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"Ich hätte uns ein anderes Ende gewünscht, das musst du mir glauben." Eliza ist zurück aus dem Haus der Wünsche und am Boden zerstört. Grace ist tot und Cassian wendet sich endgültig von ihr ab. Für ihn gibt es nur noch eine Möglichkeit, sein Augenlicht zurückzugewinnen und dafür muss er Opal heiraten. Eliza steht nun vor der Aufgabe, das Siegel des Beliozar in Sicherheit zu bringen. Doch die Magier gewinnen immer mehr an Macht und Damian de Winter lässt nichts unversucht, um das Siegel in die Hände zu bekommen. Auch dieses Mal muss Eliza auf die Hilfe ihrer Freunde vertrauen und endlich erfährt sie, warum ausgerechnet sie mit der Magischen Welt verbunden ist. Teil 5 der siebenteiligen Serie.
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Titelseite
Impressum
Über die Autorin
Vorwort
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
Nachwort
Die Figuren in Band 5
FederLeicht 6
Leseprobe
FederLeicht
Wie Nebel im Wind
Fünftes Buch
Deutsche Erstausgabe Mai 2017
Überarbeitete Ausgabe: August 2018
Copyright © Marah Woolf, Magdeburg
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins
Lektorat: Gisa Marehn
Korrektorat: Jil Aimée Bayer
Alle Rechte, einschließlich die des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
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Marah Woolf wurde 1971 in Sachsen-Anhalt geboren, wo sie auch heute noch mit ihrem Mann, ihren drei Kindern, einer Zwergbartagame, zwei Hasen und Kater Popcorn lebt. Sie studierte Geschichte und Politik und erfüllte sich mit der Veröffentlichung ihres ersten Romans 2011 einen großen Traum. Mittlerweile sind die MondLichtSaga, die BookLessSaga, die FederLeichtSaga sowie die GötterFunkeSaga vollständig erschienen. Im Herbst 2018 beginnt mit Rückkehr der Engel ein neues Fantasyabenteuer.
Schnee sinkt zur Erde federleicht,
ein Ort durch die Kugel dem anderen weicht.
Uhr, die Zeit verstummen lässt,
Vergangenes – es wird um Fest.
Flöte jeden Wunsch erfüllt,
Unglück sich in Schweigen hüllt.
Spiegel nichts vor dir verbirgt,
Lüge keinen Zauber wirkt.
Zauberkraft in der Feder sitzt,
nützt nur dem, der sie besitzt.
Ring dich jederzeit versteckt,
bestimme selbst, wer dich entdeckt.
Schlüssel immer dich beschützt,
wenn vorsichtig du ihn benützt.
Ich würde jede Wette eingehen, dass die beiden im Haus der Wünsche rumgeknutscht hatten. Wenn nicht noch mehr. Warum konnte der Bengel nicht seine Hände bei sich behalten, wenn er es doch nicht ernst mit Eliza meinte?
Hatte ich sie nicht mehrfach vor ihm gewarnt? Dass sie es nicht langsam leid war und seine Launen immer noch entschuldigte, wunderte mich doch sehr. Wenn eine Gefahr auftauchte, war sie mutig – wie kein anderes Mädchen. Doch wenn es um Cassian ging, benahm sie sich wie ein dummes Huhn. Am liebsten würde ich sie schütteln, wenn ich auch nur für eine Sekunde glauben könnte, es würde helfen.
Manche Dinge änderten sich eben nie. Sollte dieser gefühllose Klotz doch Opal heiraten. Die beiden passten richtig gut zusammen. Musste ich wohl Eliza helfen, das Siegel loszuwerden. Mal wieder keine leichte Aufgabe, aber leicht hatte das Mädchen es mir ja noch nie gemacht. Wieso bloß hatte Emma ihr den Floh mit dem Heiligen Baum ins Ohr gesetzt? Niemand würde Eliza den Weg verraten, und allein fand sie nie im Leben zur Lichtung der Priesterinnen. Ich musste sie im Auge behalten und im Notfall vor sich selbst retten – wieder einmal. Damian würde alles tun, um in den Besitz des Siegels zu kommen, wo es doch endlich in greifbare Nähe gerückt war. An dem Tag, an dem ich mich zu Elizas Beschützer erklärt hatte, musste zu viel Tollkirschsaft mir den Verstand vernebelt haben. Aber das war nicht mehr zu ändern. Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Dieser Magier würde es noch bereuen, sich mit mir angelegt zu haben.
Gleißendes Sonnenlicht fiel durch die hohen Bogenfenster des Raumes und malte ein schillerndes Muster auf die Dielen. Hier residierte für gewöhnlich die Königin der Elfen. Raven hatte mich in den Flügel des Schlosses begleitet, zu dem die Schüler keinen Zutritt hatten, und mich dann allein gelassen. Da Elisien nirgends zu sehen war, nahm ich auf einem der zierlichen Sessel Platz und wartete. Ich konnte mir denken, weshalb die Königin mich sprechen wollte. Bestimmt war der Zeitpunkt gekommen, mich nach Hause zu schicken und ihr das Siegel zu überlassen. Wie automatisch legte ich die Hand auf das kleine Ei in meiner Hosentasche. Ich würde ablehnen müssen. Dieses kleine, scheinbar harmlose Ei aus Stein bildete meine letzte Verbindung zu Grace. Zu dieser Erkenntnis war ich in den letzten Tagen gekommen. Das Siegel konnte sie nicht vereinnahmt haben, dazu war gar keine Zeit gewesen. Sie war nicht tot. Nicht, solange ich auf das Siegel achtgab. Ich würde sie daraus befreien, auch wenn ich noch nicht wusste, wie mir das gelingen sollte. Bis dahin gab ich das Ei unter keinen Umständen aus der Hand. Nicht, solange Damian de Winter oder einer seiner Handlanger es mir nicht mit Gewalt entriss. Wenn es eine Chance gab, Grace zu retten, würde ich sie nutzen. Die Macht des Siegels wirkte bei mir nicht. In der Hand eines Elfen, Magiers oder Zauberers konnte es hingegen zu einer mächtigen Waffe werden. Deshalb war es bei mir sicherer. Darauf musste ich vertrauen.
Die Tür knarrte leise in den Angeln. Elisien lächelte mich an. Allerdings erreichte das Lächeln ihre Augen nicht. Wie fast immer trug sie ein weißes Kleid, das ihre schlanke Gestalt umschmeichelte. Ihr Haar war kunstvoll geflochten, und ich sah ein Diadem aufblitzen. Sie durchquerte schweigend den Raum und verschanzte sich hinter dem Schreibtisch in der Mitte. Dann betrachtete sie mich aufmerksam und drehte beständig ihre Schreibfeder zwischen den langen schlanken Fingern.
»Geht es dir gut, Eliza?«, fragte sie, nachdem die Musterung beendet war. »Ich habe mir große Sorgen um dich gemacht.«
So nannte sie das also. Sie konnte mich nicht einfach abschieben. Sie war mir mehr als einen Gefallen schuldig, obwohl man einen solchen normalerweise von einer Elfenkönigin wohl nicht einforderte. Granny würde mit mir schimpfen, wenn sie davon erführe. Aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. »Kiovar hat mir versichert, dass alles wieder in Ordnung ist«, antwortete ich endlich. »Es war eher Erschöpfung als eine Krankheit gewesen. Ich brauchte nur Schlaf.« Bestimmt erzählte ich ihr nichts Neues. Der Heiler hatte sie schließlich über meinen Zustand auf dem Laufenden gehalten.
Sie nickte. »Das freut mich. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn du dir bleibende Verletzungen zugezogen hättest.«
Oh, das hatte ich sehr wohl. Allerdings keine, die man sah. Ich biss die Zähne zusammen.
»Bestimmt vermisst du dein Zuhause und deine Eltern«, setzte sie ihre Ansprache fort und kritzelte dabei etwas auf ein Blatt Pergament.
»Das tue ich, aber ich würde deine Gastfreundschaft trotzdem gern noch eine Weile in Anspruch nehmen«, machte ich meinen Standpunkt umgehend klar. Ja, ich wollte nach Hause, und damit meinte ich zu Mum und Dad. Ich wollte mir von Granny die Karten legen lassen, heiße Schokolade trinken und jede Menge von Mums Kuchen essen. Ich wollte Fynn trösten, denn obwohl er und Grace sich getrennt hatten, wäre er traurig, wenn er von ihrem Tod erfuhr. Mein Herz schlug plötzlich unregelmäßig, und Tränen brannten mir in den Augen. Daran durfte ich nicht denken. Ich würde alles daransetzen, Grace aus diesem Ei zu holen. Egal von wie vielen Leben das Siegel des Beliozar sich bisher ernährt hatte, Grace würde es nicht behalten. Und selbst wenn sie tatsächlich tot war, wollte ich nicht, dass die Macht des Siegels erneut missbraucht wurde. Dann wäre ihr Tod noch sinnloser. Ich musste in Erfahrung bringen, wie ich sie befreien konnte. Und das ging nur hier. Bis dahin würde ich schon verhindern, dass es Unheil anrichtete. Na ja, klang einfacher, als es war. Gerade allerdings erschien es mir ziemlich harmlos. Seit wir aus dem Haus der Wünsche zurück waren, hatte es nicht einen Mucks von sich gegeben.
Jetzt brauchte ich nur Elisien davon zu überzeugen, mich hierbleiben zu lassen. Die Königin der Elfen schien von dieser Idee nicht gerade begeistert zu sein. Ihre Haltung sprach Bände. Wenn sie wüsste, wie eng Cassians und meine Beziehung im Haus der Wünsche gewesen war, würde sie mich umgehend fortschicken. Aber im Grunde war unser Verhältnis nicht echt gewesen. Die Liebe, von der ich gedacht hatte, dass Cassian sie für mich empfand, war ein Trick des Hauses gewesen, um uns an sich zu binden. Ich schloss kurz die Augen und atmete tief ein. Mein blödes Herz pikste jedes Mal, wenn ich daran zurückdachte. Ich musste mich auf das Gespräch mit Elisien konzentrieren.
»Hältst du das für klug?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn. »Wäre es zu Hause bei deiner Familie nicht schöner für dich? Du könntest dich erholen.«
Mist. Sie las meine Gedanken. Das war nicht gut. Schnell zupfte ich an dem Vorhang in meinem Kopf herum. Vermutlich wusste sie doch, was zwischen Cassian und mir gelaufen war. Ich spürte, wie mir die Röte den Hals heraufkroch.
Es war sinnlos, der Vergangenheit nachzuhängen. Cassian hatte seine Wahl getroffen, und sie war nicht auf mich gefallen. Dafür hatte ich ihn zu sehr enttäuscht. Ein bisschen konnte ich ihn sogar verstehen, aber auch nur ein bisschen. Für einen Elfen war es unerträglich, blind durchs Leben zu stolpern. Obwohl man bei ihm nicht von Stolpern sprechen konnte. Im Geiste sah ich seine schlanken, muskulösen Beine vor mir. Wenn er mich nur noch ein einziges Mal in den Arm genommen hätte. Wenn er mich nur ein Mal wegen Grace’ Tod getröstet hätte. Verdammt! Sie war auch gestorben, damit ich ihn retten konnte. Aber das durfte ich ihm natürlich nicht unter die Nase reiben. Dann hielte er mir bloß vor, dass er mich nicht darum gebeten hatte. Ich hatte trotzdem nicht anders gekonnt. Ich musste mich auf die Aufgabe konzentrieren, die vor mir lag: Grace befreien und das Siegel vernichten. Wenn ich das erledigt hatte, würde ich der ganzen Welt von den Elfen erzählen, obwohl jedes Kind wusste, dass das verboten war. Am besten richtete ich einen Blog ein, damit auch wirklich ganz viele Menschen von Leylin und Avallach erfuhren. Ich könnte Bilder bei Instagram posten, wenn ich mein Handy mitgenommen hätte. Die Elfen würden mich nie wieder nach Leylin lassen, und dann wäre es endgültig aus und vorbei.
»Ich glaube, hier bin ich sicherer.« Meine Stimme zitterte ein bisschen. Das war gut, Elisien sollte ruhig glauben, dass ich Angst hatte. »In meiner Welt wäre ich Damian ausgeliefert.«
Die Königin lächelte milde. Sie durchschaute mich. Ich war noch nicht bereit, für immer zu gehen. Mein dummes Herz hoffte noch, dass Cassian zur Vernunft kam.
»Schläfst du gut?«, fragte sie unerwartet sanft und erwischte mich damit auf dem falschen Fuß. »Du bist ganz blass.«
»Nicht besonders«, gestand ich. Im Grunde schlief ich gar nicht. Sobald ich mich hinlegte, wälzte ich mich vor schlechtem Gewissen und Sehnsucht hin und her und machte damit Sky und Jade, die das Zimmer mit mir teilten, verrückt.
»Ruhe täte dir gut«, sagte Elisien. »Ich habe einen Vorschlag für dich. Geh zu unseren Heilern. Die Federaureole könnte dir deine Erinnerungen nehmen. Kiovar würde sie für dich aufbewahren, bis du wieder stark genug dafür bist.«
Hektisch schüttelte ich den Kopf. Es war mir egal, wie weh es tat, dass Cassian mich nicht mehr wollte. Ihn zu vergessen, wäre die viel schlimmere Strafe. Nie daran zurückdenken zu können, wie er mich berührt und geküsst hatte, erschien mir unerträglich. Aber vielleicht war das Unsinn. Plötzlich kam mir Elisiens Vorschlag gar nicht mehr so abwegig vor. Es würde nicht mehr so wehtun.
»Ich denke darüber nach«, lenkte ich ein. Konnte Kiovar mir einzelne, ganz bestimmte Erinnerungen nehmen, oder vergäße ich all meine Erlebnisse mit den Elfen? In jedem Fall sollte ich diese Option im Hinterkopf behalten.
»Schlechte Erinnerungen vergiften die Seele.« Sie stand auf und trat ans Fenster. »Manchmal wünschte ich, wir hätten Larimar die Erinnerungen an Damian de Winter genommen. Dann wäre sie nicht so verbittert geworden.«
»Und wie hättest du ihr die Existenz von Rubin erklärt?«, platzte es aus mir heraus, bevor ich darüber nachdenken konnte, ob das eine kluge Frage war.
Elisien drehte sich zu mir um. »Ich bin nicht sicher, ob wir ihm mit unserer damaligen Entscheidung, ihn zu ihr zurückzubringen, einen Gefallen getan haben.«
»Das habt ihr«, tröstete ich sie. »Wenn Damian de Winter ihn in seine Gewalt gebracht hätte, wäre seine Kindheit schrecklich verlaufen.«
Elisien nickte langsam. »Vielleicht hast du recht, aber nun steht er auf der Seite seines Vaters.«
»Ich glaube nicht, dass er das tut«, sprang ich für meinen Freund in die Bresche.
Sie zuckte mit den Schultern. »Er sieht zu ihm auf. Himmelt ihn an. Ich habe Angst um ihn. Denn obwohl er nicht der leibliche Sohn meines Bruders ist, habe ich immer den Neffen in ihm gesehen. Ich liebe ihn genauso wie Cassian.«
»Es war gut, ihn zu den Elfen zu holen. Es ist immer besser zu wissen, wer man ist und woher man kommt.«
Elisien nickte. »Also gut. Du kannst vorerst bleiben, aber wie verfahren wir mit dem Siegel des Beliozar? Du hast es, und jeder weiß davon. Gerade ist es satt, aber es muss sich ernähren.«
Da war die Frage, die ich gefürchtet hatte. Es würde mich nicht wundern, wenn sie mich nur deswegen zu sich gebeten hätte. »Ich glaube, bei mir ist es am sichersten«, sagte ich vorsichtig.
»Das Siegel ist ein mächtiger magischer Gegenstand. Du kannst es nicht so einfach mit dir herumtragen.«
Das wusste ich bereits alles. Der Schwarzmagier Beliozar hatte es erschaffen, damit seine Anhänger ihn wieder ins Leben zurückholen konnten, nachdem er gestorben war. Er hielt es im Haus der Wünsche versteckt. Das Siegel selbst lockte Menschen oder Bewohner der Magischen Welt dorthin, um sich von ihrer Energie zu ernähren. Wie genau das vor sich gegangen war, hatte ich nicht herausgefunden, und wollte es – ehrlich gesagt – auch gar nicht wissen. Als Grace und ich das Siegel an uns gebracht und uns nach Avallach zurückgewünscht hatten, verschwand das Haus und Grace mit ihm. Für den Rest meines Lebens würde ich es mir nicht verzeihen, wenn ich es nicht schaffte, sie zurückzuholen. Ich hatte sie im Stich gelassen, obwohl sie in dem Haus die Einzige gewesen war, die mir geholfen hatte. Trotz unserer Differenzen war sie schließlich doch meine Freundin geworden. Ohne sie wären wir alle gestorben.
Ich schluckte schwer. »Ich werde auf das Siegel achtgeben. Es tut mir nichts«, sagte ich mit fester Stimme und spürte, wie sich das kleine Ei in meiner Hosentasche erwärmte. Ich legte meine Hand darauf. Aus Angst, es aus den Augen zu lassen und irgendwo zu deponieren, schleppte ich es tatsächlich ständig mit mir herum. »Ich bin immun gegen seine Macht.«
»Gut.« Elisien gab den Fensterplatz auf und kam zu mir. »Wenn du bleiben möchtest, werde ich dich nicht daran hindern. Und ich werde dir auch das Siegel nicht fortnehmen, zumindest nicht, solange es kein Unheil anrichtet.« Sie legte einen Arm um meine Schulter. Die Elfenkönigin war nur einen halben Kopf größer als ich und, obwohl sie angespannt wirkte, wunderschön. »Magische Gegenstände suchen sich oft einen Beschützer«, erklärte sie. »Und es kommt vor, dass sie ihre Kraft für eine Weile unterdrücken. Selbst Merlin vermutet, es ist das Beste, wenn du auf das Siegel achtgibst. Es ist dir verpflichtet.«
Ich wusste nicht genau, was sie damit meinte, wollte sie aber durch unnütze Fragen nicht wieder von dieser Entscheidung abbringen.
»Sobald es nur einen Anlass gibt, bei dem wir denken, dass es uns schadet, musst du es in die Obhut der Zauberer geben, damit sie es vernichten. Nimm das nicht auf die leichte Schulter. Es kann uns alle in Gefahr bringen. Du bist dafür verantwortlich.« Für einen Moment schien es, als würden ihre Augen silbrig aufglühen.
Ich schluckte und nickte zustimmend. Mehr konnte ich nicht verlangen.
Elisien strich mir über die Wange. »Du bist ein gutes Mädchen. Ich bin froh, dass Larimar dich zu uns gebracht hat.«
Röte kroch mir bei diesem unerwarteten Kompliment ins Gesicht.
»Aber ich muss dich um eins bitten«, setzte sie hinzu. »Und das wird vielleicht das Schwerste für dich sein.«
Ich würde tun, was sie wollte, wenn sie mich bloß nicht fortschickte.
»Halt dich von Cassian fern.« Sie hielt mich an den Schultern fest und zwang mich, ihr in die Augen zu sehen. »Er hat genug gelitten. Er muss Ruhe finden und sich mit seinem Schicksal versöhnen.«
Ich nickte, obwohl ich am liebsten den Kopf geschüttelt hätte. Doch meine Chancen bei ihm hatte ich in dem Moment verwirkt, in dem ich mir wünschte, dass er mit uns zurückkommen sollte. Er selbst hatte das nicht gewollt. Sein Augenlicht war ihm wichtiger gewesen als sein Leben und als ich natürlich. »Das ist kein Problem«, sagte ich mit so fester Stimme, wie mir möglich war.
Die Königin brachte mich zur Tür. »Und noch eine letzte Bedingung«, hielt sie mich zurück. »Ich möchte, dass du und deine Freunde den Unterricht besuchen.«
»Unterricht?« Ich musste mich verhört haben. Weshalb? Was machte das für einen Sinn?
Elisiens Lachen klang wie die kleinen Glöckchen, die Mum immer an den Weihnachtsbaum hängte. »Das hier ist eine Schule. Ich kann euch nicht erlauben, auf der faulen Haut zu liegen. Also zieh nicht so ein Gesicht, es wird dir Spaß machen. Ich hatte in Avallach die schönste Zeit meines Lebens. Ich wünschte, ich könnte viel öfter herkommen. Aber manche Dinge sind eben unwiderruflich vorbei.«
Unwillig sah ich sie an. Klar, sie war auch jung und verliebt gewesen. Und das Wichtigste war, Myron hatte diese Liebe
erwidert. Für mich bezweifelte ich hingegen, dass mir der Unterricht hier besser gefiele als in der Highschool von St Andrews. Sky würde vor Freude im Dreieck springen. Vielleicht konnte ich sie überreden, mir ihre Aufzeichnungen zu leihen. Es reichte, wenn eine von uns hier herumstrebte. Ich könnte stattdessen am See in der Sonne liegen. Vielleicht würde ich
es auch mal irgendwann mit einem Buch versuchen oder Morgaine in der Küche besuchen. Dabei fiel mir ein, dass ich dringend etwas Süßes brauchte. Ich fühlte mich ständig vollkommen unterzuckert. Und Zucker bekam ich in der Küche jede Menge.
»Wir können bleiben?« Sky strahlte erst mich an und dann Frazer, der verwirrt blinzelte. So einen freudig funkelnden Blick hatte sie ihm lange nicht geschenkt. Normalerweise waren die begeisterten Blicke für Victor reserviert, den sie seit unserer Rückkehr aus dem Haus der Wünsche noch mehr anhimmelte. Keine Ahnung, wie Frazer das aushielt. Immerhin musste ich mir nicht ständig anschauen, wie Cassian an Opals Hals hing. Er behandelte sie höflich und distanziert, obwohl Opal keine Gelegenheit ausließ, ihre Besitzansprüche deutlich zu machen. Mir reichte es schon, wenn sie seine Hand nahm. Bei diesen Gelegenheiten konnte ich einen Brechreiz nur mit viel Mühe unterdrücken. Als wenn ich ihr Cassian wegnehmen könnte. Er hatte sich entschieden.
»Jupp«, kam ich auf Skys Frage zurück. »Es gibt nur einen Haken.« Also streng genommen zwei, aber dass ich mich von Cassian fernhalten sollte, ging die beiden nichts an.
Erwartungsvoll blickten sie mich an. »Was ist es?«, fragte Sky.
Es half nichts, um den heißen Brei herumzureden, deshalb kam ich gleich zur Sache. »Wir sollen am Unterricht teilnehmen.«
Frazer entgleisten die Gesichtszüge, während Sky jubelnd aufsprang. »Echt jetzt? Wir sollen lernen, was die Elfen, Zauberer, Faune und wer weiß ich noch wissen?«
Ich nickte und verbiss mir nur mit Mühe das Lächeln. Es war immer wieder schön, zu sehen, wie wichtig Sky neue Erkenntnisse waren. Und wie gut ich sie kannte. Für mehr Wissen würde sie sich beide Arme abhacken lassen.
»Das wird so cool.« Sie raffte ihre Sachen zusammen. »Ich muss in die Bibliothek. Ich muss Jade nach ihrem Stundenplan fragen. Bestimmt haben wir dieselben Fächer, Kurse, wie auch immer die das hier nennen. Oh Gott, ich habe keine Stifte mit. Gibt es hier Stifte?« Fragend sah sie mich an, aber ich zuckte nur mit den Schultern.
»Ich muss es Victor sagen.« Sie zog die dünne Jacke über, die Jade ihr geschenkt hatte. »Er wird sich so freuen!«, hörten wir sie noch rufen.
Jetzt würgte Frazer neben mir. Aber so leise, dass Sky es nicht hörte. »Puh«, stieß er aus, als sie über die Wiese zum Schloss rannte, und ließ sich neben mir auf die Decke fallen. Nebeneinander starrten wir in den strahlend blauen Himmel. »Wenigstens eine von uns scheint glücklich zu sein«, sagte er nach einer Weile. »Das ist doch auch was Schönes.«
Der Sarkasmus in seiner Stimme war nicht zu überhören. Ich tastete nach seiner Hand und drückte sie. »So unglücklich sind wir nun auch nicht, oder?«
»Könnte schlimmer sein«, brummte er und drehte den Kopf zu mir. »Allerdings auch besser.«
Ich lächelte aufmunternd, obwohl ich mich viel lieber an seine Schulter gekuschelt und geheult hätte. Wenn ich ihn nicht hätte, wäre ich vollends verloren. Er war mein Fels in der Brandung. Wir richteten den Blick wieder gen Himmel und hingen jeder für sich unseren Gedanken nach.
»Wir bleiben noch eine Weile?«, fragte er, als mir die Augen vom In-die-Luft-Starren bereits brannten. »Hältst du das für klug?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich. »Und immerhin gibt es hier jede Menge hübscher Elfenmädchen für dich. Das ist doch schon mal was.«
»Wo du recht hast, hast du recht.« Frazer setzte sich auf. »Hast du die Kleine mit den langen pinkfarbenen Haaren gesehen? Ich glaube, die steht auf mich.«
Ich kicherte. »Sie hat dir gestern auf der Treppe schöne
Augen gemacht. Du solltest unbedingt dein Glück bei ihr versuchen.«
»Das mache ich vielleicht. Und was ist mit Cassian? Er ignoriert dich, seit wir wieder hier sind«, sagte er dann ernster. »Mir kannst du nichts vormachen, Eliza. Er verhält sich wie ein Arschloch. Das musst du dir nicht antun.«
»Es ist okay, wirklich. Mir geht es gut.« Ich nickte zur Untermalung meiner Worte, wahrscheinlich etwas zu stark, um überzeugend zu wirken.
Frazer grinste. »Zum Glück ist er wieder blind, ihn könntest du mit dieser Vorstellung nie überzeugen. Obwohl er vermutlich sowieso weiß, dass du immer noch total in ihn verschossen bist.«
Ich boxte Frazer gegen die Schulter. »Vielleicht bin ich das, aber er verzeiht mir nicht. Er hat nicht ein einziges Mal versucht, mit mir zu reden.« Das auszusprechen, machte es noch schlimmer, als nur daran zu denken. Ich hatte ihn zwar nicht an das Haus der Wünsche verloren, aber das machte es nicht gerade leichter. Es war, als hätte er die Gefühle, die ich im Haus der Wünsche deutlich gespürt hatte, einfach ausgeknipst.
»Hast du es denn versucht?«, fragte Frazer mitfühlend und fuhr mir mit dem Finger über die Wange. »Warum sollte er den ersten Schritt machen?«
Ich holte tief Luft. Darüber hatte ich auch schon nachgedacht, und zu meiner Verteidigung konnte ich nicht sonderlich viel sagen. »Ich traue mich nicht. Raven hat mir erzählt, dass er stinkwütend ist. Ich habe Angst vor dem, was er mir an den Kopf wirft, wenn ich es probiere. Hätte er mir verziehen, wäre er doch zu mir gekommen, oder?«
»Vielleicht. Aber mich darfst du nicht fragen, ich verstehe diesen Elfen eh nicht. Du hast ihm das Leben gerettet. Und wenn mich ein Mädchen so lieben würde, wie du ihn …« Er brach ab.
»Ein Leben, das er nicht mehr führen wollte. Vergiss das nicht. Ich habe ihm die Entscheidung praktisch aus den Händen gerissen.« Ich zupfte unbehaglich an dem Gras herum.
Frazer schloss die Augen. »Es muss schlimm sein, nichts sehen zu können. Möglicherweise verstehe ich ihn doch ein bisschen. Stell dir vor, die Welt wäre immer finster.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, gab ich zu, und ich wollte es auch gar nicht. »Aber es tut so weh.«
»Mit der Zeit wird es besser«, tröstete Frazer mich. »Ich spreche da aus Erfahrung. Am besten, du drängst ihn nicht. Versuche einfach, ihm eine Freundin zu sein, wenn er es will.«
Ich seufzte. Das war das, was Frazer reichte. Skys Freund zu sein. Ich wusste nicht, ob ich das auch für Cassian sein wollte, eine Freundin, und ob ich mich damit zufriedengeben konnte. Allerdings hatte Cassian auch gar keinen Bedarf an einer Freundin.
»Wir könnten natürlich auch versuchen, ihn eifersüchtig zu machen«, schlug Frazer vor, und seine Mundwinkel zuckten. »Was meinst du? Ich bin dir gern dabei behilflich.«
»Ein bisschen kindisch, oder?«, fragte ich. Aber vielleicht wäre es einen Versuch wert? Allerdings würde mich jeder, der mich halbwegs kannte, sofort durchschauen, und ein wenig Stolz war mir noch geblieben. »Wenn ich total verzweifelt bin, sage ich dir Bescheid.«
Jade kam über die Wiese auf uns zugelaufen, und ich war froh, dass ich das Thema mit Frazer nicht weiter vertiefen musste. Er kannte mich definitiv zu gut.
»Die Shellycoats kommen gleich«, raunte sie mir atemlos zu und ließ sich ins Gras fallen. »Sie haben Schwimmunterricht, und dieser Joel ist so was von heiß. Das müsst ihr euch … du ansehen.« Sie verhaspelte sich bei ihren letzten Worten. »Äh, du natürlich nicht.«
Frazer zog eine Augenbraue hoch. »Ist der Typ nicht etwas zu alt für dich? Der kriegt doch bald graue Haare.«
Ich kicherte, weil er maßlos übertrieb. Emma hatte uns den attraktiven Shellycoat vorgestellt. Er hatte mit ihr und Calum zusammen vor ein paar Jahren ebenfalls Avallach besucht und eine entscheidende Rolle beim Kampf gegen die Undinen gespielt. Mir erschien er immer etwas zu distanziert, aber Jade fand ihn faszinierend. Sie spionierte ihm regelrecht hinterher, und abends im Bett erzählte sie Sky und mir stets, was sie Neues über ihn herausgefunden hatte.
Joel trainierte die Shellycoats für den Sprungwettkampf, der einmal jährlich stattfand, und sollte ihnen beibringen, ihr Licht zu erzeugen. Ich hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Ich musste Emma fragen, wenn sie das nächste Mal zu Besuch kam. Als halbe Shellycoat kannte sie sich damit am besten aus. Wenn ich Jade fragte, konnte ich mich auf stundenlange Vorträge gefasst machen, und meistens drehten die sich darum, wie sexy sie diese Shellys fand.
Jetzt pustete sie sich eine grüne Strähne aus der Stirn und musterte Frazer abschätzig. »Alt? Ich würde ihn eher als erfahren bezeichnen, und im Übrigen ist er maximal drei oder vier Jahre älter als ich. Also genau richtig. Ich stehe auf Männer und nicht auf grüne Jungs.«
»Wohl eher fünf oder sechs.« Frazer grinste und ließ sich nicht provozieren. »Weiß dein Bruder von deiner kleinen Schwärmerei?«
»Ich wüsste nicht, was ihn das anginge. Ich bin schließlich erwachsen und kann schwärmen, für wen ich will.«
Frazer lachte auf. »Du und erwachsen? Dann bin ich Santa Claus.«
Verständnislos schüttelte Jade den Kopf. Aber bevor sie nachhaken konnte, wer das sein sollte, lief die Gruppe Shellycoats, auf die sie gewartet hatte, über die Wiese und verschwand in den kleinen roten Umkleidehäuschen am Rande des Sees.
»Ich hoffe, dein Traumtyp schwimmt nicht nackt«, bemerkte Frazer trocken. »Sonst muss ich euch leider allein lassen.«
Jade kicherte. »Natürlich nicht. Shellycoats tragen beim Schwimmen spezielle Anzüge«, erklärte sie uns. »Sie sind aus irgendeinem Zeug, das sie aus dem Meer holen. Es schützt ihre Haut.«
Während Frazer und Jade sich weiter gegenseitig aufzogen, betrachtete ich die Umgebung. In der Luft lag der würzige Duft von Wasser und Kräutern. Granny würde es garantiert gefallen. Plötzlich verspürte ich riesige Sehnsucht nach ihr. Wenn ich Grace zurückgeholt hatte und das Siegel los war, würde ich nach Hause gehen und mich für einen Studienplatz in St Andrews bewerben. Noch mal wollte ich nicht von zu Hause fortgehen. Und obwohl Avallach, der See und die Wälder ringsherum traumhaft schön waren, sehnte ich mich nach Mums kleinem Café, nach unserem Haus, meiner Lieblingslichtung und meiner Familie. Ich sehnte mich nach einem stinknormalen Alltag.
Wenn man es genau nahm, dann lag das Schloss gar nicht an einem See. Auf der gegenüberliegenden Seite ragte eine zerklüftete Bergkette in den Himmel, hinter uns wellten sich eher sanfte Hügel. Beide Formationen liefen aufeinander zu und umschlossen das Gewässer fast komplett. Es gab einen schmalen Spalt, durch den das Wasser direkt ins Meer floss. Also war es eher eine Bucht. Der Legende nach war Avallach eine Insel, die vor den Menschen verborgen in den Nebeln unweit von Glastonbury lag. Dass die Insel tatsächlich existierte, wussten nur Eingeweihte wie Dr. Erickson und ein paar andere Menschen, so wie ich und meine Freunde.
Die Türen der kleinen Holzhütten öffneten sich, und heraus stürmte eine Schar kichernder Mädchen und Jungen, die tatsächlich eine Art Anzug trugen. Dieser schimmerte, glitzerte und umfloss die Gestalten, sodass es einerseits aussah, als wären sie nackt, man aber andererseits nichts als Umrisse erkennen konnte. Und diese Umrisse waren sehr wohlgeformt. Vor allem die der jungen Männer. Sie trugen keine Anzüge, sondern nur Shorts aus besagtem Material, was dazu führte, dass Jade und ich mit offenem Mund die schmalen, muskulösen Oberkörper begafften. Ich sollte dringend öfter schwimmen gehen. Vielleicht bekam ich mal einen Krampf und musste gerettet werden. Für jeden dieser Typen wäre es ein Kinderspiel, mich aus dem Wasser zu ziehen. Und ich hätte mal wieder die volle Aufmerksamkeit eines gut gebauten Typen. Ich räusperte mich. So bedürftig war ich noch nicht.
»Macht den Mund zu, sonst fliegen Insekten rein«, brummte Frazer. »Und da wird uns Männern vorgeworfen, wir seien oberflächlich. Ihr müsstet euch mal sehen.«
Jade kicherte verlegen, und ich spürte, wie ich rot wurde.
»Gucken ist ja nicht verboten«, sagte ich zu unserer Verteidigung. »Du starrst ständig irgendwelchen Mädchen hinterher.«
Jade nickte heftig. »Da muss ich Eliza zustimmen. Dabei habe ich immer gedacht, das einzige Mädchen, das dich interessiert, sei Sky.«
»Dann hast du falsch gedacht«, brummte Frazer. »Wir sind nur Freunde. Ich gucke, so viel und wohin ich will.«
»Du vergisst, dass wir Elfen Gedanken lesen können, und deine sind so was von eintönig. Sky, Sky …«, sie seufzte übertrieben, »Sky.«
Frazers Augen verengten sich zu Schlitzen. Er war nicht oft wütend, aber gleich würde er explodieren.
»Jade! Hör auf damit. Das ist nicht fair«, rügte ich sie. Frazer litt mindestens so sehr wie ich. Daher griff ich nach seiner Hand.
Die zierliche Elfe mit dem absurden Klamottengeschmack zuckte nur mit den Schultern. »Sorry, aber ich bin nun mal neugierig. Menschen interessieren mich.«
Ich stöhnte vernehmlich. »Das rechtfertigt aber nicht, dass du in Frazers Privatleben herumschnüffelst.«
»Ich schnüffele nicht«, verteidigte sie sich. »Das hört man hundert Kilometer gegen den Wind. Wenn Sky es nicht weiß, muss sie taub, blind und auch noch tot sein.«
»Ähm, ja.« Frazer räusperte sich. »Danke für die Aufklärung.«
»Du solltest unbedingt Talins Kurs belegen«, riet Jade in mitleidigem Tonfall. Frazer krümmte sich vor Verlegenheit, aber sie kannte keine Gnade. »Er wird dir zeigen, wie du dich abschirmst. Sonst wird es irgendwann peinlich. Ich meine, Victor ist ja nicht blöd.«
»Abschirmen«, presste Frazer hervor. »Alles klar. Mache ich.«
Zum Glück gingen die Shellycoats jetzt in den See, nachdem Joel ihnen irgendwas erzählt hatte. Er selbst blieb am Ufer. Seine Schüler tauchten ins Wasser, und nur wenige Minuten später schossen ein paar von ihnen hoch in die Luft, vollführten komplizierte Drehungen und tauchten ganz sanft wieder in die Tiefen. Es war ein unglaublicher Anblick. Joel gab vom Ufer aus Kommandos, die wir nicht verstanden, die allerdings ärgerlich klangen. Ganz offenbar entsprachen diese Sprünge noch nicht seinen Anforderungen. Ich fand sie hingegen beeindruckend.
Jade seufzte leise neben mir, als Joel sich entschloss, selbst ins Wasser zu gehen. »Pass auf«, flüsterte sie. »Er ist ein Artist. Es sieht so toll aus, wenn er springt. In seinem Jahrgang hat er den ersten Platz bei den Wettkämpfen belegt. Ich wünschte, ich wäre damals schon hier gewesen.«
»Da hast du dir wahrscheinlich noch in die Windeln gemacht«, rächte Frazer sich für ihre Bemerkungen.
Jade winkte bloß ab und nahm den Blick nicht vom See. Selbst wenn sie mich nicht dazu aufgefordert hätte, ebenfalls zuzusehen, mir blieb gar nichts anderes übrig, als Joel anzustarren. Seine schlanke Gestalt schoss aus dem Wasser. Die Tropfen auf seiner Haut funkelten in allen Regenbogenfarben. Er schraubte sich in die Höhe, drehte sich zweimal um die eigene Achse, schlug einen doppelten Salto, klappte zusammen wie ein Taschenmesser, streckte sich und tauchte lautlos wieder ins Wasser ein. Wahnsinn. Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie gesehen. Allein die Kraft, um so hoch aus dem Wasser zu springen, war für einen Menschen unvorstellbar.
Jade hüpfte auf unserer Decke herum und klatschte und jauchzte wie wild, als Joel zurück ans Ufer trat. Er ignorierte sie geflissentlich und schüttelte nur sein schulterlanges Haar. Die fliegenden Wassertropfen glitzerten in der Sonne. Kein Wunder, dass er Jade gefiel. Er hatte etwas Piratenhaftes an sich. Was war aus ihren Gefühlen für den Zentauren Perikles geworden? Bei Gelegenheit sollte ich sie einmal danach fragen.
Frazer stand auf und schnappte sich seine Jacke. »Ich gehe dann mal. Ist ein bisschen peinlich mit euch Groupies.« Er beugte sich zu mir herunter und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Sagte ich schon, dass andere Mütter auch schöne Söhne haben? Vielleicht solltest du bei diesem Prachtexemplar dein Glück versuchen.«
Jade schnaufte empört, während ich loslachte.
»Amüsiert ihr euch gut?« Unvermittelt erklang Cassians Stimme hinter uns. Erschrocken fuhr ich herum. »Frazer, Eliza!« Er nickte in unsere Richtung.
»Das tun wir.« Zum Glück übernahm Frazer das Reden. »Wir stalken diese gut gebauten Shellycoats.«
Ich schlug mir mit der Hand an die Stirn. Er war unmöglich.
»Eliza findet den blonden besonders scharf. Wie heißt er eigentlich, Jade?«, wandte er sich an Cassians Schwester.
Die grinste verschwörerisch. »Keine Ahnung, aber das kriege ich raus, wenn du willst.«
Am liebsten hätte ich ihnen beiden den Hals umgedreht. Mein Atem beschleunigte sich vor Nervosität. Ich stand auf, weil es sich blöd anfühlte, wenn Cassian mich so überragte. Frazer legte einen Arm um meine Schultern, was gut war, denn Cassian wirkte plötzlich irgendwie mordlüstern. Waren das Schatten unter seinen Augen?
»Willst du dich zu uns setzen?«, fragte Jade nicht sonderlich beeindruckt von der Feindseligkeit ihres Bruders.
»Nein danke.« Seine Stimme klang wie splitterndes Glas. »Wieso bist du nicht bei deinem Unterricht?«
Seine Schwester rümpfte die Nase. »Spionierst du mir nach?«
»Sei nicht albern. Myron schickt mich. Das ist das vierte Mal in dieser Woche, dass du schwänzt. Was denkst du, wozu du hier bist?«
Myron war der Direktor der Schule. Ein Vampir. Aber ein ziemlich umgänglicher Typ und zudem Elisiens heimliche erste Liebe. Sie müsste mich besser verstehen. Egal. Ich durfte nicht schon wieder damit anfangen. Sie hatte ihre große Liebe auch nicht bekommen, und sie hatte es überlebt. Konnte nicht so schwer sein. Ich starrte Cassians Gesicht an. Seine schmale Nase, sein markantes Kinn, seine festen Lippen. Frazer kniff mich in den Arm und brachte mich damit zur Besinnung.
»Frazer und Eliza müssen auch nicht in irgendeinem langweiligen Klassenzimmer hocken, wenn es hier draußen viel spannender ist«, murrte Jade, ließ aber zu, dass ihr Bruder ihre Hand ergriff. »Er ist so ein blöder Bestimmer«, beschwerte sie sich noch, während er sie schon in Richtung Schloss zog. »Und seit ihr aus dem Haus der Wünsche zurück seid, ist es noch schlimmer. Er ist geradezu unausstehlich. Was hast du nur mit ihm angestellt?« Als er seine Schritte beschleunigte, schimpfte sie: »Au! Du tust mir weh.«
Erleichtert stieß ich die Luft aus, als die beiden aus unserem Sichtfeld verschwunden waren.
»Du musst mit ihm reden«, sagte Frazer. »Und du solltest nicht allzu lange damit warten. Du schmachtest ihn an wie eine Drogensüchtige einen Joint, den sie nicht haben kann. Das ist nicht gesund.«
Ich schüttelte den Kopf. »Du übertreibst maßlos.«
»Tue ich nicht. Also sag schon, warum du nicht mit ihm sprechen willst.«
»Hast du nicht gemerkt, dass er mich gern auf der Stelle in einen Eisklotz verwandeln würde, sobald er mich sieht? Vielleicht versuche ich es, wenn er nicht mehr ganz so wütend ist. Versprochen.«
»Ich werde dich daran erinnern«, versprach Frazer. »Und jetzt lass uns ins Schloss gehen. Ich muss mich unbedingt in diese Talinkurse eintragen.« Er fuhr sich mit einer Hand verlegen durch sein Haar, das dringend einen Schnitt benötigte. »Denkst du wirklich, Sky weiß, wie sehr ich sie mag?«
Ich nahm seine Hand, und wir machten uns auf den Rückweg. »Ich fürchte, in dem Punkt hat Jade recht. Man erkennt es tausend Meilen gegen den Wind.«
»Wir sind schon ein Pärchen«, seufzte er. »Das ist beinahe peinlich.«
Wo er recht hatte, hatte er recht. Es musste sich etwas ändern.
Raven!«, überfiel ich die Elfe, die im Schloss das Kommando über die Wachen führte. »Du musst mir sagen, wie ich zum Heiligen Baum komme!« Es war noch ziemlich früh am Morgen, aber ich hatte nicht mehr schlafen können und war joggen gewesen. Eine Beschäftigung, der ich noch vor einem halben Jahr niemals nachgegangen wäre. Sportliche Betätigung war nicht so mein Ding, aber ich hatte festgestellt, dass dieses stupide Laufen zuverlässig unliebsame Gedanken vertrieb, und das konnte ich gut gebrauchen.
Raven starrte mich gerade allerdings an, als wären mir Hörner gewachsen, dabei war ich vermutlich einfach nur knallrot und verschwitzt. Sie zog mich in den Schatten der Schlossmauer. »Was willst du dort?«, zischte sie. »Wer hat dir davon erzählt?«
Ich keuchte noch ein bisschen, als ich zu einer Erklärung ansetzte: »Emma meinte, der Baum würde mir helfen, das Siegel vor Damian in Sicherheit zu bringen, und ich hoffe …«
»Hätte ich mir doch denken können, dass sie dir diesen Floh ins Ohr setzt.« Raven warf ihr Haar auf den Rücken. Es war von pinkfarbenen Strähnen durchzogen. Bestimmt war das Jades Werk. Sie versuchte, uns alle für ihre Frisurexperimente zu missbrauchen. Bisher war ich ihr erfolgreich entkommen.
»Stimmt es denn?«, hakte ich nach. »Emma hat behauptet, wenn ich alle drei Siegel gleichzeitig dorthin bringe, vernichtet der Baum sie. Ein einzelnes kann er nur in Obhut nehmen.«
Raven ging ein paar Schritte auf und ab. »Woher weiß Emma das?«, fragte sie dann. Die Elfe war ein bisschen größer als ich, und jetzt funkelte sie mich aufgebracht an.
»Keine Ahnung. Das habe ich nicht gefragt.« Es war ja irgendwie klar, dass hier jeder mehr über diese Dinge wusste als ich. »Ich frage mich nur, ob der Baum mir auch dabei helfen kann, Grace zu befreien.«
Jetzt legte Raven mir ihre Hände auf die Schultern. »Du glaubst immer noch, dass sie überlebt hat?«
Ich nickte. Davon ließ ich mich nicht abbringen, egal, was die Elfen und Zauberer mir sagten. Ich musste unbedingt noch mal mit Merlin sprechen, aber der war auf Reisen. Darum hatte ich beschlossen, Raven nach dem Weg zu fragen. Das war sozusagen mein Stufenplan zu Grace’ Befreiung. Ich würde alle Informationen zusammentragen und dann entsprechend handeln. Nur an diese zu kommen, erwies sich als weitaus schwieriger, als in Fort Knox einzubrechen.
»Vergiss es«, sagte Raven. »Wir beschützen dich, weil wir nicht wollen, dass dir noch einmal so etwas zustößt wie an Samhain. Und niemand von uns wird zulassen, dass du dich wieder in ein gefährliches Abenteuer stürzt.«
»Rennt deshalb immer ein Typ deiner Wachen hinter mir her?«, fragte ich.
»Sie sollen eigentlich außerhalb deiner Sichtweite bleiben«, antwortete Raven. »Das hat dann wohl nicht geklappt.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht blind, und ich werde nicht lockerlassen«, setzte ich hinzu. »Wenn du mir nicht hilfst, finde ich jemand anderen.«
Raven seufzte. »Versteh uns doch, Eliza. Wir möchten dir das Siegel nicht gewaltsam abnehmen. Das ist nicht unsere Art. Aber wir dürfen auch nicht zulassen, dass es irgendein Unheil anrichtet. Wir wissen viel zu wenig über seine Macht.«
Ich nickte nur und drehte mich weg, um das Schloss durch die Küchentür zu betreten. Bestimmt wartete Morgaine schon mit ihrer leckeren Zitronenlimonade auf mich. »Ich muss tun, was ich tun muss«, sagte ich noch leise.
Das Zuklappen der Tür verschluckte Ravens letzte Worte, aber ich glaubte, ich verstand sie dennoch. »Wir auch.«
»Rubin«, begrüßte ich den Halbmagier, Halbelf – was auch immer er jetzt war. Er saß an dem langen Esstisch, an dem unsere Gruppe immer die Mahlzeiten einnahm. »Wir beide sind mit Tischdecken dran, richtig?«
»Hm«, bestätigte er. »Ich dachte schon, du drückst dich.«
»Auf keinen Fall.« Ich verzog das Gesicht. »Ich liebe Küchenarbeit.«
»So siehst du aus.« Rubin zwinkerte mir zu. »Wenn es erlaubt wäre, würde ich die Teller und das ganze Zeug auf den Tisch zaubern, aber du weißt ja … strengstens verboten. Mein Vater lyncht mich, wenn Myron mich von der Schule verweist.«
Ich holte einen Stapel Teller aus der Anrichte. »Wie kommst du überhaupt mit Damian klar?«, fragte ich. Ich konnte bis jetzt nicht verstehen, weshalb sich Rubin dem Magier angeschlossen hatte. Okay, er war sein Vater, aber in dem Job hatte er sich bisher nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Eher das Gegenteil war der Fall. Damit riskierte Rubin, aus der Elfenwelt ausgeschlossen zu werden. Aber vielleicht war ihm das auch nicht mehr so wichtig. Hätte Damian de Winter nicht darauf bestanden, dass seine Söhne Avallach besuchten, hätte ich Rubin nie wiedergesehen. Allerdings bezweckte Damian etwas Bestimmtes damit, seine Söhne herzuschicken, und es war nicht die Vertiefung der Völkerfreundschaft. Das war mal sicher.
»Er ist kein Vorzeigevater, wenn du das meinst«, antwortete Rubin. »So viel Glück habe ich auch nicht erwartet.« Er stand auf und holte Messer und Gabeln aus einem Schubfach. »Aber ich fühle mich bei den Magiern nicht mehr ganz so ausgeschlossen.«
»Wie meinst du das?« Ich lehnte mich gegen den Schrank und beobachtete, wie er das Besteck neben die Teller legte.
»Ich habe immer gespürt, dass ich nicht zu den Elfen gehöre«, sagte er leise. »Aber ich habe nie gewusst, weshalb das so ist. Dass ich keine Gedanken lesen kann, hätte ja auch eine Laune der Natur sein können. Jetzt weiß ich wenigstens, wo ich hingehöre.«
»Kannst du dich an die Menschen erinnern, bei denen du gelebt hast, als du klein warst?«
Rubin schüttelte den Kopf. »Meine ersten Erinnerungen hängen alle mit Larimar und ihrem Mann Eldorin zusammen. Er hat Ball mit mir gespielt. Und dann ist da noch Cassian.« Rubin lächelte. »Wir waren ein ziemlich wildes Gespann. Larimar hat das verrückt gemacht. Sie war keine sonderlich geduldige Mutter.«
»Redet ihr manchmal miteinander?«, fragte ich. »Weißt du, wie es Cassian geht?«, konnte ich mir nicht verkneifen, genauer nachzuhaken. Dafür, dass sie mal beste Freunde gewesen waren, hatten sie erstaunlich wenig miteinander zu tun. Etwas musste sie entfremdet haben.
»Ich habe es versucht.« Rubin reichte mir einige Gläser herunter, die ganz oben im Schrank standen. »Er will nicht über die Zeit im Haus der Wünsche reden, und er behauptet immer, es gehe ihm gut. Dabei geht es ihm überhaupt nicht gut.« Rubin seufzte. »So war er schon immer. Bloß nicht über Gefühle reden, dann müsste man ja erst mal zugeben, dass man welche hat.«
Oh, er hatte welche. Dafür erinnerte ich mich viel zu gut an seine Küsse und seine Berührungen. Ich stellte die Gläser auf den Tisch. »Vielleicht will er sich nicht noch abhängiger fühlen. Seine Blindheit ist für ihn schon ein großes Handicap. Sich Gefühle einzugestehen, insbesondere widersprüchliche, ist nicht so leicht.«
»Aber du gibst doch auch zu, dass du ihn liebst, oder?« Rubin steckte die Hände in die Hosentaschen, lehnte sich gegen den Tisch und musterte mich. »Trotz allem, was er dir angetan hat.«
Ich kaute auf meiner Lippe herum und nickte. Rubin konnte zwar nicht Gedanken lesen, deshalb wollte ich ihn aber noch lange nicht anlügen.
»Darum könnte ich ihn fast beneiden«, sagte er leise. »Also nicht um dich persönlich, aber um die starken Gefühle, die du ihm entgegenbringst.«
»Was nützen schon Gefühle, wenn sie nicht erwidert werden. Ich habe ihn ziemlich verletzt. Wenn ich ihn weniger stark lieben würde, wäre das vielleicht besser für ihn gewesen. Dann hätte ich ihn gehen lassen können.«
Rubin winkte ab. »Wenn Cassian irgendwann mal im Kreise seiner Enkel sitzt, wird er dir dankbar dafür sein, dass du ihm das Leben gerettet hast. Ich wette, im Grunde ist er das jetzt schon. Er wird es nur nie zugeben können.«
»Könnten wir das Thema wechseln?«, bat ich und holte die Servietten. Es würden jedenfalls nicht unsere gemeinsamen Enkel sein.
»Wenn du möchtest. Ich habe gehört, ihr sollt am Unterricht teilnehmen. Hast du dir schon überlegt, welche Fächer du belegen möchtest?«
»Nope.«
»Falls es dich interessiert, welche Cassian besucht, da hängt ein Stundenplan.« Er wies auf eine Art Pinnwand neben der Tür. Dort standen alle Kurse und wer aus unserer Gruppe welche belegte.
Am liebsten wäre ich sofort hingesprungen und hätte nachgesehen, aber nicht, um mich in dieselben Fächer einzuschreiben, sondern ganz im Gegenteil. Je weniger wir miteinander zu tun hatten und je seltener ich ihn sah, desto besser. So konnte ich mir einbilden, seine Ablehnung täte nicht mehr ganz so weh. Etwas widersinnig, das wusste ich. Aber mir half es ein bisschen. Wir waren seit fast zwei Wochen zurück aus dem Haus der Wünsche, und es fühlte sich wahlweise so an, als wäre es hundert Jahre her oder eine Sekunde. Das kam darauf an, ob ich heulend auf dem Bett lag und dachte, die Sehnsucht brächte mich um, oder ob ich versuchte, mich zusammenzureißen, und mir einredete, dass es auch noch andere Jungs gäbe, die mich gern zur Freundin hätten. Leider fiel mir kein einziger Junge ein, von dem ich mich gern trösten lassen wollte. Ich konnte nur hoffen, dass bald einer auftauchte, der das Zeug dazu hatte, mich von meinen Gefühlen abzulenken. Aber die Chance war zwischen Werwölfen, Faunen, Vampiren, Magiern, Zauberern und was sonst noch alles durchs Schloss spazierte verschwindend gering. Vielleicht sollte ich Bruce, den zartbesaiteten Werwolf, in Erwägung ziehen, er würde den Boden küssen, über den ich lief, aber das wäre auch irgendwie eklig.
»Erde an Eliza!«, rief Rubin. Er hielt mir zwei Wasserkaraffen hin, die ich auf den Tisch stellen sollte. Verlegen nahm ich sie ihm ab und stellte sie in die Mitte, sodass alle bequem rankamen. Vielleicht könnte ich mich heute Nacht aus dem Zimmer schleichen und mal an die Pinnwand luchsen. Wenn ich einen einzigen Kurs mit Cassian belegte, würde ich schon nicht gleich sterben. Dann könnte ich ihn aus der Ferne anschmachten.
»Es ist besser, wenn du dich damit abfindest, dass es vorbei ist«, riet Rubin. »Auch wenn er dir verzeiht, wird er doch Opal heiraten. Das wirst du nicht mehr ändern können. Er hat bereits mit Elisien gesprochen und mit Opals Vater. Es ist alles in Sack und Tüten.« Er strich mir mitleidig über den Arm.
Bestimmt standen mir meine Gefühle ins Gesicht geschrieben, da benötigte niemand die Fähigkeit, Gedanken lesen zu können. Glücklicherweise waren wir allein. Es war alles bereits abgemacht? Obwohl ich um die Pläne gewusst hatte, war mir nicht klar gewesen, wie weit sie inzwischen gediehen waren. Gott, war ich ein Naivchen.
»Wenn er erst mal verheiratet ist, von den Aureolen sein Augenlicht zurückerhalten hat und in den Schoß der ersten Familie zurückgekehrt ist, wird er dich sowieso keines Blickes mehr würdigen«, setzte Rubin unbarmherzig hinzu.
Vielen Dank auch für die klare Ansage. »Ich dachte, wir sind Freunde«, sagte ich kleinlaut. Wie konnte er so brutal sein? Als ich schwankte, zog Rubin einen Stuhl unter dem Tisch hervor und drückte mich darauf. »Das sind wir auch, aber das bedeutet nicht, dass ich nicht ehrlich zu dir oder für Cassians Verhalten blind bin.«
»Nettes Wortspiel«, bemerkte ich und war um meine Fassung bemüht.
Rubin zuckte nur mit den Schultern. »Wir haben alle unsere Schwächen, und Cassian ist eben mit dem Platz, den das Schicksal ihm zugeteilt hat, nicht einverstanden.«
»Dann habt ihr ja etwas gemeinsam«, platzte es aus mir heraus.
»Wie meinst du das?«, fragte er unsicher. Plötzlich sah er wie ein kleiner Junge aus, obwohl er sich in dem Jahr, seit ich ihn nun kannte, zu einem stattlichen Elfen entwickelt hatte. Er war größer geworden und wirkte viel erwachsener. Sein helles Haar ging ihm fast bis zur Taille, und er hatte das elfenübliche makellose Gesicht. Natürlich sah Cassian mit seiner Narbe hundertmal attraktiver aus. Ähm, ja. Zurück zum Thema.
»Ich verstehe das«, sagte ich. »Larimar war nicht gerade liebevoll. Du musst dich oft allein gefühlt haben.«
Rubin zuckte wieder nur mit den Schultern. Natürlich würde er nie zugeben, dass ich recht hatte. Jungs taten so etwas nicht. Damit unterschied er sich kein bisschen von denen aus der Menschenwelt. Immer schön cool bleiben und bloß keine Gefühle zeigen. Warum war ich eigentlich kein Junge? Das würde vieles erheblich einfacher machen.
Die Tür ging auf, und Cassian und Opal kamen herein. Als sie mich sah, schnappte sie nach seiner Hand. Mir entlockte sie damit nur ein müdes Lächeln. Niemals würde ich ihr meine wahren Gefühle zeigen. Seit Cassian Elisiens Räumlichkeiten verlassen hatte, in die er sich für seine Wutausbrüche nach unserer Rückkehr zurückgezogen hatte, bekam man die beiden sowieso fast nur noch im Doppelpack zu Gesicht.
Opal musterte mich, als hätte sie eine Kakerlake entdeckt, verkniff sich allerdings eine Bemerkung. Hinter ihnen kamen ein paar Feen hereingeflogen, die mit riesigen Tabletts balancierten. Sobald ich mal wieder Appetit hätte, würde ich mich auf die Leckerbissen stürzen. Leider bekam ich derzeit nichts herunter, weil ein Kieselstein in meiner Kehle steckte, den ich einfach nicht hinunterschlucken konnte. An ihm kam maximal Flüssignahrung vorbei. Gin Tonic und Wodka gab es in Avallach nicht, was durchaus ein Grund wäre, direkt in die Menschenwelt zurückzugehen. Nur müsste ich mich dann der Realität stellen. Dazu war ich nicht bereit.
Frazer und Jade erschienen in der Tür und hinter ihnen Sky und Victor. Eng umschlungen, verstand sich. Bruce, der mich schmachtend ansah, kam mit ein paar anderen Mitbewohnern angetrottet.
Jeder Schüler in Avallach gehörte einer Gruppe an. In jeder Gruppe gab es maximal dreißig Schüler, das hatte ich schon herausgefunden. Schuluniformen trug niemand, was ich richtig gut fand, und jeder Schüler musste mindestens fünf Kurse belegen. Darüber musste ich mir in den nächsten Tagen Gedanken machen. Bestimmt wusste Loris – unser Gruppenchef – längst von Elisiens Bedingung. Er war ein Shellycoat, und ich mochte ihn sehr, weil er so ein sonniges Gemüt hatte. Egal, wie schlecht gelaunt seine Schützlinge auch waren, er begegnete uns immer mit Humor. Wenn ich nicht schlafen konnte, versorgte er mich mit heißer Schokolade und erzählte mir von Berengar, der Hauptstadt der Shellycoats, die irgendwo im Meer versteckt lag, und von seiner Familie. Er fragte mich nie nach dem Haus der Wünsche, nach Cassian oder den Siegeln. Er behandelte mich genauso wie alle anderen auch. Als Kind war er im Atlantik in ein brennendes Ölfeld geraten, nachdem ein riesiger Tanker verunglückt war. Seitdem war sein Gesicht von Narben durchzogen, die es zwar nicht direkt entstellten, aber sehr unregelmäßig wirken ließen. Er war der lebende Beweis dafür, dass man sich von seinem Schicksal nicht unterkriegen lassen durfte. Ich war jung und gesund. Ich hatte eine Familie, die mich liebte. Mein einziges Pech war, dass mich der Junge, in den ich bis über beide Ohren verschossen war, nicht mehr wollte. Ja, Herrgott noch mal, damit war ich nicht das einzige Mädchen auf der Welt. Dieses Schicksal teilte ich mit Millionen von Frauen. Und wenn ich es mir lange genug einredete, glaubte ich irgendwann auch, dass es nur halb so schlimm wäre. Wir hatten ein bisschen rumgeknutscht und mehr nicht. Es war an der Zeit, mit Cassian abzuschließen. Seit unserer ersten Begegnung schmachtete ich ihn nun an und wartete darauf, dass er mir ein kleines Bröckchen Zuneigung hinwarf. Dieses ewige Hin und Her zerrte an meinen Nerven und meinem Stolz.
Ich musste mich den wichtigen Dingen des Lebens zuwenden und meine Mission erfüllen, und dazu brauchte ich Hilfe. Ich warf Rubin einen Blick zu. Während sich alle um den Tisch Versammelten unterhielten und fröhlich das köstliche Essen auf die Teller schaufelten, saß er neben seinem Bruder Victor und stocherte lustlos in seinem Pie herum.
»Rubin, jetzt guck nicht wie ein Trauerkloß!«, rief Jade plötzlich über den Tisch und warf etwas, das wie eine Haselnuss aussah, nach ihm. »Du wirst immer langweiliger und bekommst Falten auf der Stirn.«
Als ob es jemals Elfen mit Falten geben könnte. Wie gut, dass Cassian nichts mehr von mir wissen wollte. Irgendwann würde ich alt und grau werden, wohingegen er diese makellose Schönheit behielt. Schreckliche Vorstellung.
»Lass ihn in Ruhe«, sagte Cassian mahnend. »Nur weil jemand nicht pausenlos plappert, bedeutet es nicht, dass er ein Trauerkloß ist. Es gibt Leute, die können auch mal still sein, und das ist für alle anderen sehr erholsam.«
Jade stand auf und guckte ihren Bruder beleidigt an. »Ich geh noch mal die Wachen kontrollieren.« Sie zwinkerte mir zu. Das war ihr Code für Ich gehe Joel stalken, wie ich schnell herausgefunden hatte. Der Shellycoat war von Raven für heute Nacht zum Wachdienst eingeteilt worden. Wüsste sie, was Jade mit diesen Informationen anfing, wäre sie vorsichtiger mit dem, was sie ihr erzählte.
Jetzt, wo ich darüber nachdachte, kam mir das Schloss eher wie eine Festung vor. Auf Schritt und Tritt begegnete man bis an die Zähne bewaffneten Kriegern in weißen Klamotten. Egal wo ich hinging – ständig folgten mir ein oder zwei von den Typen in sicherem Abstand. Dank des Gespräches mit Raven wusste ich nun ja auch, wieso das so war. Nur mal gesetzt den Fall, ich wollte mit jemandem anbändeln, wir würden niemals in Ruhe in einer Ecke des Schlosses rumknutschen können. Am anderen Ende des Tisches klirrte es laut. Erschrocken sah ich auf. Opal tupfte bereits an Cassian herum. Sein Shirt war nass, und auf seinem Teller lagen Scherben.
»Er hat es mit der Hand zerdrückt«, flüsterte eine Faunin mir gegenüber ihrem Nachbarn zu. »Hast du das gesehen?« Sie seufzte und himmelte den nassen Elf weiter an.
Cassian schob Opals Finger von sich weg, stand auf und ging in sein Zimmer. Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloss. Dieser Mann war dauerschlechtgelaunt. Ich sollte froh sein, ihn los zu sein. Stattdessen wäre ich ihm am liebsten hinterhergerannt, um mich auf ihn zu stürzen und ihm seine Klamotten vom Leib zu reißen. Also wenigstens sein nasses Shirt.
In der darauffolgenden Nacht schlief ich besonders schlecht. Meine Gedanken ließen mich nicht zur Ruhe kommen. Ich knibbelte nervös an meinen Fingernägeln, tastete nach dem Ei unter dem Kissen, strampelte die Decke weg und stand genervt auf. Ich fand einfach keine Ruhe mehr. Wenn Merlin doch nur bald zurückkommen würde. Ich wusste nicht, an wen ich mich sonst wenden konnte. Er war Zauberer. Er musste mir zuhören. Wenn ich zu lange wartete, verschwand Grace vielleicht doch irgendwohin. Der Zauberer musste mir sagen, wie Beliozar das Siegel erschaffen hatte und wie es funktionierte. Dann fand ich vielleicht auch heraus, was es mit den Bewohnern angestellt hatte, die auf Nimmerwiedersehen verschwunden waren. Und ich musste mich beeilen, denn ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass bereits neues Unheil auf mich lauerte. Raven und Elisien glaubten dies offensichtlich auch, sonst würden sie mich nicht auf Schritt
und Tritt bewachen lassen. Lautlos, um Sky und Jade nicht zu wecken, schlich ich zum Fenster. Der Mond bildete eine perfekte Sichel. Hell stand er umgeben von Milliarden Sternen am nachtschwarzen Himmel. Vorsichtig öffnete ich das Fenster und ließ die warme Luft ins Zimmer. In der Magischen Welt war das Wetter immer gleich schön. Ich hatte noch nie einen Sturm erlebt oder Starkregen. Das war einerseits natürlich angenehm, andererseits aber auf Dauer auch langweilig. Glücklicherweise war diese Dauer für mich begrenzt. Ich setzte mich auf die Fensterbank. Mein Blick glitt über die Wiese, die bis zum See reichte und von Blumenbeeten gesäumt war. In einiger Entfernung grasten ein paar Rehe. Leise seufzte ich. Es war so friedlich, und obwohl es völlig irrsinnig war, sehnte ich mich zurück in das Haus der Wünsche. Trotz allem, was uns widerfahren war, war ich dort so glücklich gewesen wie noch nie in meinem Leben. Ich drehte und wendete in meinen Händen das kleine Ei, von dem ich hoffte, dass Grace darin gefangen war und auf ihre Befreiung wartete. Das hatte ich in den letzten Wochen so oft gemacht, dass mir die Oberfläche mittlerweile viel glatter vorkam als früher. Wie jedes Mal erneuerte ich auch heute mein Versprechen an Grace, sie zu befreien. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass mir kalt wurde. Erst spürte ich es nur in den Fingerspitzen, dann an den Wangen. Seit wann kühlten die Nächte in Avallach so stark ab? Ich schlich auf Zehenspitzen zu meinem Bett, schob das Ei unter das Kopfkissen zurück und legte mir die Decke um die Schultern. Dann setzte ich mich mit meinem behelfsmäßigen Umhang zurück auf das breite Fensterbrett. So war es besser. Die Rehe waren verschwunden. Dafür drang ein Knistern an mein Ohr, und dann hörte ich eine Stimme. Da war noch jemand außer mir wach. Leider verstand ich nicht, was die Stimme sagte, weil sie eher verhalten raunte. Mit wem die Person auch sprach, sie bekam keine Antwort. Ich lehnte mich aus dem Fenster, konnte aber nichts erkennen. Wer immer es war, er musste direkt unter dem Fenster stehen. Befanden sich unter uns Wohnräume oder Schulzimmer? Bisher hatte ich mich entweder auf der Krankenstation, in meinem Zimmer oder draußen aufgehalten. Das Knistern verstärkte sich. Was trieb der Kerl da? Die dunkle Stimme wurde lauter. Ich hielt mich am Fensterrahmen fest, beugte mich noch etwas weiter vor und betrachtete erstaunt die Sandsteinwände des Schlosses. Avallach war während der Undinenkriege komplett zerstört worden. Emmas Halbbruder war damals von einem Spiegel namens Muril besessen gewesen. Also nicht von dem Spiegel, sondern von einer Dämonin, die in dem Spiegel gefangen war. Emma hatte den Spiegel zerstört und damit die Magische Welt gerettet. Sie hätte sogar ihr Leben für das alles geopfert.
Jedenfalls wurde das Schloss nach dem Vorfall komplett restauriert, und der ehemals graue Sandstein leuchtete in der Dunkelheit seither in einem hellen Gelbton.
Er sollte jedenfalls gelb leuchten. Stattdessen überzog nun eine weiße Schicht das Mauerwerk, und diese weiße Schicht kroch höher und höher. Was zum Teufel … Ich streckte mich, um das weiße Zeug zu berühren. Aber meine Finger rutschten ab, ich verlor das Gleichgewicht und kippte mit einem Schrei aus dem Fenster. Typisch. Mit einer Hand erwischte ich im Flug noch den Sims. Lange würde ich mich daran nicht festhalten können. Ich versuchte, mit den Füßen Halt in einem Mauerspalt zu finden. Trotz der Kälte, die das Mauerwerk ausstrahlte, trat mir der Schweiß auf die Stirn. Ich würde fallen, wenn mir niemand sofort half. Wie tief war es eigentlich? Ich wagte nicht, hinunterzuschauen.
»Sky!«, rief ich. Meine Finger wurden feucht. Ich würde auf dem Boden zerschellen. Gut, zerschellen vielleicht nicht, aber ich hätte mit Sicherheit zwei gebrochene Beine.
Über mir erschien jemand im Fensterrahmen. »Wurde auch Zeit«, presste ich hervor. »Beeil dich. Du musst mir helfen, sonst falle ich.«
Allerdings war es nicht Sky, die sich aus dem Fenster beugte, sondern Cassian. Ich stöhnte lautlos auf, aber in meiner Situation durfte ich nicht wählerisch sein. Er griff nach meinen Armen und zog mich ohne größere Anstrengungen nach oben. Erleichtert taumelte ich gegen seine Brust.
»Geht es dir gut?«, fragte er. Seine Hände fuhren über meine Schultern und mein Gesicht, als wollte er prüfen, dass noch alles an mir dran war. Seit Wochen waren wir uns nicht mehr so nahe gewesen. »Was hattest du da draußen zu suchen?« Seine Hände beendeten ihre Wanderschaft und legten sich auf meine Taille. »Du hättest dir den Hals brechen können.«
»Entschuldige«, stammelte ich. Weshalb roch er so gut, und weshalb war er nicht wütend? »Ich habe mich nur etwas zu weit hinausgelehnt. Das war dumm von mir. Kommt nicht wieder vor.« Ich legte ihm eine Hand auf die Brust, um ihn wegzuschieben, mich wegzustoßen – was auch immer – , aber er hielt mich fest. Sein Herz schlug ganz schön schnell.
»Du musst besser auf dich achtgeben«, sagte er leise. Waren das seine Daumen, die durch den Pyjama meinen Bauch streichelten? Bestimmt eine Halluzination infolge des Schocks über meinen Beinahesturz. Aber es fühlte sich himmlisch echt an. Ich rührte mich keinen Millimeter.
Im Zimmer war es dunkel, nur der Mond schickte ein paar Strahlen herein. Ich fühlte mich wie in einem Kokon. »Entschuldige«, sagte ich noch mal, verwirrt, weil er mich nicht anbrüllte und nicht wütend war. Ich wusste nicht, ob mir dieses Verhalten gefiel oder nicht. Seine Wut war stets ein Zeichen gewesen, dass er sich um mich sorgte. »Cassian«, setzte ich an. »Wir müssen …«
»Was treibt ihr beide da?«, erklang plötzlich Jades schläfrige Stimme.
»Nichts«, antwortete Cassian und nahm die Hände von mir. »Eliza ist nur ein Missgeschick passiert.«
Sky, die mittlerweile auch aufgewacht war, rappelte sich aus dem Bett und drängte ihn beiseite. »Was ist denn los?« Besorgt musterte sie mich, während Cassian die Fensterflügel schloss.
»Da war jemand«, erklärte ich. »Er hat gemurmelt, dann wurde es kalt, und etwas Weißes überzog von unten her die Fassade«, berichtete ich weiter. »Als ich nachschauen wollte, bin ich vornübergekippt.«
Jade kam zum Fenster gehüpft. Sie öffnete es wieder und beugte sich hinaus. »Da ist nichts!«, rief sie. »Sieht alles aus wie immer. In Avallach wird es nie kalt. Kann es sein, dass du eingeschlafen und rausgekippt bist?« Ungeduldig sah sie mich an. »So was passiert auch echt nur dir.«
Ich war mir zwar ziemlich sicher, dass ich nicht weggenickt war, zuckte aber nur mit den Schultern.