Fasnachtszauber - Ramona Vals - E-Book

Fasnachtszauber E-Book

Ramona Vals

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Beschreibung

Sarah Keiser ist gelernte Damen- und Herrenschneiderein. Nach einem schweren Schicksalsschlag muss sie den kleinen Näh- und Bastelladen in der Luzerner Münzgasse von einem Tag auf den anderen übernehmen. Vom Verkauf oder von Geschäftsführung hat sie so gut wie keine Ahnung. Doch sie kniet sich rein, arbeitet bis zum Umfallen und vergisst dabei fast das ganze Leben um sich herum. Ein Jahr später, während der Luzerner Fasnacht, betritt der gutaussehende Luca Müller mit einem angerissenen Ärmel seines Bärenkostüms den Laden. Er ist Mitglied einer Guuggenmusig und will den Riss reparieren lassen. Auch sein Lebensrucksack ist gut gefüllt. Nach dem Tod seines Vaters vor drei Jahren erlitt seine Mutter einen Hirnschlag und ist nun einseitig gelähmt. Und dann betrog ihn auch noch seine Verlobte. Er zog sich total in sein Schneckenhaus zurück. Sarah kann dem Charme und dem Liebreiz von Luca nicht widerstehen. Und Luca kann nicht begreifen, dass eine junge, hübsche Frau wie Sarah den Laden ganz alleine schmeisst und ihre Gesundheit und alle Vorsichtsmassnahmen ausser Acht lässt. Der Kampf zurück ins Leben kann losgehen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapital 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Epilog

Kapitel 1

Es war Mitte Februar an einem Mittwochabend um 18.45 Uhr in der Luzerner Altstadt. Sarah Keiser schloss ihren kleinen Näh- und Bastelladen. An der Tür klebte ein Zettel «Donnerstag geschlossen, infolge Fasnacht!» In den letzten Wochen hatte sie viele Fasnachtskostüme abgeändert, angepasst und beim Fertignähen geholfen. Viele Kunden hatten auch noch eine Beratung zu Perücken, Brillen, Schminke, Pailletten, Knöpfen, Bändern, Reissverschlüssen, Farben, Bastelutensilien und viele mehr haben wollen. Es herrschte dauernd Hochbetrieb und Sarah hatte nicht mehr gewusst, wo ihr der Kopf stand. Doch jetzt hatte sie endlich Feierabend. Sie löschte das Licht, durchquerte den Lagerraum und ging die Treppe hoch, welche zu ihrer kleinen Zweizimmerwohnung führte.

In der kleinen gemütlichen Küche wärmte sie sich einen Teller Gemüsesuppe, die sie am Morgen bereits vorgekocht hatte, nahm ein Stück Brot und ass hungrig ihr Abendbrot. Sie war müde, erschöpft und ausgelaugt. Monatelang hatte sie jeweils nur am Sonntag frei gehabt. Sie führte den Laden ganz alleine, weil sie sich eine Angestellte nicht leisten konnte. Die Mieten in der Luzerner Altstadt waren sehr hoch. Nebst dem Nähen, Beraten, Verkaufen und Bestellen der Ware musste diese dann auch noch mit den Preisen versehen und in die Regale eingeräumt werden. Und die Buchhaltung erledigte sich auch nicht von selbst.

Der Schmutzige Donnerstag war der erste Tag seit einem Jahr, den sich Sarah zusätzlich frei nahm. Diesen hatte sie sich redlich verdient. Sie hatte für sich selber auch ein Kostüm geschneidert. Dieses bestand aus einer schwarzen Pluderhose, einer weissen Jacke mit weiten Ärmeln und einem roten Umhang mit weissen Punkten. Das Kostüm hing anzugsbereit an einem Bügel in ihrem Schlafzimmer. Sie würde sich als Fliegenpilz unter die Fasnächtler mischen. Eine Maske hatte sie keine, denn zum Basteln hatte die Zeit einfach nicht gereicht. Sie würde sich das Gesicht schminken und den roten Hut mit den weissen Tupfen anziehen. Ich nehme noch die Fotokamera mit. Dann finde ich vielleicht neue Ideen für das nächste Jahr, überlegte sie und gähnte. Ich gehe jetzt ins Bett, sonst verpasse ich morgen um 5.00 Uhr noch die Tagwache.

Nachdem sie den Wecker auf 4.00 Uhr gestellt hatte, kuschelte sie sich unter die Decke. Alte Erinnerungen kamen hoch. Als sie und ihre zwei Jahre ältere Schwester Mona noch Kinder gewesen waren, waren sie immer mit ihren Eltern mit einem Familiensujet an die Fasnacht gegangen. Ihre Mutter Lisbeth, gelernte Mercerieverkäuferin, führte das kleine Näh- und Bastelgeschäft in zweiter Generation. Handarbeiten war ihr grosses Hobby und sie hatte jeweils die Fasnachtskleider genäht. Peter, Ihr Vater, war Landschaftsgärtner, handwerklich sehr geschickt und hatte die Masken gebastelt und den Leiterwagen dekoriert, den sie jeweils mitgeführt hatten. Als Familie hatten sie immer so viel Spass gehabt. Die Jahre vergingen, die Töchter wurden erwachsen und gingen bald ihre eigenen Wege.

Und dann, im Januar des vergangenen Jahres, veränderte sich Sarahs Leben plötzlich von einem Tag auf den anderen … Sie musste den kleinen Näh- und Bastelladen übernehmen, den man ihr vererbt hatte.

Sarah drehte sich auf die andere Seite und schlummerte langsam ein.

Kapitel 2

Luca Müller fuhr seinen Computer runter und räumte seinen Arbeitsplatz auf. Es war Mittwochabend, 17.30 Uhr. Er nahm seine Jacke und den Autoschlüssel und klopfte an die Tür seines Chefs Bruno Risi. «Tschau Bruno. Ich bin dann weg und komme am übernächsten Montag wieder.» «Hey schöne Ferien und eine tolle Fasnacht!», rief ihm sein Chef zu, hob die rechte Hand und winkte ihm zum Abschied nach. Luca stieg die Treppe runter und lief zu seinem blauen Seat Ibiza. Geschafft, endlich Ferien! Er hatte ein strenges halbes Jahr hinter sich. Er war bei der Bruno Risi Elektro AG in Rothenburg als Projektleiter tätig.

20 Minuten später parkte Luca das Auto auf seinem Parkplatz in der Einstellhalle und fuhr mit dem Lift in die zweite Etage zu seiner Dreizimmerwohnung. Super, morgen beginnt die Fasnacht, freute er sich. Zum Glück konnte ich noch dieses Projekt beim Neubau Rotseehöhe in Ebikon erfolgreich abschliessen. Das waren wirklich schwierige, harte und langwierige Verhandlungen gewesen. Bis der Bauherr endlich wusste, was er wollte! Aber nun konnte ich ihn doch noch überzeugen, dass das Lichtkonzept optimal und dekorativ wird.

Aber jetzt fertig Arbeit, nun konzentrieren wir uns auf die fünfte Jahreszeit! Luca spürte ein leises Kribbeln in seinem Bauch. Er ging in sein Büro, wo ein Teddybärenkostüm auf ihn wartete. Luca war Aktivmitglied in einer Guuggenmusig aus Luzern. Sie hatten dieses Jahr das Motto «Die Bären sind los». Ausschlaggebend war die Schlagzeile in den Medien gewesen, dass ein Bär vom Bärengraben in Bern ausgebüxt war. Jedes Mitglied hatte Fellstoff für ein Grundkleid erhalten. Den Bären anziehen konnte dann jeder individuell. Luca hatte seinem ein farbiges Hawaiihemd und eine schwarze, kurze Hose übergestreift. Auf dem Bärengrind hatte er einen kecken Strohhut und auf der Nase eine übergrosse Sonnenbrille mit rotem Rand montiert. – Er war der Urlaubsbär.

Die Nasenlöcher waren vergrössert worden, damit Luca aus seinem Grind auch etwas sehen konnte, und beim Maul war ein grosses, rundes Loch ausgeschnitten für das Mundstück. Denn er spielte Trompete. Luca war fast 30 Jahre alt und ein langjähriges Mitglied der Museggfäger. Und jedes Jahr freute er sich erneut wie ein kleines Kind auf die Fasnacht. Das wird eine tolle Zeit, dachte er. Zärtlich streichelte er seinen Teddybärengrind. Die schwarzen Knopfaugen sahen ihn liebevoll über die Sonnenbrille hinweg an.

Luca nahm Käse und kaltes Fleisch aus dem Kühlschrank, Brot aus dem Brotkasten, etwas zu trinken, setzte sich vor den Fernseher und zappte durch die Programme. Es kam nichts Spannendes, wofür er sich wirklich interessierte. Dann räumte er auf und schaltete den Fernseher ab. Ich muss morgen früh raus. Also ab in die Federn. Er trottete ins Schlafzimmer, stellte den Wecker auf 3.30 Uhr, ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen und kuschelte sich dann unter die Decke.

Kapitel 3

Tütüt, tütüt, tütüt … Sarah fuhr erschrocken aus dem Schlaf und blinzelte zum Wecker. 4.00 Uhr. Ach ja, Fasnacht, Schmutziger Donnerstag, Tagwache! Sie war aufgeregt und freute sich auf den Tag. Wach war sie zwar noch nicht so ganz. Sie hatte so einen komischen Traum gehabt. Es war irgendetwas von einem Bären gewesen, der ausgebüxt war und die Polizei auf Trab gehalten hatte. So genau konnte sie sich nicht mehr erinnern. So ein Quatsch! Sarah ging kopfschüttelnd ins Bad, um zu duschen. Dann zog sie sich warm an, schminkte sich das Gesicht weiss, die Nase rot, schwarz um die Augen und legte abschliessend roten Lippenstift auf ihre Lippen. Ihre grünen Augen leuchteten unternehmungslustig. Das blondgelockte schulterlange Haar hatte sie mit einem Haarband zusammengebunden. Dann schlüpfte sie in die schwarze Hose und die weiße Jacke und band den rotweiss getupften Umhang zu. Schlussendlich setzte sie noch den Hut auf. Fertig! Sie betrachtete sich im bodenlangen Spiegel im Schlafzimmer. Gar nicht mal so schlecht! Sie schloss die Wohnungstüre und ging nach draussen. Es war trocken, aber eisig kalt und immer noch dunkel. Sie schaute auf ihre Armbanduhr. 4.50 Uhr. Noch 10 Minuten, dann geht’s los, dachte sie und machte sich auf den Weg zum Kapellplatz.

Es herrschte die bekannte Ruhe vor dem grossen Sturm. Von allen Seiten strömten die Fasnächtler, die Verkleideten und Kostümierten, farbig, glänzend, düster, originell, gruslig, traditionell, phantasievoll, als Clown, Hexe, Cowboy, Skifahrer, Koch, Wanderer oder was auch immer in die Altstadt. Die Guuggenmusigen formierten sich auf den verschiedenen Plätzen und Gassen. Sie waren bereit, genau um 5.00 Uhr zum Urknall loszulegen. Die Museggfäger hatten sich auf dem Mühlenplatz aufgestellt. Luca konnte es kaum noch erwarten und war sehr kribbelig. Und dann, Punkt 5.00 Uhr, ertönte der Urknall durch Luzern und eröffnete eine erneute Ausgabe der Luzerner Fasnacht. Von einer Sekunde auf die andere kochte, schränzte, guuggte, tönte und fegte es durch die ganze Altstadt. Die Museggfäger marschierten los, mit Rhythmus und Musik.

***

Auf dem Kapellplatz war die Hölle los. Nachdem Bruder Fritschi mit seiner Gemahlin und dem Gefolge mit dem Schiff am Schwanenplatz angelegt und seinen Weg durch das Gedränge zum Fritschibrunnen gefunden hatte, erfolgte der Fötzeliregen, hergestellt aus Hunderten von alten Telefonbüchern. Orangen wurden ausgeworfen und es herrschte eine ausgelassene und fröhliche Stimmung. Sarah mochte es nicht, in einer Menschenmenge zu sein, wo sie sich weder vorwärts- noch rückwärtsbewegen konnte. Deshalb war sie am Rande des Platzes stehen geblieben. Fototechnisch war es hier sowieso viel optimaler. Sie knipste eifrig, denn wunderbare Fotosujets gab es mehr als genug.

Später spazierte sie weiter durch die Altstadt, liess sich einfach treiben, ohne konkretes Ziel. Auf den kleineren Plätzen hatten sich Maskengruppen eingerichtet, um Theater zu spielen. Überall gab es Essensstände, wo man sich verpflegen konnte. Die Guuggenmusigen zogen durch die Gassen, machten halt und gaben Konzerte auf den grossen Plätzen oder auf den Guuggerbühnen.

Sarah blieb immer wieder stehen, fotografierte, klatschte und schaukelte mit, staunte über die unzähligen fantasievollen Gewänder und schaute dem Menschengewimmel und dem fasnächtlichen Treiben zu. Sie amüsierte sich über die unzähligen lustigen Einzelmasken, freute sich über musikalische Klänge und die vielen Kinder, die mit Konfetti überhaupt nicht geizten.

Dann bog plötzlich eine Guuggenmusig mit 40 Musikanten und einem prächtigen Tambourmajor, als Polizist gewandet, um die Ecke. Die Grundkleider bestanden aus einem Teddybärenfell. Jedes Mitglied hatte sein Bärenkostüm nach seinen Ideen angezogen. Da gab es unter anderen einen Oktoberfestbär, Schulmädchenbärinnen, Gärtnerbären, der Paddington-Bär mit der roten Kappe, Fischerbären, Kaminfegerbären, Tanzbären und Kochbären. Und einer gefiel Sarah ganz besonders. Dieser kam direkt aus den Ferien. Er war mit einem farbigen Hawaiihemd, kurzen, schwarzen Hosen, einem lustigen Strohhut und einer übergrossen roten Sonnenbrille bestückt. Der Trompeter war etwa 190 cm gross und schlank. Gerade als der Bär mit seinen schwarzen Knopfaugen über seine Sonnenbrille in ihre Richtung lugte, hielt Sarah ihn fotografisch fest. Der sieht so süss aus, dachte sie. Das sind die Museggfäger, las sie auf der Vereinsfahne, die der stolze Fähnrich ganz vorne schwang. Sie wechselten gerade auf «nur Rhythmus». Ich werde dieser Gruppe nachlaufen. Vielleicht geben sie da vorne auf dem Platz ein Konzert. Es nimmt mich nämlich sehr wunder, was da für ein Typ drunter ist, nahm sie sich vor. Doch dann kam eine andere Musik von der entgegengesetzten Richtung. Die beiden Corps mussten aneinander vorbei. Es wurde extrem eng. Sarah geriet in eine Menschenmenge und konnte sich nur noch mit dem Strom treiben lassen. Mist, in die falsche Richtung, bedauerte sie. Als sich das Gedränge weiter vorne wieder gelichtet hatte, waren die Museggfäger bereits verschwunden. Vielleicht finde ich sie dann irgendwo wieder. Jetzt brauche ich erst mal einen Kaffee und ein Brötchen, und betrat eine Bäckerei.

***

Luca fühlte sich super. Er und seine Bärenfreunde guuggten und schränzten, was das Zeug hielt. Irgendwann bogen sie um eine Ecke, marschierten eine lange breite Gasse entlang und hatten soeben auf «nur Rhythmus» gewechselt. Luca hatte einen Moment Zeit, sich umzuschauen. Da entdeckte er einen süssen weiblichen Fliegenpilz, der gerade Fotos von den Museggfägern machte. Ob sie von mir auch ein Bild geschossen hat? fragte es sich neugierig. Mensch, ist die süss. Ich möchte sie kennenlernen, schoss es ihm spontan durch den Kopf. Doch dann kam eine andere Musik entgegen. Sie mussten sich auf Zweierreihen verschmälern, damit sie passieren konnten. Es wurde plötzlich eng. Luca sah gerade noch, wie der Fliegenpilz in der Menge mitgerissen wurde. Oh nein, verdammt, in die falsche Richtung! Weiter vorne, als sie wieder die ganze Breite der Gasse zur Verfügung hatten, verbreiterten die Museggfäger wieder auf Viererreihen. Die Musikanten mussten in Formation bleiben. Das ist jetzt aber schade! Vielleicht treffen wir uns irgendwo wieder, dachte er hoffnungsvoll.

***

Sarah kam aus der Bäckerei. In der rechten Hand trug sie einen Becher heissen Kaffee und in der linken eine Papiertüte mit einem knusprigen Brötchen. Sie suchte sich eine ruhige Nische bei einem Hauseingang und begann zu frühstücken. Bling! Sarah fischte ihr Handy aus ihrer Umhängetasche. Ein WhatsApp von ihrer Freundin Myriam Hodel war eingetroffen. «Wo bist du?», fragte diese. «Ich stehe zehn Meter neben der Bäckerei Suter in der Kramgasse», schrieb Sarah zurück. «Bleib da, bin in 5 Minuten bei dir.» «Ok.» Sarah verstaute das Handy wieder in ihrer Tasche und nahm noch einen Schluck von ihrem Cappuccino. Tatsächlich tauchte nach ein paar Minuten ein wunderschöner Clown vor ihr auf. «Myriam, hallo. Wie geht’s dir?», rief Sarah erfreut. «Hallo Sarah, mir geht es blendend», antwortete ihre Freundin lachend. Sie umarmten sich und küssten sich auf die Wangen. Myriam hielt ebenfalls einen Kaffee in der Hand. Beide tranken gemütlich und sahen dem bunten Treiben zu. «Was hast du heute noch für Pläne?», erkundigte sich Sarah nach ein paar Minuten. «Eigentlich keine konkreten. Wollen wir uns einfach treiben lassen und dann irgendwo etwas zu Mittag essen?», schlug Myriam vor. «Ich hätte da einen Gegenvorschlag», meinte Sarah. «Ich lade dich zu mir nach Hause zu Tomatenspaghetti und Salat ein. Dann ruhen wir uns ein bisschen aus und schauen uns am Nachmittag den Umzug an.» «Klingt super. Danke für die Einladung. So machen wir’s.» Myriam hakte sich bei Sarah ein und sie mischten sich unter die Fasnächtler.

Kapitel 4

Den ganzen Vormittag waren die Museggfäger unterwegs gewesen, durch die Altstadtgassen marschiert und hatten auch Platzkonzerte gegeben. Endlich führte der Tambourmajor, Marius Heller, seine Truppe zum Restaurant Waldstätter für die Mittagspause. Die Instrumente und die Grinde wurden in einem abschliessbaren Raum deponiert. Die Bären hatten Hunger. Seit der Frühstückspause am frühen Morgen hatten sie nichts mehr gegessen. Im Säli, welches für die 40 Musikanten reserviert und bereits gedeckt war, setzte sich Luca neben seinen besten Freund Stefan Frei. Sie hatten zusammen die Rekrutenschule und ein paar Militär-Wiederholungskurse absolviert. «Jetzt brauche ich ein Bier», erklärte Luca und sah Stefan fragend an. «Ich auch», bestätigte dieser. Wo befindet sich jetzt wohl der süsse Fliegenpilz? Ist sie aus Luzern? Wie alt sie wohl ist? Ist sie Single? Werde ich sie wiederfinden? Luca war ganz in Gedanken versunken. Plötzlich boxte ihn sein Freund in den Oberarm. «Hey Luca, zehn Franken für deine Gedanken.» Verlegen schrak Luca auf. «Also, wenn du an Claudia gedacht hast, vergiss sie! Sie hat dich betrogen und verlassen», riet ihm sein Freund.

Claudia und Luca waren fünf Jahre ein Paar gewesen und hatten konkrete Hochzeitspläne geschmiedet und über Kinder nachgedacht. Dann eines Abends, als Luca von der Arbeit nach Hause kam, erwischte er seine Verlobte und Lars zusammen in ihrem Bett. Es gab dann eine hässliche Trennung und Claudia zog aus der gemeinsamen Wohnung aus. Sie und Lars waren ebenfalls Aktivmitglieder bei den Museggfägern gewesen. Die Vereinsleitung hatte den beiden dann nahegelegt, auszutreten. Diese Geschichte war nun ca. ein Jahr her. Doch Luca nagte manchmal heute noch daran.

«Nein, ich habe nicht an sie gedacht. Das ist endgültig vorbei. Heute stehe ich darüber», antwortete Luca nachdenklich. «Wie geht’s deiner Familie? Sind Sabrina und die Kinder gesund und fit?» «Sie sind gestern für ein paar Tage nach Sörenberg zum Skien gefahren. Die Eltern von Sabrina besitzen dort eine Ferienwohnung.» «Sehr schön! Und wie sind die Schneeverhältnisse?» «Ich glaube, gar nicht so schlecht.» Stefan hatte sehr wohl bemerkt, dass Luca elegant das Thema gewechselt hatte. Er kannte seinen besten Freund schon ewig und das gegenseitige Vertrauen war sehr gross. Die beiden hatten schon so vieles zusammen erlebt und durchgemacht. Und jeder hatte dem anderen auch schon das Herz ausgeschüttet. Ich muss jetzt einfach Geduld haben. Wenn Luca darüber reden will, kommt er von alleine, dachte Stefan. Dann wurde das Mittagessen serviert: ein paniertes Schnitzel und mit Pommes Frites und Salat. Endlich konnten sie ihren Bärenhunger stillen.

***

Kurz nach 13.30 Uhr standen Sarah und Myriam am Strassenrand in der Nähe vom Hotel Schweizerhof. Pflichtbewusst hatten sie eine Luzerner Fasnachtsplakette gekauft und diese an ihrem Kostüm angeheftet. Sie hatten das Umzugsprogramm studiert und waren nun sehr gespannt, wie die verschiedenen Nummern und Sujets daherkommen würden. Pünktlich um 14.00 Uhr startete der Umzug. Die beiden Freundinnen amüsierten sich prächtig. Sie freuten sich auch über die sogenannten wilden Gruppen, die sich frech zwischen die offiziellen Nummern mischten. Die beiden klatschten, schaukelten und sangen mit, wenn eine Guuggenmusig an ihnen vorbeimarschierte.

Die Museggfäger hatten die Umzugsnummer 12 zugelost bekommen. Sie waren ebenfalls gestartet. Soeben blies der Tambourmajor in seine Trillerpfeife und die Bläser durften sich ein paar Takte ausruhen. Die Schlagzeuger übernahmen und wechselten auf «nur Rhythmus». Luca hatte einen Moment Zeit, um zu verschnaufen und sich umzusehen. Dort…, sein Herz blieb fast stehen, … dort drüben steht er wieder, der süsse Fliegenpilz, zusammen mit einer wunderschönen Clownfrau. Das ist sicher ihre Freundin, überlegte er. Die beiden scheinen richtig Spass zu haben. Dann war dieser Augenblick auch schon wieder vorbei und die Bläser begannen wieder zu spielen.

Sarah sah die Museggfäger kommen. Die Schlagzeuger hatten soeben auf «nur Rhythmus» gewechselt und die Bläser konnten ausruhen. Der Urlaubsbär schaute kurz in ihre Richtung. Hat er mich angeschaut? fragte sie sich und schielte verlegen zu Myriam. Doch diese schien nichts bemerkt zu haben, denn sie flirtete gerade mit dem Piraten auf ihrer anderen Seite. Wohl kaum. Es stehen so viele Leute am Strassenrand, da kann es jeden betreffen.

Nach 35 Nummern war der Umzug zu Ende. Die Zuschauer stoben in alle Richtungen davon. Die beiden Freundinnen zogen noch ein paar Stunden durch die Altstadt. Plötzlich stoppte Sarah und sagte zu Myriam: «Du, ich mache jetzt Schluss. Mein Laden ist morgen geöffnet und ich will noch ein paar Stunden schlafen. Ich hoffe, du bist mir nicht böse.» «Nein, überhaupt nicht. Ich kann das verstehen. Ich ziehe jetzt noch ein bisschen rum und schaue mal, was noch so alles passiert.» Myriam lebte in keiner festen Beziehung und war auch kein Kind von Traurigkeit, was ihr Liebesleben betraf. Sie ist sicher noch mit diesem Piraten verabredet, dachte Sarah bei sich. «Dann noch viel Spass.» Sie verabschiedete sich von ihrer Freundin. Und jetzt ab nach Hause. Ich möchte unbedingt noch etwas erledigen. In ihrem Lagerraum angekommen, machte sie Licht, zog ihr Fliegenpilzkostüm aus und hängte es an einen Bügel. Dann fuhr sie ihren Computer hoch. Sie steckte das Verbindungskabel an ihre Fotokamera und verband das andere Ende mit dem PC. Dann tauchten ihre Fotos auf, die sie heute geknipst hatte. Es waren ganz viele tolle Bilder dabei. Aber auf eines war sie ganz besonders gespannt … Da, der Urlaubsbär! Sie hatte genau im richtigen Augenblick abgedrückt, als er mit seinen kleinen schwarzen Knopfaugen direkt in ihre Kamera geschaut hatte. Ihr Herz schlug schneller. Nach den modernen Militärstiefeln zu urteilen, scheint darunter eher ein jüngerer Mann zu stecken. Er ist ziemlich gross, schlank und von sportlicher Statur, mutmasste Sarah und speicherte die Fotos in einen Ordner. Sie fuhr den Computer wieder runter. Sie packte ihr Fasnachtskleid und ging nach oben in ihre Wohnung.

Kapitel 5

In den Luzerner Gassen wurde musiziert, geschränzt und geguuggt. Es war sehr laut und ziemlich eng. Für die Museggfäger sollte es heute Abend noch einen Höhepunkt geben. Sie wollten auf der begehrten Rathaustreppe spielen. Zu diesem Konzertplatz gelangte man nur vom Kornmarkt her. Auf diesem war aber die Hölle los, und es war ein riesen Gedränge. Andere Guuggenmusigen standen bereits Schlange, um dort aufzutreten. Auch die Bären warteten geduldig, bis sie dann irgendeinmal an die Reihe kommen würden. Eine Gruppe Kulturfasnächtler suchte sich mit ihrem monströsen, gruseligen Wagen einen Weg durch die dichte Menschenmenge. Das Gefährt fuhr langsam, aber viel zu nahe an Luca vorbei, und er blieb mit seinem linken Ärmel an einem herausschauenden Haken hängen. Ratsch! Verdammt, was ist jetzt passiert? ärgerte er sich. Seine Musikkollegin Nicole, die neben ihm gestanden hatte, war sofort zur Stelle und sah sich den Schaden an. «Dein Ärmel ist gerissen.» Sie kramte zwei Sicherheitsnadeln aus ihrer Umhängetasche und steckte den Stoff behelfsmässig fest. «Provisorisch sollte dies halten. Aber du musst das nähen lassen.» «Danke, Nicole.» Na toll! Sabrina, die mein Kleid genäht hat, ist in Sörenberg. Ich habe keine Nähmaschine und kann das nicht reparieren. Und was mache ich jetzt, überlegte Luca genervt. Stefan war inzwischen dazugekommen. «In der Münzgasse gibt es einen kleinen Näh- und Bastelladen. Sabrina hat vor ca. 1 ½ Jahren dort Stoff für Fasnachtskleider gekauft. Sie hat mir erzählt, sie sei von einer älteren Dame sehr kompetent bedient worden. Diese habe ihr auch gute und wertvolle Tipps zum Nähen mitgegeben. Im hinteren Teil des Ladens sei ein kleines Nähatelier eingerichtet, wo auch Änderungen und Reparaturen angeboten würden. Dort kann man dir sicher helfen.» «Danke für den Tipp, Stefan. Wir haben ja morgen Vormittag frei. Dann werde ich dort hingehen und die Jacke nähen lassen.» Irgendwie war die Luft plötzlich raus. Luca wäre am liebsten nach Hause gegangen. Doch er hielt durch bis zur Auflösung und trank zum Schluss mit Stefan noch ein Bier. Auf dem Heimweg zog er ein Fazit über den heutigen Tag. Tagwache phänomenal, Wetter super, Fasnachtsstimmung fantastisch, dann dieses blöde Malheur mit dem Fasnachtswagen. Aber echt, warum muss dieses Gefährt ausgerechnet heute Abend, wenn die Altstadt sowieso schon verstopft ist, und es fast kein Durchkommen gibt, dort durchfahren, regte er sich auf. Dann tauchte plötzlich auch noch ein süsser weiblicher Fliegenpilz in seinen Gedanken auf. Seine schlechte Laune war im Nu verflogen und sein Herz machte einem Hüpfer. Kleiner Fliegenpilz, wo bist du? Wo kann ich dich finden? Der Bus kam und er stieg ein.

Kapitel 6

Am nächsten Morgen erwachte Luca gut erholt und ausgeruht. Er hatte von einem Fliegenpilz geträumt, der sich im Wald verirrt hatte. Luca hatte gesucht und gesucht, doch er konnte den Pilz einfach nicht finden. Irgendwie komisch. Keine Ahnung, wie ich diesen Traum deuten soll. Egal, er musste jetzt aufstehen, denn er wollte ja seine Felljacke nähen lassen. Heute Nachmittag standen Sponsoren- und Gönnerauftritte auf dem Programm. Dann sollte sein Kostüm wieder in Ordnung sein. Er ging ins Bad, um zu duschen. Nach einem kurzen Frühstück machte er sich auf den Weg in die Stadt. Die Felljacke hatte er in einer grossen Plastiktüte verstaut. Draussen schneite es.

***

Sarah war schon seit 7.00 Uhr auf den Beinen. Nachdem sie geduscht und gefrühstückt hatte, war sie in den Laden runtergegangen. Um 8.00 Uhr schloss sie das Geschäft auf. Aus zwei kleinen Boxen spielte ein Radiosender leise Musik. Heute war eine grosse Warenlieferung eingetroffen. Die Artikel mussten gemäss dem Lieferschein kontrolliert, mit einem Preisschild versehen und dann ins Regal geräumt werden. Sie machte sich an die Arbeit. Zwischendurch bediente sie Kunden. Eigentlich habe ich keine Lust zum Arbeiten und müde bin ich auch noch. Viel geschlafen habe ich nämlich nicht. Dieser Urlaubsbär geht mir nicht mehr aus dem Kopf, gestand sie sich ein. Sarah räumte gerade Ware in ein Regal ein, als es an der Ladentüre bimmelte und sich weitere Kundschaft ankündigte. Sie ging nach vorne und blieb wie angewurzelt stehen. Ihr Herz klopfte plötzlich wie wild. Vor ihrer Ladentheke stand ein vielleicht 30-jähriger, umwerfend gutaussehender junger Mann. Er war gross, schlank, mit sportlicher Figur. Sein sauber rasiertes Gesicht war leicht gebräunt und dunkle Wimpern umrahmten seine schokoladenbraunen Augen. In seinem Kinn hatte er eine süsse kleine Vertiefung und seine Zähne waren weiss und gepflegt. Der Kunde trug Jeans und eine schwarze Winterjacke, aus der die Kapuze eines roten Pullis lugte. Um den Hals war ein Schal geschlungen und auf dem Kopf trug er eine schwarze Wollmütze. «Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?», fragte Sarah freundlich und versuchte, einen professionellen Ton anzuschlagen. Doch sie scheiterte kläglich.

Luca betrat das Geschäft und sah die junge Verkäuferin heraneilen. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Der Blitz traf in unvorbereitet. Sein Herz galoppierte. Hinter der Ladentheke stand das süsseste Mädchen, das er je gesehen hatte. Sie war etwa 26-jährig, ungefähr 174 cm gross, schlank, normale frauliche Figur. Sie hatte wunderschöne grüne Augen mit langen dunklen Wimpern und eine kleine Stupsnase. Ihr blondgelocktes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In ihren Ohren baumelten kleine gläserne Anhänger, die in allen Farben glitzerten, wenn sie den Kopf bewegte. Ihre Zähne waren weiss und gepflegt. Wenn sie lächelte, erschienen zwei niedliche Grübchen in ihren Wangen. Sie trug eine blaue Jeans, einen rosa Rollkragenpullover und bequeme Nike-Turnschuhe. Um ihren Hals baumelte eine silberne Modekette mit einer kleinen Sonne daran. «Guten Morgen», grüsste er verlegen zurück. «Ich habe ein kleines Problem.» Luca öffnete die mitgebrachte Plastiktüte und holte seine Felljacke, mit einem Hawaiihemd darüber, hervor. Diese kam Sarah aber sehr bekannt vor. Um Gottes willen, das kann doch nicht wahr sein! Ist das wirklich der süsse Urlaubsbär? Heiliger Strohsack, so ein toller Typ! Plötzlich merkte sie, dass sie den jungen Mann immer noch anstarrte und senkte verlegen den Blick. «Mir ist gestern ein Malheur passiert. Ich bin an einem Haken hängen geblieben und der Ärmel ist gerissen. Kriegt man das irgendwie wieder hin?» Fragend sah Luca die Verkäuferin an. «Selbstverständlich! Im hinteren Teil des Ladens ist eine kleine Nähecke eingerichtet. Haben Sie noch Einkäufe zu erledigen oder möchten Sie lieber warten? Das dauert nur ein paar Minuten.» «Ich werde warten», antwortete er spontan. Sarah packte die Jacke und ging voran. Einen sexy Po hat sie, dachte er grinsend. Im hinteren Teil des Raumes stand in der einen Ecke ein grosser Tisch. Auf diesem fand man alles, was man zum Nähen benötigte: Scheren, Stecknadeln, Massband, Kreide, Fadenspulen in verschiedenen Farben und eine Nähmaschine, die auf Arbeit wartete. Auf der anderen Seite luden ein kleines rundes Tischchen und zwei Stühle zum gemütlichen Warten und Schwatzen ein. In der anderen Ecke war eine schmale Küchenzelle mit einem Spülbecken und einem kleinen Kühlschrank eingebaut. Dort stand eine kleine Kaffeemaschine. «Mögen Sie einen Kaffee?», fragte Sarah zuvorkommend. «Sehr gerne.» «Mit Zucker und Kaffeerahm?» «Ohne Zucker, nur mit Rahm», antwortete Luca höflich. Sarah holte einen Becher aus einem Schränkchen über dem Kühlschrank und drückte auf den Startknopf der Kaffeemaschine. Er trinkt den Kaffee wie ich, stellte sie belustigt fest. Dann holte sie eine kleine Flasche Kaffeerahm aus dem Kühlschrank und stellte alles vor Luca auf das Tischchen. «Bitteschön! Die heutige Neue Luzerner Zeitung liegt auch da, wenn Sie wollen.» Dann wechselte sie rüber zur Nähecke und machte sich an die Arbeit.

«Danke.» Luca hatte die Wollmütze, den Schal und seine Winterjacke abgelegt. Sein dunkles, kurz geschnittenes Haar glänzte im Schein des Deckenlichtes. Es war angenehm warm im Laden. Er nahm die Zeitung, schlug den Sportteil auf und versuchte zu lesen. Verflixt! Jetzt hatte er diesen Artikel schon dreimal überflogen und wusste immer noch nicht, was wirklich drinstand. Er konnte sich einfach nicht konzentrieren. Diese junge Frau brachte seine Gefühle total durcheinander. Verstohlen beobachtete er sie.

Sarah hatte das Hawaiihemd von der Felljacke entfernt. Dann drehte sie den Stoff auf die linke Seite, heftete den Riss mit Stecknadeln zusammen, suchte die passende Farbspule, fädelte den Faden in die Nähmaschine ein und legte den Stoff darunter. Die Maschine begann zu rattern. Nach ein paar Minuten hatte sie die erste Naht geschafft. So, nun noch das Hawaiihemd. Sarah war nicht so bei der Sache. Ihre Hände zitterten. Dieser Typ da drüben macht mich ganz konfus. Es ist doch nur ein Kunde, machte eine innere Stimme sie darauf aufmerksam. Ja schon, aber … «Autsch!» Sie hatte sich in den Finger gestochen. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert. Sarah steckte sich den Finger in den Mund, um das Blut abzulecken.

Luca hatte dieses Missgeschick beobachtet und auch gesehen, wie ihre Hände zitterten. Am liebsten wäre er zu ihr hinübergegangen und hätte ihren Finger in den Mund genommen. Mensch Müller, wo bist du mit deinen Gedanken …?

Sarah hatte ihre Arbeit beendet und das Hawaiihemd wieder über die Felljacke gezogen. «Wollen Sie die Jacke anziehen, damit ich kontrollieren kann, ob auch alles sauber genäht ist?», frage sie. Luca nickte, schlüpfte in seine Bärenjacke und schloss den Reissverschluss. Er stellte sich vor den grossen Spiegel, der an der Wand hing. Sarah überprüfte ihre Arbeit. «Alles picobello. Sie können die Fasnacht weiterhin unbeschwert geniessen.» Ihre Augen begegneten sich eine gefühlte Ewigkeit lang im Spiegel. Oh, diese wunderschönen braunen Augen. Sarah schmolz dahin. Unbewusst fuhr sie mit ihrer Hand über seinen Fellärmel. Luca spürte diese Berührung durch zwei Lagen Stoff und bekam eine Gänsehaut. Sie lösten den Blick nur zögerlich voneinander. Luca kramte sein Portemonnaie hervor. «Was bin ich Ihnen schuldig?» «Das geht auf Kosten des Hauses. Wir bieten diese Dienstleistung an.» Wir? Wo war die ältere Frau, die Stefan erwähnt hatte? Freier Tag, Urlaub, oder krank? «Herzlichen Dank, auch für den Kaffee.» Luca packte seine Winterjacke, den Schal und die Mütze. «Gern geschehen. Noch viel Spass an der Fasnacht. Auf Wiedersehen!», verabschiedete sich Sarah von ihrem Kunden. Verdammt, ich will doch noch gar nicht gehen! «Auf Wiedersehen. Einen schönen Tag noch.» Luca verliess zügig das Geschäft. Draussen wetterte er wütend über sich selber. Also wirklich, Luca Müller! Das hast du ja toll hingekriegt. Da steht das süsseste Mädchen der Stadt vor dir, repariert dir deine Felljacke, GRATIS, bietet dir auch noch einen Kaffee an, und du weisst nichts Besseres zu tun, als einfach so aus dem Laden zu gehen. Schönen Tag noch! Grrrr! Und nach ihrem Namen habe ich sie auch nicht gefragt, bemerkte Luca frustriert. Aber du warst doch nur ein Kunde. Du weisst ja gar nicht, ob sie noch Single ist, erwiderte seine innere Stimme kritisch. Das stimmt schon, aber … Luca fiel plötzlich auf, dass er immer noch seine Bärenjacke trug. Er zog diese aus, verstaute sie wieder in der Plastiktüte, schlüpfte in seine Winterjacke, schlang den Schal um den Hals und setzte sich die Wollmütze auf. Ich kann doch jetzt nicht einfach wieder zurück in den Laden spazieren. Wie sähe das denn aus! Vielleicht ergibt sich etwas bei einer anderen Gelegenheit, wünschte er sich mit leiser Hoffnung. Er musste noch einkaufen und zwei, drei Dinge für seine Mutter besorgen. Also machte er sich auf den Weg zum Supermarkt.

Sarah starrte dem jungen Mann hinterher, als er den Laden verliess. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie den Atem angehalten hatte. Das geht auf Kosten des Hauses. Wir bieten diese Dienstleistung an, höhnte eine innere Stimme. Mensch Sarah, du brauchst doch jeden Rappen! Ja schon, aber dieser Typ sieht so toll aus! Der hat mich komplett durcheinandergebracht. Am liebsten hätte sie das Geschäft jetzt geschlossen, sich in ihre Wohnung zurückgezogen und von dem süssen Kerl mit den wunderschönen braunen Augen und dem niedlichen Grübchen im Kinn weitergeträumt. Doch sie wusste ja gar nicht, ob er noch zu haben war. Vielleicht ist er ja verheiratet und hat vier Kinder. Dann mache ich mich halt wieder an die Arbeit. So richtig bei der Sache war sie aber nicht mehr.

Kapitel 7

«Auf Wiedersehen, Frau Huber, schönes Wochenende!» Es war Samstagnachmittag, 16.00 Uhr. Sarah sperrte die Ladentüre ab. Endlich Wochenende. Nein, noch nicht ganz. Sie hatte noch eine Aufgabe zu erledigen. Hastig schlüpfte sie in ihren blauen Wintermantel, schlang einen weissen Schal um den Hals, stülpte eine weisse Wollmütze auf den Kopf, hängte ihre Handtasche schräg über die Schulter, packte ihre zweite Tasche und machte sich auf den Weg zum Bus. Ihr Weg führte sie zum Alters- und Pflegeheim nach Kriens. Dort wollte sie die Cafeteria fasnächtlich dekorieren und hatte deshalb Dekorationsmaterial mit dabei. Morgen fand dort die Altersfasnacht statt. Ihre Grossmutter Pia Huber, die auch den Näh- und Bastelladen gegründet hatte, hatte mit dem Dekorieren dort angefangen. Später hatte Sarahs Mutter, Lisbeth Keiser, diese Aufgabe übernommen. Und seit einem Jahr führte Sarah die Tradition einfach weiter. Bei speziellen Anlässen, wenn Personalmangel war, half sie manchmal auch in der Cafeteria hinter dem Buffet mit, so wie morgen.

In ihre Tasche hatte sie auch noch ihr Fliegenpilzkostüm inklusive Hut und Schminke und Kleider zum Wechseln miteingepackt. Sarah wollte heute Abend mit Myriam den Maskenball in der Krauerhalle in Kriens besuchen und würde anschliessend auch gleich bei ihr übernachten.

Sarah stand in der Cafeteria auf einer Leiter, als der Heimleiter, Heiri Gmür, auf sie zukam. «Hallo Sarah, wie geht’s dir?» «Guten Abend, Heiri. Danke der Nachfrage, mir geht’s gut.» «Schön, dass du da bist. Und ganz herzlichen Dank für deine immer wieder tollen und originellen Dekorationen. Auch die Heimbewohner haben mir das schon mehrmals bestätigt», rühmte Heiri sie mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen. Er kannte Sarah schon seit sie ein kleines Mädchen war, da sie ihre Mutter oft begleitet und beim Dekorieren mitgeholfen hatte. Sie freute sich über das Kompliment. «Danke, ich mache das wirklich sehr gerne. Auch meinen Dienst morgen hinter dem Buffet. Es ist ein gutes Gefühl, wenn man älteren Menschen ein wenig Freude in ihren manchmal langen und etwas langweiligen Tag bringen kann.»

***

Luca genoss am Samstagabend ein Heimspiel. Wie jedes Jahr waren die Museggfäger zu einem grossen Auftritt beim Maskenball in der Krauerhalle eingeladen worden. Er schlüpfte in sein Bärenkostüm, packte Grind und Trompete und machte sich zu Fuss auf den Weg.

Die Krauerhalle hatte man fasnächtlich dekoriert. Auf der einen Seite war eine grosse Tanzbühne aufgebaut worden. Dort spielte eine Zweimannband. Die Bühne war gestossen voll, viele Paare oder auch Einzelpersonen tanzten und bewegten sich zur Musik. Auf der anderen Seite der Halle befand sich eine achtzehn Meter lange Bar. Im Aussenbereich gab es eine gemütliche Kaffeestube, in der eine Ländler-Kapelle für gute Stimmung sorgte. In einem separaten Raum hatte man eine Disco eingerichtet. Das Licht war gedämpft und eine Discokugel drehte sich langsam. Ein DJ sorgte für coolen Sound. Die Stimmung in der Krauerhalle war super, fröhlich, aufgestellt und ausgelassen. Es wurde gelacht und geflirtet. Immer wieder schlängelte sich eine Polonaise durch das Gewühl. Verschiedene Guuggenmusigen hatten ihre Auftritte und gaben ihr Repertoire zum Besten.

Auch die Museggfäger hatten ein super Konzert hingelegt. Luca und Stefan gingen zur Bar und bestellten zwei Bier. «Das war jetzt wirklich ein gelungener Auftritt», freute sich Stefan. Er trug über seinem Bärengrundkleid ein blauweiss kariertes Hemd und eine kurze Lederhose. Um sein Outfit zu vervollständigen, sass ein kecker Tirolerhut auf seinem Kopf. «Da gebe ich dir absolut Recht. So gut haben wir selten gespielt», bestätigte Luca schmunzelnd. Sie schauten dem emsigen Treiben in der Halle zu. Plötzlich tauchte eine hübsche Bärenfrau mit einem blauen Dirndl in der Menge auf. Stefans Augen wurden gross. «Hey Schatz, was machst du denn hier? Und wo sind unsere Kinder?» «Hallo ihr beiden. Wie geht’s euch?» Sabrina küsste ihren Mann zärtlich auf den Mund und begrüsste Luca mit drei Küsschen auf die Wangen. «Lea und Yannik sind noch in Sörenberg bei den Grosseltern. Sie kommen morgen Abend alle zusammen zurück. Die Kinder können vor lauter Aufregung wegen Montag kaum noch schlafen. Und ich bin schon einen Tag früher zurückgefahren, weil ich dich überraschen wollte.» Stefan sah seine Frau verliebt an, nahm sie an die Hand und führte sie auf die Tanzbühne. Die beiden hatten die ganze Nacht und den morgigen Tag für sich alleine. Das wollten sie unbedingt nutzen und geniessen …! Luca blieb alleine an der Bar zurück. Er beneidete Stefan und Sabrina um ihr Glück. Die zwei hatten eine tolle Beziehung und zwei gesunde und aufgeweckte Kinder. Er fühlte sich einsam und fehl am Platz. Es war so laut und eng in dieser Halle. Plötzlich tauchten wunderschöne grüne Augen und ein strahlendes Lächeln mit zwei niedlichen Grübchen in den Wangen in seinen Gedanken auf. Der gestrige Morgen kam ihm wieder in den Sinn. Dieser war ihm definitiv unter die Haut gegangen. Der kleine Näh- und Bastelladen, diese hübsche junge Frau ... Ist der süsse Fliegenpilz und sie die gleiche Person? Vielleicht ist sie ja auch hier in der Krauerhalle? Was mache ich, wenn sie plötzlich auftaucht, träumte er vor sich hin. Luca hatte sich von der Bar entfernt. «Pass auf, du Idiot!» Soeben hatte er einen rosaroten Hasen gerammt. «Entschuldigung!» Plötzlich meinte er, in der Menschenmenge etwas rotweiss Gepunktetes gesehen zu haben. Schnell bahnte er sich einen Weg durch das Gedränge. Mist, zu spät! Und wenn sie hier wäre, dann sicher mit ihrem Freund. Ihn hielt nichts mehr in der Krauerhalle. Stefan und Sabrina würden ihn nicht vermissen. Frustriert trottete er nach Hause. Morgen Sonntag hatten die Museggfäger frei und zum Glück keine Termine.

Myriam und Sarah waren kostümiert und amüsierten sich super in der Krauerhalle. Sie tanzten mal mit dem, mal mit diesem. Zwischendurch machten die beiden eine Pause an der Bar, um etwas zu trinken. Dann hängten sie sich hinten an die Polonaisen an und lachten und schaukelten mit, wenn die Guuggenmusigen Schunkellieder spielten. Sie amüsierten sich gemeinsam, bis Myriam ihren Piraten per Zufall an der Bar wiedertraf. Dann hatte sie nur noch Augen für ihn und Sarah ging vergessen. Diese fühlte sich einsam und verlassen. Vorher beim Auftritt der Museggfäger hatte sie den Urlaubsbären beim Spielen zugesehen und ihr Herz hatte ganz laut geklopft. Sie wusste ja jetzt, was für ein erstklassiger Typ in diesem Kostüm steckte. Seine Frau wartet sicher hier irgendwo in der Menge, dachte Sarah unglücklich. Was soll ich eigentlich noch hier. Ich habe keine Lust mehr, hier rumzuhängen. Zum Glück hat mir Myriam einen Schlüssel zu ihrer Wohnung gegeben. Ich gehe jetzt heim.

Kapitel 8

Am nächsten Morgen, kurz vor 11.00 Uhr, klopfte Luca an die Zimmertüre seiner Mutter im Pflegeheim. Emma Müller sass fertig angezogen im Rollstuhl am Fenster. Draussen war es grau und kalt. «Hallo Mama, wie geht’s dir?», fragte er liebevoll und küsste sie auf die Wange. Emma hob die rechte Hand zum Gruss. «Hallo Luca.» Vor einem halben Jahr hatte sie einen Hirnschlag erlitten und war seither links teilweise gelähmt. Ihre linke Hand ruhte leblos in ihrem Schoss. Sprechen konnte sie nur noch einzelne Worte.

«Jetzt gehen wir beide an die Fasnacht. Was meinst du, Mama?», fragte Luca lächelnd. Seine Mutter nickte strahlend. Sie freute sich immer sehr, wenn ihr Sohn etwas mit ihr unternahm. Oft gingen sie einfach nur im Park spazieren. Aber heute würde er mit ihr in der Cafeteria zu Mittag essen. Luca schob den Rollstuhl durch die Tür zum Fahrstuhl. Unten angekommen, bewunderten sie erst mal die wunderschöne fasnächtliche Dekoration.

Die Cafeteria füllte sich allmählich. Die Heimbewohner und ihre Angehörigen setzten sich an die Tische. Sarah hatte hinter dem Buffet alle Hände voll zu tun. Getränke, Gläser, Besteck, Tischsets und Servietten mussten bereitgestellt werden. Sie trug heute eine schwarze Jeans, eine weisse Bluse und einen schwarz-weiss-rot gemusterten Schal um den Hals. In Ihren Ohren baumelten kleine rote Anhänger. Ihr blondes Haar war zu einem losen Knoten aufgesteckt. Zwischendurch nahm sie sich immer wieder einen Moment Zeit, um sich umzuschauen. Soeben hatte sie einen jungen gutaussehenden Mann reinkommen sehen. Er trug schwarze Lederschuhe, dunkelblaue Jeans, ein blauweiss kariertes Hemd und darüber einen hellbraunen Pullover mit V-Ausschnitt. Er schob eine ältere, grauhaarige Dame im Rollstuhl an einen Tisch. Ihr Herz blieb fast stehen. Das ist doch der süsse Kerl von den Museggfägern! Der Urlaubsbär, der mich bis in meine Träume verfolgt. Ob das seine Oma ist, die er da mit dem Rollstuhl am Tisch platziert hat, überlegte sie mit klopfendem Herzen. «Sarah, ich benötige noch eine Flasche Wein, vier Weingläser, eine Flasche Mineral …», orderte Marie vom Serviceteam. Sarah machte sich an die Arbeit und unterbrach nur ungern ihre Gedanken. Immer wieder linste sie zu dem jungen Mann und der älteren Dame, bei der die linke Hand leblos in ihrem Schoss ruhte. Er hob das Glas mit dem Trinkhalm hilfsbereit an ihre Lippen, um ihr das Trinken zu erleichtern, half ihr beim Essen, lächelte sie an und sprach geduldig mit ihr. Die ältere Frau strich ihm liebevoll mit der rechten Hand über die Wange und strahlte ihn an. Sarah konnte spüren, dass sich diese beiden sehr nahestanden und sich liebhatten.

Nachdem das Mittagessen beendet war, rückte man die Tische etwas mehr zusammen, um Platz zum Tanzen zu schaffen. Eine Dreimann-Ländlerkapelle begann zu musizieren. Rüstige Rentner walzerten durch den Saal. Andere formierten sich zu einer Polonaise und schlängelten sich gemütlich durch die Cafeteria. Wieder andere, die zu Fuss nicht mehr so fit waren, klatschten mit den Händen oder klopften mit dem Fuss im Takt. Die Stimmung war fröhlich und heiter.

Luca genoss die Zeit, die er mit seiner Mutter verbringen konnte. Er hatte ihr so viel zu verdanken. Auch wenn er als Einzelkind aufgewachsen war, er hatte sich nie alleine oder einsam gefühlt. Er hatte immer seine Schulkameraden oder Freunde mit nach Hause bringen dürfen. Manchmal war er wirklich ein ausgekochtes Schlitzohr gewesen und hatte alle mit seinem Charme um den kleinen Finger gewickelt. Doch seine Eltern hatten ihm meistens alle seine Streiche, manchmal zähneknirschend und oft auch mit einem versteckten Schmunzeln verziehen. Luca hatte eine schöne und unbeschwerte Kindheit erlebt. Seine Eltern hatten ihn wichtige Dinge gelehrt, wie zum Beispiel, dass Danke und Bitte in jeden Wortschatz gehörten. Auch Fleiss, Geduld, Dankbarkeit, Ehrlichkeit und richtiges Zuhören hatten sie ihm vorgelebt. Immer wieder gab es etwas zum Lachen und als Familie hatten sie stets viel Spass gehabt.

Jetzt war seine Mutter behindert und brauchte für fast alles Hilfe. Emma schämte sich, dass sie keine Kontrolle mehr über ihren Körper hatte und dass sie sich mit Worten nicht mehr richtig ausdrücken konnte. Doch Luca half, so gut er konnte. Und er war sehr froh, sie hier, im Pflegeheim, in guten und fürsorglichen Händen zu wissen. Wenn immer es ging, besuchte er sie zweimal in der Woche.

Emma liebte Ländlermusik. Ihre rechte Hand klopfte im Takt und ihre rehbraunen Augen strahlten. Solche Anlässe brachten immer etwas Abwechslung in den meist öden Alltag.

Am späteren Nachmittag liess die aufgestellte Fasnachtsstimmung langsam nach. Die älteren Leute wurden allmählich etwas müde. Nach und nach zogen sich die Heimbewohner in ihre Zimmer zurück und die Angehörigen gingen nach Hause. Luca brachte seine Mutter zurück auf ihr Zimmer und half ihr ins Bett. Er deckte sie fürsorglich zu. «Hat es dir gefallen, Mama?», erkundigte er sich freundlich. Emma nickte lächelnd. «Hat sehr gefallen. Danke.» Luca streichelte sie liebevoll über die Wange. «Ruh dich aus. Ich komme am Aschermittwoch wieder. Ist das ok?» «Ja.» Sie schloss die Augen und atmete schon bald ruhig und regelmässig. Luca blieb noch einen Moment stehen. «Tschüss Mama.» Dann küsste er sie auf die Stirn und verliess leise das Zimmer.

Kapitel 9

Luca bog soeben um die Ecke, als Sarah aus der Gästetoilette kam. Beide blieben abrupt stehen, sonst wären sie voll ineinander gekracht. Sie lächelten sich verlegen an. «Hallo, was machen Sie denn hier? Arbeiten Sie auch noch an Ihrem freien Sonntag oder haben Sie jemanden besucht?», fragte Luca neugierig. «Nein, ich helfe manchmal bei speziellen Anlässen ein bisschen hinter dem Buffet. So wie heute. Eigentlich bin ich für die Dekoration der Cafeteria zuständig», erklärte Sarah. «War das Ihre Grossmutter, mit der Sie den heutigen Nachmittag verbracht haben?», wollte sie dann wissen. «Nein, das war meine Mutter.» «Oh, Entschuldigung!» Jetzt war sie doch tatsächlich in ein Fettnäpfchen getreten. «Kein Problem, das konnten Sie ja nicht wissen», beruhigte er Sarah lachend. Luca hatte keine Lust, hier im kalten Flur stehen zu bleiben. Ausserdem wollte er nicht nach Hause in seine leere Wohnung. Er nahm seinen ganzen Mut zusammen. «Haben Sie Zeit? Wollen wir was trinken gehen? Auf dem Hofmattplatz gibt es ein Restaurant, das heute offen hat.» Auch auf Sarah wartete niemand zu Hause. Erfreut sagte sie zu. «Ich hole nur schnell meine Sachen. Bin gleich wieder da.» Winterlich eingepackt zogen sie nach zehn Minuten los. Draussen schneite es.

***

Fünfzehn Minuten später betraten sie das gemütliche Lokal. Luca hielt Sarah galant die Türe auf. Das Licht war gedämpft, auf jedem Tisch und weiteren freien Stellen brannten winterweisse Kerzen. Sie wurden an einen Zweiertisch im hinteren Teil des Restaurants geführt. Luca hängte Sarahs Mantel und seine Jacke an der Garderobe auf und kehrte an ihren Tisch zurück. Ein richtiger Gentleman, stellte Sarah erfreut fest. Ein Kellner trat an ihren Tisch, und sie bestellten ihre Getränke. Nachdem das Mineralwasser serviert und eingeschenkt war, stiessen sie an. «Ich weiss nicht mal deinen Namen», gestand Luca beschämt und ging gleich zum Du über. «Sarah Keiser. Und du?» «Luca Müller.» Dieser Name passt zu ihm. Himmel, er ist so attraktiv. Ihr Herz schlug plötzlich sehr heftig. «Luca, ist deine Mutter behindert?», traute sich Sarah zu fragen. «Ja, teilweise.» Er erzählte ihr, dass sie vor einem halben Jahr einen Hirnschlag erlitten hatte und seither links teilweise gelähmt sei und deshalb den linken Arm und die Hand nicht mehr benutzen könne. Deshalb brauche sie praktisch Hilfe für alles und schäme sich sehr dafür. Auch, dass sie nur noch ein paar einzelne Worte sagen könne und grosse Diskussionen deshalb nicht mehr möglich seien. Sie leide auch darunter, dass sie sich nicht mehr richtig ausdrücken könne. «Aber sie ist trotz allem zufrieden und freut sich an vielen kleinen Dingen. Ich bin froh, dass sie in diesem Pflegeheim gut untergebracht ist.» Sarah hatte schmunzelnd bemerkt, dass der Altersunterschied zwischen Mutter und Sohn recht gross war. «Bist du ein Nachzügler? Hast du noch ältere Geschwister?», nahm es sie wunder. «Nein, ich bin ein Einzelkind. Meine Eltern versuchten jahrelang, ein Kind zu bekommen. Aber es klappte einfach nicht. Irgendwann gaben sie dann den Kinderwunsch auf. Plötzlich wurde meine Mutter doch noch schwanger und brachte mich mit 43 auf die Welt», erzählte er liebevoll. «Und wie alt bist du jetzt?», fragte Sarah neugierig. «Fast 30.» Er grinste. «Und du?» «Ich werde im Mai 28.» Super, das passt ja ausgezeichnet