sich eine Zigarette an und begann den Wagen vollzuqualmen. Reiß bloß das Maul auf, du schwuler Kinderficker, dachte Horst.
Aber Kniepmeier verkniff sich seinen Protest.
„Zeig schon her.“
Kniepmeier klappte einen Laptop auf und tippte sein Passwort ein. Eine Datei öffnete sich.
Horst überflog die Berichte und fragte beiläufig: „Wo geht’s denn hin?“
„Ich komme ins Kanzleramt.“
„Sieh an, ins Sekretariat der deutschen Industrie.“
„Was willst du überhaupt von mir?“, verteidigte sich Kniepmeier. „Du hast dich doch selbst ausrangiert. Warum gehst du nicht endlich in die Industrie? Experten für Wirtschaftsspionage oder Anti-Terrorconsulting werden dort händeringend gesucht.“
Horst hörte nur mit halbem Ohr zu. Er las zum zweiten Mal eine sechs Tage alte Meldung aus Beirut. Die Amis suchten in Verbindung mit fünf Morden einen Mann, der sich die letzten dreizehn Jahre im Nahen Osten aufgehalten hatte und angeblich in illegale Waffengeschäfte verstrickt war. Ein Deutscher oder Österreicher. Möglicherweise hatte er sich nach Europa abgesetzt. Beim Anblick des grobkörnigen Bildausschnittes aus einem Überwachungsvideo verspürte Horst einen Adrenalinschub, als wäre er von den Toten auferweckt worden.
„Ich habe da ein paar exzellente Kontakte“, sagte Kniepmeier. „Soll ich die Fühler für dich ausstrecken?“
„Haben die denn keine Vorbehalte gegenüber einem absolut skrupellosen Charakter mit meinem Werdegang?“
„Sie zahlen wirklich sehr gut.“
„Mach mir lieber hiervon eine Kopie.“
„Unmöglich.“
Horst starrte ihn ohne Wimpernschlag an.
Kniepmeier wich dem Blick aus. „Du weißt genau, das kann ich nicht. Ich riskiere auch so schon zu viel.“
„Und du weißt genau, wozu mich mein absolut skrupelloser Charakter in dem Fall zwingen würde.“
Kniepmeier kopierte die Datei auf einen USB-Stick. „Zum Glück bin ich ab Montag weg.“
So viel Glück hat niemand, dachte Horst und betrachtete erneut das Bild des Mannes, auf den nicht nur die Amis richtig scharf waren. Kein Zweifel, es war die verlogene Fresse von Ringo alias Togger alias Jan.
„Das gibt’s doch nicht …“, sagte Georg. „Mensch, Jan.“
Mit einer Tasse Kaffee und einem Ei-Brötchen stellte Rieger sich zu ihm an den Stehtisch. Georg war ein hagerer Frühfünfziger mit langen, grausträhnigen Haaren und schmaler, schwarz geränderter Brille. Der Verfassungsschutz hatte ihn jahrelang im Visier. Man vermutete, er würde dem engeren Sympathisantenkreis der RAF angehören. Diese Einschätzung verdankte Georg seiner Mitarbeit an einem Flugi, in dem die Zusammenlegung der politischen Gefangenen in der damaligen BRD gefordert wurde. Später überließ er einem polizeilich gesuchten Pärchen für ein paar Nächte sein Bett. Der gewaltsame Tod des Mannes auf den Gleisen eines Kleinbahnhofs löste bei Georg Panikattacken aus. Die Vorstellung, selbst im Kugelhagel der Bullen zu verrecken, veranlasste ihn, seine Bettwäsche zu verbrennen und in eine andere Stadt zu ziehen.
Jetzt war er wieder völlig aufgeregt.
Rieger legte ihm eine Hand auf den Unterarm. „Entspann dich. Ich bin’s nur.“
„Mensch, wie lange …? Zehn, zwölf Jahre?“ Georg zitterte unwillkürlich.
„Dreizehn. Sprich normal“, sagte Rieger.
Georg atmete ein paar Mal tief ein und aus. Er beruhigte sich etwas, biss in sein Croissant.
„Und, wo warst du so?“, fragte er kauend. Einige Krümel klebten an Lippen und Kinn.
„Hier und da. Ich bin seit gestern zurück.“ Rieger prüfte den Kaffee. Eine dünne Brühe. Er nahm trotzdem einen Schluck. „Kann ich bei dir pennen?“
„Äh … na klar, überhaupt kein Problem. Im Gegenteil.“
„Gut. Wollen wir?“ Rieger stellte seine Kaffeetasse ab.
„Geht nicht. Ich muss zur Arbeit. Ist ein mieser Job, aber … ich bin alt und brauche das Geld“, Georg lächelte Verständnis heischend und begann in seiner Jacke zu kramen. „Warte, ich geb dir die Adresse.“
Rieger las auf dem Kopf, welche Straße und Hausnummer Georg in seiner kleinen, gestochenen Schrift für ihn notierte.
„Äh … Suchen sie dich noch?“
„Macht das einen Unterschied?“
„Keine Sorge, ich werde schon lange nicht mehr über-wacht“, sagte Georg und schob ihm den Zettel rüber. „Um sieben bin ich meistens zu Hause. Komm dann vorbei.“
Zum Abschied meinte er, seinen alten Freund Jan umarmen zu müssen. Rieger gab ihm einen warnenden Blick. Georg betrachtete unschlüssig seine Hände.
„Hast recht … Also bis nachher.“
Eilig verließ er den Backshop.
Rieger biss in sein Brötchen. Er kaute und trank dazu den dünnen Kaffee. Er vermisste seinen morgendlichen Mokka. Georg war keine zwei Minuten fort, da kam ein uniformierter Polizist herein. Rieger registrierte die P6 Dienstwaffe und die Handfesseln. Der Bulle blieb stehen, erfasste mit einem Blick das Ladenlokal und sah Rieger am Stehtisch an. Das Funkgerät knarzte. Hatte Georg ihn verraten? Ein zweiter Bulle betrat den Backshop, eine Frau mit blondem Pferdeschwanz. Ihre rechte Hand ruhte am Griff ihrer Pistole, als auch sie zu Rieger blickte.
Um Jans Spur aufzunehmen, brauchte Horst Insiderinfos. Er musste seine alten Kontakte abklappern. Anstatt im Bett verbrachte er nahezu den ganzen Tag an den letzten öffentlichen Telefonsäulen im Stadtgebiet. Die Leute schätzten Diskretion, falls sie überhaupt mit ihm sprechen würden. Zuerst rief er bei Zöllinger an, der wusste meistens Bescheid und schuldete Horst noch einen Gefallen. Seine Anschlüsse existierten nicht mehr. Er strich Zöllingers Namen aus dem Register. Nachdem er vier oder fünf weitere Personen angerufen hatte, die entweder sofort auflegten oder sich verleugnen ließen, ihre Namen strich er ebenfalls durch, versuchte Horst es bei Linse, einem ehemaligen BND-Mitarbeiter mit Auslandseinsätzen auf dem Balkan und in Nahost.
Linse schien für die Störung dankbar zu sein. Er langweilte sich seit seiner Pensionierung. Horst hätte ihn direkt anrufen sollen, konnte den Typ aber nicht ausstehen. Der Ex-BND-Agent schwafelte von seinem super Fitnesstraining und seiner neuen Topdiät und dass noch sieben Kilo runterkämen, dann hätte er wieder sein altes Kampfgewicht. Mit den Pfunden purzelten die Jahre, ob Horst das wüsste? Linse überlegte ernsthaft, sich als Sicherheitsberater selbständig zu machen.
„Wirtschaftsspionage oder Anti-Terrorconsulting?“, fragte Horst, dem Linses Ambitionen scheißegal waren. Fühlten sich eigentlich alle Agenten nach einer Karriere im Staatsdienst unter Wert verkauft und träumten kurz vor Toresschluss vom großen Geld? Degeneriertes Pack.
Linse sagte: „Ich hab da keine Präferenzen. Hauptsache, die zahlen gut.“
„Tun sie bestimmt. Man braucht dafür aber einen skrupellosen Charakter, wie mir bestätigt wurde.“
„Ich war dreißig Jahre bei den Spähern, reicht das?“
Linse hielt Sitzfleisch bestimmt für eine besondere Qualität, von Charakter hatte der Kerl sicher nie viel gehalten, dachte Horst. Er hatte genug von dem Geplänkel.
„Prima, dann kannst du mir vielleicht weiterhelfen? Ich bräuchte eine zweite Meinung.“
„Du willst was gegenchecken?“
„Keine große Sache.“
„Weiß dein Experte das?“
„Was glaubst du, würde ich dann morgen noch seine Expertise kriegen? “
„Haha. Was willst du wissen?“
Die Nummer klappte immer, keiner wollte der Erste sein, der seine Expertenmeinung äußerte, doch die Meinung eines Kollegen niederzumachen, ließ selten jemand sausen. Eleganter als Mobbing und doppelt so hinterfotzig. Horst fragte, wie man am besten mit falscher Identität unter dem Radar aus dem Libanon nach Deutschland reisen konnte.
„Als Deutscher mit Vergangenheit, meinst du?“
„Zum Beispiel.“
„Über Land dauert es länger, ist aber sicherer“, sagte Linse nach einigem Überlegen. „Das hängt von den finanziellen Möglichkeiten und der Qualität seiner Papiere ab. Es gibt genügend Schmuggler. Oder alternativ als Touri von Tripolis mit dem Schiff nach Zypern, in den griechischen Teil. Da bist du schon mal in der EU. D ann weiter nach Igoumenitsa oder Patras in Griechenland. Von da mit der Fähre nach Bari oder Brindisi. Dann mit dem Zug oder per Anhalter, am besten mit ‘nem LKW, nach Norden. Als hellhäutiger Europäer kommst du problemlos über die Grenze nach Deutschland.“
„Junge, Junge.“ Horst ließ es ärgerlich klingen.
„Na, welchen Blödsinn hat der Kollege verzapft?“
„Ich schäme mich, es dir zu sagen.“
„Hättest du dich man gleich an mich gewandt.“
„Das weiß ich jetzt auch“, sagte Horst. „Wie können sie dich nur in Rente schicken?“
„Musst du nicht mir erzählen. Meinst du wirklich, die Industrie wäre was für mich?“
„Unbedingt.“
Drei banale Sätze weiter hängte Horst ein. Gott, war der Kerl unerträglich. Aber Linse hatte seinen Instinkt bestätigt. Würde Jan sich wieder nach Deutschland wagen? Horst konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Er schluckte zwei Pep-Pillen. Bei schwindender Konzentration und steigender Müdigkeit war auf Pep Verlass. Das Zeug hielt ihn notfalls drei Tage und länger auf den Beinen – hatte es früher schon. Er musste unbedingt seine alten Notizbücher und Berichtskopien aus den 80er- und 90er-Jahren durchsehen. Die lagerten in einem Bankschließfach, das Horst unter einem Alias angemietet hatte. Eine Vorsichtsmaßnahme, weil er einige Monate lang ernsthaft befürchten musste, man würde ihn verhaften.
Den letzten Vermerk in Jans Akte brauchte Horst nicht nachzulesen, er konnte ihn auswendig: „J. erschien weder am ersten noch am zweiten Treffpunkt. Überprüfung ergab, dass er Objekt A schon vor längerer Zeit aufgegeben hat. J. muss Verdacht geschöpft haben – undichte Stelle oder 6. Sinn? Wer könnte die undichte Stelle sein?“ Das hatte er im Herbst 1998 geschrieben, unmittelbar nach der offiziellen Selbstauflösung.
Kurz vor Geschäftsschluss holte Horst seine Notizbücher aus dem Bankfach. Die Kopien von Jans Berichten nahm er ebenfalls mit. Nur die Walther P4 von dem Anschlag gegen M. und der Exekution des Informanten schloss er wieder ein. Beide Taten galten bis heute offiziell als nicht aufgeklärt. Auf der P4 befanden sich Jans Fingerabdrücke.
Die Polizistin sah zu Rieger herüber, die Hand unverändert am Griff der Pistole.
Aus den Augenwinkeln verfolgte er die Bullen. Sie blockierten seinen Fluchtweg. Er war unbewaffnet. Zu dumm, dass er seine Browning BDA auf Zypern zu Geld machen musste. Unauffällig umschlossen die Finger seiner rechten Hand den Tellerrand. Er würde den Mann zuerst erledigen, den Teller zerbrechen und ihm eine Scherbe in die Kehle rammen, danach die Frau ausschalten, ehe sie ihre Waffe ziehen oder Verstärkung alarmieren konnte. Die beiden oder er. Die Schweine ließen ihm keine andere Wahl. Er lauerte auf ihre kleinste verräterische Bewegung.
In diesem Moment wandte die Polizistin ihren Blick von ihm ab und trat neben ihren Kollegen. Sie musterte die belegten Brötchen, Baguettes und Gebäckstücke in der Vitrine. Der Polizist bestellte zwei Kaffee zum Mitnehmen, die Polizistin ein Hörnchen. Der Weg war frei. Rieger ließ sein halbgegessenes Ei-Brötchen liegen, wischte sich Mund und Hände mit der Serviette ab. Im Hinausgehen stellte er wie jeder Gast seinen Teller und Kaffeebecher auf ein Tablett mit benutztem Geschirr. Auf der Straße parkte ein Streifenwagen in zweiter Reihe. Er war unbesetzt. Die Bullen drehten offenbar ihre gewöhnliche Runde und legten eine Frühstückspause ein.
Bevor Rieger abbog, prüfte er, ob ihm jemand folgte.
Später am Nachmittag blieb er vor den Schaufenstern einer Kunstgalerie stehen. Ihre weiß gestrichen hohen Räume waren hell erleuchtet und mit Street-Art dekoriert, Reproduktionen in streng limitierter Auflage, zum Teil Einzelstücke, alle handsigniert von einem Starkünstler namens Exxkrement. Sein übergroßes Porträt zeigte einen ausgemergelten Kerl mit Tattoos, Piercings und neongrünem Irokesen. Hier war ein Alchimist, der die Scheiße der Straße zu Gold verwandelte. Rieger hatte noch nie von ihm gehört. Eine schlanke Frau mit kurzen blondierten Haaren telefonierte stark gestikulierend, betrachtete dabei einzelne Werke, als würde sie einem Interessenten deren besondere künstlerische Einzigartigkeit schildern oder ihm den Wert als Geldanlage schmackhaft machen. Sie besaß die Figur einer disziplinierten Fitnesssportlerin und trug kaum Make-up. Er hatte nicht gewusst, dass sie sich für Kunst interessierte. Rauke war Georgs Ex und Paulis Mutter. Sie hatten früher viel miteinander gebumst. Rieger ging nicht hinein.
Nach mehreren Schleifen und Umwegen erreichte er gegen 18:50 Uhr die Straße, in der Georg wohnte.
Das Gebäude war dunkel, nur in der dritten Etage gab es ein paar helle Fenster. Rieger drückte auf den Knopf neben dem Namensschild und musste länger warten, bevor der Türsummer ertönte. Im Treppenhaus ging das Licht an. Er betrat den Hausflur und blieb im dunklen Kellereingang stehen, bis die Lampen im Treppenhaus erloschen. Danach stieg er die Stufen zur dritten Etage hinauf.
Die Wohnungstür war angelehnt. Er trat ein und schob sie hinter sich zu. Eine Dusche rauschte. Ein Oberlicht im Flur war erleuchtet. Dort befand sich das Badezimmer.
Rieger inspizierte die weiteren Räume.
Das Wohnzimmer war spärlich möbliert und besaß keinen Fernseher. Dennoch eindeutig eine Männerwohnung, dazu die Bude eines Intellektuellen, kaum Pflanzen, stattdessen überquellende Bücherregale. In einem anderen Raum stand neben einem schmalen Bett ein von Büchern und Papieren überladener Schreibtisch. Es schien Georgs Arbeits- und Schlafzimmer zu sein. Dann war da ein Jugendzimmer. Ein großes französisches Bett, an der Wand eine schwarze Fahne mit einem roten Anarchie-Symbol, auf dem Schreibtisch ein Computer und zwei Bildschirme. Bestimmt Paulis Bude. Der vierte Raum war eine knapp zwei Meter breite Abstellkammer voller Umzugskartons. Ein schmales Fenster zeigte nach vorn zur Straße hinaus, davor lehnte ein altes Klappbett.
Ausreichend, befand Rieger.
Er ging in die Küche und zog die Vorhänge zu, ehe er Licht machte und sich auf einen Stuhl setzte. Auf dem Tisch lagen ein Schlüsselbund mit einem Band zum Umhängen, eine Schachtel Marlboro und ein billiges Feuerzeug. Im Aschenbecher waren Zigarettenstummel, darauf blutrote Lippenstiftspuren. Das Rauschen der Dusche endete. Rieger legte die Hände auf die Tischplatte. Er hatte die meiste Zeit seines Lebens mit Warten verbracht, mit Beobachten, Nachdenken und Planen, mit Vorbereiten und noch mehr Warten. Die eigentlichen Aktionen dauerten häufig nur Sekunden, höchstens wenige Minuten. Außer Entführungen. Aber die gingen oftmals schief. Es sei denn, man bewegte sich in einem unübersichtlichen Gebiet im Dschungel, in den Bergen oder im Wirrwarr eines Slums.
Eine Frau, keine zwanzig Jahre alt, kam in die Küche. Bis auf ein um den Kopf gewickeltes Handtuch war sie nackt.
„Oh …“, sagte sie, für einen Moment überrascht. „Ich dachte, es ist Paul. Er hat seine Schüssel vergessen.“
Sie deutete mit dem Kinn Richtung Schlüsselbund.
„Und ich dachte, du bist Georg“, sagte Rieger und fügte hinzu: „Jan.“
„Mila“, sagte die junge Frau.
Sie fingerte eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an. Sie rauchte völlig unbefangen im Stehen, die Arme unter ihrem kleinen Busen verschränkt. Rieger vermied es, ihren Körper direkt anzuschauen.
„Mit Georg verabredet?“
Er nickte. Ihre Brüste gefielen ihm. Das entging Mila nicht, es gefiel ihr.
Sie sagte: „Ich habe dich hier noch nie gesehen.“
„War auch länger nicht da.“
„Knast aber nicht?“
„Passt das zu meiner Strandbräune?“
„Es gibt auch Arbeitslager im Freien.“
„Nicht in Deutschland“, sagte Rieger.
„Meinetwegen. Dafür im Süden. Und warste?“
„Ganz schön neugierig. Überleg mal.“ Er lächelte.
„Gefallen dir meine Titten?“ Mila reckte sich vor.
Ehe Rieger etwas erwidern konnte, läutete es.
„Das ist jetzt Paul.“ Mila drückte ihre Zigarette aus und ging in den Flur. Sie hatte blaugelbe Flecken auf ihrem Rücken. Abklingende Blutergüsse.
„SM oder Folter?“, fragte Rieger laut.
„Ganz schön neugierig. Überleg mal“, rief Mila aus dem Flur.
Rieger hörte den Türsummer und kurz danach, wie sich die Badezimmertür schloss. Das Geräusch eines Föhns drang bis in die Küche. Er wartete erneut. Schließlich wurde die Wohnungstür aufgestoßen und wieder zugeschlagen. Ein magerer, bleicher Junge mit dunkler Brille und wirren, in die Stirn hängenden Haaren schleppte eine Kiste Bier und zwei Flaschen Cola herein. Er stellte die Kiste auf den Tisch, sah Rieger einen langen Moment an.
„Dich kenne ich.“
„Würde mich wundern. Du warst höchstens fünf.“
„Trotzdem.“
„Bist groß geworden, Pauli.“
„Bleibt nicht aus“, sagte der Junge, nahm eine Flasche Cola, öffnete sie und trank einen großen Schluck. „Paul übrigens. Was machst du hier?“
„Hat dein Vater nichts gesagt?“
„Georg hasst Handys. Was trinken?“
„Wasser.“
„Keine imperialistische Brause?“ Er meinte die Cola.
Rieger musste grinsen. Paul holte ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Wasser aus dem Kran. Mila kam wieder herein. Sie hatte sich angezogen. Die langen, dunklen Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden, trug sie teure Designerklamotten. Ihre Augen waren schwarz geschminkt, ihre Lippen blutrot wie die Lippenstiftspuren auf den Zigarettenstummeln im Aschenbecher. Sie legte Paul eine Hand in den Nacken und gab ihm einen Zungenkuss. Eine Show für Rieger.
Paul löste sich von ihr. „Das ist ein Freund von Georg.“
Ein schüchterner Junge, ganz der Vater, dachte Rieger.
„Er heißt Jan, behauptet er jedenfalls.“ Mila steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und öffnete mit dem Feuerzeug eine Bierflasche.
Paul begann mit der Zubereitung des Abendbrots.
„Als ich klein war, tauchte der Typ ein paar Mal bei uns auf. Heimliche Besuche, meistens abends oder nachts. Ich hab durch den Türspalt gelauscht.“
„Immer mit der Angst, erwischt zu werden, was?“ Rieger nahm sein Glas.
„Wovor sollte ich Angst gehabt haben?“, fragte Paul.
„Bist also doch ein Krimineller“, sagte Mila.
Rieger trank einen Schluck Wasser und sah Mila in die Augen. Sie streckte ihm die Zunge aus.
Paul hob die Bierkiste vom Küchentisch. „Ich hab geahnt, dass mit ihm was nicht stimmte. Georg konnte gut abwiegeln, hat immer gesagt, das träumst du nur.“
„Das war auch richtig so“, sagte Rieger.
Mila qualmte eine Kippe nach der anderen. Sie trank als einzige Bier.
Rieger musterte das komische Pärchen: Paul war ein intelligenter Grübler und rebellischer Nerd im Pennerlook, qualvoll um Lässigkeit bemüht; Mila ein materialistisches Girlie, das auf sexuell-provokant machte, bestimmt, um es ihrem reichen Papi zu zeigen. Sie kostete seine diskreten Blicke aus. Die war Gift auf zwei Beinen.
„Der Typ ist voll der Spanner“, sagt Mila zu Paul und leckte sein Ohrläppchen.
„Lass das.“ Er schob sie weg.
Geräusche im Flur. Georg erschien und begann seinen Parka und Schal abzulegen: „Du qualmst hier wieder die ganze Bude voll.“
„Willste auch einen Zug?“, fragte Mila und bot ihm ihre Zigarette an.
Georg hing seine Sachen an die Garderobe im Flur. Rieger lächelte verstohlen. Paul verzog keine Miene. Gleichmütig machte Mila die Zigarette aus.
Dann saßen sie zu viert am Tisch und aßen Butterbrote. Außer Mila, sie knabberte nur an einer Gurke.
„Ich muss auf meine Figur achten.“
„Das kann man mit Bier und Zigaretten sicher am besten“, sagte Rieger.
Sie lachte. Paul grinste gequält. Georg konzentrierte sich auf seinen Teller. Nach dem Essen stand der Junge auf und fing an, den Tisch abzuräumen.
„Mach ich schon. Geht mal“, sagte Georg.
„Abwiegeln, siehste. Hat sich nicht geändert“, sagte Paul zu Mila.
Sie griff ihn bei der Hand, zwinkerte Rieger zu. Die beiden verließen die Küche und kurz darauf die Wohnung.
Georg war nervös. Das Wiedersehen hatte ihn den ganzen Tag beschäftigt. Jan verschwand damals ohne ein Wort. Georg fühlte sich ausgegrenzt, nicht vertrauenswürdig. Bis heute Morgen wusste er nicht einmal, ob Jan überhaupt noch lebte. Eine Ewigkeit wie vom Erdboden verschluckt und fragte als Erstes: Kann ich bei dir pennen? Was hätte Georg antworten sollen? Nein oder ist mir nicht recht? Es war ihm nicht recht. Aber Jan brauchte ihn. Sonst hätte er nicht gefragt. Das sagte alles. Freundschaft bewies sich in der Not.
Er nahm zwei Flaschen Bier aus der Kiste.
„Auch eins?“
„Klar.“
Georg versuchte, eine Flasche aufzuhebeln, benötigte dazu mehrere Anläufe. Schaum quoll aus der Öffnung. Er leckte ihn ab und wischte mit einem Handtuch hinterher.
Rieger öffnete sein Bier lieber selbst.