Liebe Grüsse aus Kanada - Ramona Vals - E-Book

Liebe Grüsse aus Kanada E-Book

Ramona Vals

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Beschreibung

Die sechszehnjährige Vanessa Moser und der achtzehnjährige Yannik Frei sind wie Bruder und Schwester zusammen gross geworden. Ihre Familien sind seit Jahren dick befreundet. Im Sommerurlaub verlieben sich die beiden Hals über Kopf. Doch Yannik hat seine Zukunft bereits verplant und Vanessa ist darin nicht vorgesehen. Obwohl er sie liebt, macht er mit schwerem Herzen Schluss und gibt sie frei, weil er in den nächsten Jahren leider keine Zeit für sie haben wird. Nach seinem Lehrabschluss als Zimmermann und seiner zehnmonatigen Militärausbildung will er für ein Jahr nach Kanada, um das Handwerk des Blockhäuserbaus zu lernen. Während dieser Zeit macht Vanessa ihre dreijährige Ausbildung zur Floristin. Sie schliesst als Beste im Kanton Luzern und mit der Ehrenmeldung ab und bekommt dafür ein einjähriges Arbeitsvisum in Kanada geschenkt. Sie wählt einen Floristikbetrieb in Vancouver. Drei Jahre lang haben sich die beiden nicht mehr gesehen und auch keinen Kontakt mehr gehabt. Befindet sich Yannik noch immer in diesem riesigen Land, wenn Vanessa nach Kanada reist? Und werden sich die beiden vielleicht irgendwo über den Weg laufen?

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapital 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Epilog

Kapitel 1

Man schrieb den 31. Juli, an einem heissen, sonnigen Sommernachmittag, an einem der schönsten Strandabschnitte Spaniens. Luca und Sarah Müller brachen zu einem Strandspaziergang auf, während ihre zehnjährige Tochter Rebecca und ihr fast zwölfjähriger Bruder Jonas zusammen mit der gleichaltrigen Cousine Julia Moser und ihrem gemeinsamen Spielkameraden Adrian Frei eine riesige Sandburg bauten. Adrian, der im Dezember ebenfalls zwölf wurde, war das Nesthäkchen der Familie Frei, welche mit Müllers und Mosers eng befreundet war. Alle drei Familien stammten aus der Schweiz, genauer gesagt aus der Agglomeration Luzern, und hatten, wie in den vergangenen Jahren auch, drei nebeneinanderliegende Bungalows gemietet. Diese waren mit je zwei grossen Schlafräumen, einem Badezimmer, einer Küche und einem Wohnzimmer ausgestattet. Im Areal gab es einen gemeinsamen Swimmingpool und je einen, mit Gartenmöbeln bestückten Sitzplatz. Zum Strand benötigte man, über einen Trampelweg, nur fünf Minuten. Das Dorfzentrum erreichte man zu Fuss in einer Viertelstunde.

Stefan Frei sass seinem Freund Tobias Moser schräg gegenüber und mischte die Schweizer Jasskarten. Sie wollten ihre Frauen Sabrina Frei und Mona Moser bei einem «Schieber» herausfordern. Sie hatten einen grossen Campingtisch und vier Stühle im Sand platziert und zwei Sonnenschirme so gerichtet, dass die Sonne sie nicht blendete und ein wenig Schatten spendete. Alle trugen Badebekleidung. Getränke waren in einer Kühlbox untergebracht. Die Schiefertafel und die Kreidegriffel lagen bereit. Als die vier Spieler ihre neun Karten hochgenommen und richtig sortiert und eingeordnet hatten, konnte das Spiel losgehen. «Geschoben», meldete Sabrina und sah ihre Freundin Mona bedauernd an. Diese betrachtete ihre Karten und überlegte einen Moment. «Ich mache Slalom und fange oben an.» Sie legte das Schellen Ass auf den Tisch. Die anderen drei legten eine Karte dazu. Dann gab Mona die Rosen Sechs aus. Die anderen legten nach. Dieser Vorgang wiederholte sich noch siebenmal, bis keiner mehr eine Karte in der Hand hielt. Mona war, ohne Hilfe ihrer Jass-Partnerin, ein Match gelungen und die Männer hatten keinen Stich gemacht. «Gut gemacht», freute sich Sabrina und schrieb die entsprechende Punktezahl auf die Tafel.

Stefan und Tobi, wie ihn alle nannten, machten lange Gesichter. Sabrina mischte die Karten neu und verteilte drei mal drei an alle vier Spieler. Jetzt waren die Männer am Zug und konnten ansagen. Sie jassten den ganzen Nachmittag und diskutierten nach jeder Runde ausgiebig, auf was man hätte achten sollen und mit welcher Strategie man mehr Punkte hätte herausholen können. Da es nur ein Spiel war, bei dem es eigentlich um nichts ging, ausser um Spass und Vergnügen, wurde niemand böse, wenn mal einer einen Fehler machte. Die Stimmung war fröhlich und ausgelassen und es wurde viel gelacht.

Yannik Frei, der in zwei Tagen seinen achtzehnten Geburtstag feiern würde, spielte mit seinem besten Freund Mario Moser, der ein paar Monate jünger war und dessen eineinhalb Jahre jüngeren Schwester Vanessa Volleyball am Strand. Die drei kannten sich, seit sie kleine Kinder waren und zusammen noch im Sandkasten gespielt hatten. Yanniks grosse Schwester Lea hatte ebenfalls zu diesem Quartett gehört. Doch sie war mittlerweile neunzehn und würde im nächsten Jahr mit ihrem Medizinstudium in Zürich anfangen. Sie hatte vor ein paar Wochen ihre Matura erfolgreich und mit guten Noten abgeschlossen und den Eignungstest Medizin EMS, sprich emsnumerus-clausus, geschafft. Leider gab es in diesem Jahr an der Universität Zürich keinen freien Studienplatz mehr. Deshalb legte sie nun ein Zwischenjahr ein, um mit einem Fremdsprachenaufenthalt in England zu überbrücken.

Irgendwann wurde es Vanessa zu heiss und sie rannte ins Wasser. Sie wagte sich nur so weit hinein, solange sie noch den Boden unter den Füssen spüren konnte. Die beiden Jungs folgten ihr. Yannik tauchte unter und kam vier Meter hinter Vanessa wieder hoch. Er pirschte sich leise an sie ran, packte ihre Schultern von hinten und schubste sie unter Wasser. Vanessa war nicht gefasst, tauchte Kopf voran unter und schluckte dabei Meerwasser. Sie verlor die Orientierung und ruderte voller Panik mit ihren Händen. Zwei starke Arme zogen sie hoch. Hustend und mit vom Salz brennenden Augen tauchte sie wieder auf. Der grossgewachsene, schlanke Yannik stand beschämt neben ihr, klopfte ihr besorgt auf den Rücken und blickte sie entschuldigend an. «Tut mir leid, Vanessa. Ich habe mir nichts dabei gedacht. Geht’s wieder?» Seine Augen waren so blau, wie der Himmel über ihnen und das nasse, blonde Haar klebte an seinem Kopf. Seine weissen, gesunden Zähne glänzten in der Sonne. Das Meerwasser reichte ihm bis über die Taille. Auf seinem braungebrannten, sportlich muskulösen Body, der von jahrelangem Fussballtraining und harter körperlicher Arbeit als Zimmermannlehrling zeugte, glitzerten Wassertropfen.

Zwei blaugrüne Augen, die fast einen Türkiston angenommen hatten und von dichten dunklen Wimpern umrahmt wurden, funkelten ihn böse an. Die 166 cm grosse, schlanke Vanessa war mit ihren sechszehn Jahren körperlich bereits vollkommen zur Frau entwickelt. Ihre Kurven waren wohlproportioniert und am richtigen Ort. Ihr dunkelblondes, mittellanges Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Bei ihrem unfreiwilligen Tauchgang war ihr Bikinioberteil verrutscht und der weisse Abdruck auf ihrer braungebrannten Haut gut sichtbar. Yannik war dieser Zustand nicht entgangen und er lächelte verhalten. Peinlich berührt richtete sie das Oberteil. Als sie ihren Blick wieder hob, begegnete sie Yanniks leuchtenden Augen und blieb an ihnen hängen. Es knisterte in der Luft, ein elektrisierender Funke sprang über und zwischen den beiden geschah etwas Unerklärbares ...

Dummerweise tauchte da Mario schwimmend bei ihnen auf und der magische Augenblick war auch schon wieder vorüber. Er hatte den Zwischenfall nicht mitbekommen. «Alles klar bei euch?», erkundigte er sich fröhlich. «Ja, alles bestens», antwortete Vanessa angepissen und watete sauer zum Ufer zurück. Irritiert starrte er seiner Schwester hinterher. «Was ist der auf einmal über die Leber gelaufen? Habe ich etwas verpasst?» «Sie hat einen nicht gewollten Tauchgang absolviert und ist jetzt wütend auf mich», erklärte Yannik schief grinsend. Dass er Vanessa unglaublich süss fand, wenn sie sich ärgerte, verschwieg er aber. «Komm, wir schwimmen noch bis zum Floss raus», schlug er deshalb vor.

Vanessa nervte sich über Yannik und fand seinen Angriff so was von kindisch. Zudem hasste sie solche Überfälle. Am Strand angekommen duschte sie, um das Salz am ganzen Körper loszuwerden. Danach fühlte sie sich augenblicklich besser. Sie ging zu ihrer Familie und legte sich auf einen freien Liegestuhl. Inzwischen waren auch die Müllers von ihrem Strandspaziergang zurückgekehrt. Die Erwachsenen jassten jetzt zu sechs mit einem Doppelries, immer drei Spieler in einem Team. Es ging hoch zu und her. Natürlich wurde um jeden Punkt gekämpft, weil jene Mannschaft, die zuerst die maximale Punktzahl erreicht hatte, gewann. Demnach war es nicht verwunderlich, dass nach jedem Durchgang rege diskutiert wurde.

Vanessa legte sich auf den Rücken und setzte sich ihre Sonnenbrille auf die Nase. Warum ist mir nie aufgefallen, dass Yannik so schöne blauen Augen hat, fragte sie sich verblüfft und ihr Herz schlug auf einmal ein paar Takte schneller. Aus ihm ist ein richtiger junger Mann geworden. Er sieht sooo gut aus. So süss, sportlich, sexy ... Vanessa schnappte erschrocken nach Luft. Was habe ich nur für Gedanken. Ich glaube, ich lese zu viele Liebesromane. Doch in ihn könnte man sich glatt verlieben. Halt, stopp! Yannik ist doch wie ein Bruder für mich. Ich kenne ihn, solange ich denken kann. Unsere drei hier anwesenden Familien sind alle miteinander verwandt, verschwägert und eng befreundet. Wir unternehmen immer was zusammen. Mario und Yannik haben jahrelang in derselben Junioren-Fussball-Mannschaft gespielt. Wie oft bin ich an der Seitenlinie gestanden und habe sie angefeuert. Unsere Familien verbrachten schon immer die Fasnachtszeit und die Sommerferien zusammen. Er ist, genau wie ich auch, ein Teil dieser grossen Gemeinschaft.

Vanessa erhob sich, stellte die Rückenlehne höher und setzte sich bequemer hin. In den letzten drei Jahren haben wir uns leider kaum gesehen, da er seine vierjährige Lehre als Zimmermann auswärts in einem anderen Kanton macht. In der Nähe, wo er mit seiner Familie lebt, gab es keine freie Lehrstelle mehr. Unter der Woche wohnt und arbeitet er bei der Lehrmeisterfamilie, wo er Kost und Logie hat und kommt nur am Wochenende mit dem Zug nach Hause. Dann ist er oft mit meinem Bruder im Ausgang oder sonst irgendwo unterwegs.

Sie stand auf und holte sich eine gekühlte Flasche Mineralwasser aus der Kühlbox und trank durstig einen Schluck. Ob er eine Freundin hat? Er sieht super aus, hat einen unwiderstehlichen Charme, ist immer gut drauf und nie um einen dummen Spruch verlegen. Die Mädchen liegen ihm ganz bestimmt zu Füssen. Vermutlich stehen die bei ihm Schlange!

Erneut hantierte sie an der Rückenlehne ihres Liegestuhls herum und drehte sich dann auf den Bauch. Warum mache ich mir dann ausgerechnet jetzt über ihn Gedanken, wunderte sie sich kopfschüttelnd. Sie nahm ihr Buch und vertiefte sich in ihre Lektüre.

Die Jungs kamen aus dem Wasser zurück. Mario schüttelte sein nasses Haar über Vanessas Rücken, um sie etwas zu reizen. «Nein, bitte nicht», rief sie aufgebracht. «Hat man eigentlich nie seine Ruhe!» Ihr Bruder lachte amüsiert. «Schwesterherz, sei doch nicht so empfindlich.» Er nahm ein Badetuch, trocknete sich ab und ging rüber zu den Jassern, um zuzuschauen.

Genervt drehte sich Vanessa um, um sich aufzusetzen und fand sich Yannik gegenüber. Er hatte sich im Schatten des Sonnenschirms auf eine aufgeblasene Luftmatratze gesetzt. Eine gefühlte Ewigkeit lang sahen sie sich in die Augen. Die Welt blieb stehen und drehte sich nicht mehr. Die Geräusche um sie herum drangen in den Hintergrund. Vanessa senkte verlegen den Kopf, und ihr Herz hämmerte wie wild gegen ihre Rippen. Ihre Wangen röteten sich und wurden heiss. Was war das jetzt? Warum bringt er meine Gefühle plötzlich so durcheinander? Sie wusste nicht, was sie mit ihren Händen anfangen sollte und begann Sonnenmilch auf ihren Armen einzureiben. So hatte sie wenigstens etwas zu tun. Yannik beobachtete sie stumm. Seit Vanessa vor ein paar Minuten wütend aus dem Wasser gestampft war, brachte er sie nicht mehr aus seinem Kopf. Etwas Grundlegendes hatte sich, von einer Sekunde auf die andere, zwischen ihnen beiden verändert. Warum jetzt auf einmal? Da draussen im Meer muss etwas passiert sein. Irgendwie ist es anders zwischen uns. Aber erklären kann ich es nicht. Wir kennen uns doch schon ewig!

Vanessa war wie eine Schwester für ihn. Sie waren als Kinder oft zusammen gewesen. Wenn sie und seine grosse Schwester Lea mit ihren Puppen Familie gespielt hatten, mussten Mario und er immer als Vater und Onkel herhalten und mitmachen. Als sie noch klein waren, hatten sie grosse Sandburgen im Sandkasten gebaut und sich im Planschbecken gegenseitig nassgespritzt. Sie waren gemeinsam auf dem Spielplatz gewesen und hatten immer die Luzerner Fasnacht und die Sommerferien zusammen verbracht, wie auch Geburtstagsfeste und Weihnachtsfeiern. Sie war ein Teil der Familie Moser und ihr grosser Bruder sein bester Freund. Bei den Fussballspielen der beiden Jungs war Vanessa immer ihr grösster Fan gewesen und hatte sie jeweils lautstark angefeuert. Rumalbern und viel lachen hatte zum Alltag gehört und sie hatten immer so viel Spass gehabt. Doch seit er in der Berufslehre steckte und auswärts arbeitete, hatten sie praktisch keinen Kontakt mehr, leider! Yannik schluckte hart. Es ist eine Schande, dass ich es verpasst habe, wie aus dem kleinen Küken ein wunderschöner Schwan geworden ist. Sie ist richtig süss und hat so wunderschöne Augen. Das ist mir bis jetzt nie aufgefallen … und erst ihr Lächeln … In seiner Leistengegend regte sich was. Die Beule in seinen Badeshorts war unübersehbar. Verdammt, auch das noch! Yannik war total durcheinander.

Vanessa versuchte sich unterdessen am Rücken einzucremen, was sich als sehr schwierig herausstellte, weil sie sich dabei total verrenken musste. Mario schaute den sechs Erwachsenen beim Jassen zu und stand als Einschmierhilfe nicht zur Verfügung. Yannik erhob sich und schlang ein Badetuch um seine Hüfte. Seine Erektion war ihm echt peinlich. Er packte die Flasche mit der Sonnencreme. «Darf ich?» «Warum fragst du? Du hast das in der Vergangenheit auch schon gemacht!», erinnerte sich Vanessa verwundert. Ja schon, aber da war irgendwie alles anders, dachte er verwirrt. Vanessa legte sich bäuchlings auf den Liegestuhl, streckte ihre Arme nach vorne und legte ihre Hände übereinander. Yannik drehte die Flasche auf den Kopf und drückte ein wenig von der weissen Flüssigkeit auf ihren Rücken. Dann begann er ganz sanft die Sonnenmilch auf ihrem Rücken einzumassieren. Die Berührung ihrer warmen, samtweichen Haut kam einem Stromschlag gleich. Sein Herz begann wie verrückt zu schlagen und ein paar Schmetterlinge flatterten in seinem Bauch herum. Vanessa genoss das noch fremde, aber durchaus prickelnde Gefühl seiner warmen Hände auf ihrer Haut. Sie bekam am ganzen Körper eine Gänsehaut. «Bist du immer noch böse auf mich?», fragte er plötzlich leise. «Aber sicher doch!», kam es wie aus der Pistole geschossen. Doch um ihre Mundwinkel zuckte es verdächtig, und der Schalk lachte aus ihren Augen. Vanessa war nicht nachtragend, nicht bei Yannik. Als sie ihren Kopf drehte, um ihn ansehen zu können, prusteten sie los. Yannik war erleichtert und seine blauen Augen leuchteten vergnügt.

***

Ungefähr eine Stunde später sammelten die drei Familien ihre sieben Sachen zusammen und machten sich auf den Heimweg zu ihren Bungalows. Als alle geduscht und in Ausgehkleidung wieder versammelt waren, spazierten sie in die nahegelegene Ortschaft. In der Gartenwirtschaft einer Pizzeria schoben Stefan, Tobias und Luca drei Tische zusammen und alle setzten sich. Nachdem der Kellner die Speisekarten gebracht und die Getränkebestellung aufgenommen hatte, verschwand er wieder in das Lokal. Schon bald labten sich die Männer an ihrem kalten Bier, die Rotweingläser der Frauen waren gefüllt, Wasser stand bereit, und die jüngeren Kinder konnten ihren Durst mit einer kalten Cola oder Eistee löschen. Ein paar Minuten später wurden auch die Salate, die Pizzen, die Spaghetti und die Pasta-Gerichte serviert. Alle hatten grossen Hunger und assen mit gutem Appetit.

Yannik linste immer wieder verdeckt zu Vanessa, die ihm gegenübersass. Wenn sie seinen Blick auffing, senkte er verlegen den Kopf. Und umgekehrt. Die Stimmung am langen Tisch war heiter und aufgestellt. Es wurde rege diskutiert, dumme Sprüche geklopft, gescherzt, gelacht, geneckt und aufgezogen. Als alle leeren Teller abgeräumt, die Gelati und der Kaffee serviert waren, beratschlagten die Erwachsenen, was sie an diesem Abend noch unternehmen wollten. «Ich glaube, hier gibt es einen Rummelplatz», rief Jonas plötzlich aufgeregt und zeigte auf ein Plakat auf der gegenüberliegenden Strassenseite. «Gute Idee», lobte seine Mutter Sarah. Die anderen bestätigten kopfnickend. «Dann gehen wir doch dorthin», freute sich Luca, Jonas Vater. Die jüngeren Kinder jubelten begeistert. Sabrina, Yanniks Mutter, wandte sich an ihren älteren Sohn und die Geschwister Moser. «Und was habt ihr vor? Kommt ihr auch mit?» «Gehen wir noch in die Disco?», stellte Mario die Gegenfrage an seine Schwester und seinen besten Freund. «Ich bin dabei», antwortete Yannik spontan. Vanessa überlegte kurz. Sie war noch nie in einer Disco gewesen. Das war eigentlich gar nicht ihre Welt. Doch heute Abend hätte sie die Gelegenheit, zum ersten Mal überhaupt, mit ihrem Bruder auszugehen. Das war doch super, oder? Und dass Yannik auch mit von der Partie sein würde, gefiel ihr noch besser. «Ich komme auch mit, wenn ich darf», gab sie mit klopfendem Herzen Bescheid. Yannik schien sich darüber zu freuen, denn seine Augen strahlten. Vanessa schenkte ihm ein keckes Lächeln und senkte verlegen den Kopf. Mona hatte den schüchternen Augenkontakt zwischen ihrer Tochter und Yannik beobachtet. Sie schmunzelte in sich hinein. Vanessa wird erwachsen und scheint sich endlich auch für das andere Geschlecht zu interessieren. In dieser Beziehung ist sie eher eine Spätsünderin und muss erst noch ihre Erfahrungen machen. Wenn ich da an meine Zeit zurückdenke. Mein Gott, ich war da ganz anders. Mit ernster Miene wandte sich Tobias an seinen Sohn. «Mario, du passt aber auf deine Schwester auf, hörst du! Und habt ihr Geld für Eintritte und Getränke?» «Ja Papa, haben wir, und ich werde Vanessa nicht aus den Augen lassen», bestätigte er ungeduldig. «Dann ist ja alles geregelt.» Stefan, Yanniks Vater, winkte dem Kellner mit seinem Portemonnaie, weil er bezahlen wollte.

Kapitel 2

Als die drei bei der Disco ankamen, war die Warteschlange bei der Kasse schon ziemlich lang. Ein Schild an der Wand informierte, dass Jugendliche unter 16 Jahren nicht reingelassen wurden. Glück gehabt, ging es Vanessa durch den Kopf. Sie trug ein lindgrünes, kurzärmliges Sommerkleid, das knapp über ihren Knien endete, dazu schwarze Ballerinas und ein kleines, schwarzes Handtäschchen, welches ihr schräg über die linke Schulter hing. Ihr blondes Haar war wie immer zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. In ihren Ohrläppchen steckten mittelgrosse, silberne Ohrringe. Ihr hübsches Gesicht war ungeschminkt. Makeup sagte ihr einfach nichts. Sie fand sich natürlich ganz ok. Ein mittelgrosser, vielleicht 20-jähriger Italiener mit pomadisiertem Haar, mit Bluejeans, einem weissen T-Shirt, einer schwarzen Lederjacke und weissen Turnschuhen bekleidet, machte sich an Vanessa ran und legte seine Hände, wie ganz selbstverständlich, an ihre Hüfte. «Buona sera, bella ragazza! Wollen wir zusammen tanzen gehen?», flötete er in gebrochenem Deutsch. Vanessa verzog geekelt das Gesicht, als dieser freche Kerl auch noch versuchte, sie zu küssen. So etwas hatte sie noch nie erlebt und war dementsprechend geschockt. Vanessa begann sich gegen diesen widerlichen und sehr aufdringlichen Typ zu wehren, kam aber nicht gegen ihn an. Mario sah rot und zog den Italiener grob von seiner Schwester weg. Dann stellte er sich mit seinen ganzen 187 cm schützend vor sie und funkelte diesen Macho böse an. «Hau ab!» Der Italiener zog eingeschüchtert den Kopf ein und machte sich eilig davon. Schweratmend versuchte Vanessa, sich von diesem Überfall zu erholen. Yannik war in der Nähe gestanden und hatte alles atemlos mitverfolgt. Das kann ja heiter werden! Heute Abend werden wir gut auf Vanessa aufpassen müssen, nahm er sich vor.

Nachdem die drei ihren Eintritt bezahlt hatten, gelangten sie endlich zum Eingang der Diskothek. Dort standen zwei grosse, ganz in schwarz gekleidete, durchtrainierte und sehr muskulöse Türsteher. «Sie darf nicht rein. Die ist zu jung und höchstens vierzehn», verkündete der eine in Englisch. Mario war seit drei Jahren Informatiker-Lehrling und Englisch in der Berufsschule ein Pflichtfach. «Sie sieht vielleicht ein bisschen jung aus. Aber sie ist sechszehn!», verteidigte er seine Schwester empört. Es war nichts Neues, dass Vanessa immer von allen jünger eingeschätzt wurde. Sie hatte sich inzwischen an solche Zwischenfälle gewöhnt. Deshalb trug sie auch immer ihre Identitätskarte mit sich rum, auf der ihr Geburtsdatum aufgeführt war. Triumphierend hielt sie diese nun dem Türsteher unter die Nase. Er nickte bestätigend, entschuldigte sich und liess sie passieren.

***

Drinnen war es war schummrig, von Partygästen völlig überfüllt, die Luft mit Schweiss und Parfumdüften geschwängert, die Musik viel zu laut und die Temperatur ziemlich unterkühlt. Offenbar hatte man die Klimaanlage zu tief eingestellt. Die drei kämpften sich durch die Menschenmenge und suchten sich einen Platz im hinteren Teil, wo sie sich setzen konnten. Neben zwei dunkelhaarigen, jungen Engländerinnen war noch Platz, die beiden mussten nur etwas näher zusammenrücken. Während Mario an die Bar ging, um Getränke zu organisieren, fragte Yannik höflich in Englisch, ob sie sich neben sie setzen durften. Er trug schwarze Shorts, ein hellblaues Kurzarmhemd, leger aussen runter und schwarze Nike-Turnschuhe. Die beiden Frauen nickten strahlend und begannen gleich heftig mit ihm zu flirten. Vanessa liessen sie links liegen. Sie gingen davon aus, dass sie seine Schwester sein musste. Doch dieser junge Mann, zum Anbeissen! Braungebrannt, gross, schlank, sportlich … und auch noch ein Schweizer! Yannik schäkerte und flirtete ein bisschen mit den beiden rum und vergass, dass Vanessa auch noch da war. Diese kam sich ziemlich überflüssig vor. Sie sah sich suchend um. Wo steckt eigentlich mein Bruder? Er wollte doch nur die Getränke holen. Der DJ verkündete durch sein Mikrofon, dass er jetzt ein paar Oldies der 80er-Jahre auflegen würde. Hits von ABBA, Bonney M, Madonna, Modern Talking, Rick Astley, George Michel, a-ha, Falco und viele mehr! Die Engländerinnen standen sofort auf und bahnten sich einen Weg zur Tanzfläche. Bei diesen bekannten Interpreten konnten sie unmöglich sitzen bleiben. Vanessa erhob sich ebenfalls. Da die Musik so laut war, musste sie Yannik ins Ohr schreien. «Kommst du mit auf die Tanzfläche?» Er hob entschuldigend seine Schultern. «Ich würde ja gerne mitkommen. Aber jemand muss hier die Stellung halten. Sonst sind unsere Sitzplätze sofort weg. Traust du alleine zu gehen?», schrie er zurück. Vanessa nickte mutig und verschwand im Gewühl. Yannik schaute ihr nach und entdeckte sie einen Moment später am Rand des Tanzflors.

Vanessas Herz klopfte bis zum Hals. Da sie noch nie in einer Disco oder sonst wo tanzen gegangen war, traute sie sich erst nicht, sich zur Musik zu bewegen. Sie beobachtete die Disco-Besucher auf der Tanzfläche und stellte amüsiert fest, dass es auch noch andere gab, die den perfekten Tanzstil nicht beherrschten. Ach was soll’s, hier kennt mich ja keiner. Es wird mich schon niemand auslachen, wenn ich mich wie ein Hampelmann bewege. Sie schluckte, holte tief Luft, um sich Mut zu machen und schloss die Augen. Dann zog sie den Beat in sich rein, fühlte sich in den Sound und begann ganz allein für sich zu tanzen.

Die Musik war Vanessas grosse Leidenschaft und sie hatte ein gutes Musik- und Rhythmusgefühl. Seit ein paar Jahres spielte sie Saxophon, nahm Unterricht bei einem Saxophonlehrer und war auch schon länger Aktivmitglied im Jugendblasorchester ihrer Wohngemeinde. Wie anmutig sie sich bewegt, dachte Yannik bewundernd. Oh wie gerne wäre ich jetzt da vorne … Ungeduldig schaute er auf seine Armbanduhr. Wo ist mein Kumpel? Ist er verlorengegangen? Jetzt ist Mario schon über 20 Minuten weg.

Dieser stand schon eine geschlagene Viertelstunde in der Schlange vor der Bar. Es war ein riesiges, unkoordiniertes Gedränge, und es ging einfach nicht vorwärts. Zu viert düsten die Barkeeper hinter dem Tresen hin und her, holten kalte Getränke aus den Kühlschränken, zapften Bier, füllten Gläser mit Champagner oder Wein, mixten Drinks und verzierten diese wunderschön mit geschnittenen Früchten und kleinen Schirmchen aus Papier. Von hinten drängelten sich immer wieder Leute nach vorne, um schneller an der Theke zu sein. Irgendwann war es mit Marios Geduld vorbei, und er begann ebenfalls seine Ellbogen einzusetzen. Plötzlich befand sich nur noch eine zierliche, etwa 160 cm grosse, junge Frau vor ihm. Ihr dunkelbraun gelocktes Haar ging bis zu ihren Schultern. Sie trug ein hübsches, weisses Sommerkleid, weisse Sandalen und eine kleine Handtasche quer über ihre Schultern. Schon eine ganze Weile versuchte sie, die Aufmerksamkeit eines Barmanns auf sich zu ziehen, um ihre Bestellung aufgeben zu können. Doch sie wurde immer übersehen. Mario sah Handlungsbedarf. Er winkte energisch mit seinen Armen, bis ein Barkeeper endlich in ihre Richtung kam. «Was willst du trinken?», fragte er in gebrochenem Deutsch. «Diese junge Dame war vor mir da», erklärte Mario galant in Hochdeutsch. Die Brünette drehte sich verwundert um, um herauszufinden, wer sich für sie so hilfreich eingesetzt hatte. Sie entdeckte einen grossgewachsenen, jungen Mann mit dunkelblondem, kurzgeschnittenem und leicht gelocktem Haar. Seine dunklen Augen glänzten und ein charmantes Lächeln erhellte sein freundliches Gesicht. «Lady?» Der Mann hinter der Bar wartete ungeduldig. Die junge Frau drehte sich wieder zum Tresen zurück und gab ihre Bestellung auf, ebenso Mario. Er hatte sich nach vorne gedrängt und stand nun neben ihr an der Bar. «Danke für deine Hilfe.» Ihr heimeliger Berner Dialekt machte gleich Eindruck auf Mario. «Gern geschehen. Die Kleineren haben es oft schwerer als wir Grossen. Ich weiss das von meiner Schwester. Sie ist etwa gleich gross wie du», antwortete er bescheiden und grinste sie an. «Übrigens, ich bin Katrin Baumann aus Thun.» «Und ich, Mario Moser aus der Region Luzern.» Die beiden fanden sich auf Anhieb sympathisch. «Bist du alleine hier?», erkundigte er sich. «Nein, mein Bruder Simon steht irgendwo da drüben. Und während er mit den hübschen Mädels flirtet, lässt er mich hier an der Bar schmoren. Wie findest du das?» Ihr Blick war keck und flirtend. Dieser Typ ist süss. Er hat etwas Spitzbübisches an sich und eine liebe und herzliche Ausstrahlung. Man bekommt sofort Vertrauen zu ihm. Er ist so etwas, wie der liebe Junge von nebenan. Und sein Outfit; Jeansshorts, ein weisses T-Shirt und blaue Nike-Turnschuhe, passt zu ihm. «Eine verdammte Frechheit!», fand Mario lachend und entblösste weisse, gepflegte Zähne. «Und du, mit wem bist du hier?», wollte Katrin wissen. «Mit meiner Schwester und meinem besten Freund.» Er schaute auf seine Armbanduhr. «Ich sollte langsam zurück zu ihnen, sonst senden sie noch einen Suchtrupp nach mir aus. Ich stehe jetzt schon geschlagene 30 Minuten hier an.» Endlich kam der Barkeeper mit ihren Getränken. Sie bezahlten und bahnten sich einen Weg zurück zu ihren Leuten.

Yannik sass wie auf heissen Kohlen. Wo steckt mein bester Freund denn? Wieso kommt er nicht zurück? Er riskierte einen Blick zur Tanzbühne. Doch, sie war noch da. Es juckte ihn in den Füssen, irgendwie zog es ihn zu Vanessa. Der momentane Sound war aber auch wirklich super. Nach einer gefühlten Ewigkeit tauchte Mario endlich in Begleitung aus der Menge auf und stellte drei Gläser Cola auf den Tisch. Bevor er die beiden Personen seinem besten Freund vorstellen konnte, düste dieser in Schnellzugstempo an ihm vorbei Richtung Tanzbühne. Mario blickte ihm verdattert und mit offenem Mund hinterher.

Der DJ hatte soeben die Kuschelrockrunde eröffnet. Das farbige Licht wurde ruhiger und die Discokugeln drehten sich langsamer im Kreis. Die verliebten Paare kuschelten sich aneinander und blieben praktisch an Ort und Stelle stehen. Vanessa stand verloren zwischen den Tanzpaaren und fühlte sich ziemlich fehl am Platz. Sie wollte soeben die Tanzfläche verlassen, als jemand von hinten eine Hand auf ihren flachen Bauch und die andere auf ihren Busen legte und sie eng an sich heranzog. Vanessa blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Was geht hier vor? Verzweifelt versuchte sie, sich aus dieser schrecklichen Umarmung zu befreien. Doch der Mann zog sie nur noch fester an seine Brust. Von seinem penetranten Parfum wurde es ihr fast schlecht und sie geriet in Panik. Dieser aufdringliche Typ wollte sie einfach nicht loslassen. Mit einem wütenden Gesichtsausdruck tauchte plötzlich ihr Retter in der Not auf dem Tanzfloor auf. Yannik packte den schon bekannten Italiener grob am Hemdkragen und jagte ihn davon.

Erleichtert und wie angewurzelt blieb Vanessa an Ort und Stelle stehen. Ihr Herz klopfte wie verrückt, als Yannik einen Moment später mit funkelnden Augen und einem süssen Lächeln auf seinem Mund auf sie zukam und abwartend vor ihr stehen blieb. Er sah sie fragend an. Mit leuchtenden Augen nickte sie schüchtern. Die beiden verstanden sich auch ohne Worte. Yannik nahm ihre Hände und platzierte sie auf seine Schultern. Dann legte er seine Hände auf ihren unteren Rückenbereich und zog sie näher zu sich heran. Sein Herz wummerte aufgeregt. Diesen magischen Moment mit Vanessa zu erleben, war der Hammer und es fühlte sich so wunderbar und richtig an. Der heutige Tag war sowieso so anders, so speziell … Vanessa war ein gutes Stück kleiner als er. Ihr Kopf reichte gerade bis zu seiner Brust. Er schloss seine Augen und spürte, wie kräftig ihr Herz schlug. Belustigt stellte er fest, dass ihr Haar nach Orangenblüten duftete.

Vanessa hatte ihre Augen ebenfalls geschlossen und glaubte zu träumen. So etwas erlebte sie doch nur in ihren Büchern. Nur ein Romanheld hielt eine Frau so im Arm. Sie würde jetzt dann ganz sicher gleich aufwachen und sich in ihrem Bett wiederfinden. Doch dem war nicht so. Yannik war tatsächlich real, sie spürte seine Wärme, sein pochendes Herz und seine Hände auf ihrem Rücken. Der Duft seines gutriechenden Duschgels kroch ihr in die Nase. Sie mochte es! Diese Kuschelrunde darf noch nicht aufhören. Bitte! Mich hat noch nie ein Junge im Arm gehalten. Und jetzt ausgerechnet mein Sandkastenfreund, unglaublich! Es fühlt sich sooo toll an. Bitte noch nicht aufhören! Die Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten kreuz und quer. Ganz langsam bewegten sich die beiden zur Musik und genossen das neue Gefühl, sich gegenseitig zu spüren.

Mario sah seinem Freund überrascht hinterher und entdeckte auch Vanessa auf dem Parkett, wie sie friedlich und ganz allein für sich tanzte. Der Musikstil wechselte von einer Minute auf die andere, das Licht wurde ruhiger, weil der DJ Kuschelsongs aufgelegt hatte. Die engumschlungenen Paare bewegten sich jetzt fast gar nicht mehr. Seine Schwester wollte soeben die Tanzbühne verlassen, als … Scheisse, nicht schon wieder dieser widerliche Italiener! Und jetzt begrabscht er sie auch noch! Verdammt!! Er war schon im Begriff, aufzustehen, um Vanessa sofort zu Hilfe zu eilen, als er Yannik mit finsterem Blick auf diesen Macho-Typ zusteuern, ihn am Hemdkragen packen und von der Tanzbühne verfrachten sah. Der Mann zog mit eingezogenem Kopf von dannen. Mario atmete erleichtert auf. Puh, nochmals gut gegangen! Papa hätte mir den Hals umgedreht, wenn meiner Schwester etwas zugestossen wäre. Dann beobachtete er verblüfft, wie Yannik und Vanessa zur Kuschelmusik ganz eng tanzten. Na sowas, da scheinen sich zwei gefunden zu haben. Sie geben aber auch ein süsses Paar ab. Das erinnerte ihn daran, dass er heute auch eine sehr interessante Bekanntschaft gemacht hatte. Diese Person wollte er unbedingt noch näher kennenlernen. Er drehte sich um und bemerkte erfreut, dass Katrin noch immer auf dem Sofa sass und sich mit ihrem Bruder Simon unterhielt.

Die Kuschelmusik-Runde war viel zu schnell vorbei. Die Musik änderte abrupt und wurde wieder lauter und schneller. Nur zögerlich lösten sich Vanessa und Yannik voneinander. Sie hatte Durst und ging zurück zu ihrem Tisch. Yannik folgte ihr auf den Fersen. Mario benutze die Gelegenheit, Katrin und Simon vorzustellen. Doch die Musik war viel zu laut, um sich in einem vernünftigen Ton miteinander unterhalten zu können. Nur mit Schreien konnte man sich einigermassen verständigen. Vanessa war müde und hatte genug von der Disco. Sie schrie ihrem Bruder ins Ohr, dass sie nach Hause gehe. Ob er auch mitkäme? Jetzt hatte Mario ein ernsthaftes Problem und befand sich extrem in der Zwickmühle. Auf der einen Seite hatte er den Auftrag, auf seine Schwester achtzugeben und sie unversehrt wieder nach Hause zu bringen. Aber eigentlich wollte er lieber noch ein wenig länger hier in der Disco bleiben. Katrin gefiel ihm nämlich und wie ...

Mario war unkompliziert und aufgeschlossen und hatte keine Hemmungen, um offen auf Menschen zuzugehen. Deshalb kam er immer sehr schnell mit ihnen ins Gespräch. Katrin musste ungefähr in seinem Alter sein. Er fand sie sehr hübsch und sexy und ihre herzliche Ausstrahlung zog ihn magisch an. Er konnte einfach nicht anders und flirtete intensiv mit diesem Mädchen.

Yannik hatte natürlich den Braten gerochen, schliesslich hatte er Augen im Kopf. «Ich werde deine Schwester nach Hause bringen», informierte er seinen Freund, nicht ganz uneigennützig. «Viel Spass noch!» Yannik und Vanessa verabschiedeten sich und bahnten sich einen Weg durch das Gedränge zum Ausgang. Die Ruhe und die frische Luft draussen war eine Wohltat. Doch der Nachklang der lauten Musik rauschte noch immer in ihren Ohren. Ein paar Minuten gingen sie schweigend nebeneinander her, jeder mit seinen eigenen Gedanken und den unterschiedlichsten und ganz neuen Gefühlen beschäftigt. «Danke, dass du mich vor diesem aufdringlichen Typ gerettet hast», platzte Vanessa plötzlich leise heraus. «Und für den Tanz nachher.» Sie sah ihn verträumt an. Heimlich hatte sie gehofft, dass es Yannik war, der sie nach Hause begleiten würde. Die beiden waren sich beim Tanzen so nahe gewesen und sie wollte mit ihm noch ein wenig alleine sein. Doch ihre Unsicherheit in Bezug zum männlichen Geschlecht war sofort wieder zurückgekehrt. Yannik blieb unter einer Strassenlaterne stehen. «Es war mir eine Ehre! Dieser Kerl war so pervers und hatte auch noch die Frechheit, dich unsittlich anzufassen!», redete er sich in Rage. «Ich konnte dich nicht einfach deinem Schicksal überlassen», regte sich Yannik auf. «Und dein Bruder war wieder einmal anderweitig beschäftigt...»

Doch Yanniks Wut war schnell wieder verraucht. Vor ihm stand ein bildhübsches Mädchen, das seine Sinne ziemlich anregte. Seine Augen funkelten wie zwei Sterne und sein Lächeln liess Vanessas Knie weich werden. «Ich fands auch wunderschön, das Tanzen», gestand er dann flüsternd. Und wie ... dich im Arm halten, einfach alles! Es kribbelte noch immer in seiner Bauchgegend. «Hast du eigentlich eine Freundin?», traute sich Vanessa zu fragen. Yannik schüttelte den Kopf. «Nein, schon länger nicht mehr.» «Und du? Bist du mit jemandem zusammen?», hakte er nach. Vanessa musterte verlegen ihre Schuhspitzen und errötete bis an die Haarwurzel. «Ich hatte noch nie einen Freund», gestand sie leise. «Die Jungs beachten mich doch gar nicht. Sie sehen in mir nur den netten Kumpel, der ihnen hilft, sie aus dem Dreck zu ziehen, wenn etwas schiefgelaufen ist. Die sehen nicht die junge Frau, die auch ihre Träume und Sehnsüchte hat.» Sie schluckte angestrengt, holte tief Luft und fuhr mutig fort. «Unser Tanz vorher war das erste Mal überhaupt, dass mich ein Junge so im Arm gehalten hat», und meine Gefühle so durcheinanderwirbelte.

Yannik sah sie verwundert an. So ein süsses Mädchen und die Jungs beachten sie nicht? Wo schauen die hin? Halt, stopp, tadelte er sich selber. Bis heute Nachmittag habe ich sie auch nicht wirklich als junge, fast erwachsene Frau wahrgenommen. Für mich war sie immer noch die kleine Vanessa von früher. Aber jetzt… «Vanessa, du bist sechszehn und musst dich für nichts schämen. Du bist halt eher eine ruhigere und zurückhaltende Person. Du hast noch reichlich Zeit. Die einen Menschen machen ihre Erfahrungen etwas früher, andere halt erst mit zwanzig oder gar noch später.»

«Aber, wenn man kein Draufgänger-Typ ist und sich nicht schminkt, nicht aufbretzelt und keine hochhackigen Schuhe trägt, wird man einfach nicht beachtet und gilt als langweilig. Und wenn man nicht wahrgenommen wird, kann man auch keine Erfahrungen sammeln», explodierte Vanessa von einer Sekunde auf die andere. «Du bist auch nicht besser als alle anderen Jungs. Noch immer siehst du die kleine Vanessa in mir, die nicht kapiert hat, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt. Und nach dem heutigen Tag habe ich geglaubt, dass du etwas für mich empfindest!» Zu tiefst enttäuscht und tief in der Seele verletzt, rannte sie einfach davon und verschwand in der Dunkelheit. Yannik blieb ganz verdutzt zurück. «Vanessa, warte! Du hast da was falsch verstanden!» Er sputete hinter ihr her. Doch die Türe ihres Bungalows hatte sich bereits hinter ihr geschlossen.

Es war schon lange nach Mitternacht. In den drei Ferienhäuschen war es ruhig, denn die anderen schliefen alle schon. Vanessa schlurfte ins Bad, zog ihre kurze Pyjamahose und das alte verwaschene T-Shirt an, putze sich die Zähne und schlich dann leise in das Mädchenzimmer zu ihrem Bett. Julia und Rebecca schliefen friedlich. Vanessa kuschelte sich unter die leichte Decke und versuchte, einzuschlafen. Sie war aufgewühlt und völlig durcheinander und drehte sich von der einen Seite auf die andere und wieder zurück. Irgendwann schlummerte sich dann doch noch ein.

Yannik schlüpfte ebenfalls unter die Decke. Das Bett von Mario war noch unbenutzt und leer. Ich muss morgen unbedingt mit Vanessa reden und mich bei ihr entschuldigen, nahm er sich vor, bevor er einschlief.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden erwachte Vanessa, weil sie Durst hatte und es in ihrem Zimmer so stickig und warm war. Sie tappte im Halbschlaf in die Küche, trank ein Glas Wasser und legte sich dann einfach auf die Hollywoodschaukel draussen auf der Veranda, weil diese am nächsten war. Und schlief sofort wieder ein.

Gegen 5.00 Uhr plagte Yannik die volle Blase. Es war einfach viel zu warm im Zimmer, welches im Erdgeschoss lag. Er konnte hier nicht weiterschlafen und setzte sich auf. Mario lag im Bett gegenüber und kuschelte mit der Decke, als ob er eine Frau im Arm hätte. Ein seliges Lächeln lag auf seinen Lippen. Mein Kumpel träumt jetzt ganz bestimmt von dieser Katrin, dachte Yannik grinsend. Der muss irgendwann in den frühen Morgenstunden nach Hause gekommen sein. Gehört habe ich ihn jedenfalls nicht. Nachdem Yannik auf der Toilette war, ging er barfuss, nur mit einer kurzen Turnhose und einem alten T-Shirt bekleidet durchs Wohnzimmer. Ich werde mich auf die Hollywoodschaukel legen, dort ist es vielleicht etwas kühler. Leider war diese schon besetzt. Vanessas T-Shirt war hochgerutscht und hatte ihren flachen Bauch und ihren Bauchnabel entblösst. Warum schläft sie hier? Er betrachtete sie einen Moment und empfand plötzlich ganz unbekannte, zärtliche Gefühle für sie. Vanessa, es tut mir so leid wegen heute Nacht. Ich werde dir morgen alles erklären. Ganz sicher! Yannik konnte einfach nicht anders. Zart wie der Flügel eines Schmetterlings fuhr er mit seiner Hand über ihre Wange und legte eine wilde Locke hinter ihr Ohr. Sie wachte davon nicht auf. Yannik zog weiter in den Garten, packte einen zum Trocknen aufgehängten Badelaken von der Wäscheleine, machte es sich auf einem Liegestuhl bequem und deckte sich mit dem Badetuch zu. Sofort schlummerte er wieder ein.

Kapitel 3

Stefan Frei war ein Frühaufsteher und die frühen Morgenstunden seine bevorzugte Zeit. Dann las er jeweils die Zeitung oder ein paar Seiten eines Buches und begann so in aller Ruhe seinen Tag. Genau wie heute, obwohl er eigentlich Urlaub hatte. Ganz leise war er aufgestanden, um Sabrina nicht zu wecken, hatte seinen Krimi gepackt, die Veranda betreten und fand Vanessa schlafend auf der Hollywoodschaukel vor. Irritiert runzelte er seine Stirn. Die Sonne ging eben erst auf, und es war noch angenehm kühl. Dann entdeckte er auch noch seinen Sohn, in ein Badetuch eingewickelt, friedlich schlummernd auf einem Liegestuhl. Stefan schüttelte erstaunt den Kopf. Gestern war irgendwie ein ganz spezieller Tag. Zwischen Vanessa und Yannik scheint sich etwas verändert zu haben. Mir ist zum ersten Mal aufgefallen, dass die beiden nicht mehr so unbeschwert und verspielt miteinander umgehen, so wie früher als Kinder. Da bahnt sich doch was an! Beide sind fast erwachsen. Partnerschaft, Liebe und Sexualität sind jetzt wichtige und aktuelle Themen für die zwei. Aber warum schlafen die beiden hier draussen?

Später sassen dann alle drei Familien zusammen beim Frühstück. Luca trank einen Schluck Kaffee. «Heute ist der 1. August, unser Schweizer Nationalfeiertag. Was wollen wir unternehmen?», fragte er in die Runde. «Papi, du hast etwas von einem Aqua-Park erwähnt, den es hier in der Nähe geben soll. Gehen wir dort hin?», bettelte Rebecca. «Ja, warum nicht. Wer kommt mit?» «Ich bin am Strand verabredet», meldete sich Mario mit einem geheimnisvollen Lächeln. Vanessa wandte sich an ihre Mutter. «Und ich möchte in den botanischen Garten gehen. Mama, begleitest du mich?» «Ja, sehr gerne», antwortete sie lächelnd und bemerkte gerade noch, wie ein Schatten über Yanniks enttäuschtes Gesicht huschte. Alle andern begeisterten sich für den Aqua-Park, nur Yannik nicht. Der hatte anscheinend keine Lust und war unschlüssig. «Hey grosser Bruder, du musst mitkommen. Ich will mit dir auf die Wasser-Rutschbahnen», verlangte Adrian bittend. Dann rede ich heute Nachmittag mit Vanessa. Was soll ich hier rumhängen, wenn sie gar nicht da ist. «Also gut, ich komme auch mit.» «Juhuu», jubelten die jüngeren Kinder. «Mario, könntest du kurz ausfindig machen, wie wir zu diesem Park kommen», bat Mona ihren Sohn. Dieser zückte sein Handy und begann zu googlen. Einen Moment später informierte er, dass ein Bus dorthin fahre. «Dieser geht jede halbe Stunde und die Haltestelle ist oben an der Strasse.» Dann herrschte plötzlich hektische Aufbruchsstimmung. Der Frühstückstisch wurde abgeräumt, das Geschirr abgewaschen, die Zähne geputzt und die Badetaschen gepackt. Mario war bald am Strand verschwunden, die Aqua-Pärkler mit den Autos abgefahren und Vanessa und ihre Mutter auf dem Weg zur Bushaltestelle.

***

«Mama, schau mal. Diese Seerosen sind toll. So grosse Blätter habe ich noch nie gesehen.» Vanessa liebte die Natur, mit all ihren verschiedenen Formen und Farben. In ein paar Tagen begann sie ihre Berufslehre als Floristin. Mona hatte ihre Kamera dabei und machte Fotos. Sie betrieb zu Hause ein kleines Fotostudio und arbeitete vor allem als Hochzeitsfotografin. Mutter und Tochter schlenderten weiter durch den angenehm kühlen botanischen Garten und entdeckten noch mehr Teiche, exotische Blumen und Vögel, Bäume und Sträucher. Vogelgezwitscher war zu hören. Ein Eichhörnchen hüpfte über die Wiese, kletterte geschwind einen Baumstamm hinauf und verschwand in der Baumkrone. Auf einer entfernten Mauer sass ein verliebtes Pärchen und küsste sich engumschlungen. Vanessa fühlte einen heftigen Stich in ihrem Herzen. Neidisch sah sie weg. Dies erinnerte sie wieder an den Grund, warum sie eigentlich ihre Mutter gebeten hatte, in diesen Park mitzukommen. Sie setzten sich im Schatten eines Baumes auf eine Parkbank. Mona holte zwei Flaschen Wasser und Kekse aus ihrer Tasche. «Mama, darf ich dich etwas fragen?» Mona nickte. «Ja klar, schiess los.» Vanessa holte tief Luft. «Wann hast du angefangen, dich für Jungs zu interessieren?», platzte sie verlegen heraus. Ihre Mutter legte die Stirn in Falten und überlegte angestrengt. «Puh, ich glaube, das war in der ersten Klasse der Sekundarschule, da war ich dreizehn. Ich habe einen Klassenkameraden angehimmelt und er mich. Irgendwann fragte er mich, ob ich mit ihm gehen wolle. Wir haben Händchen gehalten, ein bisschen rumgeschmust und uns auch geküsst. Aber diese Küsse waren unschuldig, unerfahren, feucht und nicht wirklich schön. Gefühlsmässig hatten sie nichts zu bedeuten.» Mona schmunzelte ihre Tochter an, die geekelt das Gesicht verzog. «Und die Jungs haben dich ernst und vor allem auch wahrgenommen?», hakte Vanessa nach. «Weisst du, ich war eine von der schlimmeren Sorte», plauderte ihre Mutter aus dem Nähkästchen. «Die Schule war nur ein notwendiges Übel, die Jungs und der Ausgang waren mir viel wichtiger. Ich war körperlich früh entwickelt und bekam meine erste Regel schon mit zwölf. Meine Jeans trug ich immer hauteng, die Röckchen relativ kurz und ohne geschminkte Augen ging ich nie aus dem Haus. So sah ich immer etwas älter aus, als ich wirklich war. Die meisten Jungs wollten mit mir gehen.»

Vor lauter Staunen brachte Vanessa ihren Mund nicht mehr zu, und ihre Augen wurden immer grösser. Diese beschriebene Person in der Geschichte passte so gar nicht mit ihrer heutigen Mutter überein. «Du hast jetzt alles erfunden, oder?» «Nein, ganz und gar nicht. Weisst du, ich fand es toll, von den Jungs angehimmelt zu werden. Es gab mir irgendwie das Gefühl, erwachsen zu sein.»

Vanessa trank nachdenklich einen Schluck Wasser und biss in einen Keks. «Und dann?» «Nach der obligatorischen Schulzeit machte ich meine dreijährige kaufmännische Ausbildung bei einer Autogarage. Zur gleichen Zeit gab es dort einen Automechaniker-Lehrling. Er hiess Fabian, und immer wieder liefen wir uns im Geschäft über den Weg. Nach ein paar Wochen bat er mich um ein Date und wir gingen aus. Dem folgten noch weitere und irgendwann verliebten wir uns ineinander. Nach einem Betriebsfest passierte es dann und wir wurden intim. Wir waren beide so um die siebzehn.» Mona beobachtete lächelnd das ungläubige Gesicht ihrer Tochter. «Und wie war’s?» «Eine Katastrophe und völlig frustrierend. Wir waren sehr aufgeregt und völlig verkrampft, obwohl wir beide keine Jungfrauen mehr waren und schon sexuelle Erfahrungen gemacht hatten», berichtete Mona bereitwillig. «Kurz darauf trennten wir uns dann. Die Lehrzeit war vorbei, das Diplom und das Abschlusszeugnis in der Tasche. Fabian musste in die Rekrutenschule, und ich hatte keine Lust, siebzehn Wochen auf ihn zu warten.»

Auch Mona trank einen Schluck Wasser und ass ihren Keks fertig. Sie schlug ihr rechtes Bein über das linke Knie. Dann fuhr sie fort. «Nach meiner Lehrzeit verliess ich meine Eltern und meine Schwester und zog von zu Hause weg nach Zürich. Ich wollte Flight Attendant werden und die entsprechende Ausbildung bei der Swissair absolvieren. Nach gut einem Jahr flog ich dann in alle Länder Europas. Mit zweiundzwanzig kam ich in eine festbestehende Flug-Crew und war mit Abstand die Jüngste und Unerfahrenste. Zum ersten Mal in meinem Leben musste ich dafür kämpfen, um ernst genommen und anerkannt zu werden. Und man machte es mir ganz und gar nicht einfach. Mir machte die Arbeit aber Spass, denn ich lernte Menschen, Sprachen und die Länder von Europa kennen.»

«Zu unserem Team zählten nebst dem Chef de Cabine, den anderen Flugbegleiterinnen auch der Kapitän und ein gutaussehender Co-Pilot mit blaugrünen Augen. Dieser war schlank, mittelgross und dunkelblond. Am Anfang fiel mir Christian Iten gar nicht so auf. Nach einem Flug nach Moskau erlitt unser Flieger bei der Landung einen Motorschaden. Wir mussten oder durften drei Tage in dieser Stadt bleiben, bis die Maschine wieder repariert war. Bei der Stadtbesichtigung lernten Christian und ich uns dann besser kennen. Und irgendwann passierte es dann, wir verliebten uns und wurden ein Liebespaar. Nach ein paar Monaten wurde ich schwanger, … mit Mario.» Vanessa sah ihre Mutter verständnislos an. «Aber, aber …», stammelte sie. «Ist den Papa Tobias nicht unser Vater?» «Er hat euch später adoptiert.» Vanessa war total verwirrt.

«Möchtest du den Rest der Geschichte auch noch hören?», fragte Mona aufgewühlt und legte einen Arm um ihre Tochter. Mist, aber bis heute gab es leider nie den richtigen Augenblick, um Vanessa auf diese Hiobsbotschaft vorzubereiten. Diese nickte verstört und setzte die Wasserflasche an ihre Lippen. «Christian und ich heirateten dann. Mario wurde geboren und später kamst du noch dazu. Ich hatte in der Zwischenzeit die Fliegerei aufgegeben und war nur noch Hausfrau und für die Familie da. Unser Glück schien perfekt. Christian war nicht so selbstbewusst, eher introvertiert und ein ruhiger Typ. Jeden Tag schluckte er eine rosarote Kapsel. Er habe einen Vitaminmangel, erklärte er, als ich ihn mal danach fragte. Und immer, wenn er dieses Doping geschluckt hatte, blühte er auf, wurde nett und zuvorkommend und viel konzentrierter. Manchmal, wenn es nicht nach seinem Kopf ging, auch sehr aufbrausend. Am Anfang kümmerte er sich sehr liebevoll um uns. Er spielte und malte mit euch Kindern, und wir unternahmen manchmal etwas als Familie, wenn er nicht fliegen musste.»

Mona steckte sich ein Stück Keks in den Mund. Als sie es heruntergeschluckt hatte, fuhr sie fort. «Dann begann er seine Weiterbildung zum Langstreckenpilot. Mario war gut drei und du zwei. Die Theorie, die praktische Ausbildung und die Übungsflüge im Flugsimulator sind sehr streng und anspruchsvoll. Und die Flüge nach Übersee, Australien, Asien oder Nahost dauern um Stunden länger. Christian war jetzt immer mehrere Tage weg. Er begann sich im Wesen und im Verhalten zu verändern. Zwischen den Flügen wurde sein Aufenthalt zu Hause immer kürzer. Wenn er zu Hause war, lümmelte er faul in der Wohnung herum und kümmerte sich kaum noch um euch beide. Wenn wir mit ihm reden oder etwas fragen wollten, schnauzte er uns an. Ich wurde zur Hausfrau, Kinderbetreuerin, Köchin und Wäscherin mutiert. Zwischenmenschlich, in unserer Beziehung oder im Bett lief gar nichts mehr. Seine Schmutzwäsche lieferte er natürlich immer prompt ab. Eines Tages entdeckte ich Lippenstiftspuren am Kragen seines Pilotenhemdes. Und es roch nach einem fremden Parfum. Dann wurde mir klar, dass Christian fremdging und mich betrog. Er beachtete uns kaum noch. Meine ganze Welt brach zusammen. Ich fühlte mich vernachlässigt. Lange Zeit traute ich mich nicht, ihn darauf anzusprechen. Dann kam dieser unvergessliche Freitag im April vor dreizehn Jahren. Ich hatte von seinem Verhalten uns gegenüber mehr als genug. Christian hatte einen Flug nach Singapur. Kurz bevor er ging, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und fragte ihn direkt ins Gesicht, ob er eine Geliebte habe. Ich kann halt nichts dafür, dass ich so gut aussehe und die Flugbegleiterinnen nur so auf mich fliegen, hat er mich hämisch angeschnauzt. Und wo ist unsere Liebe, unsere Beziehung und unsere Familie geblieben, habe ich ihn verzweifelt gefragt. Du bist halt nicht mehr die Jüngste. Doch als Hausfrau und Wäscherin taugst du noch allemal, erwiderte er wütend.» «Wie alt warst du da?», fragte Vanessa dazwischen, sichtlich geschockt. «Noch nicht ganz dreissig. Dann verpatzte er mir eine schallende Ohrfeige, packte seinen Koffer und verliess mit Stolz erhobenem Haupt und ohne sich zu verabschieden die Wohnung. Meine Wange schwoll an und ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Jetzt hatte ich endgültig die Schnauze voll, das Fass war überlaufen. Ich musste unbedingt mit euch Kindern aus dieser Wohnung raus und von dieser Umgebung weg.»

«Was hast du dann unternommen?», interessierte es Vanessa jetzt brennend. «Ich habe meine Schwester, deine Tante Sarah, angerufen, ihr ungefähr die Sachlage erklärt und sie gebeten, uns zu helfen, eine Zwischenbleibe in Luzern zu finden. Das war der Freitag nach deinem dritten Geburtstag, kurz vor dem Umbau des NähBastelino-Ladens. Noch am gleichen Abend zogen wir in einer Nacht- und Nebelaktion von Glattbrugg nach Kriens und nahmen fast den halben Haushalt mit. Luca hatte Stefans Firmenlieferwagen organisiert. Bei diesem Umzug war nebst Sarah und Luca auch Papa Tobias mit dabei. Damals kannte ich beide Männer noch nicht. Da ich damals mit Sarah keinen engen Kontakt pflegte, wusste ich nicht, dass sie seit zwei Monaten mit Luca zusammen war. Ich sah zum Fürchten aus, vom Weinen verquollene Augen, eine ziemlich geschwollene Wange und gefühlsmässig total durch den Wind. Tobias mutierte sich von Anfang an zu unserem Beschützer. Damals hatte ich noch einen kleinen schwarzen Mini, wo ihr beide hinten in euren Kindersitzen gerade so Platz hattet. Tobias fand dann, in meinem aufgewühlten Zustand solle ich besser nicht Autofahren und setzte sich hinters Steuer. So konnte ich meine Wange mit Eis kühlen. Auf dem Weg in die Innerschweiz haben wir uns dann unterhalten und uns etwas besser kennengelernt.»

«Und, hast du dich dann in ihn verliebt?» Vanessa sah ihre Mutter erwartungsvoll an. Diese lachte verschmitzt. «Nein, noch lange nicht. Luca überliess uns dann seine Wohnung und zog ganz zu Sarah in die Münzgasse. Und wir richteten uns in Kriens ein und nahmen erstmal Tag für Tag. Wohl war mir nicht bei der ganzen Sache, und ich spürte, dass diese Geschichte noch nicht ausgestanden war. Christian würde unser Weggehen nicht einfach so akzeptieren und hinnehmen. Am Sonntag nach unserem Wegzug aus Glattbrugg trafen wir nebst Sarah und Luca, auch zum ersten Mal die Familie Frei auf einem Spielplatz.»

Vanessas Augen begannen zu leuchten. Jetzt betraten Personen die Bühne, die sie ebenfalls kannte und ihr vertraut waren. «Mario und du, ihr wart sehr schüchtern und zurückhaltend. Lea und Yannik kamen auf euch zu und fragten, ob ihr mit auf die Rutschbahn kommen würdet. Lea war damals sechs und Yannik wurde im Sommer fünf. Das Eis war gebrochen und ihr habt den ganzen Nachmittag zusammengespielt.» Mona hatte das plötzliche Aufleuchten in Vanessas Augen gesehen, als sie Yanniks Namen erwähnte. Also doch, ich habe es mir doch gleich gedacht. Diese beiden empfinden mehr für einander, als sie sich bewusst sind.

«In der darauffolgenden Woche wurde der kleine Näh- und Bastelladen umgebaut und am Samstag feierlich wiedereröffnet. Ich war als Fotografin verpflichtet worden und hielt diesen Anlass in Bildern fest. Für die kleinen Gäste hatte man eine Kinderecke eingerichtet, wo ihr den ganzen Tag gemalt und gespielt habt. Das ganze NähBastelino-Team war im Einsatz, sei es im Verkauf, in der Beratung, am Grill, an der Kasse, beim Ballonstand oder bei der Herausgabe von Getränken. Tobias betreute an diesem Tag den Kaffeewagen zusammen mit Felix Glaser, der bei der Luzerner Polizei arbeitet. An diesem Samstag hatte er dienstfrei.»

Mona nahm einen grossen Schluck Wasser und stellte ihre Beine wieder nebeneinander. «Ich hatte soeben die malenden und lachenden Kinder geknipst, als Tobias mit einem leeren Wassertank in den Laden kam und ihn in der Küchenecke wieder auffüllte. Du bist dann aufgestanden, zu ihm rüber gewatschelt und hast ihm am Hosenbein gezupft. Du wolltest ihm deine Zeichnung zeigen. Er blickte über seine Schulter, kniete sich zu dir runter auf den Boden und winkelte das eine Knie an. Und dann bist du, wie ganz selbstverständlich, auf sein Knie geklettert und hast ihm erklärt, was es alles auf deinem Blatt Papier zu sehen gibt. Reden konntest du zwar noch nicht vollständig, und er hat, glaube ich, auch nicht alles verstanden. Doch Tobias hat dich festgehalten, damit du nicht runterfällst. Ihr zwei habt euch unterhalten, als würdet Ihr euch schon lange kennen. Er strich dir dann ganz liebevoll über dein blondgelocktes Haar. Du warst eigentlich die erste von uns dreien, die sein Herz im Sturm erobert hat. Ab diesem Zeitpunkt war er sehr vernarrt in dich und sehr glücklich, dass du Vertrauen zu ihm gefasst hast. Ich stand da hinter dem Regal und freute mich riesig über diese wunderschöne Episode.» Vanessa hatte ihr ganz verträumt zugehört. Doch sie konnte sich natürlich nicht mehr daran erinnern. Sie war halt noch viel zu klein gewesen. «Irgendwie muss Tobias etwas gespürt und sich beobachtet gefühlt haben. Er sah jedenfalls auf und direkt in meine Augen. Wir lächelten uns an.» «Aha!» «Was aha?» «Jetzt hat es aber gefunkt?» «Bei ihm vielleicht schon. Ich weiss es nicht. Bei mir war’s eher ein Funke von Interesse, Sympathie, Vertrauen und Dankbarkeit.» Mona schmunzelte. Vanessa hing richtig an ihren Lippen. Jetzt wurde es schliesslich spannend.

«Dann war dieser wunderschöne, magische Moment abrupt vorbei.» Vanessas Augen wurden gross vor Schreck. «Plötzlich tauchte ein aufgebrachter, dunkelblonder Mann hinter dem Regal auf, packte mich grob und nahm mich in den Schwitzkasten. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weisses, schmuddeliges Hemd, den obersten Knopf offen und die Krawatte lose um den Hals. Auf dem Ärmel waren drei goldene Streifen.» Vanessa schnappte nach Luft. «Christian?», flüsterte sie entsetzt. Ihre Mutter nickte. «Der hat dich wirklich als Geisel genommen?», fragte Ihre Tochter ungläubig. «Ja. Er schrie mich wütend an, nannte mich ein verdammtes Luder, und ich könne nicht einfach über Nacht abhauen und mich einem anderen Mann an den Hals werfen, während er für seine Familie ackere.» «Was? Hallo!?! Er ist doch fremdgegangen», ereiferte sich Vanessa aufgebracht. «Eben. Tobias war dann zu Tode erschrocken, stand abrupt auf und vergass, dass du noch auf seinem Knie gesessen hattest. Das alles hat dich so erschreckt, dass du angefangen hast, zu weinen. Papa nahm dich dann auf den Arm und du hast dich ängstlich an seinem Hals festgehalten. Christian schrie nun auch Tobias böse an, er solle gefälligst seine Tochter runterlassen. Und dir hat er befohlen, sofort zu ihm zu kommen. Doch du hattest dermassen Angst, dass du dich nur noch fester an Papa festgeklammert hast. Ich bat dann Christian, mich los zu lassen, denn ich bekam kaum noch Luft. Doch dieser drückte in seiner Wut nur noch fester zu. Auch Mario fürchtete sich grausam vor diesem bösen Mann und flüchtete in die Arme von Sabrina, während Lea und Yannik bei Sarah Zuflucht suchten.» Vanessa hatte einen Kloss im Hals und versuchte, diesen runterzuschlucken. Das war ja der reinste Horror!

«Tobias erwachte aus seiner Schockstarre und schlug bei Luca Alarm, welcher sofort nach draussen zu Felix düste. Dieser forderte mit der Notfallnummer auf seinem Handy polizeiliche Verstärkung an. Felix kam dann in den Laden rein, um zu vermitteln. Weil er nicht im Dienst war, durfte er Christian nicht festnehmen. Ich kämpfte weiterhin um mein Leben. Nach einer gefühlten Ewigkeit pirschten dann zwei Luzerner Polizisten in Uniform von zwei Seiten an Christian ran. Zu dritt überwältigten sie ihn im Überraschungseffekt. Ich wurde auf den Boden geworfen und hechelte verzweifelt und völlig erschöpft nach Luft. Dabei fiel meine Fotokamera auf den Boden. Mario kam weinend angelaufen und kuschelte sich ängstlich in meine Arme. In der Zwischenzeit hatten die Uniformierten Christians Arme auf dem Rücken gekreuzt und die Hände in Handschellen gelegt. Der eine Polizist fragte ihn dann seelenruhig, ob der schwarze BMW mit dem Zürcher Autokennzeichen, der draussen im Halteverbot stehe, sein Auto sei? Dieses Vergehen bräche ihm eine satte Busse ein. Christian funkelte ihn nur wütend an und gab keine Antwort. Und der andere Uniformierte verkündete streng, dass sie ihn, infolge versuchter Tötung, festnehmen würden. Dann führten die Polizisten ihn ab und brachten ihn auf den Polizeiposten.» Mutter und Tochter stopften den letzten Bissen Keks in den Mund.

«Tobias brachte mich dann in die Notaufnahme des Spitals. Ich war immer noch im Schockzustand. Der diensthabende Arzt gab mir ein