Feiertagskinder - Eduard von Keyserling - E-Book

Feiertagskinder E-Book

Eduard von Keyserling

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Beschreibung

Irma von Buchow und ihr siebenjähriger Sohn Uli sind Feiertagskinder. Die Adelige bewohnt zusammen mit ihrem Gatten, Baron Ulrich von Buchow, dessen Landhaus Laleiken in der Nähe des Marktfleckens Drixen. Doch Gutsherr Ulrich ist nicht der Richtige für Irma. Ganz anders als Ulrich gibt sich dessen jüngerer Bruder Achaz von Buchow. In diplomatischen Diensten zwischen Berlin und Rom pendelnd, macht Achaz mitunter in Laleiken Urlaub. Irma lebt während dieser Aufenthalte des jungen Weltmannes, der so viel Heiterkeit ausstrahlt, jedes Mal sichtlich auf und tritt für eine Zeit aus ihrem Schattendasein. Sobald der Schwager abgereist ist, sehnt sie sich nach seinem hellen Lachen. Die scheinbar intakte Welt gerät aus den Fugen, als der kleine Uli erkrankt und stirbt. Irma verwindet den Verlust nicht. In seiner Not ruft Ulrich den Bruder herbei. Achaz soll Irma lehren, das Leben wieder zu lieben.

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LUNATA

Feiertagskinder

Roman

Eduard von Keyserling

Feiertagskinder

Roman

© 1919 Eduard von Keyserling

© Lunata Berlin 2020

Inhalt

Feiertagskinder

Baronin Marie v. d. Osten-Sacken

geb. Baronesse Behr

gewidmet

In dem Buchowschen Landhause Lalaiken standen an diesem Novemberabend die Schatten besonders groß und schwarz an den weißen Wänden des Kinderzimmers. Eine einzige Kerze brannte auf dem niedrigen Kindertisch und die Wärterin, Frau Müller, hatte sie nahe zu sich herangezogen; dann, die Hornbrille auf der Nase, nähte sie. Die beiden Kinder saßen auf den Kinderstühlchen. Der siebenjährige Uli war schläfrig, er legte seinen Arm auf den Tisch, stützte den Kopf, der mit den ungeordneten blonden Locken ganz groß erschien, auf den Arm und blinzelte mißmutig in das Licht. Die zwei Jahre ältere Isa spielte mit Holzpüppchen. Die grauen Augen schauten wach und aufmerksam vor sich hin, und die schmalen Lippen bewegten sich tonlos.

»Jetzt ist Schlafenszeit,« sagte Frau Müller und ließ ihre Arbeit sinken. »Geht jetzt euern Eltern gute Nacht wünschen.«

Uli jedoch verzog weinerlich sein Gesicht. »Heute geh ich nicht,« sagte er, »heute geh ich nicht durch die dunklen Zimmer. Heute stehen sie alle in den dunklen Ecken und es ruft an den Fenstern.« Frau Müller zuckte die Achsel. »Du weißt, was dein Vater sagt, wenn du dich fürchtest.« Jetzt weinte Uli. »Nein, heute geh ich nicht,« wiederholte er. Erschrocken sah Isa auf, sie zog die Augenbrauen zusammen, als fühlte sie einen Schmerz, und die Mundwinkel bogen sich nach unten, was ihr einen ältlichen kummervollen Ausdruck verlieh. Sie konnte es nicht ertragen, daß Uli weinte. Sie stand auf. »Gut, dann gehe ich allein,« meinte sie. Auf der Türschwelle zögerte sie einen Augenblick, dann lief sie in die dunkle Zimmerflucht hinein. Auch sie fürchtete sich. Aber sie ertrug es mit der Resignation des Kindes, dessen Leben nun einmal ganz von Unheimlichkeiten umstellt ist. Am Ende der Zimmerflucht schimmerte ein Licht, dort waren die Eltern.

Ulrich von Buchow hatte vorgelesen, jetzt lehnte er sich im Sessel zurück und rauchte. Ihm gegenüber in der Sofaecke saß seine Frau. Wie frierend drückte die schmale Gestalt sich wie in sich selbst zusammen; den blonden Kopf hatte sie zurückgelehnt und das junge Gesicht schien vor Müdigkeit wie erloschen. Als jedoch Isa auf der Schwelle erschien, ging ein Lächeln über das Gesicht der jungen Frau, das es wunderbar erhellte. »Meine Tochter,« sagte sie. »Wo ist Uli?« fragte Buchow streng. »Uli kommt heute nicht,« beichtete Isa, »er fürchtet sich.« »Ach ja,« sagte Irma von Buchow, »heute ist es auch zum Fürchten, ich gehe zu ihm.« Buchow zog unwillig die Augenbrauen zusammen, schwieg jedoch. Isa ging jetzt zu ihrem Vater und bot ihm ihre Kinderstirn dar, dann zu ihrer Mutter, und endlich ging sie in die Ecke des Zimmers, wo im großen Lehnsessel der Großvater, der Graf Pax, saß und schlief. Vorsichtig küßte sie ihn auf die weiße Perücke, dann ballte sie in einem festen Entschluß ihre Hände und lief wieder in das Dunkel hinein.

»Wenn wir dem Jungen das durchlassen,« versetzte Buchow, »dann werden wir keinen Helden erziehen.« »Ach Gott,« meinte Irma und zog die Augenbrauen empor, »wozu Helden? Heute ist auch ein Tag zum Fürchten. Uli kam schon heute nachmittag zu mir und sagte: ›Ich weiß heute nicht, was ich spielen soll,‹ und wirklich, ich hätte auch sagen können: ›Ich weiß auch nicht, was ich spielen soll.‹«

»Ja, spielen!« bemerkte Buchow.

Eine leichte Röte stieg in Irmas schmales Gesicht. »Ja, spielen; ich weiß, du denkst, das Leben ist ernst, und man hat seinen Pflichtenkreis. Ach ja, natürlich, aber man will doch auch seine kleinen Freuden haben, denn die großen kommen ja doch nicht. So, und jetzt gehe ich zu meinem Sohn.« Sie stand auf, reckte einen Augenblick die Arme in die Höhe, wie um der schwankende Gestalt Haltung zu geben, und verschwand dann in der Dunkelheit.

Buchow lehnte seinen Kopf in den Sessel zurück. Das Gesicht mit der vorgewölbten Stirn, den tiefliegenden grauen Augen, dem starken Kinn, schien wie von einer inneren Energie zusammengedrückt, der Mund schloß sich so fest, daß die schmalen Lippen weiß wurden.

Die großen Freuden, dachte er – sie wartet auf die großen Freuden, woher sollten die kommen? Er hatte das Leben stets als etwas betrachtet, das bezwungen werden mußte, damit es uns nicht in den Rücken fällt. Diese Novembertage mit ihrem Nebel und ihrem Sturm, sie spannten etwas in ihm an, sie erhöhten seine Lust am Tun und Schaffen. Er war nun einmal solch eine Nebelkrähe, und von ihm erwartete dieses lichte und kostbare Geschöpf die großen Freuden. Woher sollte er sie nehmen?

Der Großvater war in seinem Lehnsessel erwacht; er richtete sich auf und schaute noch ein wenig traumverloren um sich, dann lächelte er, und das kleine Gesicht unter der weißen Perücke wurde ganz kraus von Falten. »Ich habe geschlafen,« sagte er. »Ja, du hast geschlafen, Vater,« bestätigte Buchow. »Ich habe aber auch geträumt,« fuhr der Großvater fort. »Mir träumte, ich ging, ich weiß nicht mit wem, die Hauptallee des Bois de Boulogne entlang, da waren Menschen und Wagen und Pferde, sehr lustig. Eine Equipage sah ich mit gelben Pferden, eine Dame saß darin, na, lassen wir das. Die Hauptsache war das Gehen. Ich sag dir, meine Beine waren so gelenkig, so leicht, es war ein Genuß das Gehen, das Gehen, wie ich's in jungen Jahren konnte. Ja, das war famos, nun will ich schlafen gehen – vielleicht kann ich weiter träumen.« Er erhob sich und ging mit tänzelnden Schritten, welche die Schwäche seiner Beine verdecken sagten, hinaus.

 Es war schon spät am Nachmittage, als Buchow hinausging, seine Äcker zu übersehen. Der Wind wühlte in den Hängebirken, warf ihre dünnen Zweige durcheinander wie Peitschenschnüre, er riß Löcher in den dichten Nebel, so daß dieser wie große, graue Fetzen über dem Erdboden hing. Die Natur macht uns heute nichts vor, sagte sich Buchow und steckte die Hände tiefer in die Taschen seines Überziehers. Am Rande eines Feldes blieb Buchow stehen. Dort pflügte ein Mann. Der lange Mensch ging langsam und verdrossen hinter dem Pfluge her. Der Wind zerrte an seinem Kittel und dem roten Bart, er warf die Mähnen des vor Feuchtigkeit struppigen Pferdes bald nach vorn, bald zurück. Die aufgeworfenen Schollen hatten einen matten Metallglanz, und nasse, aufgeblasene Krähen gingen auf ihnen hin und her. Der Mann blieb stehen, sah zum westlichen Horizont hinüber, wo ein welker, rosenfarbiger Streif die grauen Wolken säumte, dann stellte er die Pflugschar hoch und fuhr auf dem Wege hinauf. Er grüßte seinen Herrn. »Andre,« fügte Buchow, »du weißt, deine Frau ist bei mir gewesen, um über dich zu klagen, weil du sie schlägst.«

»Ich weiß,« erwiderte Andre verdrossen, »würde sie Ruhe geben, so würde ich sie nicht schlagen.«

»Sie will nicht, daß du das Geld in den Krug trägst,« meinte Buchow. Andre zuckte die Achsel. »Wenn man am Sonnabend nicht in den Krug gehen soll, was hat man dann, das ist doch noch das einzige.« Damit trieb er sein Pferd an, ging auf der nassen Straße ein wenig steifbeinig weiter, verschwand, eine graue Gestalt im grauen Nebel.

»Die kleinen Freuden,« klang Irmas Stimme Buchow in den Ohren. Wenn dieser Knecht in seine dunkle Häuslichkeit zurückkehrte, waren die Kleider naß, die Glieder steif, die Frau weinte, die Kinder schrien, nun, dann ging er zu den kleinen Freuden.

Buchow war auf der Landstraße weitergeschritten, bis er an eine Brücke gelangte, auf der er haltmachte. Die Brücke führte über eine sumpfige Schlucht zu dem Marktflecken Drixen. Im Sommer standen hier grellgrüne Tümpel beieinander, Kiebitze liefen zwischen ihnen auf und ab, einzelne Kühe weideten hier, die Füße tief im Sumpfboden eingesunken. Jetzt waren die Tümpel schwarz, und dunkle Wasserlachen breiteten sich zwischen ihnen aus. Buchow stand auf der Brücke und schaute hinab. Wie er diesen Sumpf haßte! O, er würde ihm schon beikommen; wenn man den kleinen See über dem Ort niedriger legen könnte, dann würde auch dieses unnütze, giftige Sumpfland verschwinden. Nächsten Sommer wollte er ihm zuleibe gehen. In Drixen wurden die Lichter in den Häusern bereits angesteckt, zitternde, gelbe Flecken im Nebel. Buchow fror. Er ging durch die Dunkelheit nach Hause, und die nasse Landstraße hatte noch einen matten, blinden Glanz.

Vor seinem Hause angekommen, bemerkte er, daß die Fenster des großen Saales erleuchtet waren. Im Flur hörte er, daß auf dem Klavier ein Walzer gespielt wurde. »So, so,« sagte er und lächelte. Im Saal fand er den Großvater am Klavier, einen Walzer spielend. Irma tanzte mit Uli, Isa stand, die Hände in den Seiten, still da. »Tanz doch,« rief Irma ihr zu, dann begann sie sich langsam zu drehen. Als Irma an Buchow vorüberkam, nickte sie ihm zu und sagte: »Wir tanzen, es war sonst zu traurig.«

»Gut, gut,« meinte Buchow und ging in das Wohnzimmer. Er setzte sich an den Kamin; er war müde, die Wärme tat ihm gut, es war angenehm, die Beine vor sich hinzustrecken; aus dem Saal kamen die durch den schwachen Anschlag des Großvaters matten Töne des Walzers und das leise Geräusch der tanzenden Füße. Buchow schloß die Augen, ein tiefes Behagen erwärmte ihn. Ja, dachte er, solche Augenblicke gibt es eben auch.

 Der Wind hatte sich gelegt; es fror, und ein wenig Schnee war gefallen. Er lag auf den Dächern, in den Ackerfurchen und legte grellweiße Flecken in die fahle Landschaft. Es dämmerte bereits, als Buchow nach Drixen hinüberging, um seinen Anwalt, Dr. Viervogel, zu sprechen.

Viervogel war Buchows Schulkamerad gewesen, hatte sich dann als Anwalt im Flecken niedergelassen, und da er jede Gelegenheit versäumte, weiterzukommen, saß er noch heute dort. Mit seinem Schimmel und Jagdwagen fuhr er in die Stadt, um seine Injurien- und Hausmieteprozesse zu führen, wohnte bei der Witwe Weidemann, von der er sich beköstigen ließ. Er saß oft stundenlang in der reinlichen Wohnung und sah der stattlichen Frau mit den schönen Armen, wie sie eifrig schaffend hin und her ging, zu. Die wenigen Laternen im Marktflecken wurden schon angesteckt, im ersten Hause war Licht in den Fenstern, es war das Anwesen des Gärtners Kappelmeier, und dort war immer Bewegung und Lärm, denn die großen, blonden Töchter schafften unermüdlich. Die eine wusch den Flur, die andere sah Buchow durch das Fenster am Backtrog stehen; sie riefen einander zu mit hellen Stimmen und lachten. Der alte Kappelmeier aber, der Wiedertäufer, ein großer Greis, ging im dämmerigen Garten zwischen den mit Tannenreisig bedeckten Beeten hin und her. Buchow kannte sie alle. Da war jetzt der Kramladen, vor dem es nach Fellen und Pfeffergurken roch, und durch die Glastüre konnte man die Krämerin sehen, mit ihrem großen, blassen Gesicht, geduldig und böse; endlich die Apotheke, hell und sauber. Der Apotheker mit dem langen, grauen Bart, stand wie ein Priester zwischen den weißen Büchsen und bauchigen Flaschen. Der schöne Provisor Glaiksner war nicht zu Hause. Ihn fand Buchow an der Hausecke mit dem Postfräulein zusammenstehen, das ihn liebte. Sie stritten miteinander. »Aber Glaiksner,« sagte das Mädchen, »das ist doch keine Mühe, zum Fenster hinaufzusehen, wenn du vorübergehst; ich habe so darauf gewartet.«

»Immer diese Dummheiten,« erwiderte Glaiksner, »ich habe auch an anderes zu denken; ob ich nun da hinaufsehe oder nicht.«

»Aber Glaiksner,« erklang die weinerliche Stimme des Mädchens, »ich warte den ganzen Vormittag darauf.«

Jetzt kam Fräulein Christa Hassel, die Lehrerin an der Volksschule, Buchow entgegen. Sie ging mit kleinen, harten Schritten über das knisternde Pflaster, drehte dabei ihre untersetzte, flache Gestalt hin und her; das runde Gesicht mit dem breiten Munde und den guten, braunen Hundeaugen war von der Kälte gerötet. »Ah, Herr von Buchow,« sagte sie. »Guten Abend,« erwiderte Buchow, »ich mache noch einen Geschäftsgang.« – »So,« meinte Fräulein Christa, »und wie geht's bei Ihnen zu Hause?«

»Ich danke, gut,« berichtete Buchow, »man feiert bei uns ein Fest, Sie wissen, man feiert bei uns immer Feste. Es ist, glaube ich, des ersten Schnees wegen. Man sitzt am Kamin, ißt Bratäpfel und erzählt sich Märchen.«

»Das ist hübsch,« sagte Fräulein Christa und bog den Kopf zurück, um Buchow anzuschauen.

»Gehen Sie doch hin, Fräulein Christa,« schlug dieser vor. »Hingehen,« versetzte das Fräulein nachdenklich, »das ist eine Versuchung. Denn ich habe zu Hause einen ganzen Stoß Hefte liegen, die ich korrigieren muß. Aber Gott, wozu ist die Nacht da, also ich gehe hin, auf Wiedersehen.« Damit ging sie weiter mit ihren kleinen, harten Schritten.

Jetzt war Buchow am Hause der Witwe Weidemann und stieg die dunkle Treppe hinauf. Auf sein Klopfen erscholl ein heiseres »Herein«. Er fand den Doktor am Schreibtisch über Akten gebeugt.

»Guten Abend,« sagte Buchow. Die kurzsichtigen Augen des Doktors erkannten ihn nicht sogleich, als jedoch Buchow näher kam, sprang der Anwalt auf. »Ah, du bist es,« rief er, »eine unerwartete Freude.« Die beiden waren stets sehr höflich miteinander. Viervogel half Buchow aus seinem Überzieher, stellte ihm einen Sessel zurecht, bot eine Zigarre an, holte eine Flasche Portwein hervor und Gläser, die er vollschenkte. »So,« sagte er, »bei dieser Kälte wird das gut tun; der Winter kommt.« Und als er Buchow gegenübersaß, sah er ihn erwartungsvoll an.

»Ich komme zu dir,« begann Buchow, »um dich zu bitten, mir wieder einen Kontrakt zu einem Holzverkauf zu machen. Du weißt, mein Bruder hat mich voriges Jahr ein wenig stark in Anspruch genommen, und so muß wieder verkauft werden. Die Bedingungen sind dieselben, nur bitte ich, den Kontrakt ein wenig schärfer zu fassen, denn Aronsohn erlaubte sich voriges Jahr allerhand Freiheiten. Besonders wollen wir ihn, was die Lagerplätze und die Zeit des Abführens betrifft, fester binden.«

»Wird gemacht,« erwiderte Viervogel, »wir wollen dem Knaben ordentlich die Hände binden; morgen schon mache ich den Entwurf und lege ihn dir dann vor.«

»Danke,« sagte Buchow und nippte vorsichtig am Portweinglase. »Guter Wein, wie geht es sonst?«