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Tief in der deutschen Provinz: Ein korrupter Sheriff. Ein allmächtiger Fleischfabrikant. Ein ermordeter Arbeitskämpfer. "Der Wille des Metzgers ist in diesem Kaff Gesetz. Ihm gehört hier alles. Auch ich, Klaas Brock, Leiter der Polizeiwache, gehörte ihm. Bis vor wenigen Tagen noch war ich sein Sheriff, gab für ihn den Ausputzer. Heute will er meinen Kopf. Auf einem Silbertablett mit ausgestochenen Augen und meinem Schwanz zwischen den Zähnen." Das blutige Schlachten beginnt . . .
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Seitenzahl: 134
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Die ganze Scheiße fing mit dem Unfall in der Fleischfabrik an. Um das gleich mal klarzustellen, wäre der Trottel nicht in die Maschine geraten und von der Kreissäge der Länge nach aufgeschnitten worden, dann wäre nichts von alledem geschehen. Gar nichts. Ich hätte keine acht Menschen auf dem Gewissen und würde jetzt nicht diese viel zu enge Panzerweste voll schwitzen und mit einer fertiggeladenen und entsicherten HK7 Maschinenpistole auf die Harten Hüte warten.
Ihr sollt wissen, wie es so weit kommen konnte. Ich werde die Wahrheit berichten, wie sich meiner Meinung nach alles zugetragen hat. Ich verspreche euch, nichts zu verschweigen.
Als mich der Anruf erreichte, ging ich gerade meiner Nebentätigkeit nach. Der Bungalow, zu dem ich mir Zutritt verschafft hatte, war mit teueren und geschmacklosen Möbeln vollgestopft. Die meisten davon sicher unbezahlt. Versteckte Lautsprecher verströmten seifige Musik wie aus einem französischen Erotikfilm der 1970er-Jahre. Ich näherte mich einem echten Schmierlappen von Kerl. Er trug einen offenen Hausmantel aus roter Seide, unter dem eine schwammige, solariumgebräunte Mittelpartie hervorlugte, dazu Boxershorts mit Paisleymuster und blau-weiße Adiletten. Wie immer bevorzugte ich bei diesen Jobs schlichtes Schwarz: Acryl-Sturmhaube, Polyester-Baumwoll-Overall und Premium-Latexhandschuhe. Meine Nebentätigkeit kann man mit Einschüchtern und Eintreiben beschreiben. Viele Kollegen machen nebenher in Immobilien oder Versicherungen oder arbeiten an der Tür, ich bin aktiv in Gerechtigkeit. Diskret gegen Bares und ohne Beleg.
Der Schuldner telefonierte mit so ‘nem teuren I-Dings. Wei er nicht aufhörte, mich anzustarren und debil „hm-hm … hm-hm“ von sich zu geben, entriss ich ihm das Teil und schlug es ihm hart an den Kopf.
Der Schlag weckte ihn anscheinend auf, denn er schaltete auf Angriff. Wir beide waren ungefähr im gleichen Alter, er war deutlich schlanker als ich, aber weniger trainiert. Ich stoppte ihn mit einem Stoß auf den Solarplexus und warf ihn mit einer Drehbewegung zu Boden, wo ich ihn in einem schmerzhaften Haltegriff fixierte.
„Hör zu, Meister, ich weiß, du hortest größere Mengen Bargeld. Ich bekomme jetzt von dir genau 14.300 Euro. Also nick schön mit dem Kopf und sag brav Ja.“
Er schüttelte den Kopf und sagte mit gepresster Stimme: „Fick dich, Arschgesicht.“
Das erste Prinzip beim Geldeintreiben lautet: Dem Schuldner keine Zeit zum Nachdenken geben. Er muss so viel Druck kriegen, dass nur ein einziger Gedanke in seinem Hirn hämmert: zu tun, was ich von ihm verlange. Ich zog den Hebel an, er schrie auf. Ich hob ihn auf die Beine, er schrie lauter. Wir beide marschierten in sein Büro. Der Safe war hinter einem Bild versteckt in die Wand eingelassen. Der Schuldner weigerte sich, ihn zu öffnen. Sein gerötetes Gesicht verriet eine Mischung aus Trotz und Feindseligkeit. Vermutlich besaß er Erfahrung mit Geldeintreibern und ließ sich nicht so leicht einschüchtern.
„Aufmachen. Ich sag’s dir nicht noch einmal.“ Ich flüsterte beinahe, das machte es immer dramatischer.
„14 Lappen. Mann, das sind doch Peanuts!“, krähte er. „Ich verschaff dir das Doppelte.“
Das zweite Prinzip lautet: Keine Widerworte, und das dritte: Keine Diskussion. Gleich zwei Verstöße, die ich sofort ahndete. Ich brach ihm die Zeige- und Mittelfinger seiner linken Hand. Der stechende Schmerz ließ ihn erneut aufheulen. Ihm kamen die Tränen, doch er biss die Zähne zusammen.
„Ich mach den Safe nicht auf.“
Wirklich ein zäher Bursche. Darum nahm ich seinen Kiefer in die Hände, schob ihm den Kopf in den Nacken und presste langsam aber stetig meine Daumen in seine Augen. Er brüllte, versuchte meine Hände wegzuziehen. Die Schmerzen wurden wohl unerträglich, es roch nämlich auf einmal kräftig nach Urin. Mr. Trotzig hatte in seine Boxershorts gestrullt und gab auf. Es dauerte einige Zeit, bis er wieder klar sehen und die Zahlen auf dem Drehknopf erkennen konnte. Dann öffnete er mühsam den Safe. Seine beiden gebrochenen Finger behinderten ihn dabei, er war Linkshänder. Hätte ich vorher dran denken müssen. Nachlässig von mir.
Und genau in diesem Augenblick summte mein Handy. Für einen Moment abgelenkt, entging mir die kleine Pistole, die oben im Safe auf einem Stapel Papiere lag. Es war beinahe wie in einem schlechten Krimi. Mit einer hastigen Bewegung zielte er auf mich, ich schlug die Waffe herunter und kickte sie unter ein Regal. Der Schuldner bückte sich eilig, um sie aufzuheben. Ich trat ihm in den Arsch. Er knallte mit der Fresse voran in das Regal und blieb wimmernd liegen. Wütend räumte ich einen Armvoll Bücher ab. Schwere, gebundene Hochglanz-Foto-bände über Traumstrände und Wunderwerke der Architektur prasselten auf seinen Kopf und Rücken. Ich trat ihn erneut. Diesmal in die Rippen. Ihm blieb die Luft weg. Nach einem Moment begann er zu japsen und zu würgen. Ich holte die Pistole unter dem Regal hervor. Sie verschoss Gaspatronen und war nicht mal geladen.
„Du Pissnelke“, sagte ich und stellte ihm einen Stiefel auf den Hals. Mein Handy summte die ganze Zeit über. Jetzt nahm ich den Anruf entgegen.
„Es gab einen Unfall in der Produktion“, sagte die Stimme von Wiethold Verlmeyer auf meiner Mobilbox. „Setzen Sie sich bitte mit Hütter in Verbindung. Vielen Dank.“
Im Hintergrund waren schwach Fangesänge und vereinzelter Jubel zu vernehmen. Der Metzger hatte aus seiner VIP-Loge im Stadion angerufen, was äußerst selten, eigentlich nie vorkam, denn Fußball war ihm eine heilige Sache. Mit Produktion meinte er einen der größten Schlacht- und Zerlegebetriebe Europas auf einem Gelände in den Ausmaßen von 24 Fußballstadien.
Hier lässt der Metzger die Hälfte der 15 bis 16 Millionen Schweine schlachten, die sein Unternehmen jährlich verarbeitet. Um die Fleischfabrik herum dröhnt der Verkehr. Hunderte Diesellaster karren die täglich benötigten rund 30.000 Tiere heran. Hunderte Kühllaster, von deren Aufbauten häufig fröhlich-debil grinsendes Borstenvieh „Verlmeyer-Fleisch, tierisch frisch“ verkündet, karren tonnenweise das zersägte und zerteilte, das je nach Kunde portionierte und eingeschweißte Endprodukt hinaus in die Wurstfabriken und Discountmärkte des Landes.
Zum 50-jährigen Firmenjubiläum spendierte der Metzger sich und seinem Heimatort eine Stadtmarketing-Agentur, damit auch alle Welt erfuhr:
„ … liegt inmitten einer herrlich unberührten Landschaft. Hier bei uns, wo saftige Weiden bis zum Horizont reichen, wo Ähren auf fruchtbaren Feldern im Wind sich wiegen, wo klare Bäche rauschen und grüne Wälder sich erheben, hier bei uns, wo Bauernhöfe im traditionellen Fachwerk ein Leben in ländlicher Idylle verheißen, da gibt es sie noch, die Ursprünglichkeit.“
Sie unterschlugen wohlweislich den zähen Gestank aus Blut, Ammoniak und Verwesung, der bei Windstille über der Kleinstadt hängt.
Ein Grund mehr, warum ich dieses Kaff so verabscheue.
Mit einem grünen A5-Etui aus Lederimitat, darauf der Prägedruck „Raiffeisen-Bank“, darin die 14.300 Euro, wovon sieben Prozent mir gehörten, verließ ich den Bungalow. Der Safe hatte locker 40.000 Euro in bar enthalten, dazu ein paar Aktien und Verträge und stapelweise unbezahlte Rechnungen. Ich zwang den Schuldner, mir den offenen Betrag genau abzuzählen, im Gegenzug erhielt er eine vom Gläubiger im Vorhinein unterzeichnete Quittung. Irgendwelche strengen Ermahnungen konnte ich mir schenken. Typen wie er gingen nicht zur Polizei, sie heuerten höchstens ein paar Schläger an oder schlitzten einem die Reifen auf. Ich verließ die Villa und eilte durch die Dunkelheit zu meinem versteckt geparkten Passat. Kaum bremste ich vor dem Fabriktor, stieg Hütter auf der Beifahrerseite ein.
„Na Brock, schon wieder ‘ne Sadomaso-Sitzung sausen gelassen?“, sagte er mit Blick auf mein Eintreiber-Outfit.
Hütter, Meinolf, Intimus vom Metzger, 51 Jahre alt, ledig. Ehemaliger Fußball-Hooligan, Szenename Gladiator, der immer noch mit kahl geschorenem Schädel herumlief, seine Springerstiefel und Fan-Kutte allerdings gegen rahmengenähte Budapester und Maßanzüge eingetauscht hatte. Dieser bösartige Pausenclown nannte sich offiziell „Leiter Werkschutz“.
Kommentarlos die Sturmhaube abziehend fragte ich: „Was ist passiert?“
Er reichte mir einen USB-Stick.
„Hier alles drauf: ärztlicher Bericht, Fotos, Ausschnitte vom Überwachungsvideo, Zeugenaussagen.“
Ich ignorierte den USB-Stick.
„Der Overall eines Ausbeiners hat sich im Transportband verheddert. Eine Torsosäge halbierte ihn“, schob Hütter lapidar als Erklärung nach.
„Üble Sache.“
„Ein dummer Unfall, sag ich doch.“
„Habt ihr keinen Notstopp?“
„Aber klar. Der funktioniert auch einwandfrei. Nur war die Schrecksekunde eine Sekunde zu lang.“
Unverändert hielt er mir den USB-Stick unter die Nase.
„Und das ist der genaue Unfallhergang?“
„Mann, schreib das so in deinen Bericht und fertig.“
Den Stick nehmend sagte ich: „Hat der Radikale schon was spitzkriegt?“
„Mach bloß’n Kopp zu.“
Ich grinste. Hütter konnte mich nicht ausstehen. Da war er nicht allein. Zieh ‘ne Nummer und stell dich hinten an.
Der Metzger hatte seit einigen Monaten Probleme mit ‘nem radikalen Aktivisten, der Pamphlete verteilte und nach Schichtende die Rumänen abpasste, um sie aufzuwiegeln. Er veranstaltete sogar Demonstrationen, bei denen er einsam mit einem Protestschild vor dem Fabriktor hin und her marschierte. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn einsammeln und zur Besinnung in die Zelle stecken durfte. Der kleine Pisser wollte nicht aufgeben, obwohl er ständig auf die Fresse bekam. Mittlerweile gärte es unter den Rumänen in der Fleischfabrik. Dem Metzger war klar, es bedurfte nur eines Funkens für einen Flächenbrand. Darum sollte ich die Unfallermittlungen schnellstens beerdigen, sonst hätte er nicht persönlich angerufen. Es stand zu viel Geld auf dem Spiel, und bei Kohle hörte der Spaß auf.
Nur falls ihr es noch nicht kapiert habt, der Wille des Metzgers ist in dieser Gegend Gesetz. Ihm gehört hier alles. Auch ich gehörte ihm: Polizeihauptkommissar Klaas Brock, Leiter der hiesigen Polizeiwache. Bis vor wenigen Tagen war ich sein Sheriff, gab für ihn den Ausputzer. Heute will er meinen Kopf. Auf ‘nem Silbertablett, mit ausgestochenen Augen und meinem Schwanz zwischen den Zähnen.
Der Radikale hieß mit bürgerlichem Namen Ansgar Wilde. Er hatte den Unfall nicht nur spitzgekriegt, sondern sich tags darauf gleich ans Fabriktor zwischen Pfosten und Torrahmen gekettet, sodass es sich nicht mehr öffnen ließ. Als ich eintraf, skandierte Wilde per Megafon lautstark irgendwelche sinnlosen Slogans, gefilmt von einigen Kids mit ihren Smartphones. Bestimmt streamten sie seine Protestaktion live im Internet. Wildes YouTube-Kanal besaß rund 100 Abonnenten, die meisten von ihnen waren junge Tier- und Umweltschützer und bestimmt auch Veganer, alles, nur keine solidarischen Arbeitskämpfer. Der Spinner glaubte dennoch unbeirrt an das Gute im Menschen, und dass Solidarität die Zärtlichkeit der Meute sei, oder wie der Spruch heißt. Lächerlich. Es kämpft jeder nur für sich. Hier bei uns besonders. Ich allen voran.
Ein paar Meter vom Tor entfernt parkte die dunkle Mercedes Limousine des Firmeninhabers. Kaum hatte ich den Motor abgestellt, stieg der Metzger aus und sah zu mir herüber. In seinem weißen Kittel mit dem roten Namenszug auf der Brusttasche machte er auf mich immer den Eindruck, als wollte er jeden Moment frisches Gehacktes in die Fleischtheke packen.
Mit einem Kaffee to go von Krämers Backshop in der Hand schälte ich mich gemächlich aus dem Fahrersitz meines Polizeiwagens und schlurfte zu ihm. Die Smartphone-Filmer witterten eine neue Entwicklung. Sie schwenkten von Wilde auf den Metzger und mich. In ihrem Rücken eilten unterdessen zwei Werkschutzmänner mit einem Bolzenschneider heran und kletterten über das mannshohe Einfahrtstor.
„Moin Sheriff“, sagte Verlmeyer wie immer.
„Moin Metzger“, erwiderte ich ebenfalls wie immer.
„Alles zur Zufriedenheit?“
Er meinte den Unfallbericht.
Ich nahm einen Schluck Kaffee und beobachtete, wie die beiden Werkschützer – von den Smartphone-Filmern zunächst unbemerkt – Wilde das Megafon entrissen und ein paar Schläge in den Bauch verpassten. Während einer ihn festhielt, knackte der andere mit dem Bolzenschneider die Kette.
Ich deutete auf den Kaffee und blickte enttäuscht. „Alles bestens, außer dass die Soße lauwarm ist.“
„Leisten Sie sich endlich einen Thermosbecher, der ist nicht nur praktischer, sondern auch umweltfreundlicher.“
Die beiden Werkschützer nahmen den zusammengekrümmten Wilde zwischen sich und richteten ihn auf.
Ich sagte: „Gute Idee, den wünsche ich mir zum Geburtstag“, drückte dem Metzger meinen Kaffeebecher in die Hand und ging zu dem Radikalen. Die Smartphone-Kameras folgten mir. Jetzt kam der mediale Höhepunkt der Aktion, auf den sie gewartet hatten: die Festnahme des Aktivisten.
„Das ist unser 25. Date, Sheriff“, rief Wilde mir mit gequälter Stimme entgegen, „finden Sie mich wirklich so unwiderstehlich?“
Er konnte bemerkenswert viel wegstecken.
„Frischfleisch ist immer sexy, Ansgar.“
Die Werkschützer drehten Wilde grob herum, damit ich ihm die Handfesseln anlegen konnte. Ich hielt mich dabei etwas seitlich, die Kamera-Kids sollten gute Bilder kriegen.
„Können Sie das noch mal machen, Wachtmeister? Dann drehen wir noch ‘ne Nahe“, schlug einer der Filmer vor.
„Kauf dir Kabelbinder und fake den Close-up“, sagte ich, hakte Wilde unter und führte ihn zum Polizeiwagen.
Die Smartphone-Filmer überholten uns.
Wilde rief dem Metzger zu: „Wann veröffentlichen Sie endlich den echten Unfallbericht? Wie lange soll die Familie von Nico Fortescu noch auf die Wahrheit warten?“
Der Metzger warf meinen Kaffeebecher fort und stieg wieder in seine Limousine. Der Chauffeur startete den Motor.
Ich öffnete die hintere Tür auf der Fahrerseite des Polizeiwagens, beförderte Wilde auf die Rückbank.
Er schrie: „Sie müssen das nicht tun, Herr Hauptwachtmeister! Sie müss–“
Die Tür schlug zu. Wilde verstummte schlagartig. Seine Show war nur für die Kameras bestimmt.
Auf der Wache ging das Kasperletheater mit der ordnungsgemäßen Vernehmung des Radikalen weiter.
„Warum haben Sie sich an das Fabriktor gekettet?“
Wir hockten an meinem Schreibtisch, ich davor mit Tonaufnahmegerät und A4-Block, auf dem ich mir Notizen machen konnte, Wilde am Kopfende, ohne Handfesseln, dafür mit einem großen Kaffeebecher aus Verlmeyers Fabrikshop, der „tierisch lecker“ versprach. Ich hatte das Aufnahmegerät eingeschaltet, Datum und Uhrzeit genannt, die Namen der Anwesenden, den Grund der Vernehmung und meine erste Frage gestellt.
Wilde verdrehte die Augen. „Das wissen Sie doch längst.“
„Helfen Sie mir auf die Sprünge.“
„Dann wiederhole ich’s für Ihr Lochhirn: Von insgesamt 2000 Arbeitern in der Produktion haben rund 500 Festverträge. Die anderen 1500 werden ausgeliehen. Sie sind offiziell bei Subunternehmern angestellt und knechten für Hungerlöhne ohne Überstundenausgleich.“
„Ihre Antwort lautet also: aus Protest?“
„Das ist übelste Lohnsklaverei, die einzig und allein der persönlichen Bereicherung von Wiethold Verlmeyer dient.“
„Soll ich das jetzt als Grund aufschreiben?“
„Bringen wir’s hinter uns, Brock. Sie kennen jeden einzelnen meiner Gründe. Wir sitzen hier jede Woche zusammen. Ich habe keine Lust, mich ständig zu wiederholen. Los, sperren Sie mich für die Nacht ein und gut ist’s. Da draußen wartet ‘ne Menge Arbeit. Im Gegensatz zu Ihrem Job erledigt die sich nicht von selbst.“
„Herr Verlmeyer hat Anzeige gegen Sie erstattet. Wollen Sie jetzt zur Sache aussagen oder wollen Sie von Ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen?“
Wilde nahm einen Schluck Kaffee und blickte mich dabei über den Becher hinweg an.
„Aussagen“, er setzte den Becher ab, lehnte sich vor und sprach direkt ins Aufnahmegerät: „Ich gebe hiermit zu Protokoll: Metzger Verlmeyer behandelt seine Arbeitnehmer schlechter als die Schweine, die sie für ihn schlachten. Die Politik gibt sich empört und ändert natürlich gar nichts.“
Ich pausierte die Aufnahme und setzte so was wie’n todernstes Gesicht auf: „Wilde, hör mir gut zu. Betriebsratsbildung gescheitert, Mindestlöhne und Pausenregelung gescheitert, Arbeitszeitbegrenzung gescheitert. Wie viel Arschtritte brauchst du denn noch, damit du’s endlich kapierst? Deine göttliche Mission hier ist erledigt, aus und vorbei. Die Fleischfabrik ist für dich ab sofort tabu. Also verzieh dich.“
„Wenn das Ding schon abgeschaltet ist, beantworten Sie mir doch die Frage, warum Sie nicht in Sachen Nico Fortescu ermitteln?“
„Die Unfallermittlungen sind abgeschlossen.“
„Es war kein Unfall. Aber das ist Ihnen ja egal.“
Er ging mir fürchterlich auf den Senkel. „Ich sag’s dir jetzt ein für alle Mal: Verschwinde von hier.“
„Das ist Ihre Antwort?“
Anstatt einer Replik ließ ich das Aufnahmegerät weiterlaufen.
„Ihr steckt alle unter einer Decke“, sagte Wilde.
„Wer sind denn ihr?“
„Na ihr alle, der Oberbürgermeister, der Stadtrat, die Landesregierung, der Bauernverband, die Fleischlobby, die Spediteure, der Lebensmitteleinzelhandel, die –“
„Interessante Verschwörungstheorie“, unterbrach ich.
„Vor allem aber Sie, Herr Oberhauptkommissar –“
„Polizeihauptkommissar.“
„Meinetwegen. Ohne Sie könnte Verlmeyer gar nicht so hemmungslos schalten und walten. Er weiß sich unantastbar.“
„Sie haben eine völlig falsche Vorstellung von der Polizei und ihren Aufgaben.“ Für das Protokoll wechselte ich wieder ins förmliche Sie, das machte sich besser.
„Aber nein, nicht möglich. Wie kann ich nur?“
„Wir leben in einem Rechtsstaat, Herr Wilde. Da ist niemand unantastbar. Vor dem Gesetz sind alle gleich.“
„Willkommen zu Brocks Märchenstunde. Wer ist denn hier das Gesetz?“
Erneut pausierte ich die Aufnahme.
„Wenn du heute noch abreist, wird Verlmeyer seine Anzeige zurückziehen. Ganz ehrlich, ich würd’s annehmen.“
Gegen Wilde liefen bereits mehrere Verfahren, seine Anwälte kämpften sich durch die Instanzen, gingen ständig in Berufung. Es interessierte ihn offensichtlich nicht.
„Du bist wirklich sein mieser Handlanger.“
„Okay.“ Ich hatte die Faxen endgültig dicke, packte grob sein linkes Ohr, zog ihn vom Stuhl hoch.
Wir fuhren bis zur Kreisgrenze, Wilde in seinem alten blauen Seat voraus, ich in meinem neuen blau-silbernen Passat hinterher. Kaum hatten wir das Kreisschild passiert, signalisierte ich ihm zweimal mit der Lichthupe. Er hielt am Straßenrand.
„Du fährst immer hübsch weiter geradeaus und hältst erst wieder an, wenn der Tank leer ist“, sagte ich und gab ihm Personalausweis und Führerschein zurück.
Ausdruckslos sah er zu mir hoch.
„Tu dir selbst einen Gefallen, Ansgar, hörst du? Komm nicht mehr zurück.“
„Was sonst? Schaust du dann tatenlos zu, wie ich gelyncht werde?“
Ganz bestimmt, du kleines Arschloch, dachte ich verärgert, kommentierte seinen Spruch aber nicht.
Den Motor startend schenkte Wilde mir einen abschätzigen Blick, bevor er abfuhr.
Leider wollte er sich selbst keinen Gefallen tun.
Abgesehen von einem Einbruch in einen Kiosk blieb es die nächsten Tage ruhig. Dann kam es spätabends im Wohnheim zu einem Streit zwischen einigen angetrunkenen Rumänen. Ein Zerleger wurde bezichtigt, seine Kollegen auszuspionieren. Er kassierte reichlich Ohrlaschen, verrammelte sich in einer der 40-Quadratmeter-Buden, in denen häufig bis zu acht Arbeiter zusammengepfercht hausten, und trommelte den Werkschutz zu Hilfe (was die Spionagevorwürfe schwer erhärtete). Angeblich versuchten die herbeigeeilten Werkschutzmänner den Streit zu schlichten. Das Handgemenge eskalierte, andere Bewohner unterstützten ihre attackierten Landsleute. Eine wüste Schlägerei entbrannte. Drei Werkschützer gegen zehn oder mehr Ausbeiner und Zerleger. Mit Reizgas und Gummiknüppeln gegen blanke Entrüstung, bloße Fäuste und abgebrochene Stuhlbeine.
Weil irgendjemand die Polizei alarmiert hatte, schaltete Hütter mich ein. Nachts bleibt meine Wache geschlossen, dann nimmt die Leitstelle Anrufe für die beiden Streifenwagen entgegen, die im Landkreis patrouillieren. Es kann daher schon mal locker zwanzig Minuten dauern, bis die Kollegen einen Einsatzort erreichen. Mir blieben vielleicht noch neun oder zehn Minuten, um die Situation zu entschärfen.