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"Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne." Das hatte meine Großmutter mir mal erklärt. Damals habe ich nicht verstanden, was sie damit meinte, und heute war ich immer noch nicht schlauer. Denn jetzt steckte ich mittendrin in einem Anfang - aber von zauberhaft konnte keine Rede sein. Ausgerechnet Eliza soll die magische Schneekugel der Elfen finden. Wenn die wenigsten nett wären. Aber nein - Elfen sind eingebildet, arrogant und bockig (einer jedenfalls). Im Grunde konnte das alles nur ein schlechter Scherz sein. Eliza ist nämlich die Letzte, die sich in ein Abenteuer stürzen würde. Aber die Elfen lassen einfach nicht locken und so bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich auf die Suche zu machen und die ist ganz und gar nicht zauberhaft. Aber der Welt der Elfen kann man als gewöhnlicher Mensch leider nicht widerstehen. Lasst Euch verzaubern von der Geschichte, die Eliza nach Leylin, der Stadt der Elfen entführt und taucht ein, in eine magische Welt von Leylin und Avallach, die vielleicht nur einen Steinwurf von uns entfernt liegt.
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Titelseite
Über die Autorin
Vorwort
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Nachwort
Die Figuren in Band 1
FederLeicht 2
Leseprobe
FederLeicht
Wie fallender Schnee
Erstes Buch
Deutsche Erstausgabe Mai 2015
Überarbeitete Ausgabe: Mai 2018
Copyright © Marah Woolf, Magdeburg
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins
Lektorat: Nikola Hotel
Korrektorat: Gisa Marehn
Alle Rechte, einschließlich die des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
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Marah Woolf wurde 1971 in Sachsen-Anhalt geboren, wo sie auch heute noch mit ihrem Mann, ihren drei Kindern, einer Zwergbartagame, zwei Hasen und Kater Popcorn lebt. Sie studierte Geschichte und Politik und erfüllte sich mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans 2011 einen großen Traum. Mittlerweile sind die MondLichtSaga, die BookLessSaga, die FederLeichtSaga sowie die GötterFunkeSaga vollständig erschienen. Im Herbst 2018 beginnt mit Rückkehr der Engel ein neues Fantasyabenteuer.
Schnee sinkt zur Erde federleicht,
ein Ort durch die Kugel dem anderen weicht.
Uhr, die Zeit verstummen lässt,
Vergangenes – es wird um Fest.
Flöte jeden Wunsch erfüllt,
Unglück sich in Schweigen hüllt.
Spiegel nichts vor dir verbirgt,
Lüge keinen Zauber wirkt.
Zauberkraft in der Feder sitzt,
nützt nur dem, der sie besitzt.
Ring dich jederzeit versteckt,
bestimme selbst, wer dich entdeckt.
Schlüssel immer dich beschützt,
wenn vorsichtig du ihn benützt.
Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, mich nicht mehr in die Angelegenheiten der Elfen einzumischen. Sie waren arrogant und unfreundlich, und wir Trolle zogen fast immer den Kürzeren, wenn wir uns mit ihnen einließen.
Aber hatte ich überhaupt eine Wahl? Da schaukelte ich einmal faul auf einem Ast, und plötzlich stolperte diese dumme Göre in meine Welt. Ich dachte, ich gucke nicht richtig. Menschen hatte ich schon ewig nicht gesehen. Na ja, das war übertrieben – nicht seit sie uns beim letzten Mal so einen Schlamassel eingebrockt hatten.
Dass jetzt wieder ein Mädchen von der anderen Seite auftauchte, konnte nur Larimars Werk sein, und ich fragte mich, was sie im Schilde führte. Sie konnte doch nicht wirklich glauben, dass ausgerechnet diese dünne Bohnenstange ihr aus der Patsche helfen würde. Ich meine, wer stolperte schon durch ein Elfentor?
Andererseits war Larimar nicht dumm, im Gegensatz zu dem Mädchen, das ganz sicher keine Ahnung hatte, in was für eine Geschichte sie gerade hineingeraten war.
Die Kleine wäre Larimar niemals gewachsen. Wenn sie den Hauch einer Chance haben wollte, dann würde ich ihr helfen müssen. Schließlich ging es nicht nur um die Elfen, sondern um … ja, es ging um die magische Welt. Mal wieder. Das war so nervig, hörte das eigentlich nie auf?
Mit quietschenden Reifen bog ich in die Einfahrt. Dem Lieferwagen, der die Blumen für das Café meiner Mutter brachte, konnte ich mit meinem Rad gerade noch ausweichen.
Im Gegensatz zu mir liebte meine Mutter Blumen. Blumen und Bücher (vor allem alte Bücher – die, die so merkwürdig rochen). Deshalb hatte sie dieses Café eröffnet: »Books & Flowers«, und damit meinen Zwillingsbruder Fynn und mich in das wohl langweiligste Dorf Schottlands, in der Nähe von St Andrews, verbannt.
Heute würden die Blumen warten müssen. Unauffällig schob ich mein Fahrrad zum Schuppen und schlich ins Haus. Wenn Mutter mich erwischte, würde sie mir wieder irgendeinen Sklavendienst aufbrummen. Minuten später beobachtete ich vom Dachfenster aus, wie sie wütend ihre nach allen Seiten abstehenden kurzen feuerroten Locken schüttelte und immer wieder meinen Namen rief. Ich biss in den Blaubeermuffin, den ich mir in der Küche gemopst hatte, und grinste. Hier oben würde sie mich niemals finden. Mutter ekelte sich vor den Spinnen, von denen es auf dem Dachboden nur so wimmelte. Mir war das egal, denn es war der einzige Ort, an dem ich in diesem Irrenhaus ungestört war.
Jetzt schimpfte sie leise vor sich hin. »Eliza McBrierty!«, kreischte sie meinen Namen, bevor sie verschwand.
Das Café, das sie in dem in die Jahre gekommenen Wintergarten unseres Hauses betrieb, war brechend voll, das würde sie hoffentlich eine Weile von mir ablenken. Ich steckte mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren und sah zu dem Wäldchen hinüber, das den Friedhof mit den uralten, verwitterten Grabsteinen säumte. Die Blätter der alten Birken und Linden bewegten sich kaum. Ob ich es wagen sollte? Allein? Was konnte schon passieren? Schließlich war es nur ein Traum gewesen, versuchte ich mir einzureden. Alles würde sein wie immer.
Als der letzte Ton meiner Playlist verklungen war, sprang ich auf die warmen Dielen und schob meinen iPod in die Hosentasche meiner Jeans. Winzige Staubkörnchen flirrten in den Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Dachluken bahnten. Vorsichtig stieg ich die Treppe hinunter und entlockte ihr ein verärgertes Knarren.
Socke maunzte, um Aufmerksamkeit heischend, um meine Füße. Mutter hasste es, wenn mein Kater im Haus war. Sie war nicht begeistert gewesen, als ich das mutterlose und völlig verdreckte Tier angeschleppt hatte. Jetzt hing das Kerlchen an mir wie eine Klette, die man abzupft, aber in der nächsten Sekunde wieder irgendwo kleben hat.
Ich nahm Socke auf den Arm. Er schmiegte sich an mich und begann, mit der Kette zu spielen, die an meinem Hals baumelte. Nur halbherzig versuchte ich, ihn daran zu hindern. Ich lugte ins Wohnzimmer und sah, dass Großmutter in ihrem Lieblingssessel eingeschlummert war. An der Haustür angekommen, flüsterte ich: »Wir müssen vorsichtig sein, Söckchen, sonst hört Mutter uns. Dann ist es vorbei mit dem Ausflug.«
Wir liefen durch den Gemüsegarten und steuerten die winzige Tür in der Mauer an, die zum Waldrand führte. Die Nadeln, Steinchen und vertrockneten Blätter stachen durch die dünnen Sohlen meiner Flipflops.
»Du darfst nur mitkommen, wenn ich dich nicht tragen muss.« Streng sah ich Socke an und setzte ihn auf den Boden.
Sein Miauen klang wie eine Antwort. Ich lächelte und ging den schmalen Waldweg entlang.
Die Sonnenstrahlen, die sich durch die Bäume kämpften, setzten funkelnde Lichter in die Blätter. Inmitten dieses Gewirrs aus Bäumen, Farnen und Heidelbeersträuchern befand sich ein Platz, den ich noch mehr liebte als unseren Dachboden. Es war ein verwunschener Ort, an dem ich meinen Tagträumen freien Lauf lassen konnte. Normalerweise jedenfalls. Jetzt war ich schon seit Tagen nicht mehr dort gewesen. Genau genommen, seit diese Träume angefangen hatten. Jetzt fürchtete ich mich fast vor dem Ort, der so lange eine sichere Zuflucht für mich gewesen war. Ich wusste, dass es Unsinn war. Ein Traum war ein Traum, und Wirklichkeit war Wirklichkeit. Ich konnte nicht erklären, warum mich diese Träume so durcheinanderbrachten. Schließlich war ein Tor an sich nicht besonders bedrohlich. Aber dieses schon – denn es rief mich. Und mal ehrlich, wer träumt schon Nacht für Nacht denselben Traum?
Wenn ich der Sache ein Ende machen wollte, musste ich zu der Lichtung gehen und nachschauen, ob das Tor dort existierte oder nicht. Allein dass ich darüber nachdachte, war schon idiotisch. Aber ich war verzweifelt, da waren idiotische Dinge bestimmt erlaubt. Ich würde hingehen und mich überzeugen, dass es NICHT dort war.
Ich hatte im Internet recherchiert, was es bedeutete, wenn man von einem Tor träumte. Es kündigte eine Veränderung an. Die Erfüllung von Sehnsüchten und höheren Zielen. Damit war ja eigentlich alles klar. Ich hatte mich in diese Frazersache zu sehr hineingesteigert, und jetzt verfolgte sie mich bis in meine Träume. Ich war nämlich seit Ewigkeiten in Frazer Wildgoose verknallt, und nun hatte ich den Salat. Laut dieser ominösen Traumdeuterseite musste ich nur durch das Tor gehen, um in eine neue Lebensphase einzutreten (mit Frazer selbstverständlich). Aber bitte, wer glaubte denn so was?
Behutsam tastete ich mich die jahrhundertealten, glatt gewaschenen Stufen hinunter, die mitten im Wald auf die Lichtung führten. Ein Bach bahnte sich seinen Weg durch die Schlucht. Die Blätter der Bäume raschelten, als ich sie im Vorbeigehen streifte. Gelbe und blaue Blütenköpfe reckten sich aus dem Gras. An den Büschen, die den Rand des Baches säumten, hingen selbst gebastelte Schmetterlinge und andere Glücksbringer. Die meisten waren verblichen und alt. Generationen von Kindern hatten sie an die Äste gehängt und wen auch immer um die Erfüllung ihrer Wünsche gebeten. Granny hatte mir davon erzählt, als sie mich das erste Mal hergebracht hatte. Ich war so unglücklich gewesen, nachdem wir zu ihr ins Haus gezogen waren, und ich hatte meinen Dad vermisst, der archäologische Ausgrabungen in aller Herren Länder leitete. Grannys Geschichten hatten es geschafft, mich aufzumuntern.
Ich liebte es, die bunten Dinger im Wind schaukeln zu sehen oder in die Baumkronen zu starren, bis mir die Augen zufielen. Ich liebte es, wenn im Frühling die Schneeglöckchen mit ihren zarten Blüten den Boden bedeckten und im Herbst rote und gelbe Blätter durch die Luft wirbelten. Selbst im Winter kam ich manchmal her und beobachtete das Wasser des Baches, das sich von der Kälte nicht bändigen ließ, während alles um ihn herum in Winterschlaf gefallen war.
Angeblich hatten die Pikten hier Fruchtbarkeitsrituale abgehalten. In den Felsen, die die Lichtung umgaben, konnte man noch ihre eingemeißelten Zeichen erkennen. In dem in Stein gehauenen Becken am oberen Rand der Schlucht, in dem jetzt Regenwasser stand, hatten sie ihrer Göttin Opfer dargebracht, hieß es. Als meine Großmutter mir diesen Ort das erste Mal zeigte, hatte ich Gänsehaut bekommen. Doch das war lange her, und mittlerweile glaubte ich nicht mehr an Märchen und eigentlich auch nicht an Träume.
Mein Handy klingelte in der Stille so laut, dass ich zusammenschrak: »Hhm?«
»Wir müssen reden«, bestimmte meine beste Freundin Sky. »Wo bist du?«
»Auf der Lichtung«, flüsterte ich und sah mich um. Mit ihr am Telefon fühlte ich mich gleich besser.
»Auf der Lichtung?«, hakte sie nach. »Allein?«
Selbstverständlich kannte sie meine Träume.
»Söckchen ist bei mir.«
Sie lachte. »Der wird dir eine große Hilfe sein.«
Wie immer hatte sie recht. Es gab auf der ganzen Welt keinen ängstlicheren Kater. »Ich konnte schlecht Fynn fragen. Der hätte sich über mich kaputtgelacht und es wahrscheinlich postwendend Grace erzählt.«
»Stimmt. Und? Siehst du was? Warten sie schon auf dich? Huuuuh.«
»Du bist blöd«, sagte ich, musste aber gegen meinen Willen lachen. Ich sah mich um. »Alles wie immer.« Vorsichtig stieg ich über einen umgestürzten Baumstamm.
»Du hast da jetzt nicht wirklich ein Tor erwartet?«
»Öhm. Nö.«
»Sag ehrlich!«
»Nein, natürlich nicht.«
»Dann ist das hoffentlich erledigt. Kommen wir zu einem wichtigeren Thema.«
Ich ahnte das Schlimmste und setzte mich in das saftige grüne Gras.
»Du weißt, was ich immer sage.«
»Männer sind Jäger«, beantworteten wir gleichzeitig ihre rhetorische Frage und fingen an zu kichern.
»Und du weißt, was das bedeutet«, setzte sie in strengem Tonfall hinzu. »Ich habe Frazers Blick heute gesehen.«
»Ich auch.« Unwillkürlich strahlte ich übers ganze Gesicht.
»Bloß weil er dich bemerkt hat, musst du dich ihm nicht gleich vor die Füße werfen«, belehrte sie mich.
Ich schüttelte den Kopf. »Das werde ich nicht. Ich werde unnahbar sein.«
»Genau.«
»Aber er sollte schon merken, dass er mir nicht egal ist.«
Skys aufgebrachtes »Auf gaaaarrr keinen Fall« fuhr durch meinen Schädel. Erschrocken hielt ich das Handy auf Armeslänge von mir weg.
»Er … ist … ein … arroganter … Arsch«, erklärte sie langsamer, als wäre ich nicht ganz dicht.
»Okay.« Es war nichts Neues, dass sie ihn verabscheute.
»Wenn du ihn erobern willst, dann musst du mit ihm spielen. Halt dich von ihm fern, mach ihn eifersüchtig, ignoriere seine Komplimente. Er wird alles tun, um so leicht wie möglich durch den Kurs zu kommen – er wird deine Gutmütigkeit ausnutzen.«
Ich rechnete es Sky hoch an, dass sie davon ausging, Frazer würde mir jemals irgendwelche Komplimente machen. Oder dass ich jemanden finden würde, mit dem ich ihn eifersüchtig machen konnte. Sie war eben eine echte Freundin. Ich schüttelte den Kopf. Ich hätte nichts dagegen, wenn er mich ausnutzen würde, dachte ich. Es wäre mir so was von egal.
Um sie zu beruhigen, sagte ich feierlich: »Ich tue nichts ohne dein Einverständnis.«
»Dann bin ich erleichtert. Gut, dass du so vernünftig bist. Ich muss jetzt zum Klavier. Hab dich lieb.«
»Ich dich auch.« Aber Sky hatte schon aufgelegt.
Was sie wohl in Frazers Blick gelesen hatte? Ich für meinen Teil hatte uns knutschend an der Schulmauer gesehen. Okay, das war vielleicht etwas voreilig. Ich seufzte.
Wenn ich meine Mutter nicht noch mehr verärgern wollte, dann musste ich jetzt los und ihr helfen. Ein ängstliches Miauen hielt mich zurück.
»Söckchen. Wo bist du?« Ungeduldig lief ich auf das verzweifelt klingende Maunzen zu. Was war jetzt wieder los? Gestern hatte er vor einer winzigen Schnecke Reißaus genommen und war den ganzen Tag nicht mehr dazu zu bewegen gewesen, mein Bett zu verlassen.
Ich entdeckte ihn unter einem Busch wilder Rosen. Sein Fell hatte sich in den Dornen verfangen, sodass er sich kaum bewegen konnte. Vorsichtig befreite ich den Kater und nahm ihn auf den Arm. Er beruhigte sich und schmiegte sich an meinen Hals. Das warme Fell kitzelte an der empfindlichen Stelle.
»Jetzt müssen wir aber zurück. Wir werden sowieso schon Ärger bekommen.« Ich wandte mich endgültig zum Gehen, blieb aber wie angewurzelt stehen und keuchte auf. Ungefähr zwei Meter vor mir stand es.
Das Tor.
Es sah genauso aus wie in meinen Träumen. Ich hatte schließlich oft genug Gelegenheit gehabt, es zu betrachten. Ich rieb mir die Augen, aber die Erscheinung verschwand nicht. Verstört wich ich einen Schritt zurück. Das musste eine optische Täuschung sein, eine Fata Morgana. Eine andere Erklärung gab es nicht. Mein Dad hatte mir davon erzählt, offensichtlich aber vergessen zu erwähnen, dass diese auch in schottischen Wäldern vorkamen. Er hatte nur von Wüsten gesprochen. Vielleicht lag es an der heißen Luft, die vor meinen Augen zu flimmern begann. Ich hatte diesen Traum entschieden zu oft geträumt. Ich blinzelte, aber es verschwand nicht.
Misstrauisch beäugte ich es. Es war kein Tor aus Stein, sondern aus Licht. Ob man es berühren konnte? Würde meine Hand einfach hindurchgleiten? Nicht, dass ich Wert darauf legte, es zu probieren. Vielleicht würde gleich ein fremdes Wesen erscheinen. Womöglich ein Alien? Stargate schoss durch meine Gedanken.
Ich ließ meinen Albtraum nicht aus den Augen, während ich mich rückwärts Schritt für Schritt entfernte. Die Treppe konnte ich nicht nehmen. Das Ding versperrte mir den Weg. Nun musste ich über die Felsen klettern, die die Schlucht umgaben. Eine andere Möglichkeit, herauszukommen, gab es nicht. Wenigstens war die Wand weder besonders steil noch hoch. Allerdings war ich da ewig nicht mehr hinaufgekraxelt, weil meine sportlichen Fähigkeiten nämlich unterirdisch waren.
Die Angst verlieh mir bisher unbekannte Kräfte, als ich mich zwischen die Felsen drängte und den moosbewachsenen Hang hinaufkletterte. Ein paar kleine Büsche reichten mir hilfsbereit ihre Zweige, an denen ich mich hochzog. Schmutzig, aber immerhin unverletzt erreichte ich den oberen Rand und lief, so schnell ich konnte, zurück zum Haus.
Mutter stürmte auf mich los und zog mich in die Küche. Wortlos ließ ich ihre Vorwürfe über mich ergehen. Erstens, weil ich immer noch total durcheinander war. Zweitens, weil ich wusste, dass sie in dieser Stimmung sowieso nicht mit sich reden ließ.
»Du gibst mir jetzt dein Handy, und dann packst du die Blumen aus.«
Ich erwachte aus meiner Erstarrung. »Auf gar keinen Fall. Ich muss Sky anrufen. Es ist dringend.«
»Du und Sky, ihr habt euch den ganzen Tag gesehen. Was kann in der letzten Stunde schon Wichtiges passiert sein?«
Ich biss mir auf die Zunge, damit mir nichts herausrutschte, was ich später bereute.
»Du gibst mir sofort dein Handy, sonst rufe ich deinen Vater an.« Mutters Gesicht war mittlerweile fast so rot wie ihre Haare.
Ich schüttelte den Kopf. »Das ist mein Handy, und du kannst es mir nicht wegnehmen.«
»Was ist denn in euch gefahren?« Fynn stand in der Tür und betrachtete uns missbilligend. »Man hört euch bis nach draußen. Es ist direkt peinlich, was ihr hier abzieht.«
»Das ist mir so was von egal«, blaffte ich ihn an.
Meine Mutter nutzte meine Unaufmerksamkeit, riss mir mein Handy aus der Hand und stapfte hinaus in den Wintergarten. Bevor ich ihr hinterherrennen konnte, hielt Fynn mich zurück.
»Jetzt beruhige dich erst mal, Eliza. Du kriegst das blöde Handy schon wieder. Ein paar Stunden hältst du es sicher auch ohne aus. Flipp nicht immer gleich aus!«
»Aber sie hat angefangen.«
»Mann, Eliza echt! Wir sind hier nicht im Kindergarten. Sie will, dass du ihr nach der Schule hilfst. Was ist daran so schwer zu verstehen?«
»Du musst ihr nie helfen«, half ich ihm auf die Sprünge.
»Ich gebe Nachhilfe.« Er ließ mich los.
»Wer’s glaubt, wird selig.«
»Ganz genau.« Mit einem Lächeln auf den Lippen schlenderte er hinaus.
Die Nachhilfe hatte einen Namen: Grace. Mein zweiter Albtraum. Lautlos schickte ich meinem Bruder einen Fluch hinterher und machte mich daran, Kisten voller Schnittblumen auszupacken und in überdimensionale Vasen zu stellen. Glücklicherweise hatten die Blumen kaum gelitten. Die paar, die man nicht mehr verkaufen konnte, ließ ich direkt im Müll verschwinden. Mutter würde einen Grund weniger haben, um über mich herzufallen.
Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, was ich eigentlich verbrochen hatte, um so eine Mutter zu verdienen. Angefangen hatte das schon mit unseren Namen. Ich meine, mal ehrlich: Eliza – altmodischer ging es kaum. Der Name bedeutete Sieben. Was sollte mir das sagen? Sieben Todsünden? Sieben Zwerge? Jeder Mensch wusste doch, dass die Sieben eine Unglückszahl war. Wie hatten sie mich so nennen können? Fynn hingegen bedeutete der Kenntnisreiche. Er passte zu meinem Bruder wie die Faust aufs Auge. Außerdem stand der Name auch für hell, weiß und blond. Das waren wir beide. Nur war ich leider ungefähr sieben Mal dümmer als Fynn und sieben Mal unsportlicher. Vielleicht sollte ich der Ehrlichkeit halber nicht verschweigen, dass ich nach langem Suchen noch eine Bedeutung meines Namens gefunden hatte. Die Einzigartige. Aber ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass diese Bedeutung nicht der Grund gewesen war, weshalb sie mich so genannt hatten.
Jedenfalls musste ihr Kronprinz Mutter nie helfen und konnte den lieben langen Tag tun und lassen, was er wollte. Weil er ach so klug und kenntnisreich war und Nanotechnologie studieren wollte und dafür schon jetzt an der Uni in St Andrews Vorkurse belegte. Ich wusste nicht mal, was Nano bedeutete.
Das Schicksal hatte uns zwar mit einem fast identischen Aussehen, aber mit völlig unterschiedlichen Gaben bedacht, und Fynn kam mit seinen eindeutig besser zurecht.
Grace kam in die Küche geschlendert und schnitt sich ein Stück Carrotcake ab. Sie nahm einen Teller und zwei Gabeln.
Ich verdrehte die Augen.
»Alles klar, Eliza?«, fragte sie.
»Wieso habt ihr die blöden Blumen nicht in die Vasen gestellt?«
»Dein Bruder gibt mir Nachhilfe, und meine Eltern bezahlen ihn dafür. Ich wüsste nicht, weshalb ich hier schuften sollte.«
Ich fragte mich, ob ihre Eltern auch wussten, was die beiden in Fynns Zimmer wirklich trieben.
Am nächsten Morgen schien die Sonne so heiß, als hätte es den üblichen nächtlichen schottischen Regen nie gegeben. Nur ein paar Pfützen vor dem Haus erinnerten daran. Söckchen wälzte sich mutig in den Überbleibseln der Sintflut, und ich hoffte, dass ihn dabei kein Regenwurm in Angst und Schrecken versetzte. Für langes Trösten hatte ich keine Zeit. Wie meistens war ich spät dran. Also stibitzte ich einen Schokoladendonut, den meine Mutter gerade aus dem Ofen gezogen hatte, und raste auf meinem Fahrrad hinter Fynn her zur Schule.
Wie jeden Morgen hielt ich Ausschau nach Frazer. Aber entweder schwänzte er mal wieder die Schule, oder er knutschte mit einem seiner Groupies. Er hatte genügend weibliche Fans, dass er mindestens zwei Monate durchküssen konnte und immer ein anderes Girlie zur Verfügung stand. Sky und ich hatten nachgezählt.
Den Lehrern schien das nicht aufzufallen, sie mochten ihn trotzdem und sahen über seine Verfehlungen oft großzügig hinweg, selbst sein Schwänzen schien sie nicht zu stören. Es war mir ein Rätsel, wie er das anstellte. Wie gern würde ich mal mit ihm gemeinsam die Schule schwänzen. Dann könnten wir uns zusammen im Wald verstecken, picknicken und uns gegenseitig Gedichte vorlesen oder so was. Allerdings würde bei meinem Pech meine Mutter noch am selben Tag Wind davon bekommen und mir die Hölle heißmachen.
Sky riss mich aus meinen Tagträumen. »Kopfkino aus«, schrie sie und riss mir einen Stöpsel meines Kopfhörers aus dem Ohr. »Er knutscht mit Helen.« Manchmal verabscheute ich ihren Drang nach absoluter Ehrlichkeit. Alles wollte ich nun wirklich nicht wissen. Frustriert stapfte ich ihr hinterher zum Dramakurs. Eigentlich sollte ich ihr zur Strafe nichts von dem Tor verraten. Wahrscheinlich würde sie mir sowieso nicht glauben. Kaum hatten wir uns zu unseren Plätzen durchgedrängelt, hielt ich es jedoch nicht länger aus.
»Es war doch da«, flüsterte ich und starrte dabei auf den Tisch.
»Häh? Redest du mit mir oder mit dem Kaugummi da?«
Angewidert sah ich, dass irgendwer seine Hinterlassenschaft auf dem Tisch vergessen hatte. Ich kramte ein Tempo heraus und trug sie mit spitzen Fingern zum Papierkorb.
»Jetzt hab dich nicht so. Ich wette, im Café musstest du schon ganz andere Sachen wegwischen.«
Das stimmte allerdings. »Ich habe gesagt, es war doch da«, kam ich zurück zum Thema. »Das Tor«, half ich ihrem Gedächtnis auf die Sprünge.
Sky kniff ihre Augen zusammen und legte mir eine Hand an die Stirn. »Fieber hast du nicht«, erklärte sie erleichtert.
Ich wischte die Hand weg. »Natürlich nicht.«
»Aber offensichtlich halluzinierst du. Hast du mit deiner Mutter gestritten?«
Wie üblich traf sie ins Schwarze. Was kein Kunststück war, da ich mich fast jeden Tag mit meiner Mutter anlegte. »Sie hat mein Handy eingezogen.«
»So ein Mist.«
»Das kannst du laut sagen. Aber das ist jetzt egal. Es geht um das Tor, und ich schwöre dir, es war da.«
»Eliza, vielleicht solltest du ein paar Tage zu Hause bleiben und dich ausruhen. Die Sache mit Frazer bringt dich ja total durcheinander.«
»Höre ich da meinen Namen, Ladys?«
Da stand er: Frazer Wildgoose, der Schwarm fast aller Mädchen in unserem Jahrgang. Aller außer Sky. Sie hielt ihn eher für ein ekliges Insekt. Aber welches Insekt hatte schon strahlende grüne Augen in einem braun gebrannten Gesicht und dazu schwarze strubbelige Locken? Er sah zum Anbeißen aus. Der Name Frazer ließ sich übrigens auf das normannische Wort für Erdbeere zurückführen. Wahrscheinlich schmeckte er sogar wie Erdbeeren – mit Schokolade. Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Die Traube Mädchen, die ihn umschwärmte, war offenbar derselben Meinung wie ich. Meine Mundwinkel gingen von ganz allein nach oben.
Von Sky hörte ich nur ein gezischtes: »Träum weiter, Wildgoose.«
»Immer Sky, und nur von dir.« Dann rutschte er vor uns auf die Bank.
Ich warf Sky einen Blick zu, der so was bedeuten sollte wie: Bist du doof? Aber sie schien ihn nicht verstehen zu wollen. Konnte sie nicht ein Mal ein bisschen liebenswürdiger zu ihm sein?
Miss Peters, die Leiterin unseres Dramakurses, beendete das Geraschel mit ihren Unterlagen und stand auf. Jetzt wurde es ernst. Ich versuchte, jeden Gedanken an das Tor zu verdrängen. Unruhig begann ich an meinen Fingernägeln zu knabbern, was mir einen angeekelten Blick von Sky einbrachte. Sie hasste es, wenn ich das tat. Also schob ich meine Hände zwischen Stuhl und Oberschenkel, die nervös auf und ab wippten.
»Du ziehst das jetzt durch«, verlangte sie flüsternd. Ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch.
Ich nickte. Wenn ich jetzt nicht handelte, würde das mit Frazer und mir nie etwas werden. Ich war seit über einem Jahr in ihn verknallt. Und nun lag unser letztes Jahr in der Highschool vor uns, da musste ich endlich Nägel mit Köpfen machen. Der Meinung war jedenfalls Sky, die mein stummes Schmachten nicht mehr aushielt. Sie hatte mir angedroht, dass sie überall herumposaunen würde, dass ich auf Frazer stand, wenn ich mich nicht an unseren Plan hielt. Mein Herz pochte vor Aufregung so laut, dass ich sicher war, jeder im Raum würde es hören.
»So, wenn jetzt endlich alle da sind …« Der Blick, den Miss Peters Frazer zuwarf, sprach Bände. »Dann können wir ja beginnen. Wie ihr wisst, spielen wir in diesem Jahr Tristan und Isolde. Dieser Stoff ist etwas ganz Besonderes. Ich habe in meiner gesamten Laufbahn noch nie ein so anspruchsvolles Stück mit Schülern einstudiert. Ich hoffe, dass jeder von euch das Textbuch gelesen hat, das Eliza geschrieben hat.«
Das Stöhnen, das durch die Reihen ging, hatte ich fast erwartet. Ich hatte das Stück Ende des letzten Schuljahres vorgeschlagen und mich nur mit Müh und Not durchgesetzt. Schließlich hatte ich darauf gehofft, seit ich die Verfilmung mit James Franco zum ersten Mal gesehen hatte. Meine eigenen schauspielerischen Leistungen hielten sich in Grenzen, aber ich schrieb für mein Leben gern Theaterstücke. Und dieses Manuskript hatte ich bereits seit einiger Zeit auf meiner Festplatte gehabt, bevor ich mich getraut hatte, es Miss Peters zu zeigen.
Jetzt wandte sie sich mir zu. »Es ist wirklich wunderbar geworden, Eliza.«
Ich spürte, dass ich rot wurde. Obwohl ich seit der siebten Klasse die Textbücher für den Kurs schrieb, war mir noch kein Stück so gut gelungen. Für mich litt kein Mann der Filmgeschichte so schön wie Tristan. Für Sky und mich war Tristan und Isolde noch vor Romeo und Julia die aufwühlendste Liebesgeschichte aller Zeiten und die verbotene Liebe schlechthin. Zur Vorbereitung hatten wir den Film bestimmt hundert Mal gesehen und jedes Mal geheult wie zwei Schlosshunde.
»Möchtest du deinen Mitschülern etwas dazu erklären?«
Ich räusperte mich: »Ich hoffe, ihr habt euch alle den Film angesehen. Ich habe die Handlung so zurechtgestutzt, dass sie in anderthalb Stunden passt. Der Rollenplan und das Textbuch sind fertig. Wir könnten also mit den Proben beginnen.«
»Ich erwarte, dass ihr euch mehr anstrengt als im letzten Jahr«, warf Miss Peters ein. »Mir gefällt das Stück ausgesprochen gut. Jetzt hängt es nur davon ab, was ihr daraus macht.«
Ich strahlte sie an, und ohne dass ich es wollte, glitt mein Blick zu Frazer, der sich zu mir umgedreht hatte. Seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen. Bevor ich das Lächeln erwidern konnte, spürte ich, wie Sky meine Hand quetschte und mir ein »Untersteh dich!« zuraunte.
Frazers Grinsen wurde noch breiter.
Wütend sah ich sie an. Oft kam ich schließlich nicht in den Genuss seiner Aufmerksamkeit. »Eliza«, unterbrach uns Miss Peters in diesem Augenblick, »… hast du dir schon überlegt, wer als Tristan infrage kommt?«
Da war sie – die Chance, auf die ich gehofft hatte. Denn ich wusste natürlich, wen ich vorschlagen würde. Es gab niemanden, der für die Rolle besser geeignet war als Frazer, auch wenn ich wusste, dass er den Kurs nicht aus Leidenschaft fürs Theater gewählt hatte. Aber das war mir ehrlich gesagt egal. Für mich war er das jüngere Abbild von James Franco und ich würde mit ihm proben, bis sein Talent zum Vorschein kam.
Ich räusperte mich. »Frazer, ich schlage Frazer vor.«
Ich hörte ein paar der Mädchen kichern, und Daniel, der schon seit drei Jahren mit mir den Kurs belegte, stieß einen Fluch aus. Ich wusste, dass er auf die Hauptrolle gehofft hatte. Doch auch wenn ich ihn wirklich mochte, darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Hier ging es schließlich um die Zukunft meines Liebeslebens.
Mein Blick glitt wieder zu Frazer. Beinahe fassungslos sah er mich an. Seine Lippen formten tonlos die Worte: »Spinnst du?«
Das war kein so vielversprechender Anfang, wie ich gehofft hatte.
Ich zuckte mit den Schultern und wandte mich wieder Miss Peters zu.
»Ich weiß nicht, ob ich Frazer diese Rolle wirklich zutraue«, überlegte diese laut.
»Ich auch nicht«, stimmte Frazer ihr zu.
Jetzt musste ich alles auf eine Karte setzen, und das, bevor Daniel sich vordrängelte. »Daniel kann König Marke spielen. Frazer wäre die perfekte Besetzung für Tristan. Ich würde zusätzlich mit ihm üben«, presste ich den entscheidenden Satz hervor und hoffte, dass er cooler rüberkam, als er sich in meinen Ohren anhörte.
»Stell dich hinten an«, quietschte jemand von der anderen Seite des Raumes. Gelächter brandete auf, und ich spürte, dass mir heiß und kalt wurde. Ich hatte ja befürchtet, dass dieses Angebot zu eindeutig sein würde. Aber Sky hatte gemeint »ohne Angriff kein Sieg«. Das hatte ich jetzt davon.
Miss Peters ignorierte die Lacher und nickte langsam. »Wenn du das übernehmen möchtest.« Sie wandte sich an Frazer. »Du hast Glück, dass Eliza sich dafür anbietet. Ich glaube, du hast ein A oder B für dein Examen dringend nötig.«
Wenn Frazer diese Bemerkung peinlich war, ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken. Er nickte und blätterte in dem Skript, das jeder Schüler bekommen hatte. Glücklich sah er nicht aus. Ich war es umso mehr.
»Also, Frazer, du hast bis morgen Zeit, dir zu überlegen, ob du der Aufgabe gewachsen bist. Kommen wir zur Wahl der Isolde. Wer möchte die Rolle?«
Neugierig sah ich mich um. Normalerweise rissen sich die Mädchen um die Hauptrolle, aber Isolde war nicht leicht zu spielen. Nur drei Mädchen hoben die Hände. Zwei waren das erste Mal in dem Kurs, und dann war da noch Grace. Ich befürchtete das Schlimmste. Irgendwie hatte ich gehofft, dass sie sich nicht für die Isolde interessieren würde. Aber ich hätte wissen müssen, dass sie sich eine Rolle neben Frazer nicht entgehen lassen würde.
Sky wäre die perfekte Besetzung gewesen. Aber sie hatte sich entschieden geweigert, solange ich darauf bestand, Frazer als Tristan vorzuschlagen. Wir hatten uns die halben Sommerferien deswegen gestritten. Dabei hätte sie mit ihren braunen langen Haaren so gut zu ihm gepasst. Sie weckte mit ihrer zarten Statur, ihrer Stupsnase und den paar Sommersprossen darauf den Beschützerinstinkt fast jedes Jungen an unserer Schule. Nur war Sky die Letzte, die einen Beschützer nötig hatte.
»Drei Freiwillige«, murmelte Miss Peters. »Grace, es wäre eigentlich nicht gerecht, wenn du wieder die Hauptrolle bekämst. Andererseits kann ich euch beide nicht einschätzen.« Ihr Blick glitt zu den neuen Mädchen. Ich kannte nur eine von ihnen und wusste von ihr auch nicht viel mehr als den Namen.
»Ich denke, es ist das Beste, wenn jede von euch eine Textpassage der Isolde einstudiert und uns in der nächsten Stunde vorspricht. Dann entscheiden wir, wer geeignet ist.«
Es bestand also noch Hoffnung, auch wenn sie gering war. Grace war wirklich gut, das musste ich ihr lassen. Aber die Vorstellung, wie Frazer die Liebesszenen ausgerechnet mit ihr spielen würde, verursachte mir Bauchschmerzen. Meinem Bruder Fynn würde es sicher auch nicht gefallen.
Als es läutete, zog mich Sky aus dem Raum und bestimmte: »Wir ignorieren ihn.« Sie hielt mein Handgelenk umfasst wie ein Schraubstock. Nur aus dem Augenwinkel sah ich, dass Frazer zwei Schritte in meine Richtung machte, sich dann aber von Grace, die sich ihm an den Arm hängte, aufhalten ließ.
Ich würde schon noch meine Chance bekommen.
»Ich komme mit«, bestimmte Sky nach der Schule. »Wir fahren zur Lichtung, und ich schwöre dir, dass dort kein Tor sein wird.«
Sie würde sich wundern, dachte ich, schwieg aber. Ich war viel zu erleichtert, dass Sky mich nicht allein ließ.
»Sky und ich haben noch was vor, kannst du dir eine Ausrede für Mutter einfallen lassen«, bat ich Fynn.
»Du weißt doch, dass du Ärger kriegst, wenn du nach der Schule nicht nach Hause kommst.«
»Bitte, nur kurz.«
»Aber beeil dich. Ich sage Mum, dass du noch mit Miss Peters sprechen musst.«
Ich winkte ihm zu, und wir verschwanden an der erstbesten Abzweigung im Wald.
Wir fuhren den Pfad hinunter bis zu der Stelle, an der wir die Räder stehen lassen mussten. Von hier aus ging es nur zu Fuß weiter. Je näher wir der Lichtung kamen, umso mulmiger wurde mir. Jedes Rascheln und Knacken erschien mir überlaut. Als wir die Schlucht erreichten, sah ich mich vorsichtig um. Ich drehte mich einmal um meine eigene Achse und sah … nichts. Es war nur Einbildung gewesen. Ein zentnerschwerer Stein fiel mir vom Herzen.
»Habe ich es nicht gesagt«, erklärte Sky. »Du hast einfach zu viel Fantasie, Eliza. Das ist auf Dauer nicht gesund.«
»Ich weiß, aber ich schwöre es dir. Das hier war echt. Das kann ich mir unmöglich eingebildet haben. Und Söckchen hat es auch gesehen.«
Sky sah mich ungläubig an. »Dann werde ich ihn gleich mal fragen. Meinst du, ich kriege auch noch einen Schokodonut von deiner Mutter? Ich könnte einen vertragen.« Wie zur Bestätigung knurrte ihr Magen laut auf.
Ich lachte. »Ich klaue uns welche, und dann lassen wir uns von Grandma die Karten legen. Ich will wissen, ob das Stück ein Erfolg wird.«
Wir wandten uns zum Gehen, als mir ein betörender Duft in die Nase stieg. Das war ein Geruch, der hier absolut nicht hingehörte. Ich roch Milchreis mit heißen Kirschen, mein Lieblingsgericht. Selbstverständlich kochte meine Mutter es nur in Ausnahmefällen, da sie es zu süß und ungesund fand. Sie liebte es vegetarisch und so kohlenhydratarm wie nur möglich. Es war fast absurd zu sehen, wie sie ihre Gäste dagegen mit ihrem süßen Kuchenzeug vollstopfte.
Was also hatte dieser Duft hier zu suchen? Ich wandte mich zurück zur Lichtung und schrie auf.
Es war wieder da. Ich wich zurück und stieß gegen Sky.
»Hey, pass doch auf!«
Dieser Duft kam eindeutig aus diesem Tor! Jetzt ließ es sich nicht mehr leugnen. Ich schnupperte. Milchreis, kein Zweifel, Zimt und warme Butter. Mein Magen knurrte. »Riechst du das?«
»Was?« Sky griff nach meiner Hand und versuchte, mich nach oben zu ziehen. »Eliza, du machst mir Angst.«
»Nein, warte. Du musst es doch sehen. Dort steht es.« Ich riss mich los. »Siehst du es etwa nicht?« Ich trat vorsichtig zwei Schritte näher, streckte meine Nase vor und sog den köstlichen Duft ein. »Hhm. Riechst du es wirklich nicht?«
Sky trat neben mich. »Eliza, hier ist nichts – gar nichts. Außer deinen geliebten Bäumen natürlich. Alles ist genauso wie immer.«
»Alles?«
»Alles.«
»Dann sehe womöglich nur ich es.« Der Gedanke schockierte mich. »Es ist wunderschön.« Licht umgab das Tor und formte sich zu filigranen Ranken. Sie bildeten einen Bogen aus glitzernden Blüten. Winzige Schmetterlinge aus leuchtendem Staub flatterten um das Tor und ließen sich auf den Blüten nieder, die in allen Regenbogenfarben schimmerten. Ich streckte meine Hand aus. Es kribbelte, als einer der Schmetterlinge sich auf meinem Handrücken niederließ. Zwei dunkle Augen mit langen Wimpern sahen mich an.
Sky riss mich zurück. »Was tust du da, Eliza?«
»Gib mir deine Hand.« Ohne ihre Widerworte abzuwarten, hielt ich Skys Hand in das Licht. Plötzlich stoben Hunderte dieser kleinen Schmetterlinge auf und verschlossen mit ihren Flügeln das Tor.
Als ob sie sich verbrannt hätte, zog Sky ihre Hand zurück.
»Hast du das gespürt?«
Sky nickte. »Was war das? Da war plötzlich eine Wand in der Luft.«
»Es sind Schmetterlinge aus Staub und Licht. Vollkommen verrückt.« Fasziniert beobachtete ich, wie das Licht durch die spinnenwebenfeinen Flügel fiel.
Das aufgeregte Flattern der kleinen Wesen hatte sich in dem Moment beruhigt, in dem Sky ihre Hand zurückzogen hatte. Langsam setzten sie sich wieder auf die Blüten, die das Tor umrankten.
»Ich glaube, es ist wirklich besser, wenn wir von hier verschwinden und am besten nie wiederkommen«, ließ Sky mit zitternder Stimme vernehmen.
Ihre Worte waren kaum verstummt, als das Tor sich vor meinen Augen in Luft auflöste. Ich schüttelte ungläubig den Kopf. Das musste ich erst einmal verdauen, dann würde ich weitersehen. Beim Thema Verdauen gab mein Magen wieder hungrige Geräusche von sich, kein Wunder bei diesem Duft. Ich musste an irgendeiner Mangelerscheinung leiden. Sicher fehlte mir ein wahnsinnig wichtiges Vitamin und sorgte dafür, dass ich Halluzinationen hatte.
Als wir nach Hause kamen, stand ein Teller mit kaltem Gemüseauflauf auf dem Küchentisch. Lustlos stocherte ich in den Paprika-, Auberginen- und Zucchinistücken herum und träumte von klebrigem Milchreis mit einer dicken Schicht Zimt und Zucker. Sky hatte meiner Mutter einen Schokodonut abgeschwatzt. Aber sie hatte sie schon in der zweiten Klasse verzaubert, als sie ihr irgendein furchtbar kompliziertes Stück auf dem Klavier vorgespielt hatte.
Mein Milchreistraum verschwand, als Fynn in die Küche kam und mich prüfend ansah.
»Und was gab es so Wichtiges, dass du Mum mal wieder Anlass gegeben hast, sauer auf dich zu sein?«
Er nannte sie natürlich Mum. Genervt ließ ich die Auflaufpampe von der Gabel auf den Teller zurück platschen. Dann nahm ich das Zeug und kippte es wortlos in den Müll.
Fynn schüttelte verständnislos den Kopf.
»Da passiert etwas Merkwürdiges«, sagte ich. »Merkwürdig und beängstigend. Stimmt’s, Sky?«
Sky nickte mit vollem Mund.
»Dann solltet ihr euch davon fernhalten«, erwiderte Fynn, die Vernunft selbst.
»Meine Worte.« Sky schluckte ihren letzten Bissen hinunter.
Fynn reichte ihr eine Serviette. »Hier, du Schokomonster.«
Verlegen wischte Sky sich die Schokolade von den Lippen.
Diese Antwort hatte ich von Fynn erwartet, und genau das weckte in mir immer den Drang, das Gegenteil zu tun.
»Was findest du so merkwürdig?« Grace stand so plötzlich in unserer Küche, dass wir zusammenzuckten. Das Letzte, was ich wollte, war, dass sie von meiner Entdeckung erfuhr. Bei ihr konnte man nie wissen, was sie mit ihren Informationen anfing.
»Das geht dich gar nichts an«, fauchte ich.
Sie legte ihren Arm um Fynns Taille und schmiegte sich an ihn.
»Lass uns gehen«, säuselte sie, und sofort hatte Fynn alles, was mich betraf, vergessen. Im Rausgehen warf mir das Luder noch einen triumphierenden Blick zu. Irgendwann würde ich es ihr zurückzahlen, nahm ich mir vor. Fynn konnte nicht ewig derart in sie verknallt sein. Das war nicht normal.
»Diese blöde Zicke.« Sky sprach aus, was ich nur dachte. »Fynn hat definitiv etwas Besseres verdient.«
»Ich weiß«, stöhnte ich. »Und ich hoffe, darauf kommt er noch mal ganz von selbst. Ich frage mich, wie jemand, der so klug ist, so wenig Menschenkenntnis besitzen kann.«
Sky kicherte. »Wahrscheinlich hat sie Qualitäten, von denen wir nichts ahnen.«
»Wahrscheinlich. Lass uns zu Grandma gehen. Sie soll uns unsere Tageskarten legen. Vielleicht verraten sie uns etwas über das Tor.«
Sky schnaubte. »Ganz bestimmt. Das kann unmöglich echt gewesen sein, Eliza.«
»Aber du hast es doch gespürt, oder?«
»Ja, ich habe etwas gespürt«, gab Sky widerstrebend zu. »Aber ich will gar nicht anfangen zu glauben, dass dieser Traum wahr sein kann.«
»Ich habe euch schon gehört«, begrüßte Granny uns. Sie saß in ihrem Wohnzimmer, im Erdgeschoss unseres Hauses, wo sie die zwei schönsten Zimmer bewohnte. Eine große Glastür führte direkt in unseren Garten, den sie hingebungsvoll pflegte. Auf dem Tischchen vor ihr stand eine dampfende Kanne Tee, und daneben lag der unvermeidliche Stapel Tarotkarten, den sie überall mit hinschleppte, um mit ihren Voraussagen für Überraschung zu sorgen. Die Karten lügen nicht – das war ihr Mantra, und meistens hatte sie damit recht. Die Karten hatten ihr verraten, dass meine Mutter schwanger war, noch bevor diese es selbst wusste, und sie hatten ihr auch gesagt, dass wir Zwillinge werden würden. Sie hatten gesehen, dass ich mir ein Bein brechen würde und dass Mutters Café Erfolg beschieden sein würde. Leider hatten sie ihr auch den Tod meines Großvaters vorhergesagt. Solche Dinge wollte ich nicht vor der Zeit wissen. Sie behauptete immer, dass sie froh darüber gewesen war, weil sie so von ihm Abschied hatte nehmen können. Ich kuschelte mich zwischen die vielen blumenbestickten Kissen auf das Sofa, und Sky nahm auf einem Sessel Platz.
»Was gibt es Neues, ihr zwei?«, fragte sie, und ihre wasserblauen Augen funkelten neugierig in ihrem von der vielen Gartenarbeit gebräunten Gesicht.
»Unser Plan ist aufgegangen«, begann ich. »Frazer hat die Rolle.«
Granny hob ihre Hand, und ich schlug ein. Ein Grinsen stahl sich auf ihr Gesicht. »Habe ich es nicht gesagt?«
Es war ihre Idee gewesen, dass ich gleich beim ersten Mal Frazer für die Rolle vorschlagen sollte.
»Kein anderer Junge hat sich getraut, etwas dagegen zu sagen, oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Woher hast du das gewusst? Daniel war echt sauer.«
»Frazer ist so ein Typ, mit dem andere Jungs sich nicht gern anlegen. Er ist einfach zu beliebt. Jungs sind so.«
Ich fragte mich, wie eine Frau wie meine Großmutter, die niemals aus diesem Nest rausgekommen war und mit achtzehn einen Mann aus dem Dorf geheiratet hatte, solche Dinge über Jungs wissen konnte.
»Kennst du einen, kennst du alle«, beantwortete sie meine stumme Frage, und wir lachten gleichzeitig los. Das war einer ihrer Lieblingssprüche.
»Grace wird wahrscheinlich die Isolde spielen«, gestand ich.
Granny winkte ab. »Lass sie nur. Du bleibst bei unserem Plan. Ich bin sicher, dass er dein Angebot, mit ihm zu proben, nicht ausschlagen wird. Er ist zwar faul, aber nicht dumm. Er ist wie sein Großvater.« Sie geriet ins Schwärmen. »Er sah in seiner Jugend mindestens genauso gut aus.« Ich hatte Granny ein Jahrgangsfoto gezeigt, und sie hatte sofort gewusst, wer Frazer war. Sie hatte es mir nicht direkt verraten, aber ich vermutete, dass sie in ihrer Jugend in Frazers Großvater verknallt gewesen war. Deshalb konnte sie mich auch so gut verstehen.
»Ich habe ihm in der Stunde angeboten, ihm zu helfen, aber ich bin nicht sicher, ob er die Rolle überhaupt übernimmt. Er kann immer noch einen Rückzieher machen.«
»Das wird er nicht, Kindchen. Ganz bestimmt nicht. Vertrau deiner alten Großmutter.«
»Deine Zuversicht möchte ich haben.«
»Wie hat Miss Peters das Textbuch gefallen?«, fragte Granny, ohne auf meine Bemerkung weiter einzugehen.
»Sie hat mich gelobt«, erzählte ich.
Großmutter nahm mich in den Arm. »Das ist so toll, Eliza. Ich bin stolz auf dich. Das wird dein Jahr werden. Du wirst sehen.«
Ich nickte. Das glaubte ich auch.
Granny rieb sich die Hände. »Welche Legung probieren wir heute?«
»Heute nur die Tageskarte, Granny. Sky hat noch Klavierstunde.«
Grandma reichte mir die Karten und bat mich zu mischen.
Dann legte sie die Karten nebeneinander verdeckt vor sich auf dem Tisch aus. Ich wusste genau, was ich zu tun hatte. Also schloss ich die Augen und konzentrierte mich auf meine Frage. Was hatte dieses Tor zu bedeuten? Dann tippte ich auf eine der Karten, und Granny drehte sie um. Es war der Ritter der Kelche.
»Nimm die Einladung an«, sagte sie und musterte mich. »Diesmal keine Frage zu Frazer?«
Ich schüttelte den Kopf und sah Sky an, die erschrocken auf die Karte sah.
»Lass dich von deiner Intuition leiten. Achte auf die Botschaften, die dir überbracht werden, und dann triff deine Entscheidung einfach aus dem Bauch heraus. Dann kannst du nicht fehlgehen. Ein Bote wird dir eine wichtige Nachricht übermitteln.«
Granny brach ihre Erklärung abrupt ab und schob etwas fahrig die Karten zusammen, um sie Sky zu reichen, damit diese sie mischte.
Dann wiederholte sie das Prozedere mit der Auslegung und ließ Sky eine Karte wählen.
»Sky, so eine schöne Karte. As der Kelche. Eine meiner Lieblingskarten.« Sie lächelte sie an. »Die Karte der Liebe.«
Ich fragte mich, was Sky gefragt hatte. Mit der Liebe hatte sie es bisher nicht gerade gehabt. Bis zur Sechsten hatten wir beide natürlich alle Jungs blöd gefunden. Bei mir hatte sich das irgendwann geändert – im Gegensatz zu Sky. Außer an Fynn hatte sie an jedem Jungen etwas auszusetzen. Fynn. Ich musterte meine Freundin. Konnte es sein, dass Sky in Fynn verliebt war? Unmerklich schüttelte ich den Kopf. Das hätte ich doch sicher bemerkt, oder nicht?
»Der Kelch steht für Gefühle und Liebe«, erklärte Granny. »Geben und Nehmen sind im Einklang. Diese Karte zeigt, dass sich dir bald die Chance auf die große Liebe eröffnen wird. Du musst nur zugreifen.«
Skys blasse Wangen röteten sich, sie räusperte sich. »Okay. Ich glaube, ich muss jetzt los.« Sie griff nach ihrer Tasche, nickte uns noch einmal kurz zu und verschwand, während Granny und ich ihr verblüfft hinterhersahen.
»Weißt du, wer es ist?«, fragte Granny.
Ich schüttelte den Kopf. »Aber ich hätte da eine Idee.«
»Gibt es sonst etwas, worüber du mit mir reden möchtest?«
»Nein, wieso?«
»Du hast noch nie den Ritter der Kelche gezogen.«
»Na und? Ich habe doch sicher einige Karten noch nie gezogen, oder?«
»Doch, alle bis auf diese.«
»Na, dann besser spät als nie.« Ich ignorierte ihren durchdringenden Blick und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich brauche dringend noch ein wenig Bewegung«, verabschiedete ich mich von ihr.
Warum hatte Sky das Tor weder gesehen noch gerochen? Nur gespürt hatte sie es, als die Schmetterlinge es vor ihr verbarrikadierten. Wenn ich sie bloß anrufen könnte. Aber Mutter hatte mein Handy immer noch nicht wieder herausgerückt. Meine Füße gingen von ganz allein zu meinem Fahrrad. Nervös trommelte ich mit meinen Fingern auf dem Lenkrad herum.
Eine schneeweiße Taube flatterte direkt auf mich zu und setzte sich auf meinen Fahrradsitz.
Vögel hatte ich noch nie besonders gemocht. Ich wich einen Schritt zurück und ließ mein Rad los. Prompt purzelte es gegen Fynns, und beide krachten zu Boden.
Ich stöhnte. Er würde mich umbringen, wenn sein geliebtes Rad auch nur eine Schramme bekam. Die blöde Taube hatte sich indessen auf einem Baumstumpf niedergelassen, ihren Kopf schief gelegt und sah mich an.
»Siehst du, was du angerichtet hast«, schimpfte ich, hielt inne und schüttelte den Kopf. Ich sprach mit einer Taube, so weit war es mit mir gekommen. Ich sah mich um, ob ich beobachtet wurde. Keine Menschenseele in Sicht.
»Puh.« Zum Glück. Ich versuchte, die beiden ineinander verknoteten Fahrräder voneinander zu trennen, und wischte mit meinem Jackenärmel über Fynns Rad, was leider, außer dass meine Jacke schmutzig wurde, nicht viel brachte.
Ich schwang mich auf meins und radelte los. Den Schatten direkt neben meinem linken Ohr spürte ich eher, als dass ich ihn sah. Meine Bremsen quietschten überlaut, als ich stoppte. Wie in Zeitlupe flog ich über das Lenkrad und knallte auf den harten Waldboden. Ächzend rappelte ich mich auf und sah mich suchend um. Die Taube hockte am Wegesrand. Verfolgte das Vieh mich? Irgendwer musste es dressiert haben. War es möglich, dass mir jemand einen Streich spielen wollte? Jede andere Erklärung war unheimlich.
Ich wollte wieder aufsteigen und stöhnte auf, als ich sah, was mit meinem Rad passiert war. Das Vorderrad war zu einer Acht verbogen. Na, wunderbar. Ich konnte es nur noch zurückschieben. Nun musste ich morgen mit Großmutters Rad zur Schule fahren – da hatte ich mit Sicherheit wieder die Lacher auf meiner Seite, es war geschätzte hundert Jahre alt. »Sch …« Das Sch-Wort durfte ich ja nicht sagen. »Schmist, Schmist, Schmist«, schimpfte ich stattdessen vor mich hin und bedachte die Taube mit giftigen Blicken. Allerdings störte die das gar nicht. Interessiert beobachtete sie, wie ich das Rad aufhob und eiernd vor mir herschob. Zum Glück blieb sie sitzen und flatterte mir nicht hinterher. Erleichtert atmete ich auf. Nach ungefähr fünfzig Metern wagte ich einen Blick zurück. Nichts zu sehen. Ich beeilte mich, nach Hause zu kommen, noch einmal wollte ich nicht allein mit ihr zusammentreffen.
Ich schob mein Fahrrad zum Schuppen und lief zum Haus. Schon von Weitem konnte ich hören, dass im Café Hochbetrieb herrschte. Söckchen kam mir entgegengewuselt, und ich nahm ihn auf den Arm. Gemeinsam schlichen wir in mein Zimmer, und ich zog meinen Süßigkeitenvorrat unter dem Bett hervor. Ich brauchte dringend etwas, um meine Nerven zu beruhigen.
Erst als ich mir den ersten Riegel in den Mund schob, entspannte ich mich. Ein zweiter folgte umgehend. Am meisten liebte ich diese Dinger mit Karamell und Nüssen, die besonders schlecht für die Zähne waren.
Genüsslich biss ich hinein, als ich ein Flattern vernahm und mein Herz in die Hosentasche sackte. Die Taube ließ sich auf meinem Fensterbrett nieder und begann zu gurren. Das konnte nicht wahr sein.
Söckchen maunzte empört, als er den Eindringling bemerkte. Zu meinem Erschrecken nahm der Angsthase Anlauf und sprang auf das Fensterbrett. Er versuchte es jedenfalls. Nur mit Müh und Not klammerte er sich mit seinen winzigen Pfötchen an den Sims, um sich hochzuziehen. Die Taube war bei seinem lächerlichen Angriff kurz aufgeflattert und beäugte nun den kläglichen Versuch hochmütig. Erst sah sie den Kater arrogant an und dann mich. Ich sprang auf, schnappte mir Socke, schlug das Fenster zu und zog die Vorhänge davor. Genau in dem Moment platzte meine Mutter herein und entdeckte bei dieser Gelegenheit all meine zusammengehamsterten Schätze, die auf meinem Bett verstreut lagen. Ihr Blick sprach Bände.
»Das glaube ich jetzt nicht, Eliza? Ich schufte mich da unten ab, und du isst in aller Seelenruhe Süßigkeiten? Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mir nach der Schule helfen sollst?«
Ich seufzte, ohne zu antworten.
»Und was ist das wieder für ein Mist, den du in dich hineinstopft? Kannst du dein Taschengeld nicht für sinnvollere Dinge ausgeben?«
Sie meinte die fünf Pfund, die sie mir großzügig jede Woche zusteckte – klar, dass sie erwartete, dass ich damit Fachbücher kaufte oder sonst etwas Nützliches.
»Weshalb hilft Fynn denn nicht mal?«
Mutter stütze ihre Arme in die Seiten. »Du weißt genau, dass Fynn sich auf sein Aufnahmegespräch an der Uni vorbereiten muss. Er braucht seine Ruhe.«
Ein Quietschen und Kichern drang in diesem Moment aus Fynns Zimmer.
»Klingt nicht so nanomäßig, wenn du mich fragst.« Mutter guckte nur streng. Sie wusste genauso gut wie ich, dass Fynn sich mehr mit Grace beschäftigte als mit diesem Auswahlgespräch. Er konnte auch ohne Vorbereitung jeden Gesprächspartner um den Finger wickeln.
»Ich möchte das mit dir nicht diskutieren. Du gehst bitte runter, und ich sammle dieses Zeug ein.« Ihr Gesicht verzog sich angeekelt, als sie auf meine geliebten Süßigkeiten zeigte.
Da ich aus Erfahrung wusste, dass Diskussionen in diesem Fall nichts nützten, schob ich mich an ihr vorbei.
Während ich die Treppe hinunterlief, hörte ich, wie sie die Leckereien zusammensammelte und dabei vor sich hin schimpfte. Es würde ewig dauern, bis ich wieder so viel zusammenhatte, dass ich in diesem Haus einigermaßen satt wurde.
Um sie nicht noch mehr in Rage zu bringen, wusch ich ohne zu murren das Geschirr. Weshalb Mutter sich keinen Geschirrspüler anschaffte, war mir schleierhaft. Sie wollte ihr handgetöpfertes Geschirr nicht ruinieren, hatte sie behauptet. Missmutig betrachtete ich die aufgequollene Haut an meinen Fingern. Meine Hände gefielen mir normalerweise. Meine Finger waren lang und feingliedrig und meine Fingernägel gleichmäßig geformt. Klavierfinger, wie Vater betont hatte, bis er mir zu meinem Erschrecken, als ich sieben wurde, ein Klavier kaufte. Selbstverständlich stand ich im Gegensatz zu Sky mit dem Ding auf Kriegsfuß und war froh, dass mittlerweile niemand im Haus mehr Wert darauf legte, dass ich darauf spielte. Im Moment konnte ich mit meinen Händen jedenfalls nicht punkten.
Ob ich Granny nach dem Tor fragen sollte? Sie hatte mich praktisch seit frühester Kindheit mit Geschichten über Elfen, Trolle und Shellycoats gefüttert. Kein Wunder, dass ich so eine blühende Fantasie besaß. Im Grunde konnte ich nichts dafür. Vielleicht kannte sie eine Geschichte dazu – irgendeine uralte Legende.
Allerdings entsprang dieses Tor weder der Fantasie noch einem Märchen. Es war wirklich. Ich fragte mich, was sie zu meiner Entdeckung sagen würde. Der Gedanke, ihr alles zu erzählen, beruhigte mich. Ich starrte den riesigen Berg verschmierter Kuchenteller an und fühlte mich einmal mehr wie Aschenputtel.
Auf dem Rasen vor dem Haus jagte Socke den Schmetterlingen nach. Amüsiert beobachtete ich sein Treiben, als ich ein wohlbekanntes Flattern vernahm. Da war sie wieder. Direkt vor mir auf dem Fensterbrett. Die Taube.
Das war langsam unheimlich. Es war unmöglich, einen Vogel so zu dressieren, dass er mir folgte. Dazu dieser Blick, viel zu menschlich.
Ich ließ den Teller, den ich gerade spülte, zurück ins Becken plumpsen und trat aus der Küchentür. Beherzt ging ich auf die Taube zu. Was würde sie tun? Nur noch drei Schritte von ihr entfernt, nur noch zwei Schritte … Da flog sie auf. Ich zuckte zurück. Hah, ich hatte ihr Angst eingejagt. Ungefähr fünf Schritte von mir entfernt ließ sie sich wieder nieder.