Villa Rosaly - Ramona Vals - E-Book

Villa Rosaly E-Book

Ramona Vals

0,0

Beschreibung

Der 21-jährige Philipp Odermatt will in Zürich Medizin studieren, weil er irgendwann in die Fussstapfen seines Vaters, der in Chur eine Hausarztpraxis betreibt, treten wird. An seinem ersten Tag an der Uni macht er überraschend Bekanntschaft mit der zwanzigjährigen Lea Frei aus der Innerschweiz. Ihre blaugrauen Augen bringt er per sofort nicht mehr aus seinem Kopf, und er will sie deshalb unbedingt besser kennenlernen. Doch der Weg, ihr Herz zu erobern, ist mit vielen Steinen belegt und es gilt, schwierige Probleme und unerwünschte Hindernisse zu bewältigen. Ob Philipp bereit ist, diese grosse Herausforderung anzunehmen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 572

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Weitere Bücher, von Ramona Vals, sind bei BoD erschienen:

Fasnachtszauber

Lichterglanz

Liebe Grüsse aus Kanada

Zwei verliebte Sterne

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Kapitel 82

Kapitel 83

Kapitel 84

Kapitel 85

Kapitel 86

Kapitel 87

Kapitel 88

Kapitel 89

Kapitel 90

Kapitel 91

Kapitel 92

Kapitel 93

Kapitel 94

Kapitel 95

Kapitel 96

Kapitel 97

Epilog

Kapitel 1

Es regnete in Strömen, an diesem Freitagnachmittag, Ende Juli. Doch das kümmerte Philipp Odermatt überhaupt nicht. Der 21-jährige Bündner sass im trockenen Zugabteil, reiste von Chur nach Zürich und fieberte seinem neuen Lebensabschnitt entgegen. Am kommenden Montag begann er sein Studium an der medizinischen Universität Zürich.

Philipp stammte aus einer Churer Arztfamilie. Sein Grossvater, Hans Odermatt, hatte vor langer Zeit die Hausarztpraxis gegründet und diese später seinem Sohn Peter übergeben, als er in Rente gegangen war. Irgendwann in ein paar Jahren, wenn Philipp seine Ausbildung zum Allgemeinmediziner und Hausarzt abgeschlossen haben würde, war geplant, dass er in die Fussstapfen seines Vaters trat, um die Arztpraxis in dritter Generation weiterzuführen. So lautete zumindest der längerfristige Plan. Dieses Ziel lang allerdings noch in weiter Ferne.

Aktuell musste Philipp erst einmal seine neue Unterkunft finden, sobald er in Zürich angekommen war. Er hatte lange im Internet nach einem WG-Zimmer gegoogelt und war bei der Villa Rosaly im Riesbach-Quartier im Kreis 8 fündig geworden.

***

Das riesige Haus, mit einem wunderschönen Rosengarten und einem beachtlichen Umschwung ausgestattet, war für die verwitwete 67-jährige Annette von Guggisbühl alleine viel zu gross. Ihre drei erwachsenen Kinder waren längst ausgeflogen und ihr Ehemann schon länger verstorben.

Sie war gesund und rüstig und liebte den Kontakt zu den Menschen. So hatte sie beschlossen, die unbewohnten Zimmer an Studenten zu vermieten, um ein bisschen Leben in die Bude zu bringen. Der finanzielle Zustupf war wichtig, aber nicht der entscheidende Grund.

Die Villa bot fünf Schlafzimmer, zwei grosszügige Badezimmer, ein Wohnzimmer und eine praktische und sehr grossräumige Wohnküche an. Annette selber wohnte in der gemütlichen, hellen Einleger-Wohnung im Erdgeschoss. Die Waschküche mussten sich alle zusammen teilen.

***

Das grüne und sehr ruhige Quartier fand offensichtlich Anklang, und die Zimmer in der Villa Rosaly schienen immer ausgebucht zu sein, hatte Philipp verblüfft festgestellt. Es gab sogar eine Warteliste. Doch er hatte Glück gehabt und sich dort ein freies Zimmer gesichert. Es war zwar im oberen Preissegment, schien aber, gemäss den Bildern im Internet, sehr gepflegt und sauber zu sein. Live hatte er es aber noch nicht gesehen.

Der zukünftige Medizinstudent hatte ein Stipendium, mit dem er die Kosten des Studiums abdecken konnte. Doch seinen Lebensunterhalt musste er als Rettungssanitäter selbst verdienen. Deshalb hatte er sich bei der Notfallklinik des Universitätsspital Zürich auf eine freie Stelle beworben und diese glücklicherweise auch bekommen. Seiner Vorstellung nach wollte er vor allem an den Wochenenden zum Einsatz kommen, wenn keine Vorlesungen oder Praktika auf dem Stundenplan standen.

In der Rekrutenschule, beim Spitalbataillon, hatte er die Ausbildung zum Rettungssanitäter absolviert und die Zeit danach, bis zum Beginn seines Studiums, mit einer 100%-Anstellung bei der Notfallklinik des Kantonspitals Chur überbrückt. In dieser Zeit hatte er reichlich praktische Erfahrung gesammelt.

Sein neues, vorübergehendes Zuhause für die nächsten paar Semester lag ein paar Kilometer von der Uni entfernt. Den Führerschein besass er zwar schon, konnte sich als Student aber kein eigenes Auto leisten. Doch seine heissgeliebte blaue Vespa reiste im Frachtwagon mit und würde ihm die Mobilität zur Arbeit und zur Uni natürlich sehr erleichtern.

Philipp packte sein Schinkensandwich aus, welches er im Churer Bahnhof gekauft hatte und biss herzhaft hinein. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass er ungefähr in dreissig Minuten an seinem Ziel ankommen würde. Also hatte er noch genügend Zeit, um ein paar Seiten in seinem Agatha Christie-Roman zu lesen.

Eine halbe Stunde später kam der Zug mit quietschenden Bremsen im Zürcher Hauptbahnhof zum Stehen. Philipp verstaute das Buch in seine Umhängetasche, schlug diese schräg über seine linke Schulter, schulterte ebenfalls seinen prallgefüllten Rucksack, packte die beiden Rollkoffer und trottete zum Ausgang.

Zürich im Allgemeinen und auch der grosse Bahnhof als solches kannte er noch nicht so gut. Er war vor einem Monat zum ersten Mal da gewesen, als er sich bei der Notfallklinik hatte vorstellen dürfen. Deshalb würde er also noch etwas Zeit brauchen, um sich in dieser fremden Stadt zurechtzufinden.

Der Himmel über Zürich war stark bedeckt, die Strassen aber trocken. Da Philipp unmöglich zwei grosse Koffer auf seine Vespa verladen konnte, beschloss er, sein Gepäck mit dem Bus zu seinem neuen Quartier zu bringen und den Roller später nachzuholen.

Nachdem er beim Tram- beziehungsweise Busbahnhof den Zonenplan studiert hatte und der Bus mit der Nummer 31 eingetroffen war, stieg er ein, um nach ein paar Minuten in die Nummer 77 umzusteigen.

Anschliessend marschierte er der Bleulerstrasse entlang, besichtigte neugierig sein neues Wohnquartier und fand die Villa Rosaly auf Anhieb. Er schlenderte an einem gepflegten grünen Rasen vorbei und durch den blühenden Rosengarten zum Eingang.

Doch, sein erster Eindruck fiel absolut positiv aus. Er freute sich darauf, in der nächsten Zeit hier wohnen zu dürfen.

Kapitel 2

Bald sichtete Philipp eine zierliche, grauhaarige Frau, die im Rosengarten kniete und herumwerkelte. Sie trug Jeans, eine kurzärmlige Bluse und einen Strohhut auf dem Kopf.

Lächelnd stand sie auf, zog ihre Gartenhandschuhe aus und kam mit einem freundlichen Gesichtsausdruck auf ihn zu. «Sie müssen Philipp Odermatt sein», stellte die ältere Dame augenzwinkernd fest. «Genau der bin ich», gab er sich grinsend mit seinem heimeligen Bündner Dialekt zu erkennen. «Grüezi Frau von Guggisbühl.»

Sie tauschten einen kräftigen Händedruck. «Sind Sie gut gereist?», erkundigte sie sich.

«Ja danke, es hat alles wie am Schnürchen geklappt», antwortete er lachend, um dann noch ein Anliegen vorzubringen. «Ich hätte da noch eine Frage: gibt es hier eine Möglichkeit, um meine Vespa zu parken? Ich muss nachher nochmals zum Bahnhof zurück, um sie zu holen.»

«Selbstverständlich! In der grossen Doppelgarage, neben meinem Auto, ist noch genügend Platz vorhanden, damit sie Ihren Roller im Trocknen abstellen können.» Philipp atmete erleichtert auf.

«Am besten zeige ich Ihnen erst mal das Haus und Ihr Zimmer», schlug seine Vermieterin vor. «Im Moment ist keiner da, glaube ich. Ihre vier Mitbewohner sind alle ausgeflogen.»

Annette ging voran, und sie gelangten in eine grosse Eingangshalle. «Hier zu meiner linken Seite befindet sich meine Wohnung», erklärte sie. «Rechter Hand geht es in die Küche und zum Wohnzimmer, geradeaus ist die Treppe zum Keller und zur Waschküche und dort vorne bei dieser Tür kommen Sie direkt in die Garage.»

Die beiden durchquerten das grosszügige Entree und stiegen eine geschwungene Treppe, die mit einem dunkelblauen Teppich belegt war, empor. Auf der ersten Etage erreichten sie einen Korridor, bei dem je zwei geschlossene Türen auf beiden Seiten vorhanden waren.

Sie stiegen eine weitere Treppe hinauf zum obersten Stockwerk. «Wir befinden uns jetzt im Dachgeschoss oder Estrich, wenn Sie so wollen. Als unsere Kinder grösser wurden und jeder sein eigenes Zimmer haben wollte, liess mein Mann zwei Mansardenzimmer aus- beziehungsweise ein Bad einbauen», erzählte Annette aus dem Nähkästchen.

«Hier wohnt Pascal Enzli», berichtete sie weiter und wies mit ihrer Hand auf eine geschlossene Tür. «So viel wie ich weiss, studiert er Maschinenbau.»

Mit einem Schlüssel öffnete sie ein paar Meter weiter eine andere Tür. «Und das ist ab heute Ihr Revier.» Gespannt betrat Philipp das geräumige und sehr rustikale Zimmer.

Die Wände waren weiss gestrichen und in der getäferten Dachschräge gab es ein Fenster. Der grosse Einbauschrank bot reichlich Stauraum und das breite Bett nahm fast die Länge einer ganzen Wand ein. Neben dem Kopfende stand ein Nachttisch mit einer Leselampe. An der Wand gegenüber vervollständigten ein Schreibtisch mit einer Leselampe, ein dazu passender Stuhl und ein Bücherregal das Mobiliar. An einer Wand hing ein Spiegel und in einer Ecke stand ein hölzerner Garderobenständer.

Annette beobachtete Philipp, wie er den Raum kritisch in Augenschein nahm. Als seine dunkelbraunen Augen plötzlich leuchteten und er über das ganze Gesicht zu strahlen begann, war auch sie sehr zufrieden.

«Gefällt es Ihnen?», wollte sie lächelnd abgesichert haben. «Absolut! Hier werde ich mich wie zu Hause fühlen. Danke, dass Sie mir die Möglichkeit gegeben haben, diese Bleibe mieten zu dürfen.»

Frau von Guggisbühl schmunzelte und übergab ihm feierlich die Schlüssel. Den Mietvertrag hatten die beiden bereits im Vorfeld ausgehandelt und unterschrieben.

Philipp liess sein Gepäck gleich im Zimmer zurück, schloss ab und folgte seiner Vermieterin, als sie ihm auch noch das Bad auf seiner Etage und die restlichen Räume im Erdgeschoss zeigte.

«So, das wars! Diese ganze Infrastruktur steht Ihnen zur Verfügung. Wie Ihr Studenten das Zusammenleben organisiert, müsst Ihr selber regeln. Ich mische mich da nicht ein. Doch wenn Fragen oder Probleme auftauchen sollten, stehe ich Ihnen natürlich jederzeit gerne zur Verfügung. Ich wünsche Ihnen einen guten Aufenthalt in der Villa Rosaly!» «Danke, Frau von Guggisbühl.»

So, eine wichtige Hürde war geschafft! Philipp hatte nun ein Dach über dem Kopf und was für ein Gemütliches noch dazu! Die nächste Priorität auf seiner To-do-Liste war jetzt, seine Vespa nach Hause zu holen. Aus diesem Grund verliess er die Villa Rosaly, um zum Hauptbahnhof zurückzukehren.

Er freute sich, seine Mitbewohner kennenzulernen und war gespannt, mit was für Menschen er es zu tun habe würde. Wie und ob sie alle zusammen harmonierten, war allerdings schwierig vorauszusehen.

Kapitel 3

Zwei Stunden später wärmte Philipp sein in der Stadt gekauftes Sweet- and Sour-Gericht in der Mikrowelle auf, welche er in der Küche vorgefunden hatte und setzte sich danach an den grossen Esstisch. Mit vollem Mund vertiefte er sich in seinen Krimi.

Ein paar Minuten später zuckte er erschrocken zusammen, als eine kleine Brünette, vermutlich ein paar Jahre älter als er, mit vollen Einkaufstaschen in die Küche stürmte.

Sie blieb wie angewurzelt stehen. «Hallo?!» Ein fragender Unterton klang mit. Philipp schaute auf, schluckte herunter und begrüsste sie grinsend. «Guten Abend, ich bin Philipp Odermatt, der neue Mitbewohner.»

«Aha, und ich bin Susan Herziger aus Frauenfeld. Freut mich, dich kennenzulernen.» Ihr Ostschweizer Dialekt war unverkennbar. Sie gaben sich die Hand.

«Was studierst du denn?», wollte sie wissen. «Medizin, erstes Semester. Und du?» «Ich auch, aber mit Schwerpunkt Dentalmedizin. Ich fange am Montag das Fünfte an.» «Oh, dann bist du mir aber schon ein ganzes Stück voraus», lautete sein trockener Kommentar. Susan nickte schmunzelnd und machte sich ans Auspacken.

«Du stammst aber auch nicht aus dieser Gegend, oder?», stellte sie plötzlich fest. «Nein, überhaupt nicht. Ich komme aus Chur. Mein Vater betreibt da eine Hausarztpraxis.» «Das erklärt einiges», meinte sie dann und füllte ihr Schrankfach mit Vorräten.

«Wer wohnt noch mit uns zusammen?», erkundigte sich Philipp neugierig und stopfte sich eine Gabel voll Reis in den Mund.

Susan öffnete den Kühlschrank und verstaute eine Flasche Milch, Joghurts, Käse, Salate, Früchte und zwei Tafeln Milchschokolade hinein.

«Da ist Pascal Enzli aus Liestal», begann sie aufzuzählen, «er studiert Maschinenbau, drittes Semester. Dann gibt es noch Nicole Fröhlich aus Wohlen. Sie studiert Wirtschaft. Oliver Klausiger aus Herlisberg kommt ins achte und schliesst sein Architekturstudium bald ab.»

Eine richtig nett zusammengewürfelte Wohngemeinschaft, dachte Philipp für sich. Könnte interessant werden! Ich bin sehr gespannt, auch die anderen drei noch kennenzulernen. Susan scheint ganz okay zu sein.

«Wie funktioniert das hier mit dem Kochen und Einkaufen und so?», klärte er ab.

Susan stopfte die leeren Einkaufstaschen in eine Küchenschublade. «Wir alle haben unterschiedliche Stundenpläne und jeder gestaltet seinen Tagesablauf individuell. Deshalb sorgt auch jeder für sich selbst. Im Kühlschrank gibt es für jede Person ein Abteil und jeder kocht, wie es ihm gerade passt. Hier in diesem Schrank gibt es noch ein freies Fach für dich.»

Sie öffnete denselben von vorher und zeigte ihm wo. «Das ganze Inventar steht jedem zur Verfügung und kann benutzt werden. Und jeder muss dafür sorgen, dass er die Küche sauber und aufgeräumt wieder verlässt. Manchmal sind ein paar von uns da, manchmal alle zusammen und manchmal läuft man sich tagelang nicht über den Weg.»

«Okay! Und um seine Wäsche kümmert sich auch jeder selbst?», hakte Philipp nach.

«Genau! Und das Putzen der Bäder steht in der Verantwortung der Bewohner der jeweiligen Etage.»

Alles klar, dann weiss ich jetzt Bescheid! «Danke für die Infos. Ich gehe jetzt in mein Zimmer, um auszupacken.»

Philipp stand auf und wusch seinen Teller und das Besteck ab. Nachdem er alles am richtigen Ort wieder versorgt hatte, packte er sein Buch und schlurfte davon.

***

Er räumte seine Klamotten in den Wandschrank, bezog das Bett mit der, von zu Hause, mitgebrachten Bettwäsche und deponierte sein Duschtuch und seine Toilettenartikel im Bad. Dort herrschte einigermassen Ordnung. Danach platzierte Philipp seinen Laptop auf dem Schreibtisch und steckte das Kabel ein, um den Akku aufzuladen. Schlussendlich bekam sein kleiner Radiowecker einen Platz auf dem Nachttisch und sein Krimi gleich daneben.

So, nun muss ich mich noch kurz zu Hause melden. Er fischte sein Handy aus seiner Jeans und wählte die Nummer seiner Eltern. «Hallo Mama, ich bin’s …»

Kapitel 4

Es war früher Montagmorgen. Philipp rannte die Treppe runter, während er gleichzeitig den Reissverschluss seiner Lederjacke hochzog. In einer Stunde begann das Begrüssungsreferat für alle Erstsemester-Studenten in der Aula der Uni. Dieses wollte er keinesfalls verpassen.

Bei seiner Vespa angekommen, schulterte er seinen Rucksack, setzte sich den Helm auf und lenkte den Roller vorsichtig aus der Garage. Dann kurvte er durch den Morgenverkehr.

***

Nachdem er am Samstagvormittag Lebensmittelvorräte eingekauft hatte, war er zur Uniklinik gefahren. Dort hatte er sich bei seinem neuen Vorgesetzten gemeldet und gleichzeitig auch seine Arbeitskleidung und den Einsatzplan für die nächsten Wochen bezogen. So hatte er erfahren, dass er am kommenden Freitag zum ersten Mal zum Nachtdienst erwartet wurde.

Um nichts dem Zufall zu überlassen, war er am Sonntagnachmittag die Strecke von der Villa Rosaly bis zur Uni extra abgefahren, um zu rekognoszieren, wie viel Zeit er für den Weg ungefähr einrechnen sollte, wo er seine Vespa abstellen konnte und wo sich der Eingang der Uni befand.

***

Inzwischen war er am Ziel angekommen, parkte die Vespa und schloss den Helm unter dem Sitz ein. Von allen Seiten strömten die Studenten auf den Campus. Es herrschte dichtes Gedränge, als würde irgendwo etwas kostenfrei abgegeben.

Selbstverständlich hatte Philipp sich bereits schlau gemacht und wusste, in welchem Saal diese Infoveranstaltung stattfand. Zielstrebig marschierte er den Gang entlang, denn irgendwo da vorne musste der Eingang der Aula sein.

Kapitel 5

Die 20-jährige Lea Frei war spät dran. An frühen Morgen war der Zug um 6:30 Uhr in Luzern abgefahren, um eine Stunde später in Zürich einzutreffen. Wie nicht anders zu erwarten, waren die Abteile mit Pendlern hoffnungslos überfüllt gewesen.

Beim Zürcher Hauptbahnhof angekommen, hätte sie eigentlich noch reichlich Zeit gehabt, um gemütlich zur Universität zu gelangen. Dann war sie zwar in das richtige Tram eingestiegen, aber in die verkehrte Richtung gefahren und hatte dieses Malheur dummerweise erst nach fünf Stationen bemerkt. Himmel, wie sie sich über ihr eigenes Missgeschick geärgert hatte! Schlussendlich war sie dann zum Hauptbahnhof zurückgekehrt, um doch noch die korrekte Strassenbahn zu erwischen.

Ganz aufgeregt und endlich auf dem Campus angekommen, sputete sie zum Eingang und versuchte, sich durch das dichte Gedränge einen Weg zu bahnen. Am vergangenen Abend hatte sie zu Hause noch einen Situationsplan des Unigeländes ausgedruckt und hoffte nun, anhand von diesem die Aula zu finden.

Sie linste hastig auf ihre Armbanduhr und stellte mit Schrecken fest, dass sie nur noch eine Viertelstunde zur Verfügung hatte, bis die Infoveranstaltung für die neuen Studenten begann.

Erneut studierte sie den Plan. Da vorne geht’s rechts. Sie marschierte zügig voran, den Blick fest auf den Situationsplan geheftet und wollte gerade abbiegen, als sie heftig mit jemandem zusammenprallte, der von der anderen Seite kommend, in dieselbe Richtung zu streben schien.

Ein angenehm sportlicher Duft eines männlichen Duschgels stieg ihr in die Nase. Starke Arme hielten sie sanft fest. Erschrocken schaute sie auf, direkt in wunderschöne, dunkelbraune Augen, die amüsiert funkelten. Das verblüffte Lächeln des dunkelhaarigen, jungen Mannes brachte sie komplett aus der Fassung. Ihr Herz schlug plötzlich bis zum Hals. Lea errötete bis an die Haarwurzel.

«Entschuldigung!» Ihr war dieser Zusammenstoss echt peinlich. Hastig hob sie ihren Rucksack, der bei diesem kleinen Malheur von ihrer Schulter gerutscht war, vom Boden auf und flüchtete den Gang runter. Der nächste Eingang war zum Glück schon ihr Ziel. Im mittleren Bereich ergatterte sie sich noch einen freien Stuhl. Puh, noch rechtzeitig geschafft!

***

Philipp blieb verdutzt stehen und sah dem dunkelblonden Mädchen hinterher. Ihr langer Pferdeschwanz wippte bei jedem Schritt hin und her. Er beobachtete, wie sie die Aula ansteuerte und um die Ecke verschwand. Sie fängt heute also auch erst an. Ob sie ebenfalls Medizin studieren will?

Die grosse Uhr am Ende des Korridors zeigte fünf vor neun. Mist, ich muss los! Er legte einen Spurt hin, betrat ausser Atem die Aula und liess sich ganz hinten auf einen freien Stuhl fallen.

Während er in seinem Rucksack herumkramte, um einen Schreibblock und einen Kugelschreiber herauszufischen, reckte er seinen Hals, um seine Zufallsbekanntschaft ausfindig zu machen.

Doch das Glück war ihm nicht hold. Da waren eindeutig zu viele neue Studenten anwesend. Zudem betrat der Rektor der Universität gerade das errichtete Podest, um alle zu begrüssen.

Philipp versuchte sich auf das Referat zu konzentrieren und machte sich eifrig Notizen. Doch seine Gedanken wanderten immer wieder zu wunderschönen, graublauen Augen …

Kapitel 6

In die Mittagspause, auf den Weg zur Mensa, blieb Lea neugierig vor einem schwarzen Markt- und Anschlagbrett stehen. Da hing unter anderem ein handgeschriebener Zettel, auf dem vermerkt war, dass eine Sandra Willhelmini noch eine Wohnpartnerin für ihr Zimmer im Studentenwohnheim suchte. Mehr Informationen, ausser einer Handynummer, waren nicht vorhanden.

Ein Zimmer hier vor Ort wäre echt eine super Option, überlegte sie. Jeden Tag von Luzern nach Zürich und am Abend den gleichen Weg zurückzupendeln, ist auf die Dauer mühsam und absolut keine gute Lösung. Die wertvolle Zeit, die ich im überfüllten Zug vertrödeln würde, will ich lieber zum Lernen nutzen. Entschlossen hängte sie den Zettel ab.

Dann holte sie sich in der Mensa das Tagesmenü und trug ihr Tablett auf die sonnige Terrasse. Gemäss Leas Stundenplan standen an diesem Nachmittag noch keine Vorlesungen an, allerdings hatte sie noch einiges zu erledigen. Dazu gehörte auch, dass sie sich ihre Bücher und die Lernunterlagen im Studentenshop noch besorgen musste.

Erneut hielt Lea den Zettel von dieser Sandra in der Hand. Beherzt tippte sie die angegebene Nummer in ihr Handy ein. «Willhelmini…?» «Hallo, hier ist Lea Frei. Ich habe deine Notiz am Anschlagbrett gefunden. Gilt das Angebot noch?» «Tschau Lea, schön, dass du anrufst. Ja, das zweite Bett in meinem Zimmer ist noch frei. Willst du den Raum besichtigen?», erkundigte sich Sandra mit einem breiten Berner Dialekt. «Jetzt gleich?» Lea fühlte sich etwas überrumpelt. «Ja! Ich habe heute Nachmittag frei und deshalb Zeit.»

Warum eigentlich nicht? In den Studentenladen kann ich auch später noch gehen.

«Okay, ich komme. Wo kann ich dich finden?» «Weisst du, wo sich das Studentenwohnheim befindet?» « Sicher!» «Also gut! Dort beim Eingang, in einer Viertelstunde?» «Alles klar, bis später. Tschüss!»

Zwanzig Minuten später stieg Lea neben der gertenschlanken, grossen und dunkelhaarigen Sandra die Treppe hoch in den ersten Stock. Dessen seidenglänzendes und offenes Haar reichte ihr fast bis zur Taille und in ihren Ohrläppchen klimperten zwei grosse silberne Ohrringe.

Sandras stahlblauen Augen waren stark geschminkt, und sie trug ein enganliegendes, blaues Sommerkleid, welches ihre grosse Oberweite betonte. Ihre nackten Füsse, die Nägel blutrot lackiert, steckten in hochhackigen Sandalen. Sie strahlte ein dermassen starkes Selbstbewusstsein aus, dass Lea sich ziemlich klein und unzulänglich fühlte.

Am Ende des Korridors öffnete Sandra eine Tür und liess Lea zuerst eintreten. Das Zimmer war hell und sonnendurchflutet. Es beherbergte zwei Betten an zwei gegenüberliegenden Wänden. Über dessen Kopfenden war je ein Bücherregal an der Wand angebracht. Es gab zwei Schreibtische und zwei schmale Kleiderschränke. Eine zusätzliche Tür führte in ein kleines Badezimmer.

Lea gefiel das Zimmer auf Anhieb. Verdammt, es wäre so nahe bei der Uni …! Und vorher beim Vorbeigehen hatte sie auch einen gemeinsamen Wohnraum mit einem Fernseher und eine Kochnische entdeckt. Es gäbe also auch eine Option zum Selberkochen.

«Wieviel würde denn mein Mietanteil an diesem Zimmer ausmachen?», erkundigte sie sich. Sandra nannte ihr einen Betrag.

Lea überflog geistig ihr Budget. Ihre Eltern finanzierten ihr das Studium. Für ihren täglichen Lebensunterhalt war sie aber selber verantwortlich.

***

Vor einem Jahr war in Zürich leider kein Studienplatz mehr frei gewesen. In einer anderen Schweizer Stadt hatte Lea aber nicht studieren wollen. Deshalb hatte sie die Zeit mit einem zwölfmonatigen Fremdsprachenaufenthalt in England überbrückt.

Ihre Gasteltern in Plymouth betrieben eine Bäckerei. Lea hatte dort tatkräftig mitgearbeitet und so die Möglichkeit genutzt, ein paar Englische Pfund dazu zu verdienen. Während den Sommerferien im vergangenen Jahr, also die paar Wochen bevor sie nach England geflogen war, hatte sie zusätzlich in einem Freibad gejobbt, um Geld auf die Seite legen zu können.

***

So über den Daumen gerechnet, würde das Ersparte am Anfang reichen, um in dieser WG wohnen zu können, überlegte sie jetzt. Ich muss mir unbedingt wieder einen Job suchen, nahm sie sich ausserdem vor. Wenn ich hier unterkomme, spare ich Geld fürs Pendeln mit der Bahn. Und wenn ich mein Fahrrad herbringe, bin ich etwas mobiler, legte sie sich weiter eine geistige Notiz an.

Allerdings machte ihr diese Sandra Willhelmini irgendwie Sorgen. Sie wirkte kalt und unnahbar, und ihr falsches Lächeln erreichte ihre Augen nicht. Lea fühlte sich in ihrer Gegenwart nicht wirklich wohl. Hoffte aber, wenn sie ihre Mitbewohnerin besser kennengelernt hatte, dass sie vielleicht ihren ersten Eindruck würde revidieren können. Tapfer und mutig ignorierte sie ihre beklemmenden Gefühle. Denn der kurze Weg zur Uni war einfach der Hammer!

«Ich würde gern morgen hier einziehen, wenn du damit einverstanden bist», informierte Lea ihre zukünftige Zimmerkollegin. Dabei wummerte ihr Herz aufgeregt.

«Gut, abgemacht! Ich werde der Verwaltung mitteilen, dass das zweite Bett jetzt auch besetzt ist», versprach Sandra.

Lea nickte mit einem zurückhaltenden Lächeln. Die beiden besiegelten ihre Abmachung mit einem kräftigen Händedruck.

***

Leas erste Vorlesung stand erst am Dienstagnachmittag auf dem Stundenplan. Das hatte der grosse Vorteil, dass ihr Vater sie am nächsten Tag mit dem Geschäftslieferwagen nach Zürich begleiten und ihre sieben Sachen inklusiv Velo mitnehmen konnte.

Stefan Frei war Malermeister mit eigener Firma und hatte vereinbarte Termine kurzfristig verschoben, um an diesem Vormittag Lea beim Umzug zu helfen. Interessiert besichtigte er das Zimmer im Studentenwohnheim und war mit der Wahl seiner Tochter sehr zufrieden.

Sobald sich ihr Vater von ihr verabschiedet hatte und wieder losgefahren war, bestieg Lea ihr Fahrrad und radelte zum grossen Supermarkt im Hauptbahnhof, um ein paar Einkäufe zu tätigen, damit sie ihr Zimmerteil fertig einrichten konnte.

Das angepinnte Schild beim Kunden-Anschlagbrett war nicht zu übersehen. Es wurden Teilzeitangestellte für Freitag- und Samstagseinsätze sowie für Ferienablösungen gesucht. Von Vorteil auch Studenten, stand da geschrieben und bitte melden Sie sich beim Kundendienst.

Leas Herz schlug bis zum Hals, als sie darüber nachgrübelte, ob sie sich melden sollte. Schüchtern erkundigte sie sich beim Informationsschalter, ob noch Mitarbeiter gesucht wurden und was der Stellenbeschrieb beinhaltete. Zu ihrem grossen Erstaunen wurde sie schon Minuten später von einer netten Verkäuferin zum Büro des Marktleiters geführt.

Der Filialleiter, Franz Fischer, bat die junge Frau, Platz zu nehmen. Geschickt verstrickte er die nervöse, junge Studentin in ein lockeres Gespräch, um ein paar wertvolle Informationen aus ihr herauszuholen.

So erfuhr er unter anderem, dass Lea Frei nebst Babysitting und Sommerferienjobs auch schon tatkräftig im Büro ihres Vaters mitgeholfen und so ihr Taschengeld aufgebessert hatte. Sie sei es sich gewohnt, mitanzupacken.

Franz Studer fand, dass diese junge Frau ehrlich, loyal, freundlich und pflichtbewusst auf ihn wirkte, was den Job im Verkauf voraussetzte. Die Luzernerin hatte ihm anvertraut, dass sie am Vortag ihr Medizinstudium in Angriff genommen habe und plane, Kinderärztin zu werden. Und am heutigen Vormittag sei sie in ein Zimmer im Studentenwohnheim eingezogen. Da sie ihren Lebensunterhalt selber berappen müsse, benötige sie unbedingt einen Job. Leas konkrete berufliche Zukunftspläne, ihre Selbstständigkeit und ihr starker Wille zum Arbeiten beeindruckten ihn.

Franz Fischer hatte weder Schul- noch Arbeitszeugnisse oder sonst irgendwelche Referenzen von ihr gesehen. Allerdings war er ein alter Fuchs in diesem Metier und verfügte über gute Menschenkenntnisse. Sein Bauchgefühl sagte ihm deshalb, dass er der fleissigen Innerschweizerin eine Chance geben sollte. Spontan stellte er sie ein. Ausserdem war es auch für ihn eine Win-Situation, weil er aktuell ein akuter Personalmangel hatte.

«Frau Frei, ich freue mich, Sie als neue Teilzeitmitarbeiterin in meinem Team zu haben», verkündete der Marktleiter feierlich. «Oder möchten Sie lieber noch eine Nacht darüber schlafen?», vergewisserte er sich sicherheitshalber.

Lea wusste nicht, wie ihr geschah. Das ging ihr alles etwas zu schnell. Und wo war der Haken? Warum stellt mich dieser Filialleiter einfach so ein? Er kennt mich doch überhaupt nicht! Sie konnte schliesslich keine Erfahrungen im Verkauf vorweisen. Offenbar schien dieser Herr Fischer Vertrauen in sie zu haben.

Lea war richtig stolz auf sich. Jetzt hatte sie doch tatsächlich innerhalb von nur zwei Tagen eine Unterkunft und einen Job für sich organisiert.

«Wie lange haben Sie am nächsten Freitag an der Uni zu tun?», holte Franz Fischer sie aus ihren Gedanken. «Besteht die Möglichkeit, dass Sie um 18:00 Uhr bei uns anfangen könnten? Ich habe selber Dienst bis um acht und könnte Ihnen alles zeigen. Dann wird mein Stellvertreter übernehmen und Sie weiter einarbeiten. Die Schicht dauert bis 22:00 Uhr. Und am Samstag werden wir Sie dann ebenfalls in die Spätschicht einteilen, wenn das für Sie in Ordnung ist.»

Es machte Lea nichts aus, dass sie am kommenden Wochenende zweimal bis um zehn arbeiten musste. Sie würde sowieso nicht ausgehen. Nachtclubs und Bars waren nicht ihre Welt. Dazu kam noch, dass das erst ihr zweiter Tag in Zürich war und sie noch keine Zeit gehabt hatte, um Anschluss zu finden.

«Nein, ich benötige keine Nacht mehr, um mich zu entscheiden. Ihre Vereinbarung stimmt für mich», antwortete sie deshalb mutig und selbstbewusst. «Meine letzte Vorlesung am Freitagnachmittag dauert bis ca. um fünf. Ich werde also pünktlich zur vereinbarten Zeit hier sein können», schob sie lächelnd nach. «Danke für Ihr grosses Vertrauen.»

Während der Filialleiter den Arbeitsvertrag fertig machte, trank Lea gemütlich ihren Kaffee, den er für sie organisiert hatte. Trotz positivem Ausgang dieses Gesprächs fühlte sie sich ein wenig überrumpelt. Dazu kam noch, dass sie nicht so recht abschätzen konnte, auf was sie sich da eigentlich eingelassen hatte. Doch Lea beschloss, sich selbst beruhigend, am Freitagabend herzukommen und einfach mal zu schauen.

Kapitel 7

Normalerweise war Philipp sehr pflichtbewusst, überlegt und besonnen und überliess selten etwas dem Zufall. Doch als leidenschaftlicher Hobbyfotograf vergass er dann trotzdem hin und wieder mal die Vorsicht und riskierte waghalsige Manöver, um möglichst nahe am ultimativen Sujet seine Bilder knipsen zu können. Viele kleine Narben auf seinem Körper erzählten davon.

Am Donnerstagnachmittag verliess er, nach der letzten Vorlesung, beschwingt den Hörsaal. In seinem Rucksack befand sich nebst seinen Büchern auch seine Panasonic Lunix. Beim Rekognoszieren am vergangenen Sonntag hatte er im Uni-Areal einen wunderschönen, sattgrünen Rebahorn entdeckt, den er nun zu allen vier Jahreszeiten bildlich festhalten wollte. Deshalb hatte er am Morgen beschlossen, die Kamera einzupacken, um am Nachmittag die optimalen Lichtverhältnisse ausnutzen zu können.

Also marschierte er zielstrebig um das Unigebäude herum zu seinem Fotoobjekt und orientierte sich konzentriert durch den Sucher des Fotoapparates. Und wie immer, wenn er sein leidenschaftliches Hobby ausübte, vergass er, was um ihn herum passierte. Genauso an diesem Nachmittag.

Mist, ich bin viel zu nah und habe ja nur den halben Baum im Visier! Also machte er einen Schritt rückwärts, die Kamera immer am Auge, das Zoom betätigend. Doch ein dicker, langer Ast ragte immer noch aus dem Bild heraus. Verdammt, die Distanz stimmte immer noch nicht. Also machte er noch einen Schritt zurück, noch einen und noch einen …, bis er mit seinen Beinen an etwas Hartes anstiess, ausrutschte und mit einem lauten Plumps rückwärts in ein niedriges Brunnenbassin plumpste.

Erschrocken und wütend über seine eigene Dummheit hockte er im kalten Wasser, das ihm bis zum Bauch reichte. Geistesgegenwärtig hielt er die Kamera in die Höhe, um wenigstens diese vor einem Wasserschaden zu bewahren.

Auch Lea verliess denselben Hörsaal. Da es ein schöner und warmer Augustnachmittag war, beschloss sie, nicht sofort ins Studentenwohnheim zurückzukehren, sondern auf dem Unigelände zu bleiben, um zu lernen. Sich auf einer Parkbank bequem machend, vertiefte sie sich in ihr Anatomiebuch.

Irgendwann war plötzlich ein Schrei und ein lautes Pflutsch zu hören, was sie veranlasste, von ihrer Lektüre aufzublicken und verblüfft zu stutzen. Ungefähr fünfzig Meter von ihr entfernt sass jemand in einem niedrigen Brunnenbecken und hielt etwas in die Höhe.

Leas Neugierde war sofort geweckt. Eilig packte sie ihre Sachen zusammen und näherte sich dem Standort. Kurz davor blieb sie wie angewurzelt stehen, und ihr Herz begann zu hämmern.

Das ist doch dieser gutaussehende Typ, mit dem ich am Montagmorgen zusammengekracht bin. Der mit den wunderschönen, dunkelbraunen Augen …

«Ist dir so heiss, dass du ein Bad nehmen musst?», zog sie ihn frech auf. Ihre Augen funkelten schadenfroh.

Philipp hatte die junge Studentin, nach der er seit Montagmorgen vergebens Ausschau gehalten hatte, ebenfalls erkannt. Dass sie sich ausgerechnet in dieser saublöden Situation wieder begegneten, war ihm äusserst peinlich.

«Du kannst ja reinkommen und mir Gesellschaft leisten», überdeckte er seine Verlegenheit mit einem verwegenen Grinsen.

Ein Bündner! Lea fand diesen Dialekt sofort sehr heimelig. «Nö, ist mir zu kalt», antwortete sie entschieden.

Also gut, dann muss ich jetzt hier irgendwie wieder rauskommen, nahm Philipp sich vor und stand umständlich auf. Natürlich war er bis auf die Knochen klatschnass, seine Jeans und das weisse T-Shirt klebten an ihm wie eine zweite Haut.

Als er endlich wieder auf trockenem Boden stand, tropfte er wie ein nassser Hund. Zuerst brachte er seine Fotokamera in Sicherheit. Dann schlüpfte er aus seinen Nike-Turnschuhen, um sie an der Sonne trocknen zu lassen. Anschliessend zog er sich das T-Shirt über den Kopf und wrang es aus. Sein nasser, sportlich muskulöser Oberkörper glänzte jetzt im Sonnenlicht.

Leas Mund war auf einmal staubtrocken, und zu ihrem grossen Erstaunen begann es in ihrem Bauch aufgeregt zu kribbeln. Als sie realisierte, dass sie den jungen Mann, mit dem sexy Zweitagebart, noch immer anstarrte, senkte sie verlegen den Blick.

Philipp musterte die Studentin verstohlen. Ihr langes, dunkelblondes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden und fiel ihr über die rechte Schulter. Ihre blaugrauen Augen mit den dunklen, langen Wimpern und ihre süsse Stupsnase machten ihr Gesicht sehr attraktiv und symphatisch. Und ihr sinnlicher Mund war geradewegs dafür geschaffen, um geküsst zu werden.

Mein Gott Odermatt, wo bist du mit deinen Gedanken. Du hast dir doch geschworen, dass …! Doch dieser Einwand interessierte sein Herz überhaupt nicht. Zu Philipps Verblüffung begann es sogar aufgeregt zu wummern.

Lea schulterte entschlossen ihren Rucksack. Nachdem sich der Möchtegernfotograf selber aus dem Brunnen gerettet hatte, würde er ihre Hilfe ja nicht mehr benötigen.

«Einen schönen Tag noch», wünschte sie würdevoll und spazierte hocherhobenen Hauptes davon.

Philipp starrte ihr verdutzt hinterher. Jetzt lässt sie mich einfach stehen! Schon wieder! Und ich weiss immer noch nicht, wie sie heisst und was sie studiert!

«Hey du, wie ….» Doch sie war bereits hinter einer Hecke verschwunden.

Eine Welle der Enttäuschung überrollte ihn. Und den Baum hatte er auch noch nicht fotografiert, weil er vergessen hatte, abzudrücken!

Zu allem Übel stellte Philipp jetzt auch noch fest, dass er den Ahorn sowieso von der falschen Seite hatte ablichten wollen. Mensch Meier, so ungeschickt war er doch sonst nie!

Kapitel 8

Eine Stunde später parkte er seine Vespa in der Garage und platzierte den Helm auf dem Sitz. Seine Klamotten waren immer noch nass und fühlten sie sich sehr steif und klamm auf der Haut an.

Er betrat das Haus und stieg die Treppe zu seinem Zimmer hoch. Seine Turnschuhe matschten bei jedem Schritt, mit denen er auch noch eine nasse Spur auf dem blanken Boden in der Eingangshalle hinterlassen hatte. Ich muss Zeitungspapier hineinstopfen, das hilft beim Trocknen, nahm er sich vor.

Die Tür seines Nachbarn war nur angelehnt. Laute Rockmusik drang durch die Wände. Leider hatte es sich in den letzten Tagen noch nicht ergeben, dass Philipp seine drei anderen WG-Mitbewohner hatte kennenlernen können.

Er überlegte gerade, ob er nun zuerst warm duschen und etwas Trockenes anziehen oder ob er gleich anklopfen und Hallo sagen sollte, als sich die Tür ganz öffnete und ein flachsblonder, blauäugiger, junger Mann aus dem Zimmer trat.

Die beiden Männer starrten sich überrascht an. «Bist du mein neuer Nachbar?», erkundigte sich Pascal Enzli mit süss schnulzigem Baselländer Dialekt.

«Ja, ich bin Philipp Odermatt aus Chur», stellte er sich grinsend vor. «Hallo, ich bin Pascal. Willkommen in unserer WG!», säuselte der andere mit einem übertrieben freundlichen Lächeln.

Sie gaben sich die Hand, wobei Pascals Händedruck sich mehr nach einem Streicheln anfühlte. Seine blauen Augen funkelten teuflisch und musterten Philipp sehr intensiv.

Zu intensiv, fand dieser entsetzt. Der Typ ist doch schwul. Das merkt sogar ein Blinder.

«Warum bist du so nass?», wollte Pascal neugierig wissen und schien seinen Zimmernachbar mit seinem feurigen Blick regelrecht auszuziehen. Philipp fühlte sich unbehaglich. Bis jetzt war er noch nie von einem Mann angemacht worden.

«Ich bin unfreiwillig in einen Brunnen gefallen», gab er dann trotzdem Auskunft. «Aha!», meinte Pascal nur. «Also, ich geh dann mal. Ich muss mir was Trockenes anziehen.» Philipp flüchtete regelrecht in sein Zimmer.

Nachdem er geduscht, eine lange, blaue Trainingshose und ein frisches T-Shirt angezogen hatte, sammelte er seine nasse und schutzige Wäsche zusammen und ging runter in die Waschküche. Während die Waschmaschine arbeitete, schlenderte er in die Küche. Auf dem Heimweg hatte er sich ein grosses Stück Apfelwähe in einer Bäckerei besorgt.

Er holte seine Milch aus dem Kühlschrank, füllte den Tank bei der Kaffeemaschine und machte sich einen leckeren Cappuccino. Dann setzte er sich an den Küchentisch, liess sich sein Abendbrot schmecken und vertiefte sich in die herumliegende Tageszeitung.

«Nein Baby, heute habe ich keine Zeit für dich! Tschüss!»

Philipp schaute blickte neugierig auf, um herauszufinden, wem diese tiefe und resolute Stimme mit dem Zürcher Dialekt gehörte.

Ein grossgewachsener, gutaussehender Mann, so um die 25, betrat die Küche. «Na, wen haben wir denn da? Du bist sicher der Neue.»

«Jawohl, Philipp Odermatt aus Chur», stellte sich dieser schon zum zweiten Mal an diesem Tag vor.

«Oliver Klausiger aus Herlisberg. Aber du kannst Oli zu mir sagen.» Die Jungs tauschten einen kräftigen Händedruck.

Oliver machte sich am Kühlschrank zu schaffen und holte sich eine Flasche Bier heraus. «Willst du auch eins?» fragte er, über seine Schulter blickend.

Philipp schüttelte den Kopf. «Ich muss noch lernen und dann bekommt mir Bier nicht so gut. Aber ein ander Mal gern.»

Oli gesellte sich zu ihm an den Tisch. «Du studierst Medizin?»

«Korrekt! Und du Architektur, wenn mich Susan richtig informiert hat.»

«Richtig!» Oli trank einen kräftigen Schluck.

«Und wie läufts?», erkundigte sich Philipp.

«Nun ja, so lala. Eigentlich interessiert mich dieser Beruf gar nicht wirklich. Den Bachelor habe ich gerade mal so geschafft. Aber mein Alter hat für mich beschlossen, dass ich in diese Richtung studieren muss, weil er ein florierendes Architekturbüro an der Goldküste betreibt und ich dieses mal übernehmen soll. Da kann man halt nichts machen.»

Olis frustrierter Blick erschütterte den neuen WG-Mitbewohner. «Aber, hast du denn nie mit deinem Vater darüber gesprochen?», fragte Philipp schockiert.

«Wozu? Das macht keinen Sinn! Was der Stararchitekt Klausiger sagt, ist Gesetz! Und keiner hat daran zu rütteln.»

Mit einem tiefen Seufzer leerte Oli die Bierflasche und stellte sie in den Korb für die Glasentsorgung.

«So, ich sollte dann mal los! Ein Arbeitskollege aus der Bar ist ausgefallen. Ich muss deshalb einspringen. Tschüss, schönen Abend!» Und schon war er aus der Küche verschwunden.

Philipp blickte ihm kopfschüttelnd hinterher. Heiliger Strohsack, in was für eine Wohngemeinschaft bin ich denn hier geraten? Der eine ist schwul, der andere ist von Beruf Sohn und studiert nur, weil es von ihm verlangt wird. Was erwartet mich wohl bei Nicole?

Als er sich vom Tisch erhob und zufällig aus dem Küchenfenster blickte, bemerkte er gerade noch den roten Ferrari, der davonbrauste.

Philipp räumte die Küche auf und kehrte in die Waschküche zurück, um seine Wäsche aufzuhängen.

Kapitel 9

Lea hatte sich ihren Teil des WG-Zimmers gemütlich eingerichtet und war richtig happy, direkt neben der Uni wohnen zu dürfen. Doch das mulmige Gefühl, was Sandra betraf, wurde sie einfach nicht los. Ihre Zimmerkollegin sah sie so gut wie nie, und wenn es sich mal ergab, dass sie sich gemeinsam im Zimmer aufhielten, redeten sie kaum miteinander. Sandra wirkte noch immer sehr distanziert.

Zu Leas Bedauern, wusste sie über diese Person praktisch noch nichts. Nicht mal, welches Hauptfach sie studierte. Vor zwei Tagen war Lea eingezogen, doch Sandra hatte ihr noch keinen einzigen Abend Gesellschaft geleistet. Keine Ahnung, wo sie gewesen und wann sie nach Hause gekommen war. Lea hatte längst geschlafen.

Die beiden WG-Partnertinnen studierten in verschiedene Berufsrichtungen und hatten logischerweise ganz unterschiedliche Stundenpläne. Deshalb war es vermutlich auch nicht verwunderlich, dass sie sich auf dem weitläufigen Uniareal nicht über den Weg liefen.

Wo schlägt sich Sandra wohl die Nächte um die Ohren, grübelte Lea immer wieder darüber nach. Sie schien am Morgen nicht in die Gänge zu kommen, weil sie immer noch im Bett lag, wenn Lea sich jeweils auf den Weg machte. Vermutlich stand Sandra eh nicht vor Mittag auf.

Aber wie schaffte sie es dann, ihr Studium zu bewältigen? Wann lernt sie eigentlich, fragte sich Lea weiter. Doch eigentlich konnte es ihr ja egal sein. Sandras Leben ging sie schliesslich nichts an.

Wenigstens hatte Lea am Dienstag- und Mittwochabend das Zimmer für sich alleine gehabt und in Ruhe lernen können.

Doch ausgerechnet an diesem Donnerstagabend lag Sandra schmollend auf ihrem Bett und vermittelte den Eindruck, als würde sie den Abend ausnahmsweise mal zu Hause verbringen wollen. Vielleicht ist ihr ja eingefallen, dass sie mal etwas für ihr Studium tun sollte, dachte Lea für sich.

Doch Sandras Musik war auf eine hörschädigende Lautstärke aufgedreht. Bei diesem Krach konnte Lea unmöglich lernen.

«Hey», versuchte sie sich quer durch den Raum bemerkbar zu machen. «Bitte schraub die Lautstärke runter. Das ist ja nicht zum Aushalten!»

Sandra reagierte bewusst nicht und drehte ihrer WG-Kollegin demonstrativ den Rücken zu.

Hallo!? Was soll das denn, nervte sich Lea. Entschlossen stand sie auf, durchquerte das Zimmer und machte die Musik eigenhändig leiser.

Wütend drehte sich Sandra zu ihr um und funkelte sie böse an. Lea verstand die Welt nicht mehr. Sie war sich keiner Schuld bewusst, weil sie nichts Unrechtes getan hatte.

«Das wirst du mir noch büssen!», drohte Sandra ihr aufgebracht. Sie rollte sich von ihrem Bett, schlüpfte in ihre hochhackigen Schuhe, packte ihre Jeansjacke und die Handtasche und stolzierte aus dem gemeinsamen Zimmer.

Mit offenem Mund starrte Lea ihr hinterher. Was sollte das jetzt gerade eben? Geht’s der eigentlich noch? Nur weil ich die Musik leiser gemacht habe, dreht sie so durch?! Das Ganze war etwas sonderbar und ziemlich beunruhigend.

Die Lust zum Lernen war Lea jetzt gründlich vergangen. Deshalb schlüpfte sie in ihre Schlafklamotten, putzte sich die Zähne, kuschelte sich unter ihre Decke und liess schlussendlich ihren Gedanken freien Lauf. Diese landeten zu ihrem grossen Erstaunen bei diesem gutaussehenden Bündner.

So wie er an diesem Nachmittag vor ihr gestanden hatte, in diesen nassen Klamotten, das regte ihre Fantasie jetzt ganz schön an. Herrgott, hat dieser Typ sexy ausgesehen… Leider kannte sie nicht mal seinen Vornamen, wusste weder, wo er genau herkam, noch was er als Hauptfach studierte. Ob er auch in einer WG wohnt, fragte sie sich. Gähnend schloss sie die Augen.

Am nächsten Morgen begegneten sich die beiden Zimmerpartnerinnen vor der Mensa. «Ehm Lea, es tut mir leid wegen gestern. Ich hatte wohl einen schlechten Tag.» Sandras verhaltenes Lächeln geriet komplett schief.

«Entschuldigung angenommen! Doch ich weiss bis jetzt nicht, was ich angestellt haben soll.» Lea wirkte etwas ratlos.

«Eigentlich warst du gar nicht schuld. Mein Freund hat mich gestern eiskalt abblitzen lassen. Deshalb war ich so sauer. Du standst halt gerade als Blitzableiter zur Verfügung», erklärte Sandra schulternzuckend.

Sie linste auf ihre Armbanduhr und hatte es plötzlich unglaublich eilig. «Mist, ich muss los. Tschüss.» Und schon war sie verschwunden.

Lea starrte ihr nachdenklich hinterher. Was sollte sie nur von dieser seltsamen Geschichte halten?

Kapitel 10

Es war früher Sonntagmorgen, als Philipp von seiner zweiten Nachtschicht nach Hause kam, eine Kleinigkeit ass, und sich danach in sein Zimmer zurückzog, um eine Runde zu schlafen. Allerdings war er noch zu aufgewühlt, um Ruhe zu finden.

Björn Huber, der den Rettungswagen gefahren hatte und er, waren fast die ganze Nacht im Dauereinsatz gestanden. So waren sie zum Beispiel zu den Partymeilen gerufen worden und hatten die jugendlichen Alkoholleichen aufgefischt und ins Spital zum Ausnüchten gebracht.

Sie hatten auch einen Mann um die vierzig abgeholt, der einen Herzinfarkt erlitten hatte und fünf Mittelschwerverletzte bei zwei Verkehrsunfällen geborgen. Letztere waren nun im Unispital gut aufgehoben, wurden versorgt und ärztlich betreut. Um die machte er sich keine Sorgen mehr. Aber diese besoffenen jungen Leute gaben ihm ganz schön zu denken.

Selbstverständlich war auch Philipp im Teenageralter mit seinen Freunden um die Churer Häuser gezogen. Allerdings immer im legalen Bereich, versteht sich. Und natürlich hatte auch er manchmal ein Bier über den Durst getrunken und war am nächsten Tag mit rasenden Kopfschmerzen aufgewacht. Das gehörte irgendwie zum Erwachsenwerden dazu.

Trotz allem hatte er immer die Kontrolle über sich selbst behalten und gewusst, wann er aufhören musste. Das hatte ihm jeweils einen gewissen Respekt verschafft.

Jetzt als erwachsener Mann schätzte Philipp das Ganze etwas anders ein und fand diesen Gruppenzwang richtig schlimm und ätzend. Er konnte nicht verstehen, dass man mitsaufen musste, bis man ins Koma fiel, nur damit man von der Clique nicht ausgeschlossen wurde. Wo lag da der Sinn? Warum traute sich keiner, stark zu sein und einfach mal NEIN zu sagen?

Philipp schlüpfte müde unter seine Decke. Die Gedanken in seinem Kopf drehten sich immer noch wie ein Karussell. Trotzdem versuchte er, diese zu stoppen, an nichts mehr zu denken und sich auf seine Atmung zu konzentrieren, bis es ihm gelang, irgendwann einzuschlummern. Stunden später weckte ihn sein knurrender Magen.

Er gönnte sich eine warme Dusche, zog ein T-Shirt und Shorts an und schlurfte, die nackten Füsse in blauweiss gestreiften Adiletten, hinunter in die Küche. Dort bereitete er sich eine warme Mahlzeit zu und haute ordentlich rein. Danach fühlte er sich wesentlich besser.

So, und jetzt brauche ich noch einen Kaffee, dann ist die Welt für mich wieder in Ordnung. Die Tasse mit dem gutduftenden Gebräu in der einen Hand, den Teller mit einer Zimthaselnussschnecke in der andern und sein Krimi unter dem Arm eingeklemmt, schlenderte er nach draussen in den Garten. Dort hatte er am Vortag eine kleine, lauschige Gartenlaube entdeckt.

Mitten auf dem sattgrünen Rasen blieb er unvermittelt stehen. Im Schatten einer grossen Eiche sass eine zierliche, junge Frau mit geschlossenen Augen in der Lotusstellung und meditierte. Ihr braunes Haar war kurz und frech geschnitten. Sie trug enganliegende, figurbetonte Yogakleider.

Das kann nur Nicole Fröhlich sein, dachte Phlipp. Soll ich mich nun an ihr vorbeischleichen und so tun, als hätte ich sie nicht gesehen oder soll ich sie kurz stören?

Das Problem löste sich von selbst. Nicole hatte ihn bereits bemerkt, erhob sich vom Boden und kam dann auf ihn zu.

«Hallo! Du bist Philipp, nicht wahr?» Sie schien sich nicht ganz sicher zu sein. Als dieser aber nickte, fuhr sie fort: «Ich glaube, wir hatten noch nicht das Vergnügen!» «So ist es, hallo Nicole.»

«Hast du dich in unserer WG gut eingelebt?», erkundigte sie sich freundlich.

«Auf jeden Fall! Die anderen drei durfte ich auch schon kennenlernen. Ich finde es sehr spannend, was für ein zusammengewürfelter Haufen wir sind», meinte er trocken.

«Allerdings! Hast du etwas dagegen, wenn ich mir einen Kräutertee hole und dir dann in der Laube ein wenig Gesellschaft leiste?» «Nein, überhaupt nicht!»

Die beiden unterhielten sich den ganzen Nachmittag über Gott und die Welt. Nicole vertrat aber ein paar ganz krasse, engstirnige und sehr konservative Lebensansichten, die Philipp wirklich nicht verstehen und schon gar nicht nachvollziehen konnte. Sie studiert Wirtschaft, weil sie die Welt verändern will! Na dann, viel Glück!

***

Noch ganz in Gedanken versunken, gelangte er in die oberste Etage, als Pascal mit nur einem Badelaken um die Hüfte, aus dem Badezimmer spaziert kam.

Mensch hat der einen Body, musste Philipp ehrlich zugeben. Ich sähe vermutlich auch so aus, wenn ich, wie er, drei bis vier Mal die Woche ins Fitnesscenter gehen würde.

«Halli hallo Philipp», wurde er von seinem Zimmernachbar überherzlich empfangen. Seine blauen Augen glühten, und er lächelte honigsüss.

Die Augen verdrehend, stöhnte Philipp innerlich. Er fühlte sich verdammt unwohl, und diese Situation war so speziell wie unangenehm. Wenn Pascal eine Frau gewesen wäre, hätte er vielleicht zurück geflirtet. Aber von einem Mann angebaggert zu werden, ähm nein, …!

Deshalb beschloss Philipp, etwas zu unternehmen und die Fronten jetzt gleich zu klären. Sonst würde er nie Ruhe haben.

«Hör mal Pascal, mach dir keine Hoffnungen. Ich stehe nicht auf Männer!»

Der Angesprochene reagierte völlig eingeschnappt, und seine Enttäuschung war offensichtlich. Nie im Leben hätte Pascal erwartet, dass sein Angebetener so unverblümt Klartext reden würde. Schmollend verzog er sich in sein Zimmer. Zwei Minuten später dröhnte viel zu laute Musik durch die Luft.

Philipp betrat erleichtert sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Doch bei diesem Lärm konnte er sich unmöglich auf etwas ernsthaft konzentrieren.

Irgendwann hörte er, wie jemand heftig an Pascals Tür hämmerte. Mit wütender Stimme bat Susan um Ruhe. «Verdammt nochmal, Enzli mach die Musik leiser und nimm ein bisschen Rücksicht. Du wohnst hier nicht alleine! Ich muss nämlich noch arbeiten!» Aprupt kehrte Stille ein.

Kapitel 11

Lea hatte die erste Woche an der Uni gut gemeistert. Da sie bei ihrem Supermarktjob sowohl am Freitag- wie auch am Samstagabend in der Spätschicht tätig gewesen war, hatte sie sich einen gemütlichen und faulen Sonntag gegönnt.

Jetzt, nachdem sie am Montagnachmittag ihre letzte Vorlesung hinter sich gebracht hatte, beschloss sie, noch ein wenig in der Uni-Bibliothek zu arbeiten. Andere Stundenten hatten ihr vorgeschwärmt, wie super der WLAN- beziehungsweise der Internetempfang dort sein soll.

Aus diesem Grund hatte Lea ihr Notebook mitgebracht, um ihre Lernkarten noch fertigzustellen. Diese hatten das Format einer Visitenkarte und passten in jede Handtasche. So konnte sie überall lernen, wo und wann immer sie Lust und Zeit hatte. In der Kantonsschule hatte sie diese Lerntechnik ebenfalls sehr erfolgreich angewendet.

Die Fragen auf der Vorderseite waren alle schon notiert. Es fehlten ihr aber noch ein paar Antworten auf der Rückseite, die sie in ihren Büchern noch nicht gefunden hatte. Sie erhoffte sich nun, beim Googeln besser und schneller voranzukommen. Also machte sie sich fleissig an die Arbeit.

Auch Philipp lernte in der Uni-Bibliothek. Er hatte absolut keine Lust gehabt, nach Hause zu fahren, um dem schmollenden Pascel über den Weg zu laufen.

Dieser hatte am Morgen verschlafen, was zur Folge hatte, dass er natürlich viel zu spät dran gewesen war. Um Zeit aufzuholen und vermutlich seinem Schwarm trotz allem körperlich nahe zu sein, hatte Pascal Philipp angefleht, ihn auf seiner Vespa zur Uni mitzunehmen.

Dieser wollte aber nicht zu spät zur Vorlesung kommen und hatte es ausserdem vorgezogen, seinen Zimmernachbar auf Abstand zu halten. Aus diesen Gründen hatte Philipp die Mitfahrgelegenheit verweigert. Jetzt sprach Pascel, dieser Idiot, kein Wort mehr mit ihm, weil er so sauer auf ihn war.

«Ach neiiin! Nun komm schon, du blödes Ding! Du kannst mich jetzt nicht im Stich lassen!», hörte Philipp jemanden lautstark schimpfen. Amüsiert stand er auf und schielte um die Ecke. Die Frauenstimme und der Innerschweizer Dialekt kam ihm irgendwie bekannt vor.

«Will er nicht mehr?», erkundigte er sich grinsend.

Lea zuckte erschrocken zusammen und blickte überrascht über ihre Schulter. Dann huschte ein erkennendes Lächeln über ihr Gesicht. «Nanu, wen haben wir denn da? Bist du wieder trocken?», zog sie ihn schmunzelnd auf.

«Und ob!» Philipp zwinkerte ihr schelmisch zu. «Soll ich mal nach deinem Notebook sehen?», bot er seine Hilfe an.

«Verstehst du denn etwas davon?» Lea wirkte skeptisch.

«Ein bisschen», schwindelte Philipp bescheiden. Dass er ein kleiner Computerfreak war und die Praxis seines Vaters EDV-mässig modernisiert und die ganzen physischen Patientenakten eingescannt und digitalisiert hatte, brauchte er ihr ja nicht unter die Nase zu reiben.

«Ich habe bereits zweimal Restart gemacht. Doch dann erschienen auf dem Bildschirm so komische Hyroglyphen. Offenbar muss ich irgendeine falsche Taste erwischt haben. Und jetzt geht gar nichts mehr!», erklärte sie beunruhigt.

Philipp kontrollierte alle Stecker, deren Anschlüsse und versuchte, den Rechner neu zu starten. Er probierte es auch noch mit ein paar Tastenfuktionen, aber der Bildschirm blieb schwarz und tat keinen Wank mehr.

«Tut mir echt leid! Aber ich glaube, da lässt sich nichts mehr machen. Den musst du endgültig abschreiben.» «Wirklich?» In ihrer Stimme klang ein verzweifelter Unterton mit.

Er nickte mit gerunzelter Stirn, sein Blick war ernst. «Hast du wenigstens deine Daten extern abgespeichtert?» Jetzt strahlte sie über das ganze Gesicht und hielt ihm triumphierend einen Speicherstick unter die Nase. «Sehr gut», meinte Philipp zufrieden und zog den Stecker vom Strom.

«Mist, einen neuen Laptop habe ich in meinem Budget aber nicht vorgesehen», gestand Lea kleinlaut.

«Würde ich aber», riet er ihr sachlich. «So ein Ding brauchst du unbedingt fürs Studium.

Okay, dann muss ich halt ein paar Arbeitsschichten mehr einschieben, nahm sie sich vor.

«Wie heisst du eigentlich?», erkundigte er sich, nachdem er sich verlegen geräuspert hatte.

«Lea Frei aus Horw», stellte sie sich vor und schenkte ihm ein herzliches Lächeln, welches ihn wie Butter an der Sonne schmelzen liess. «Und du?»

«Philipp Odermatt aus Chur.» Seine braunen Augen funkelten vergnügt. «Und du studiersts also auch Medizin, wie ich sehe.» Er hatte ihre Fragekarten und das aufgeschlagene Buch über die menschlichen Gliedmassen entdeckt.

«Du demnach auch», erriet Lea folgerichtig.

«Jawohl! Mein Vater betreibt zu Hause eine Hausarztpraxis.»

«Aha! Ich nehme an, dann wirst du wohl irgendwann in seine Fussstapfen treten wollen», schlussfolgerte sie.

«So lautet der Plan, ja. Doch das wird noch eine Weile dauern.» «Klar, wir haben ja mit dem Studium gerade erst angefangen.»

Ein wohliger Schauer jagte durch seinen Körper, und sein Herz machte einen Luftsprung. Lea ist eine Studienkollegin von mir! Wir werden uns nun öfters sehen! Selbstverständlich nur rein beruflich! «Ha, ha, wer’s glaubt!», zog eine innere Stimme ihn auf.

«Wo bekomme ich nun auf die Schnelle einen neuen Computer, der was taugt und auch für eine frischgebackene Studentin bezahlbar ist?», überlegte sie laut.

«Ungefähr eine Viertelstunde von hier befindet sich ein Elektronik-Fachmarkt. Dort soll es immer wieder Tiefpreisangebote geben, habe ich sagen gehört», schlug Philipp vor.

Lea blickte auf ihre Armbanduhr. «Wie lange hat dieses Geschäft offen?» «Ich glaube bis um acht.» Sein Antwort klang aber sehr unverbindlich.

Doch sie war schnell entschlossen und überlegte nicht lange, denn sie brauchte unbedingt ein neues Gerät. Ihre Ersparnisse würden reichen und ein EDV-Berater stand ihr ja zum Glück gerade zur Verfügung. Also, warum noch lange hinauszögern?

«Hättest du vielleicht Zeit, mich jetzt gleich zu begleiten? Ich bräuchte da einen Fachmann an meiner Seite», schmeichelte sie sich bei ihm ein. «Weisst du, ich bin so der typische Anwender-Typ. Die Kiste muss einfach laufen. Denn immer, wenn etwas nicht funktioniert oder so komische Fehlermeldungen auf dem Bildschirm auftauchen, bin ich aufgeschmissen.»

Philipp grinste amüsiert. «Klar! Ich kann dich doch jetzt nicht im Regen stehen lassen.» Innerlich freute er sich sowieso, weil er noch länger Zeit mit ihr verbringen durfte. «Ich räume nur noch schnell meine Sachen zusammen, dann können wir los.»

Eine Stunde später befanden sie sich bereits wieder auf dem Rückweg. «Hey, besten Dank für deine Hilfe. Ich glaube, jetzt habe ich einen Mercedes unter den Notebooks. Und erst noch zu einem Aktionspreis», freute sich Lea wie ein kleines Kind.

Philipp schmunzelte verschmitzt, während er das Paket mit dem neuen Gerät trug. «Gern geschehen. Der Akku muss nun während 24 Stunden aufgeladen werden. Anschliessend kann man das Notebook einrichten, formatieren und deine Daten wieder draufladen. Kriegst du das hin?»

Mit einem etwas zerknirschten Blick schüttelte sie langsam den Kopf. «Das Ding einschalten, damit der Akku aufgeladen werden kann, bringe ich gerade noch fertig. Aber einrichten und so? Nein, auf gar keinen Fall! Ich traue mir das echt nicht zu. Bis jetzt haben immer Papa oder mein Bruder Yannik diese Dinge erledigt.»

Na komm schon, frag mich! Ich würde dir ja noch so gerne helfen, bettelte Philipp in Gedanken. Sich anzubieten, traute er sich nicht, weil er nicht aufdringlich sein wollte.

«Hättest du morgen eventuell noch freie Kapazitäten?», fragte Lea prompt und ihren ganzen Mut zusammennehmend, so als könnte sie Gedanken lesen.

Philipp atmete erleichtert auf. «Selbstverständlich! Morgen nach der letzten Vorlesung?» «Sehr gern! Am gleichen Ort in der Uni-Bibliothek?» «Ja bitte!»

Sie waren inzwischen wieder bei der Uni angelangt, und Lea übernahm den Karton. «Also dann, noch einen schönen Abend und danke für alles.» Sie schenkte ihm ein bezauberndes Lächeln, drehte sich um und machte sich auf den Weg zum Studentenwohnheim.

«Tschüss, bis morgen», rief Philipp ihr noch nach und eilte zu seinem Roller. Er schulterte seinen Rucksack, setzte den Helm auf und fädelte sich in den Abendverkehr ein.

***

Als er später in seinem Bett lag, dachte er noch einmal über den vergangenen Tag nach. Leas strahlende, blaugraue Augen und ihr herzliches Lächeln hatten ihn komplett verzaubert. Ausserdem war sie eine hübsche und natürliche Schönheit, schlank und feminin. Ihre weiblichen Kurven sassen genau am richtigen Ort.

Abgesehen davon, dass sie sich einfühlsam, fürsorglich, selbstbewusst und entschlossen gab, wirkte sie manchmal auch wieder etwas unsicher, was das grosse Bedürfnis bei ihm auslöste, sie beschützen zu wollen.

Und Lea hatte eindeutig Humor. Ihr Lachen war richtig ansteckend. Philipp fand diese ganze Kombination irgendwie süss. Zudem schien sie ganz genau zu wissen, wie sie ihren Charme einsetzen musste, um etwas zu erreichen.

Ich will dieses Mädchen unbedingt näher kennenlernen! Ihr defekter Laptop scheint mein Verbündeter zu sein. Nun habe ich einen stichhaltigen Grund, und das ohne plumpe Anmache, um viel Zeit mit ihr verbringen zu dürfen!

«Halt, stopp! Und was ist mit Ladina?», machte eine innere Stimme ihn kritisch darauf aufmerksam.

Doch Philipp wollte nicht an sie erinnert werden und jetzt auch nicht darüber nachdenken. Denn grundsätzlich war er über seine erste grosse Liebe hinweg. Doch manchmal schmerzte es halt trotzdem noch, obwohl es schon gut ein Jahr her war.

Kapitel 12

…Ladina Capeter und Philipp Odermatt kannten sich von klein auf, da sie in nachbarschaflicher Nähe aufgewachsen und gemeinsam zur Schule gegangen waren.

Anfangs hatten sie nur einen kollegialen Kontakt gepflegt, in der gleichen Clique verkehrt und waren an den Wochenenden mit ihren Freunden ausgegangen. Bald waren sie sich näher gekommen, hatten tiefere Gefühle für einander entwickelt und sich dann zum ersten Mal geküsst. Sie wurden ein Paar.

Ab da hatten sie alles zusammen gemacht, weil der eine ohne den anderen nicht sein konnte. Sie hatten Theatervorstellungen, Sportveranstaltungen, Konzerte und Openairs besucht, und bei Philipps Volleyball-Matches war Ladina oft auf der Tribüne gesessen und hatte ihn angefeuert.

Irgendwann war die Zeit gekommen, um für den Schulabschluss zu pauken, an der Maturaarbeit zu schreiben und schlussendlich die Schule erfolgreich und mit guten Noten abzuschliessen. Himmel, sie waren so verliebt gewesen.

Dann hatte Philipp für achtzehn Wochen in die Rekrutenschule einrücken müssen. Er war kaum eine Woche im Militär gewesen, als Ladina ihm aus heiterem Himmel in einer WhatsApp-Nachricht mitgeteilt hatte, dass sie sich in einen anderen verliebt habe. Kein einziges Wort mehr, das als Erklärung gedient hätte!

Philipp war aus allen Wolken gefallen und hatte die Welt nicht mehr verstanden. Warum hatte sie ihm das angetan? Warum war er plötzlich nicht mehr erwünscht? Und warum hatte sie ihm das nicht persönlich mitgeteilt?

Drei Jahre lang waren sie glücklich gewesen, zumindest Philipps Empfinden nach. Aus seiner Sicht hatte Ladina sich nie fragwürdig verhalten, falls in ihrer Beziehung etwas nicht gestimmt haben sollte. Im Gegenteil, er hatte immer geglaubt, dass Ladina ihn genauso liebte, wie er sie. Er hatte sich sogar dabei erwischt, wie er davon träumte, mit ihr eine gemeinsame Zukunft aufzubauen.

Ihre Nachricht hatte ihn deshalb zu tiefst verletzt und unendlich gekränkt. Verzweifelt hatte er versucht, Ladina telefonisch zu erreichen, um diese Sache mit ihr zu klären. Absolut keine Chance!

Darauf hatte er beschlossen, auf ihre Whats-App zu antworten. Doch diese schien leider nie bei ihr angekommen zu sein. Ladina musste seine Nummer gelöscht oder sogar geblockt haben.

Aus unbekannten Gründen hatte sie ihn einfach abserviert und wie eine heisse Kartoffel fallen gelassen! Die vielen offenen Fragen waren leider bis heute nicht beantwortet, warum und wieso auch immer…

Der Herzschmerz aber war kaum auszuhalten gewesen. Deshalb hatte sich Philipp geschworen, nie mehr eine Frau so nahe an sich heranzulassen, weder körperlich noch emotional. So eine schwere Enttäuschung wollte er nie mehr in seinem Leben durchmachen müssen. Am besten blieb er einfach Single und verliebte sich nie mehr.

Und ausgerechnet jetzt stolperte diese Lea Frei in sein Leben und brachte seine Gefühle ganz schön durcheinander…

Kapitel 13

Am nächsten Morgen schaffte es Philipp gerade noch rechtzeitig unter die Dusche, bevor sein Zimmernachbar wieder einmal das Bad blockierte. Zum Glück hatte er den Wecker eine halbe Stunde früher gestellt.

Er fuhr ohne Frühstück zur Uni, holte sich einen Kaffee und ein Brötchen in der Mensa und schlenderte anschliessend in aller Ruhe zum Hörsaal, wo die erste Vorlesung stattfinden würde. Philipp spürte eine gewisse Vorfreude in sich, denn der Tag versprach ein paar Highlights auf Lager zu haben.

Als er den Saal mit der treppenartigen Bestuhlung betrat, war dieser praktisch schon vollbesetzt. Leider fand er nur noch ganz oben einen freien Sitzplatz. Er holte sein Notebook aus dem Rucksack und öffnete das entsprechende Programm, welches er für dieses Seminar benötigte.

Dann entdeckte er Lea, die ganz weit unten sass und Schreibblock und Kugelschreiber vor sich auf dem Tischchen liegen hatte.

Die Arme muss heute alles von Hand aufschreiben. Falls sie möchte, werde ich ihr meine Notizen später übermitteln, sobald wir ihre neue Kiste zum Laufen gebracht haben, dachte er für sich.

Der Dozent trat ans Mikrofon und begann mit seinem Referat. Philipp versuchte, sich auf den Schulstoff zu konzentrieren, was ihm nicht so souverän gelang. Immer wieder huschten seine Augen zum Mädchen mit dem langen, dunkelblonden Pferdeschwanz.

Lea schien seinen Blick jeweils zu spüren. Mehr als einmal lächelte sie über ihre Schulter zu ihm hoch.

Der Morgen verging sehr schnell. Die Studenten drängten aus dem Schulungsraum und verschwanden in die Mittagspause. Philipp eilte ebenfalls durch die Gänge zur Mensa. Dummerweise hatte er Lea verpasst. Sie musste im Gedränge an ihm vorbei gehuscht sein.

Es gelang ihm kaum, seine Ungeduld zu zügeln. Doch seine Enttäuschung, dass er an diesem Vormittag nicht mal ein einziges Wort mit ihr hatte wechseln können, schluckte er tapfer runter. Schliesslich hatte er an diesem Nachmittag ein Date mit ihr, auf das er sich wirklich freute!

***