Feminismen - Myra Marx Ferree - E-Book

Feminismen E-Book

Myra Marx Ferree

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Beschreibung

Feminismus und Geschlechterpolitik in Deutschland unterscheiden sich deutlich von ihren Pendants in den USA und in Großbritannien: Während dort Forderungen dominieren, die am liberalen Individualismus und am Ideal gleicher Rechte orientiert sind, stehen in Deutschland soziale Gerechtigkeit und staatliche Verantwortung im Vordergrund. Diese aus einer sozialdemokratischen Tradition herrührenden Aspekte sind hierzulande zudem häufig mit konservativchristlichen Elementen verbunden, die patriarchalische Autorität und den Wert der Familie betonen. Myra Marx Ferree zeichnet in ihrem neuen Buch ein Panorama der modernen Frauenbewegungen in Deutschland, den USA und im globalen Kontext. Sie führt anschaulich vor Augen, dass historisch gewachsene politische Rahmenbedingungen bis heute eine große Rolle für die unterschiedliche Entwicklung der Geschlechterpolitik in Deutschland und den USA spielen. Damit wirft sie die Frage auf, was heute – in Europa und darüber hinaus – überhaupt »feministisch« ist.

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Myra Marx Ferree

Feminismen

Die deutsche Frauenbewegung in globaler Perspektive

Aus dem Englischen von Claudia Buchholtz und Bettina Seifried

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Feminismus und Geschlechterpolitik in Deutschland unterscheiden sich deutlich von ihren Pendants in den USA und in Großbritannien: Während dort Forderungen dominieren, die am liberalen Individualismus und am Ideal der Gleichheit orientiert sind, stehen in Deutschland soziale Gerechtigkeit und staatliche Verantwortung im Vordergrund.

Myra Marx Ferree zeichnet in ihrem Buch ein Panorama der modernen Frauenbewegungen in Deutschland, den USA und im globalen Kontext. Sie führt anschaulich vor Augen, dass historisch gewachsene politische Rahmenbedingungen bis heute eine große Rolle für die je unterschiedliche Entwicklung von Geschlechterpolitik spielen. Damit wirft sie die Frage auf, was heute – in Europa und darüber hinaus – überhaupt »feministisch« ist.

»Eine provokante Deutung des Feminismus in seinen verschiedenen nationalen und globalen Ausprägungen.« Leila J. Rupp, University of California, Santa Barbara

»Eines der besten Bücher über soziale Bewegungen, das je geschrieben wurde.« Doug McAdam, Stanford University

»Dieses Buch wird ein Klassiker werden.« Mary Hawkesworth, Rutgers University

Vita

Myra Marx Ferree ist Alice H. Cook Professorin für Soziologie und Direktorin des European Union Center of Excellence an der University of Wisconsin, USA. Sie ist eine der renommiertesten Soziologinnen und Geschlechterforscherinnen der USA und eine exzellente Kennerin deutscher Geschlechterpolitik. Sie war Marie-Jahoda-Gastprofessorin für internationale Geschlechterforschung an der Universität Bochum und Berlin Prize Fellow an der American Academy Berlin.

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Dank

Kapitel 1Geschlechterpolitik und praktische Theorie

Das Beispiel Deutschland

Relationaler Realismus als praktische Theorie des Feminismus

Theoretisches Werkzeug für eine relational-realistische Analyse politischer Prozesse

Geschlechterbeziehungen

Politische Institutionen und gesellschaftlicher Wandel

Diskursive Politik und Rahmungsarbeit

Kontextualisierung der feministischen Bewegung in Deutschland

Deutscher Feminismus im globalen Kontext

Kontextvergleich: Der US-Feminismus

Gliederung der Analyse

Kapitel 2Aus Frauen werden Staatsbürgerinnen — Länderspezifische Rahmenwerke im Kampf um Geschlechtergleichheit und Selbstbestimmung 1848–1968

Der Stellenwert von »Rasse« und Klasse im Rahmen nationaler Geschlechterpolitik

Um Rassengegensätze zentrierter Liberalismus in den USA

Klassenzentrierte Politik in Deutschland

Die erste Welle der Frauenbewegung

Polarisierung der Klassen und feministische Mobilisierung

»Vater Staat« und seine Töchter

Sexualität und nationale Einheit in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus

Recht auf Abtreibung – eine unabgeschlossene Geschichte

Politische und soziale Grundrechte

Nationalismus und Militarismus

Kalter Krieg und der Wettbewerb der Systeme

Geschlechterspezifik und Staat im Westen

Geschlechterspezifik und Staat im Osten

Fazit: Liberalismus und Feminismus

Kapitel 3Frauen entscheiden für sich selbst — Autonomer Feminismus 1968–1978

Kontrolle über die Reproduktionsmittel – Mutterschaft wird neu gedacht

Kinder kriegen oder keine: Das wollen wir selbst entscheiden!

Frauensolidarität – Ein soziales Geschlecht benennt sich selbst

Widerstand gegen Vater Staat: Das Verhältnis von Arbeit und Familie auf dem Prüfstand

Kritik an funktionellen Geschlechterrollen

Frauenerwerbstätigkeit und die westdeutsche Emanzipationsbewegung

Fazit: Feministische Selbstorganisation im politischen Raum zwischen Links und Rechts

Kapitel 4Frauen helfen Frauen — Die Frauenprojektebewegung 1975–1985

Autonomie wahrnehmen

Autonome Praxis über Projekte definieren

Über die Projekträume hinaus: Frauenöffentlichkeit entstehen lassen

Innerhalb der Projekträume: Prinzipien für die tägliche Praxis definieren

Gegen das System – gegen Kapitalismus, Patriarchat und Staat

Oppositionelle Solidarität als organisatorische Herausforderung

Gegenwehr leisten: Sich der Gewalt gegen Frauen widersetzen

Gretchenfrage Staatsknete

Eine Gruppe namens Frauen: Ungleichheit und Solidarität

»Lieber Sand als Öl« im Getriebe des Staates

Gewalt als männliches Prinzip und die staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten von Frauen

Pazifismus als feministisches Prinzip

Fazit: Autonomie institutionalisieren?

Kapitel 5Wir wollen die Hälfte der Macht — Feministinnen und politische Institutionen 1982–1990

Parteipolitik: Grüner Anstrich für die Linken, Herausforderung für die Konservativen

Mitbestimmung wagen: Frauen repräsentieren und Politik umgestalten

Der Wert der Arbeit außerhalb des Arbeitsmarkts: Die Stärkung der Mutterrolle

Positive Diskriminierung vor Gleichbehandlung

Frauen im Staat: Die Institutionalisierung politischer Fraueninteressenvertretung

Fraueninteressenvertretungen in Landes- und Kommunalregierungen

Ausweitung der Frauenöffentlichkeit

Die Befriedigung besonderer Frauenbedürfnisse

Die Verbesserung der beruflichen Chancen der Frauen

Geht die Erneuerung an uns Frauen vorbei? Die Mobilisierung ostdeutscher Frauen

Politik heißt Widerstand gegen die Staatsgewalt

Die Politik des Persönlichen

Politik von innen heraus

Mitbestimmung und Demokratie in Zeiten des Chaos

Fazit: Die Beschwernisse einer Frauenvertretung

Kapitel 6Ohne Frauen ist kein Staat zu machen — Die deutsche Wiedervereinigung 1990–1995

Reproduktive Rechte auf der politischen Tagesordnung

Feministische Chancen im Westen

Bedrohung für die Frauen im Osten

Die Reformpolitik im wiedervereinigten Deutschland

Kurswechsel und Konflikte

Das halbvolle, halbleere Glas

Überlebenspolitik: Wiederaufbau nach einem politischen Tsunami

Ausschluss vom Arbeitsplatz vor dem Hintergrund der Massenarbeitslosigkeit

Mütter im Mahlstrom

Kollektive Formen des geschlechterpolitischen Vorgehens

Ringen um ein schwesterliches Verhältnis: Ost-West-Debatten

Aufbau einer Ost-West-Beziehung

Fazit: Macht, Privilegien und die Politik

Kapitel 7Den Frosch küssen? — Butler, Peking, Brüssel und die Neugestaltung der Geschlechterverhältnisse 1995–2005

Warum Butler und warum jetzt?

Klasse, Geschlecht und Neoliberalismus

Die Vereinten Nationen und die Europäische Union: Globalisierung trifft auf Europäisierung in Deutschland

Unverhofft kommt oft: Die Vereinten Nationen offerieren Diskurse und Netzwerke

Geschlechterspezifische Gleichstellungspolitik in der Europäischen Union

Die Europäisierung der politischen Gelegenheitsstruktur

Gender Mainstreaming

Das Antidiskriminierungsgesetz

Frauenpolitik oder Geschlechterpolitik?

Fazit: Klasse, Geschlecht und die Politik der Vielfalt

Kapitel 8Feminismus, Familie und die Zukunft — Praktische Theorie und globale Geschlechterpolitik im 21. Jahrhundert

Angela Merkel und die Geschlechterpolitik

Deskriptive Repräsentation

Substantive Repräsentation

Die Neuerfindung der Modernität: EU-Politik im Deutschland Angela Merkels

Ein Überdenken des Familienmodells »Männlicher Ernährer«

Eine neue Sicht auf die Arbeit der Frauen und das Erreichte

Intersektionelle Familienpolitik: Ethnische Herkunft und Geschlecht im Feminismus

Auch amerikanische Frauen sind »anders«

Feminismen: Vielfältige Formen des Feminismus, der Frauenbewegungen und der praktischen Geschlechterpolitik

Varianten des feministischen Wandels

Intersektionalität in Diskurs und Praxis

Ein Überdenken des Radikalismus

Die Zukunft des Feminismus

Anmerkungen

1.Geschlechterpolitik und praktische Theorie

2.Aus Frauen werden Staatsbürgerinnen

3.Frauen entscheiden für sich selbst

4.Frauen helfen Frauen

5.Wir wollen die Hälfte der Macht

6.Ohne Frauen ist kein Staat zu machen

7.Den Frosch küssen?

8.Feminismus, Familie und die Zukunft

Literatur

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Das vorliegende Buch entstand dank glücklicher Umstände verschiedenster Art. Zunächst waren da jene zeitlichen Zufälle, die mich Anfang der 1980er Jahre als Gastprofessorin nach Frankfurt/Main an den neugeschaffenen Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauenarbeit und Frauenbewegung führten – und dann, ausgerechnet 1990, kurz nach der Wiedervereinigung, nach Berlin. 1981 hatte der DAAD meine Forschungen zum Thema Frauen und Arbeit unterstützt und 1989 förderte der German Marshall Fund of the United States ein Projekt zur feministischen Institutionalisierung. Aus den Netzwerken der hervorragenden deutschen Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen, die mich während jener Forschungsaufenthalte auffingen, erwuchsen zahlreiche Freundschaften, ebenso wie langanhaltende intellektuelle Debatten über den Atlantik hinweg. Diese Diskussionen nährten meine Neugier bezüglich der Ähnlichkeiten und Unterschiede in unseren Standpunkten zu Frauenrechten, Interessenslagen und Organisationsfragen. 2004/2005 boten sich mir während meiner Forschungsaufenthalte im Rahmen der Marie-Jahoda-Gastprofessur für internationale Geschlechterforschung an der Ruhr-Universität in Bochum sowie als Stipendiatin an der American Academy in Berlin weitere wertvolle Gelegenheiten, Zusammenhänge zu aktuellen politischen Ereignissen herzustellen, mit langjährigen Kolleginnen und Kollegen neue Gespräche anzuknüpfen und die Zeit zum Schreiben zu nutzen.

Meine über drei Jahrzehnte gesammelten Einblicke in die Entwicklung des deutschen Feminismus waren ein ergiebiger Fundus, aus dem ich für meine Forschungs- und Lehrtätigkeit schöpfte. Die Schwierigkeiten, denen ich mich gegenübersah, als ich US-amerikanischen Studentinnen und Studenten zu erklären versuchte, dass die politische Welt, die sie für selbstverständlich halten, global gesehen eher die Ausnahme als die Regel ist, haben mich schließlich zu diesem Buch bewogen: Anstatt weiterhin einzelne Artikel über ganz spezielle Fragen zu verfassen, entschloss ich mich dazu, die losen Fäden der verschiedenen Punkte aufzunehmen und zu verbinden. Dass nationale Identität, ethnische Zugehörigkeit, Klasse und Sexualität auf sehr unterschiedliche Weise mit Geschlechterpolitik zusammenhängen, ist eine Einsicht, die nach meinem Dafürhalten auch der deutschen Leserschaft von Nutzen sein kann. Die Behauptung, der deutsche Feminismus hinke dem amerikanischen ein Jahrzehnt hinterher, habe ich so oft gehört, dass ich sie beinahe geglaubt hätte – dieses Buch jedoch ist der umfassende Versuch, diese Auffassung zu widerlegen. Die deutsche feministische Politik hat Stärken und Schwächen, die aber immer in ihrer Geschichte begründet liegen. Statt also besser oder schlechter, schneller oder langsamer zu sein, sind die Wege dieser und anderer Frauenbewegungen immer spezifischer Ausdruck dessen, was im jeweiligen Kontext politisch wichtig ist. Hinzu kommt, dass kein Land einem geradlinigen, vorwärts gerichteten Weg zur Gleichstellung der Geschlechter folgt.

Im Gegenteil sind die Wege hin zu mehr Gleichberechtigung in den letzten Jahren spürbar steiniger geworden. So werden in den USA auf Grundlage des Marktfundamentalismus seit geraumer Zeit ökonomische Ungleichheiten ausgeweitet und eine soziale Absicherung untergraben. Das Schlagwort »Familienwerte« ist dabei schon lange zur antifeministischen Parole der Republikaner verkommen. Dennoch hatte mit einem so massiven Rechtsruck der US-amerikanischen Republikaner im Zuge der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten kaum jemand gerechnet. Von der subtilen Rhetorik des verdeckten und unterschwelligen Rassismus (für den man im englischen Sprachraum das Bild der Hundepfeife heranzieht, die nur diejenigen hören, die sie hören sollen, während die breite Öffentlichkeit die versteckten Signale kaum bemerkt) sind sie unter der Regierung Trump zu einem unverhohlen weißen Nationalismus übergegangen. Die gegenwärtigen Angriffe auf die reproduktiven Rechte der Frauen und die Rechte der Homosexuellen höhlen eben diesen rechtlichen Schutz unter dem Vorwand, »die Religion zu schützen«, nun vollends aus. Die US-amerikanische Waffenkultur hat es zornigen weißen Männern ermöglicht, eine Welle von Massentötungen auszulösen, die den Deutschen Herbst mit seiner radikalen Gewalt in den 1970er Jahren heute vergleichsweise, ja, zahm erscheinen lassen.

Auch in Deutschland zeigt der ethnische Nationalismus wieder seine hässliche Fratze und mit seiner Hilfe hat es die AfD mit der Bundestagswahl 2017 sogar bis ins deutsche Parlament geschafft – wobei Thilo Sarrazin schon lange vorher demonstriert hatte, dass Antipathie gegenüber Immigranten, Asylsuchenden und Muslimen im Allgemeinen auch über Parteigrenzen hinweg anschlussfähig ist. Als eurokritische Partei ergänzt sich die AfD mit anderen Bestrebungen innerhalb Europas, die Grenzen zu schließen und das Rassifizieren von Unterschieden zwischen Christen und Nichtchristen wieder zu legitimieren. Darüber hinaus vertritt diese Partei ein höchst konservatives Frauen- und Geschlechterbild. Anders als die Vertreter des Nationalismus der Weißen in den USA fördert sie jedoch keine gegen Abtreibung und Verhütung gerichteten Initiativen, spricht Frauen nicht mit offen geschlechtsspezifischen Verunglimpfungen von allem Weiblichen an und versucht nicht, sexuelle Belästigung und Übergriffe zu rechtfertigen. Seit der Wahl der AfD in den Deutschen Bundestag ist aber der Frauenanteil darin gesunken. Während der Frauenanteil an Sitzen im US-Kongress nie über 20 Prozent hinausging, hat der Anteil an weiblichen Abgeordneten im Deutschen Bundestag einen neuen Tiefstand erreicht und ist von 37 Prozent auf 32 Prozent zurückgegangen. Dies ist die Folge der Wahlgewinne von Parteien, deren Ziel kaum in der Vertretung durch Frauen oder im Einstehen für Frauenbelange liegt. Die neue Fraktion der AfD im Bundestag setzt sich zu lediglich 11 Prozent aus weiblichen Abgeordneten zusammen, und auch in der 2017 wieder in den Bundestag gewählten FDP, die ebenfalls nicht gerade als Partei der Frauen gilt, sind Frauen unter den Abgeordneten deutlich unterrepräsentiert.

In den USA trug der Zusammenhang zwischen rassistischen Beleidigungen und geschlechtsspezifischen und sexuellen Beschimpfungen von rechts dazu bei, dass sich wachsender Widerstand formierte – von Frauen angeführt und themenübergreifend. Dieser Widerstand fand in der massenhaften Mobilisierung am Tag nach Donald Trumps Amtseinführung seinen ersten Ausdruck und breitete sich weltweit aus. Der Kampf um bezahlbare Gesundheitsfürsorge für Familien hat der von Frauen ins Leben gerufenen geschlechterbewussten Widerstandsbewegung einen solchen Auftrieb verschafft, dass sich Bewegungen wie Nasty Women, Black Lives Matter und Occupy zu einem progressiven Bündnis zusammentaten.

Dennoch vertrete ich heute noch genauso vehement wie 1985, als ich mich zum ersten Mal mit diesen Fragen auseinandersetzte, die Ansicht, dass man in wissenschaftlicher wie politischer Hinsicht einen liberalen Feminismus, besonders in seiner amerikanischen Ausprägung, auf keinen Fall mit dem Feminismus schlechthin gleichsetzen darf. Gleichzeitig darf die wertvolle demokratische Kritik, die der politische Liberalismus den Sozialisten und moralischen Reformern gebracht hat – mögen sie sich nun mit dem Feminismus identifizieren oder auch nicht –, nach meinem Dafürhalten keinesfalls über Bord geworfen werden. Es besteht leider die Tendenz, die politischen Forderungen des Liberalismus nach Menschenrechten, individuellen staatsbürgerschaftlichen Rechten und persönlichen Freiheiten mit dem Neoliberalismus zu verwechseln, also einer kapitalistischen politischen Ökonomie, welche die Märkte über alles stellt. Meiner Ansicht nach ist diese Vermischung wissenschaftlich nicht vertretbar und politisch höchst bedauerlich. Denn so lässt sich nur schwer erkennen, warum eine wirklich starke und vor allem vollkommene Demokratie sogar in solchen Ländern unerreichtes Ziel bleibt, die sich ihrer demokratischen Grundordnung rühmen. Echte demokratische Einbeziehung und Inklusion funktioniert nur, wenn soziale Faktoren, die eine echte Teilhabe verhindern, eliminiert werden, wobei es hier jedoch nicht um bloße ökonomische Hindernisse geht und auch nie ging. Der Kampf der Frauen um die vollen staatsbürgerlichen Rechte ging weit über das Erringen des Wahlrechts hinaus und hält auch heute noch an. Hier zeigt sich, dass Veränderungen im Familienrecht, Arbeitsrecht und bei der politischen Vertretung einerseits und die demokratische Forderung nach persönlicher Autonomie und nach einem Zugang zu den Entscheidungsfindungsprozessen andererseits zwei Seiten derselben Medaille sind. Dafür haben die Feministinnen in Deutschland so erfolgreich gekämpft. Ihre Forderung nach Autonomie beruht gerade auf der liberalen Vorstellung von Individuen, Rechten und politischer Vertretung, die in diesem Kontext radikal war, ist und bleibt.

Beim Kampf der deutschen Feministinnen geht es überwiegend um Autonomie und kollektive Vertretung der Frauen, im amerikanischen Feminismus steht dagegen die Gleichstellung der Geschlechter viel deutlicher im Vordergrund. Um die Unterschiede beider »Feminismen« zu beleuchten, auch ihre jeweiligen Lücken und Schwächen, bediene ich mich in diesem Buch immer wieder einer vergleichenden Betrachtungsweise. Es wird untersucht, wie die Feministinnen in Deutschland – in Ost wie West – mit den von ihnen für absolut fundamental und grundsätzlich erachteten Themen umgegangen sind, nämlich demokratische Selbstbestimmung und persönliche Autonomie. Mein Buch bietet damit eine alternative Interpretation der positiven Elemente des Liberalismus. Das Fallbeispiel Deutschland, wo Liberalismus nicht so allgegenwärtig ist wie in den USA, legt nahe, dass politischer Liberalismus eine gültige Kritik des bloßen sozialen Schutzes bietet und zudem ein ganz spezifisches Sortiment an Sozialleistungen möglich werden lässt. Um ein derart breit angelegtes Ziel zu erreichen, müssen bestimmte sozialdemokratische Gleichheitsprinzipien viel deutlicher institutionalisiert sein, als es in den USA je der Fall war. Mit ihren auf Mitbestimmung ausgerichteten liberalen Offensiven gegen die kommunitären, jedoch patriarchalen Formen des christlichen Konservativismus und des demokratischen Sozialismus demonstrieren die deutschen Feministinnen, wie dienlich und kostbar es ist, die von der Regierung ausdrücklich formulierte Verpflichtung zur Gleichstellung als Wert annehmen zu können und auf dieser Grundlage die Demokratie zu stärken und zu vertiefen, während den Amerikanerinnen dies nicht vergönnt ist. Wie die aktuellen Probleme deutlich machen, denen sich beide Länder derzeit gegenübersehen, spielt dieser Unterschied hinsichtlich des zugesicherten Grades an Schutz und Freiheit und hinsichtlich der Nutznießer dieses Schutzes und dieser Freiheit eine nicht unerhebliche Rolle für die Entwicklung beider feministischer Bewegungen und die gesellschaftlichen Veränderungen, die beide im Laufe der Zeit bewirkt haben.

Dass Rassismus und Sexismus in den USA miteinander verknüpft sind, wurde nie deutlicher als heute, und die Schwierigkeit, anstatt »Rasse« und Geschlecht die Klasse anzusprechen – mit all den neuen Erscheinungen wie Präkarisierung und Armut – war nie größer. Analog bedienen sich in Deutschland die Stimmen, die sich gegen alles eingeschossen haben, was mit »Gender« zusammenhängt, einer rassistischen Sicht auf islamische Kulturen, die als rückständig und unmoralisch dargestellt werden, und sie attackieren Feministinnen, die einer Einteilung in »wir« und »die« ablehnend gegenüberstehen, weil damit dem Schutz von »Frauen« nicht geholfen sei, denn schließlich gehe die Gewalt ja in erster Linie von »denen« aus, was natürlich nicht stimmt.

Das vorliegende Buch wirft einen historisch informierten Blick auf die größere Fähigkeit des deutschen Feminismus, Fragen der Ethnizität und nationalen Identität von denen des Geschlechts zu trennen. Gleichzeitig macht es mit Blick auf die USA deutlich, wie die Zusammenhänge zwischen »Rasse«, Klasse und Geschlecht eine Mehrheit nicht akademisch gebildeter weißer Frauen dazu bringen konnte, das Weißsein bereitwillig über die Geschlechtersolidarität zu stellen – auch dies eine der Ursachen für den Wahlerfolg Donald Trumps und der Republikaner. Die steigende Klassenungleichheit in den USA verweist auf die spezifischen Probleme, denen sich amerikanische Feministinnen und Feministen bei der Schaffung einer sinnvollen Klassenidentität gegenübersehen in einem Kontext, wo die Rassensolidarität der Weißen schon immer stark war, aber als gemeinsames Politikbewusstsein auch unsichtbar.

Die deutsche Geschlechterpolitik dagegen ist dieser Tage gefordert, den Wohlfahrtsstaat, der ja geschaffen wurde, um Klassenungleichheiten abzumildern, zu überdenken hinsichtlich dessen, wie er hinlänglich gedehnt und angepasst werden kann, um auch erfolgreiche Frauen und kopftuchtragende oder dunkelhäutige Migrantinnen und Migranten als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft einzubeziehen. Kein Land hat es bisher geschafft, offen für Immigration und gleichzeitig großzügig zu bedürftigen Bürgerinnen und Bürgern zu sein. Doch da sich Frauen inzwischen mit der Intersektionalität dieser Fragen und der Kategorie Geschlecht auseinandersetzen, hat sich die Auffassung von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« zu einem durchaus revolutionären Verlangen nach Autonomie, Gleichstellung und Solidarität über Geschlechter-, Landes- und Klassengrenzen hinweg ausgewachsen. Der Begriff Intersektionalität dient als Hilfsmittel, um diese Herausforderungen zu formulieren und in einen Deutungsrahmen zu fassen, muss aber noch weiter entwickelt werden hinsichtlich der spezifisch politischen Arbeit, die gefordert ist, um den Sinn für das gleiche Schicksal über etablierte Trennlinien und Schubladen hinweg zu öffnen und zu schärfen. Mit diesem Buch sei der Versuch unternommen, für eben diese Anstrengungen eine Handreichung zu bieten mit all den Besonderheiten, die bei einer effektiven Strategieentwicklung nicht außer Acht gelassen werden sollten.

Dieses Buch zu schreiben hat lange gedauert, und es ist im Laufe der Zeit immer umfangreicher und inhaltlich ausgreifender geworden, von einer Geschichte über ein paar Organisationen und Fragestellungen in Deutschland zu einzelnen ganz bestimmten Zeitpunkten hin zu einer längeren Schilderung, wie sich diese Organisationen und Fragestellungen gewandelt haben und auch die Gesellschaft veränderten. Also habe ich dem Buch eine Struktur verpasst, die Schlüsselereignisse und deren Folgen für die längerfristigen Entwicklungen aufgreift, durch die tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen doch oft erst wahrnehmbar werden – ohne jedoch behaupten zu wollen, dass kausale Zusammenhänge im strengen Sinne zwischen diesen Auswirkungen existieren. Neben den historischen Verschiebungen von Chancen und Gelegenheiten, zu deren Zustandekommen die Akteure auch selbst beitragen, sind nach wie vor strategische Entscheidungen zu treffen, deren Folgen im weiteren Verlauf keineswegs vorherbestimmt sind.

Weil die amerikanische Version liberaler Politik und neoliberaler Wirtschaft global gesehen noch immer ein Sonderfall ist, führt dieses Buch auch Argumente ins Feld, warum der deutsche Feminismus einen realistischeren Modellfall für die Entwicklungskurve des feministischen Kampfes in einem Großteil der Welt abgibt. Denn auch dort treffen die strategischen Entscheidungen der feministischen Akteure auf über Jahrzehnte hinweg gewachsene Gelegenheitsstrukturen und Restriktionen, die sich herausbildeten im Rahmen nationaler Kontexte, in dem sozialdemokratische Ansätze im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten eine größere Rolle spielten. Anhand des Fallbeispiels Deutschland sollen die Entscheidungsspielräume also auch im Hinblick auf die Feministinnen in anderen Ländern beleuchtet werden, die daraus Hilfestellungen für ihr eigenes Agieren ableiten können. Das hatte ich auch im Hinterkopf, als ich versuchte, die Spannungsfelder zwischen Klasse und Geschlecht, ethnischer Herkunft bzw. »Rasse« und Nationalität in Deutschland und den USA in der jeweils eigenen, spezifischen Ausprägung zu betrachten – nicht, weil sie sich in all ihrer Spezifik auf eine allgemeine Formel bringen ließen, sondern weil jeder länderspezifische Kontext nach einer ebenso gründlichen Analyse verlangt. Denn schließlich prägt das Wechselspiel zwischen historisch institutionalisierten Ungleichheiten und dynamischen und durchaus auch umstrittenen Diskursen, Strategien, Mitteln und Wegen die feministische Politik allerorten.

Dank

Die Forschungsarbeit, die diesem Buch zugrundeliegt, sowie meine Beschäftigung mit der deutschen feministischen Politik generell gehen zurück auf Begegnungen mit einzelnen Feminismusforscherinnen Anfang der 1980er Jahre, die der theoretisch wichtigen soziologischen Frage nach dem Verhältnis von Geschlecht und Klasse in Deutschland nachgingen, einer Frage, mit der auch ich im Rahmen meiner Arbeit in den USA bereits befasst war. Nach und nach führten die Gespräche dazu, dass ich zu ergründen begann, wo unsere Sichtweisen konvergierten, wo wir die Dinge unterschiedlich sahen und warum dem so war. Für unzählige Diskussionen, gelegentliche formelle Interviews und die überwältigende und nie versiegende private Gastfreundschaft in den darauffolgenden reichlich dreißig Jahren danke ich Regina Becker-Schmidt, Christel Eckart, Ute Gerhard, Carol Hagemann-White, Gudrun-Axeli Knapp und Margit Mayer ganz besonders. Aufgrund ihrer Bereitschaft, mich entsprechend einzuführen, mir die unerlässlichen grundlegenden Informationen zur Verfügung zu stellen sowie den Zugang zu institutionellen Ressourcen zu ermöglichen, stehe ich ewig in ihrer Schuld. Durch sie konnte ich im Laufe der Jahre meine Deutschkenntnisse, meine berufliche und soziale Vernetzung, meine Bibliothek und meine Fähigkeit, theoretisch und historisch zu denken, mehr verbessern, als ich es je in Worte fassen könnte. An den Fehlern und Irrtümern, die ganz sicher in diesem Buch noch immer zu finden sind, tragen sie jedoch keinerlei Schuld, auch wenn sie auf großzügige Weise bemüht waren, mich zu korrigieren – sollte dieses Werk jedoch Einsichten bewirken und für Erkenntnisse sorgen, ist das vor allem auch ihr Verdienst. Carol McClurg Mueller gebührt mein besonderer Dank, weil sie mich 1985, als ich eine Gastprofessur mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt/Main innehatte, ermutigte, meinen ersten vergleichenden Artikel zum deutschen Feminismus zu schreiben. Sie bestärkte mich auch, den Wiedervereinigungsprozess in meine Studien einzubeziehen, wenn ich wie geplant 1990 in Berlin den sich abzeichnenden Institutionalisierungsprozess der Westfeministinnen untersuchen würde.

Dieses Buch wurde auch ermöglicht, weil mir aus diversen anderen Richtungen und Quellen reichlich Unterstützung in verschiedenster Form zuteil wurde. Zu nennen sind hier explizit der Deutsche Akademische Austauschdienst, der German Marshall Fund of the United States, die American Academy in Berlin, das Center for Research on Women and Gender an der University of Wisconsin-Madison und die Ruhr-Universität in Bochum mit ihrer Marie-Jahoda-Gastprofessur für internationale Geschlechterforschung, die mir Forschungssemester ermöglichten und damit auch Zeit zum Schreiben gewährten.

Eine Studie, die für mehr Tiefe und Bandbreite sorgte, für die ich mir allerdings Zeit abknapsen musste, die eigentlich für dieses Buchprojekt vorgesehen war, befasste sich mit der politischen Dimension von Abtreibung, die sich in den USA und in Deutschland sehr unterschiedlich darstellte. Auf amerikanischer Seite wurde dieses gemeinsame Forschungsprojekt von der National Science Foundation (Grant SBR9301617) und dem TransCoop-Programm der Alexander-von-Humboldt-Stiftung finanziert und war in Deutschland am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) angesiedelt. Aufgrund der großzügigen Förderung durch dessen damaligen Präsidenten Friedhelm Neidhardt bot mir das WZB eine Heimstatt bei zahlreichen Gelegenheiten im Zuge dieses über mehrere Jahre laufenden Forschungsprojekts, das ich gemeinschaftlich mit William A. Gamson, Dieter Rucht und Jürgen Gerhards verfolgte. Meine Mitautoren trugen erheblich zu unserer gemeinsamen Forschungsarbeit bei, was ich ebenso zu schätzen weiß wie die Debatten, die wir führten über grundsätzliche Interpretationsansätze – gewöhnlich über Ländergrenzen hinweg –, durch welche länderspezifische Auffassungen zu Geschlecht und Politik beleuchtet werden konnten, die ansonsten möglicherweise unbeachtet geblieben wären.

Andere Untersuchungen einzelner spezieller Fragen – Frauen und Gewerkschaften, Frauenstreiks und Kita-Streiks, die deutsche Wiedervereinigung und ihre Auswirkungen auf die Geschlechterpolitik, die Kopftuchdebatten – wurden mit Silke Roth, Eva Maleck-Lewy und Susan Rottmann geführt. Besonders die Diskussionen mit Silke und Eva zu weitreichenden politischen Fragen anlässlich dieser und vieler anderer die Feministinnen in Deutschland und den USA betreffenden Ereignisse und Kontroversen, die über die Jahre auftauchten, waren nicht nur sehr angenehm, sondern ungemein wichtig für mein wachsendes Verständnis intersektioneller Unterschiede innerhalb Deutschlands. Außerdem erweiterten, vertieften und nuancierten Susan Rottmann und Ilse Lenz mein Verständnis der Zusammenhänge von Mehrheiten und Minderheiten in Deutschland in unterschiedlichen Zeitabschnitten. Auch sei Kathrin Zippel, Silke Roth, Eva Maleck-Lewy und Bernhard Maleck, Ilse Lenz, Aili Mari Tripp und Lisa D. Brush herzlich gedankt für die langjährige Ermutigung und Inspiration. Mir ist bewusst, dass ich ohne ihren Glauben an den Wert und Nutzen dieses Buches niemals bis zum Ende des Projekts durchgehalten hätte, und ohne ihre bohrenden Fragen wäre das Buch erheblich schwächer geraten.

Den vielen einzelnen deutschen Feministinnen, Aktivistinnen und Forscherinnen, die sich bereitwillig interviewen ließen, einige sehr intensiv und noch dazu mehrmals, bin ich ebenfalls zutiefst zu Dank verpflichtet. Zusätzlich zu den zirka sechzig formalen Interviews, die ich in den Jahren unmittelbar nach dem Mauerfall führte, durfte ich mich über längere Zeit so häufig mit verschiedensten Frauen zusammensetzen und über feministische Politik sprechen, feministische Veranstaltungen besuchen und mich im Rahmen feministischer Organisationen mit Studentinnen, Kolleginnen, Aktivistinnen und Freundinnen von Freundinnen treffen (und meine Feldnotizen für das Buch verwenden), dass ich es gar nicht mehr einzeln aufzählen kann. Von den Vielen heben sich einige besonders ab, die gerne bereit waren, mir vorbehaltlos und weit über die Pflicht hinaus Feedback, Futter und Freundschaft zu schenken. Es wäre sträflich, Sylvia Kontos, Theresa Wobbe, Claudia Neusüß, Ingrid Miethe, Marianne Weg, Margit Mayer, Irene Dölling, Sabine Berghahn, Ilona Ostner, Sabine Lang, Christel Eckart und Elisabeth Beck-Gernsheim in diesem Zusammenhang nicht namentlich zu nennen.

Während ich mit dem Schreiben nach und nach vorankam, profitierte das Buch ungemein vom sorgfältigen Lesen und den kritischen Anmerkungen, wofür ich Lisa D. Brush, Silke Roth, Leila Rupp, Sylvia Walby, Jane Collins, Shamus Khan, Donna Harsch, Hae Yeon Choo, Susan Rottmann, Katja Guenther, Kathrin Zippel, Angelika von Wahl, Patricia Yancey Martin, Aili Tripp, Axeli Knapp, Ute Gerhard, Ingrid Miethe, Benita Roth, Alicia VandeVusse und Nicole Skurich dankbar bin. Auch kann ich mich sehr glücklich schätzen, dass Kate Wahl bei Stanford University Press die Redaktion meines Buches übernahm, denn sie las nicht nur mein Manuskript, sondern wartete auch mit konstruktivsten Kritiken und Anmerkungen auf, die mir bei der Verbesserung des Textes ungemein halfen. Auf der Zielgeraden hatte ich das große Glück, die ausgezeichnete fachlich-redaktionelle Hilfe Alison Andersons in Anspruch nehmen zu können, einer langjährigen Freundin, die ich schon kannte, als ich noch nicht in Deutschland arbeitete, sowie die beständige und gewissenhafte Assistenz Jess Claytons – eine bessere wissenschaftliche Mitarbeiterin könnte ich mir nicht vorstellen. Jess war jederzeit gerne bereit, mehr zu geben, als verlangt wurde, ihre Energie und ihr Einsatz trugen gehörig dazu bei, dass ich es bis zur Ziellinie schaffte.

Für die vorliegende deutschsprachige Ausgabe schulde ich den größten Dank meiner Lektorin bei Campus, Judith Wilke-Primavesi, die hartnäckig blieb und allen Widrigkeiten zum Trotz daran festhielt. Mein Dank dafür, dass diese Übersetzung überhaupt erst möglich wurde, geht auch an Birgit Sauer und Petra Schäfter, deren Glauben an den Wert dieses Projekts für den deutschen Markt das Vorhaben ungeachtet verschiedenster Unebenheiten auf dem langen Weg zur Publikation in Gang gehalten hat. Die Mühe, die diese drei – und viele andere mehr – investiert haben, damit eine qualitativ hochwertige Übersetzung entstehen konnte, weiß ich sehr zu schätzen. Auch danke ich den Übersetzerinnen Claudia Buchholtz und Bettina Seifried für ihre sorgfältige Arbeit und die Leistung, einen Text, der zunächst gar nicht für eine deutsche Leserschaft geschrieben worden war, in der Übersetzung entsprechend aufzubereiten. Die ganze Zeit über konnte ich auf die Ermutigungen meiner Kolleginnen und Kollegen Silke Roth, Kathrin Zippel und Marc Silberman und meines Ehemanns Don Ferree bauen, die alle mein Anliegen teilen, nicht nur US-amerikanische, sondern nun auch deutsche Leserinnen und Leser anzusprechen und einen Dialog anzuregen über die vielfältigsten Differenzen und Unterschiede hinweg, die innerhalb der jeweiligen Sprachgruppe bestehen, die aber auch die Standpunkte prägen, die sich in den jeweiligen nationalen und transnationalen Beziehungen herausgebildet haben.

Myra Marx Ferree im Dezember 2017

Kapitel 1Geschlechterpolitik und praktische Theorie

Am 21. Januar 2005 beriet der Deutsche Bundestag über den Entwurf für ein Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, das Benachteiligungen im Arbeitsleben und im zivil- und sozialrechtlichen Bereich aus Gründen des Geschlechts, der Hautfarbe, der ethnischen Herkunft, einer Behinderung, des Alters, der Religion oder Weltanschauung oder der sexuellen Identität verhindern oder beseitigen sollte. Außerdem sah das Gesetz die Einrichtung einer neuen Bundesbehörde vor, die Beschwerden entgegennehmen und statistische Daten erheben soll.

Doch warum wurde über ein solches Diskriminierungsverbot erst 2005 beraten? Es mag erstaunlich erscheinen, dass der Civil Rights Act in den USA bereits 1964 verabschiedet wurde und Deutschland 40 Jahre länger brauchte, um ein vergleichbares Gesetz auf den Weg zu bringen. Manche interpretieren die Initiative als Reaktion auf Richtlinien der Europäischen Union (EU), die Mitgliedstaaten verpflichten, jede Form von Diskriminierung zu bekämpfen; sie vermuten, dass Deutschland ohne diese europarechtlichen Vorgaben die Verabschiedung eines solchen Gesetzes möglicherweise gar nicht in Erwägung gezogen hätte. Andere weisen darauf hin, dass es in Deutschland zwar zunächst keine spezifischen Antidiskriminierungsgesetze gab, wohl aber einen in der Verfassung verankerten verbindlichen Auftrag zur Gleichstellung der Geschlechter. Im Gegensatz zur US-amerikanischen Verfassung gewährleistet schon das Grundgesetz gleiche Rechte für Männer und Frauen und ermächtigt und verpflichtet den Staat darüber hinaus zu Maßnahmen, um Gleichberechtigung in der Praxis sicherzustellen.1

Aktuell ist in Deutschland nicht zu übersehen, dass Frauen zu wichtigen Akteurinnen in der politischen Arena geworden sind. Im Jahr 2005 führte Angela Merkel die Regierungsgeschäfte als erste deutsche Kanzlerin. Seit den 1970er Jahren sind immer mehr weibliche Abgeordnete in den Bundestag eingezogen. Schon vor Merkels Amtsantritt lag der Frauenanteil in Deutschland bei 32 Prozent und damit doppelt so hoch wie in den USA, wo der Anteil im Jahr 2017 16 Prozent im Unterhaus und 12 Prozent im Senat betrug.2 Auf Länderebene, in den Landkreisen und Gemeinden setzen sich mehr als tausend Frauenbeauftragte von Amts wegen für die Rechte der Frauen ein. Das Gender Mainstreaming – die international geforderte Überprüfung von gesetzlichen Normen und Vorgaben im Hinblick auf ihre gleichstellungsspezifischen Auswirkungen – ist mittlerweile durch ein Bundesgesetz verpflichtend.

Im europäischen Vergleich nimmt Deutschland in Sachen Gleichstellung allerdings keine Spitzenposition ein. Im Gegenteil: Was die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, den Abbau von Geschlechtervorurteilen, aber auch geschlechtergerechte Reformen in der Familien- und Sozialgesetzgebung angeht, hinkte die Bundesrepublik lange hinterher. Schweden und Finnland hingegen setzten gleich nach ihrem Beitritt zur eher konservativ geprägten Europäischen Union klare Richtlinien zu Geschlechtergleichheit und »frauenfreundlicher« Politik durch. Erst die daraus resultierenden EU-Vorgaben sowie der Einfluss der politischen Kultur, die es in der DDR im Hinblick auf familienpolitische Fragen gegeben hatte, führten schließlich zu einem Wandel in der Frauenpolitik der neuen Bundesrepublik.3

Kann Deutschland also als Spätzünder gelten, was die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen betrifft? Oder liefert das Land mit seiner Kanzlerin ein Musterbeispiel für weibliche Erfolge in der Politik? Oder ist es einfach nur ein ganz durchschnittlicher europäischer Wohlfahrtsstaat? Meiner Ansicht nach treffen alle drei Beschreibungen zu. Ihr Spektrum spiegelt lediglich wider, dass Frauen ihre politischen Interessen auf unterschiedliche Weise definieren und verfolgen. Werden Länder wie beispielsweise China und die USA miteinander verglichen, die aufgrund vollkommen unterschiedlicher Lebensstandards mit jeweils ganz anderen Problemen konfrontiert sind, rücken die Unterschiede in den feministischen Strategien und Zielsetzungen schnell in den Blick. Doch auch in hoch industrialisierten Ländern wie den USA, Deutschland oder anderen EU-Staaten, die vergleichbare Ressourcen und Problemstellungen aufweisen, unterscheiden sich Geschlechterarrangements und die daraus entstehenden feministischen Proteste bisweilen erheblich. Das ist nicht besser oder schlechter für die Sache der Frauen an sich, sondern für manche Frauen in mancherlei Hinsicht besser als für andere. Wie bei den von Hall und Soskice analysierten »Spielarten des Kapitalismus« kommt es hier auf die Spielarten des Patriarchats und des Feminismus im jeweiligen Land an.4

Wie im Verlauf dieser Studie deutlich wird, geht der Feminismus in Deutschland von politischen Grundannahmen aus, in denen sozialer Gerechtigkeit, Familienwerten und der Verantwortung des Staats für das Gemeinwesen ein besonderer Stellenwert eingeräumt wird. Die Politik der Frauenbewegung wurde über Generationen hinweg von institutionellen Kompromissen zwischen konservativen und sozialdemokratischen Kräften geprägt. Das unterscheidet sie von den einflussreichen Bewegungen in den USA und Großbritannien, die in der Tradition des liberalen Individualismus und gleicher Rechte für alle stehen und oft mit feministischer Politik gleichgesetzt werden. Anhand der Gegenüberstellung des angelsächsischen Gleichberechtigungs-Modells und der deutschen Spielart des Feminismus lässt sich zeigen, dass Geschlechterpolitik und Verflechtungen zwischen sozialen Gerechtigkeitsbewegungen jeweils länderspezifische charakteristische Formen annehmen, die grundlegende Annahmen bezüglich Persönlichkeitsrechten, geschlechterspezifischen Bürgerrechten und der Rolle des Staats widerspiegeln.

Auch wenn ich mich bisweilen vergleichend auf die liberale US-Variante des Feminismus beziehe, bildet Deutschland als nicht-liberaler Staat die empirische Grundlage dieser Studie. Die meisten Staaten stehen in keiner explizit liberalen politischen Tradition, weshalb die pauschale Gleichsetzung von Feminismus mit seiner spezifisch liberalen Ausprägung den Blick darauf verstellt, vor welchen Herausforderungen und Chancen der Kampf um Frauenrechte weltweit steht. Die Entwicklung der deutschen Frauenbewegung im Zusammenspiel mit staatlichen und gesellschaftlichen Strukturen bietet Feministinnen in anderen nicht liberal geprägten Kontexten sicher viele Anregungen für den eigenen Umgang mit den vorhandenen nationalen Gegebenheiten und institutionellen Rahmenbedingungen. Darüber hinaus lässt sich am Fallbeispiel Deutschland aber auch besonders gut nachvollziehen, wie Geschichte, Pfadabhängigkeiten und Strategieentscheidungen ineinander greifen und Einfluss darauf nehmen, welche Erfolge soziale Bewegungen im Laufe der Zeit erzielen.

Wie in den USA und vielen anderen Ländern auch, war die feministische Bewegung in der Bundesrepublik in den siebziger Jahren sehr aktiv und in der Öffentlichkeit präsent. Auf meine Ankündigung, ein Buch über die Entwicklung dieser Bewegung bis in die Gegenwart zu schreiben, reagierten etliche Deutsche sehr skeptisch und stellten die Frage, ob die Frauenbewegung hierzulande überhaupt noch existiert. Auch viele Menschen in den USA fragen sich, wo die Bewegungen geblieben sind, was sie erreicht haben und wo heute und in Zukunft mit ihnen zu rechnen ist. Inwiefern ist nun eine transnationale Frauenbewegung die Alleinerbin dieser verschiedenen nationalen Politiken von einst?

In meinen Analysen gehe ich auf diese Fragen ein. Ich werde aber auch weitergehende theoretische Überlegungen aufgreifen, besonders im Hinblick auf die Frage, wie der Zusammenhang zwischen materiellen Bedingungen und diskursiven Chancen gestaltet wird. Schlagen sich Verschiebungen im politischen Diskurs in greifbaren sozialen Veränderungen nieder? Klasse, Geschlecht und »Rasse« sind in Europa auf andere Weise miteinander verschränkt als in den USA. Diese Unterschiede aufzuzeigen, hilft zu verstehen, welche Folgen die Institutionalisierung von Klassenpolitik für die feministische Mobilisierung und Debatten um Gleichheit und Differenz hat. Weiterhin stellt sich die Frage, was es für die Bewegung bedeutet, wenn sich einerseits manche Forderungen so ins politische Gefüge integrieren lassen, dass sie kaum als Veränderung wahrgenommen werden, andere hingegen so radikal anmuten, dass sie nicht diskussionswürdig erscheinen. So wird beispielsweise in Deutschland eine dezidierte Antidiskriminierungspolitik nach wie vor als radikal betrachtet, während in den USA bezahlter Erziehungsurlaub als politische Utopie fern jeder Realität gilt. Das wirft die generelle Frage auf, unter welchen Umständen eine politische Forderung als »radikal« erscheint.

Im politischen Bereich wird Radikalität herkömmlich mit Gewalt und physischer Auseinandersetzung und im feministischen Kontext mit (Männer-)Feindschaft, Wut (anstelle von Hoffnung) und (ausschließlich) unkonventionellen Politikformen gleichgesetzt. Dieses Verständnis wird in der nachfolgenden Analyse auf den Prüfstand gestellt. Meine These lautet: Radikalität ist grundsätzlich relational, weil sie die Politik zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort auf eine spezifische Weise herausfordert. Das Radikale ist an den Rändern des Systems verortet und steht im Widerspruch zu institutionalisierten Machtstrukturen, die es über kurz oder lang unterminiert. Radikaler Wandel geht mit einer Veränderung fundamentaler politischer Verhältnisse einher: aus Frauen werden Staatsbürgerinnen, Regierungen übernehmen Daseinsfürsorge für die Bevölkerung und Familien orientieren sich immer mehr an individuellen Entscheidungen. Aber unabhängig davon, ob sich ein grundlegender Wandel schrittweise oder plötzlich vollzieht – sobald er stattgefunden hat, ist er schon kaum mehr als solcher erkennbar: Was eben noch fremd und beunruhigend schien, wird zur normalen, selbstverständlichen Ordnung der Dinge.

Da sich die Strukturen von Machtsystemen unterscheiden, bringen gesellschaftliche Wandlungsprozesse auch entsprechend verschiedene Herausforderungen mit sich. Die enge Verknüpfung von feministischen Bewegungen mit nationaler Politik verdeutlicht, wie die verschiedenen Machtverhältnisse naturalisiert werden. Dabei spielen zum einen feministische Errungenschaften auf materieller Ebene eine bedeutende Rolle, wie sie beispielsweise Institutionen verkörpern. Mindestens ebenso wichtig sind aber die diskursiven Muster und Faktoren, die die Probleme definieren, auf die Politik reagieren soll, weil sie bestimmen, was als vernünftige Forderung akzeptiert oder als zu radikal verworfen wird. Da die Geschichte des feministischen Wandels in Deutschland noch kaum erzählt wurde, fallen stereotype Erwartungen weg und es werden mehr alternative Wege und Chancen sichtbar.

Obwohl der Schwerpunkt des Buchs auf der Entwicklung der Frauenbewegung in Deutschland liegt, werden alternative Entwicklungen in anderen Ländern im Folgenden immer wieder einbezogen, um den Einfluss konkreter strategischer Entscheidungen und der jeweils spezifischen Einbettung in institutionelle Strukturen zu verdeutlichen. Aus der Teilung Deutschlands in Ost und West nach dem Zweiten Weltkrieg ergibt sich eine Möglichkeit für eine solche vergleichende Gegenüberstellung. Auch die selektive Aneignung von transnational kursierenden Ideen und Strategien belegt, dass feministische Bewegungen stets auf ihren spezifischen Kontext reagieren. Der Vergleich mit Entwicklungen in den Vereinigten Staaten ermöglicht es, Vorurteile aus US-Perspektive kritisch zu überprüfen, und einem liberalismusskeptischen Publikum eröffnet sich möglicherweise ein anderer Blick darauf, wie dessen Forderungen radikale Veränderungen bewirken können.

Im Mittelpunkt steht die Frage, was für und durch feministische Politik in Deutschland sichtbar, machbar und auch tatsächlich erkämpft wurde und was nicht. Darüber hinaus geht es aber auch darum, allgemeine Charakteristika feministischer gesellschaftlicher Veränderungsprozesse ausfindig zu machen. Die systembedingten Unterschiede in Bezug darauf, welche Forderungen als umsetzbar und welche als radikal gelten, verweisen auf die tiefe Verwurzelung politischer Kämpfe in historisch gewachsenen materiellen wie kulturellen Rahmenbedingungen.

Das Beispiel Deutschland

Deutschland ist ein in vielerlei Hinsicht besonderer Fall. Für meine Argumentation entscheidend ist, dass es sich nicht um ein im traditionellen Sinne liberales Staatswesen handelt. Viele aus US-amerikanischer Perspektive selbstverständliche Annahmen, wie etwa die zentrale Bedeutung individueller Freiheitsrechte und der gleichberechtigten wirtschaftlichen Teilhabe, verdanken ihren hohen Stellenwert einer vorherrschend liberalen politischen Grundhaltung. Der Liberalismus spielte in Deutschland zu keinem Zeitpunkt eine so wichtige Rolle wie in den USA oder Großbritannien. Deutsche Politik verbindet vielmehr konservative patriarchale Autorität mit sozialdemokratischen Gerechtigkeitsidealen zu einem Wohlfahrtsstaat, in dem die Förderung der Familie und die Reproduktion der Nation vorrangig sind. Diese materiell wie kulturell unterschiedlich definierte Idee des Nationalstaats gibt den Rahmen für feministische Politik vor. Sich mit nicht liberal geprägten politischen Kontexten zu befassen, erscheint mir daher ein vielversprechender Ansatz, um die Unterschiede der feministischen Kämpfe in aller Welt theoretisch zu fassen.

Deutschland ist weder ein klassisch sozialdemokratisch geprägter Staat wie Schweden, noch eine sich säkular definierende Republik wie etwa Frankreich. Die Bundesrepublik entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer sozialen Marktwirtschaft, die stärker auf christlich-konservativen Werten fußte als auf sozialdemokratischen Idealen. Zwar waren und sind Sozialdemokraten in der BRD gut organisiert und einflussreicher als liberale Verfechter der freien Marktwirtschaft, im Parlament saßen sie allerdings meistens auf der Oppositionsbank. Im Westen regierten Christdemokraten, im Osten herrschte ein Staatssozialismus autoritärer Prägung. Politische Maßnahmen zur Integration von Frauen in die Erwerbsarbeit oder zum Ausgleich des enormen Lohngefälles zwischen den Geschlechtern waren in Westdeutschland schwieriger durchzusetzen als in skandinavischen Ländern. In der DDR waren Initiativen zum Abbau der Geschlechterungleichheit wegen ihrer Nähe zum repressiven Staatsapparat verpönt. Das Ringen um ein Gleichgewicht zwischen christlich-konservativen und sozialdemokratischen Kräften in der feministischen Politik Deutschlands steht exemplarisch für andere feministische Kämpfe in vielen Teilen der Welt. Wenn Feminismus und Sozialdemokratie Bündnisse eingehen, verschieben sich die Prioritäten und Auseinandersetzungen der Bewegung auf – zumindest aus US-Perspektive – so ungewohnte Weise, dass sie in der Theoriebildung zu politischer Mobilisierung ausgeblendet werden.5

Deutschland ist ein föderaler Staat, in dem die Macht der Bundesregierung in vielerlei Hinsicht beschränkt ist. Konfessionell wie politisch stehen die Bundesländer in unterschiedlichen Traditionen. Das einstige Territorium der DDR ist säkular geprägt und das Verhältnis zur sozialistischen Vergangenheit ambivalent. Trotz massiver Investitionen ist im Osten Deutschlands Armut weiter verbreitet, die Bevölkerungszahlen gehen zurück und auch mehr als zwei Jahrzehnte nach der Vereinigung hadern die neuen Bundesländer mit ihrer politischen Identität. So betrachtet, erweist sich die Wiedervereinigung als ein gigantischer ›Feldversuch‹, der erlaubt, die Langzeiteffekte unterschiedlicher politischer Kulturen und Institutionen auf die feministische Bewegung zu erforschen.

Eine wichtige Rolle spielen auch konfessionelle Unterschiede zwischen Nord- und Süddeutschland. Wie ihre Nachbarn in den Niederlanden haben sich auch die Deutschen nie zu einem säkularen Staatswesen bekannt. Nach wie vor haben die katholische und die evangelische Kirche großes institutionelles Gewicht. Der Süden und das Rheinland sind katholisch geprägt, die Mitte und der Norden überwiegend protestantisch. Die wenigsten Deutschen sind aktive Kirchgänger – vor allem im Osten ist deren Anteil gering. Die Akzeptanz kultureller und religiöser Unterschiede fällt nicht allen leicht und man tut sich noch schwer mit der Integration von Einwanderern, wie fast überall in Europa. Im Prisma der wechselvollen Geschichte deutscher Kriege, Diktaturen und Teilungen gestaltet sich ein Überdenken der Voraussetzungen für eine vollwertige deutsche Staatsbürgerschaft nicht zuletzt aufgrund der großen regionalen Unterschiede und zunehmenden Vielfalt durch Zuwanderung schwierig.

Als eine der stärksten und reichsten Nationen gehört Deutschland zur Europäischen Union, die derzeit aus 28 Staaten besteht. Diese transnationale Institution hat zwar weniger Befugnisse als ein eigenständiges Staatswesen, aber weit mehr als vergleichbare internationale Organisationen. Die Zahl der Mitglieder ist seit der Gründung als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft während des Aufschwungs in den 1950er Jahren ständig gewachsen. EU-Richtlinien zur Geschlechtergleichstellung und staatlichen Förderung einer geschlechtergerechten Gesellschaft haben weitreichende Wirkung in den Mitgliedstaaten, aber auch auf globale feministische Netzwerke. Die großen Unterschiede zwischen den Bundesländern einerseits und die länderübergreifende Einbindung Deutschlands in ein »frauenfreundliches« EU-Geschlechterregime andererseits führen zu komplexen Wechselwirkungen, die auf lokaler und transnationaler Ebene wichtige Aufschlüsse über politische Entscheidungsfindungen im feministischen Kontext geben.

Deutschland ist also alles andere als ein »typischer« Fall, aber die feministischen Wege und Kämpfe drehen sich um dieselben Themen wie überall auf der Welt: Gleichheit und/oder Differenz, Autonomie und Exklusion, Teilhabe und politische Repräsentation von Frauen. Die komplizierte Gemengelage aus dem Druck von liberaler Seite auf transnationaler Ebene, dem sozialdemokratischem Regierungseinfluss auf nationaler Ebene und quer dazu verlaufenden Interessen regionaler Lager aus wirtschaftlichen, religiösen oder ethnischen Gründen ist kein rein deutsches Phänomen. Wer die Geschichte der Frauenbewegung in anderen Ländern kennt, wird die Parallelen bestätigen, auf die ich – ebenso wie auf Unterschiede – in den einzelnen Kapiteln verweise.

Deutschland existiert natürlich nicht in einem Vakuum, darum werde ich in einem späteren Kapitel auf die Relevanz des transnationalen Ideenaustauschs und global agierender Individuen eingehen. Indem sich der Blick jedoch auf den Einzelfall richtet, wird deutlich, wie nichtlokale Einflüsse im Prisma lokaler Geschichte gebrochen und zu bestimmten zeit- und ortsabhängigen Mustern »zurechtgebogen« werden. Dabei spielen US-amerikanische Einflüsse keine unwichtige Rolle, doch das »Amerikanische« an ihnen ist aus deutscher Perspektive schneller ersichtlich als aus US-amerikanischer, unabhängig davon, ob es der Attraktivität oder der Ablehnung dient. Verschiebungen im globalen Kräfteverhältnis, die heutzutage zu einer Ausweitung liberal geprägter Institutionen und gleichzeitig zur Schwächung der Vorreiterrolle des US-Feminismus führen, sind gleichermaßen Ursache und Folge von veränderten Vorstellungen der Frauenbewegungen in Deutschland und anderen Staaten.

Eine Geschichte des Wandels bleibt notwendigerweise unabgeschlossen. Die hier beschriebenen feministischen Kämpfe führen zu Veränderungen auf institutioneller wie diskursiver Ebene, die später als Grundlage für andere Kämpfe dienen werden. Die einzelnen Kapitel nähern sich dieser Geschichte in semichronologischer Weise, und mit thematischen Schwerpunkten zur Verdeutlichung, wie bestimmte Entwicklungen die jeweils nachfolgenden prägten. Soziale Gerechtigkeitsbewegungen, so mein Argument, lassen sich am besten als Form der Politik beschreiben, die durch immer neue Akte der Entscheidung und Strategieveränderungen stets im Entstehen sind und dabei intersektionell mit Klasse, »Rasse«, ethnischer Herkunft und weiteren gesellschaftlichen Kategorien interagieren.

Relationaler Realismus als praktische Theorie des Feminismus

An dieser Stelle erfolgt ein kleiner Exkurs in theoretische Gefilde zur Einführung der Grundkonzepte, die meine Analyse leiten. Der Überblick dient dazu, die intersektionellen Bezüge und das stets Im-Entstehen-Begriffene sozialer Bewegungen in einem umfassenderen Rahmen zu verorten, den ich als relationalen Realismus bezeichne. Geschlechterverhältnisse werden dabei als Teil eines komplexen, mehrdimensionalen Systems von Ungleichheiten betrachtet.6

Der relationale Realismus richtet den Blick sowohl auf die objektiven materiellen Bedingungen, als auch auf die schöpferische Kraft menschlicher Vorstellung, die im Prozess der Konstruktion und Kommunikation von gesellschaftlicher Wirklichkeit eine entscheidende Rolle spielt und wiederum auf die materielle Ebene zurückwirkt. Die Perspektive des relationalen Realismus betont das kontinuierliche, nie unumstrittene Bestreben, die materielle Welt dem anzuverwandeln, was in der menschlichen Vorstellung als Möglichkeit oder Sachverhalt gilt. Darüber finden Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlich ungleich verorteten Individuen und Gruppen mit widerstreitenden Interessen und unterschiedlichen Durchsetzungspotenzialen statt. Politische Inhalte definieren sich also gleichermaßen aus pragmatischen Zwängen und Visionen für die Zukunft, die dann Praktiken hervorbringen, welche sich aus den konkreten Beziehungen zwischen den Beteiligten entwickeln. Politik ist stets eine Frage der Entscheidungsfindung zwischen sozialen Akteuren, und die jeweils verfügbaren Optionen lassen sich nicht auf kulturelle, ideologische oder materielle Bedingungen allein zurückführen.

Der relationale Realismus geht von Diversität und sozialen Kämpfen als gesellschaftlichen Grundlagen aus, weshalb der Ansatz über eine Theorie der Geschlechterverhältnisse hinausweist. Intersektionalität ist dabei ein Schlüsselbegriff, der die komplexen Bezüge Klasse, »Rasse« und Geschlecht als gesellschaftliche Kräftefelder akzentuiert, die sich in ihrem institutionalisierten Zusammenwirken beständig neu definieren. Evelyn Nakano Glenn beschreibt dies treffend: »[Klasse, «Rasse» und Geschlecht] sind relationale Konzepte, die sich in symbolischen und sozio-strukturellen Prozessen konstituieren, bei denen Macht der entscheidende Faktor ist.«7

In der Theorie des relationalen Realismus erhalten Diskurse (durch die Repräsentationen von Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert und politisch wirksam werden) und materielle Bedingungen (in denen sich strukturelle Arrangements institutionalisieren, Ressourcen verteilt und Handlungsmöglichkeiten geschaffen oder beschränkt werden) den gleichen Stellenwert. Anstelle von methodischem Individualismus liegt der Fokus auf den Beziehungen zwischen Personen, Institutionen und Konzepten, auf Relationen also, die sich als Machtverhältnisse in historisch verwirklichten sozialen Interaktionen immer wieder neu konstituieren. Die nicht vorhersehbaren Resultate des Aufeinandertreffens unterschiedlicher Zielvorstellungen in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bilden die Grundlage der künftigen sozialen Ordnung. Eine praktische Theorie muss diese Prozesse in einer Form beschreiben, die späteren Entscheidungsfindungen zweckdienlich ist.

Eine praktische Theorie feministischer Politik ist somit ein heuristisches Instrument, um Frauen zu politischer Durchsetzungskraft zu verhelfen und bei der Wahl der Allianzpartner oder Prioritätensetzung zu bestärken. Maxine Molyneux’ Unterscheidung zwischen »praktischen« und »strategischen« Geschlechterinteressen ist dafür ein gutes Beispiel, und mit meinem Ansatz möchte ich solche feministischen Theorien des Politischen weiterführen. Denn anders als bei Molyneux werden in einer relational-realistischen Perspektive weder nichtlokale Akteure privilegiert, noch wird unterstellt, dass eine einzelne feministische Theorie politische Entscheidungen von Frauen auf ein universelles strategisches Interesse hin auszurichten vermag.8 Meine Kritik richtet sich nicht nur gegen Molyneux’ Rückgriff auf den historischen Materialismus, als ob er alle strategische Interessen bestimme, sondern auch gegen eine sozialkonstruktivistische Herangehensweise, die materielle Zwänge ignoriert und so tut, als genüge es, gesellschaftliche Veränderungen laut genug einzufordern, damit sie eintreten.

Theoretisches Werkzeug für eine relational-realistische Analyse politischer Prozesse

Die zum Verständnis der nachfolgenden Kapitel nötigen Theoriebausteine gliedern sich in drei Bereiche: das System der Geschlechterbeziehungen als Teil einer Gesellschaftsordnung, die durch intersektionale Machtbeziehungen strukturiert ist; die Rolle der politischen Institutionen während des Prozesses, in dem sich soziale Bewegungen formieren und formend auf die Gesellschaft zurückwirken; und schließlich die Bedeutung des politischen Diskurses als Strukturelement und Handlungsinstrument in Veränderungsprozessen. All diese Faktoren spielen eine entscheidende Rolle in der Geschlechterpolitik.

Geschlechterbeziehungen

Raewyn Connell liefert wichtige Impulse, um feministische Kämpfe als sich stets neu konstituierende, intersektionelle und mehrdimensionale Prozesse genauer zu fassen. Die Differenzierung zwischen Geschlechterregime und Geschlechterordnung steht dabei an oberster Stelle: Geschlechterregime bezeichnet das Gefüge der Geschlechterbeziehungen in konkreten Institutionen (z. B. Staat, Familie, Unternehmen), Geschlechterordnung hingegen steht für die Gesamtheit aller Geschlechterregime zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort.9 Beispielsweise können sich die Geschlechterregime im industriellen Kapitalismus länderübergreifend durchaus gleichen, doch die jeweiligen Phasen des Industriekapitalismus’ sind uneinheitlich und umstritten. Verflechtungen mit anderen Regimen in und über Institutionen hinweg bringen eine Vielzahl unterschiedlicher Geschlechterordnungen hervor, die von Betrieb zu Betrieb anders strukturiert sind.10 Die Geschlechterordnung ist Teil der gesellschaftlichen Ordnung und interagiert in lokal spezifischen Formen intersektionell mit anderen gesellschaftlich strukturierten Verhältnissen wie Lebensalter, Nationalität, Sexualität oder Ethnizität.11

Da der Begriff Geschlechterregime an konkrete Institutionen geknüpft wird, lässt sich feststellen, wo Regimes überinstitutionell anschlussfähig sind, sich gegenseitig bestärken oder konfligieren – und auch besser erklären, warum feministische Veränderungen in einem Kontext radikal transformatorisch wirken und im anderen nicht. So führen beispielsweise modernisierte Geschlechterregime in den Institutionen Erwerbsarbeit und familiäre Fürsorge zu zeitlichen Konflikten, bedingen einander jedoch auf ökonomischer Ebene. Die EU-Richtlinie der »Vereinbarkeit von Familie und Beruf« ist keine radikale Forderung, hat jedoch unterschiedlich weitreichende Folgen, je nachdem, welche Institution von den Veränderungen betroffen ist und wessen Geld oder Zeit es umzuverteilen gilt.

Auch in anderen Regimen der Ungleichheit wirkt sich ein solches Ringen um ein neues Gleichgewicht zwischen Institutionen auf vielerlei Ebenen aus. Die Spannungen – als »Widersprüche« des Kapitalismus zwischen Innovation und Sicherheit, individuellen ökonomischen Vorteilen und Gemeinwohl, als »amerikanisches Dilemma« der Verquickung von rassistischen Exklusionsprozessen mit dem Bekenntnis zu Gleichberechtigung, Demokratie und Unabhängigkeit, oder sei es als feministisches »Paradoxon«, die Gleichheit und Differenz der Geschlechter zu postulieren – verweisen auf Bruchlinien innerhalb von Institutionen, die sich stets als soziale Ungleichheit manifestieren.12

Ein Gewinn ist auch Connells Vorschlag, anstelle der Geschlechtsidentität Geschlechterprojekte als Triebkraft politischen Handelns zu konzipieren. Projekte implizieren ziel- und zukunftsgerichtete Handlungsweisen, und somit ein bewusstes oder unbewusstes Engagement für eine bestimmte Organisation der Geschlechterverhältnisse.13 Geschlechterprojekte mit politischem Charakter kämpfen für Veränderung oder Erhalt einer konkreten Geschlechterordnung bzw. eines Geschlechterregimes; sofern sie darüber hinaus die kollektive Ermächtigung von Frauen zum Ziel haben, bezeichne ich sie als feministische Geschlechterprojekte. Wie jedes politische Projekt sind Geschlechterprojekte inhärent intersektionell. Bewegungen bilden Allianzen auf der Grundlage von sozialen Identitäten, die sich aus Intersektionen mit einer Vielzahl anderer politischer Projekte herausbilden.

Ein Wandel der Geschlechterverhältnisse kann folglich auch als (Neben-)Effekt der Zielsetzungen anders gelagerter politischer Projekte eintreten. Andersherum haben Geschlechterprojekte stets Auswirkungen auf andere gesellschaftliche Ungleichverhältnisse.14 Ein frühes feministisches Projekt verfolgte schlicht das Ziel, »Frauen als soziale Gruppe« überhaupt sichtbar zu machen.15 In der Folge mobilisierte dies Women of Color in den USA, die durch konstruktive Kritik auf die Grenzen des Projekts verwiesen. Ihr Feedback, die Einsicht nämlich, dass soziale Gerechtigkeitsbewegungen so funktionierten, als wären »alle Frauen weiß und alle Schwarzen Männer«, führte zur politischen Forderung, schwarze Frauen als soziale Gruppe mit eigener Perspektive anzuerkennen. Daraus entwickelte sich später ein breit angelegter Theorieansatz: die Intersektionalitätsforschung.16

Intersektionelle Analysen setzen voraus, dass feministische Projekte auch von Bewegungen und Organisationen ohne eindeutig feministische Zielsetzung vorangetrieben werden können. Andererseits müssen Frauenbewegungen (d. h. kollektiv organisierte Aktionsbündnisse von Frauen für Frauen) nicht zwangsläufig feministische Ziele verfolgen: politisch können sie rassistisch oder antirassistisch ausgerichtet sein, sie können wirtschaftliche Gerechtigkeit befördern oder Ausbeutungsverhältnisse perpetuieren und sogar für die Unterordnung der Frau eintreten. Inhalt und Inklusionsgrad feministischer Projekte sind kontextuell variabel, aber politisch haben sie stets die Ermächtigung von Frauen zum Ziel. Ob es erreicht wird, muss in Verbindung mit den politischen Projekten bewertet werden, mit denen feministische Bewegungen verschränkt sind.17

Der hier verfolgte intersektionelle Ansatz bezieht sich auf Glenns These, dass Klasse, »Rasse« und Geschlecht relationale gesellschaftliche Kräfte darstellen, die materiell und diskursiv von Machtwirkungen durchzogen sind. Neben diesen grundlegenden, politisch heftig umkämpften Kategorien spielen auch andere gesellschaftliche Verhältnisse eine wichtige Rolle (zum Beispiel sexuelle Orientierung, Nationalität oder Lebensalter), fallen institutionell jedoch ungleich ins Gewicht.18 Ein grundlegendes Ziel der hier vorliegenden Studie ist es, zu zeigen, dass die Intersektionen von Klasse, »Rasse« und Geschlecht in Deutschland und den USA entlang höchst unterschiedlicher Linien verlaufen, und dass dieser Unterschied relevant ist. Im zweiten Kapitel werde ich auf die Parameter dieser Intersektionen eingehen.

Politische Institutionen und gesellschaftlicher Wandel

Handlung und Struktur stellen im Kontext des relationalen Realismus keine getrennten Kategorien dar. Das Handeln gesellschaftlicher Akteure von heute kann morgen bereits als Strukturelement der sozialen Ordnung institutionalisiert sein.19 Bei der Erforschung sozialen Wandels hat sich allerdings die Unterscheidung zwischen Gelegenheitsstruktur und aktiver Mobilisierungshandlung für oder gegen Veränderungen im Rahmen dieser Struktur als analytisch sinnvoll erwiesen.20 Als Gelegenheitsstrukturen werden politische Institutionen bezeichnet, die Entscheidungsspielräume ermöglichen oder einengen und so die Politikgestaltung beeinflussen. Das Interesse von Politikwissenschaft und Sozialforschung richtet sich dabei verstärkt auf sogenannte Gelegenheitsfenster, die durch bestimmte institutionelle Arrangements von Parteien, Organisationen, politischen Eliten, Führungsfiguren, vorhandenen Ressourcen und nicht zuletzt institutionalisierten Diskursen einen gesellschaftlichen Wandel begünstigen.

Obwohl Politik ein kontinuierlicher Prozess der Entscheidungsfindung von Regierungen ist, geht man in der Forschung davon aus, dass Gelegenheitsstrukturen langfristig stabile, geschlossene Systeme bilden, bei denen sich nur gelegentlich »Zeitfenster« für Veränderungen auftun. Wie treffend dieses Bild ist, zeigt sich unter anderem an der starken Tendenz zur Institutionalisierung politischen Handelns, zur Verfestigung der Kontrolle über materielle und kulturelle Ressourcen im Dienste einer bestimmten Agenda und daran, dass Veränderungen tatsächlich in eher bescheidenem Rahmen stattfinden. Beschlüsse mit umwälzender Wirkung auf das politische System oder Programm sind selten, Machtverhältnisse verändern sich kaum grundlegend und nur vereinzelt werden Ressourcen in großem Umfang umverteilt. Welche Entscheidungen am Ende transformatorische (»radikale«) Wirkungen zeigen, ist ungewiss, weil die Beziehungen zwischen den beteiligten Größen komplex und unvorhersehbar sind und sich immer wieder neu konstituieren.21

Der Oberste Gerichtshof der USA ahnte beispielsweise 1973 im Fall Roe verus Wade nicht, dass sein Urteil, welches Abtreibungen im ersten Trimester legalisierte, noch Jahrzehnte später für politischen Sprengstoff sorgen würde, weil es das Recht auf familiäre Privatsphäre stärkte und die Möglichkeit staatlicher Eingriffe zugunsten individueller Entscheidungen von Frauen eingeschränkte. Obwohl der Beschluss wohlbedacht im bestehenden diskursiven Rahmen des US-Liberalismus als »Reform« verpackt wurde, artikulierte er doch erstmals die Zuerkennung der vollen staatsbürgerlichen Rechte an Frauen – eine Forderung, die damals in transnational geführten Diskursen aufschien – und öffnete so ein »Gelegenheitsfenster« für den Feminismus. Bis heute ist diese weitreichende Transformation der Bürgerrechte für Frauen in den USA stark umstritten.

Die Ausweitung der Regelung zum Schwangerschaftsabbruch in der BRD Anfang der siebziger Jahre scheint sich nur auf den ersten Blick demselben Gelegenheitsfenster zu verdanken. Denn die diskursiven »Mauern«, in die dieses Fenster in Westdeutschland eingelassen war, unterschieden sich erheblich von denen in den USA.22 Diese Mauern – also die Grenzen dessen, was für Akteure des Wandels überhaupt denkbar ist und was Staaten ordnungsgemäß als politisches Handeln definieren – bezeichne ich als diskursive Gelegenheitsstruktur. Die Institutionalisierung solcher Strukturen erfolgt in der Regel über Verfassungstexte, Verwaltungsvorschriften, Gesetze und Gerichtsentscheidungen. Die diskursive Gelegenheitsstruktur der 1970er Jahre war in der BRD eine andere als in den USA. Während das US-Verfassungsgericht den Schutz der Privatsphäre und die Freiheitsrechte des Individuums betonte, beriefen sich westdeutsche Gerichte auf die verfassungsbedingte Pflicht, Leben zu schützen, forderten vom Staat jedoch anstelle einer pauschalen Kriminalisierung der Frauen die Einführung einer effektiveren Regelung, welche die Frauen zwar zu beeinflussen sucht, die Letztentscheidung aber unweigerlich der Schwangeren überlässt. Aufgrund der national sehr unterschiedlich geführten Diskurse vollzog sich die transnationale Öffnung hin zu einer Veränderung in Deutschland und den USA mit ebenfalls höchst unterschiedlichen materiellen und diskursiven Folgen für Frauen, die einen Abbruch wünschen. Das dritte Kapitel zeigt, wie schwierig es ist, den einen oder anderen Weg pauschal als »besser« (oder »schlechter«) für die Sache der Frauen zu werten.

Auch materielle Gelegenheitsstrukturen bilden sich in Institutionen heraus, und zwar immer dann, wenn sich bestimmte Arrangements von Macht und Ressourcen im Laufe der Zeit wie selbstverständlich verstetigen und zu einer Institution werden. Raka Ray bezeichnet die jeweils konkrete institutionelle Struktur an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit als »politisches Feld«, in dem sich die Agenda einer sozialen Bewegung und entsprechende politische Strategien formieren. Ray untersucht die unterschiedliche Entwicklung von Frauenbewegungen in zwei indischen Großstädten: die eine formierte sich in einem von einer einzigen Partei dominierten homogenen politischen Feld, die andere im Kontext von Parteienwettbewerb in einem heterogenen Feld. Sie beschreibt – ähnlich wie ich – soziale Bewegungen als Teil eines politischen Felds, das historisch und institutionell auf spezifische Weise vorgeprägt ist und strukturell auf diese zurückwirkt. Kapitel 4 und 5 nehmen jeweils »radikale« gegenkulturelle und inklusive »gemäßigte« Projekte im politischen System und den Parteien in den Blick, um unterschiedliche Wege zu illustrieren, die westdeutsche Feministinnen im Rahmen der Gelegenheitsstruktur nutzten, die ihnen die BRD in den 1970ern bot. Beide Strategien hängen zusammen und bewirkten einen tiefgreifenden Wandel im Hinblick darauf, wie Frauen und deren Interessen im deutschen System politisch vertreten sind.

Am Beispiel Deutschland lassen sich auch die regionalen und globalen Intersektionen von nationalen Bewegungen (als Normalform politischer Projekte im 20. Jahrhundert) und seit Ende der 1990er Jahre zunehmend transnational operierenden Interessensnetzwerken nachzeichnen. Der Prozess feministischer Institutionalisierung im und durch den Staatsapparat ist in Deutschland anders verlaufen als in den USA, wie in Kapitel 6 und 7 zu zeigen ist. Dies liegt vor allem daran, dass die Souveränität des deutschen Staats sich in zweifacher Hinsicht neu justierte: im Innern durch die Wiedervereinigung und nach Außen durch Globalisierungsprozesse im Zusammenhang mit EU-Beschlüssen. Die deutsche Kontroverse um eine Annäherung an den Staat und die Frage nach dessen Rolle beim Abbau ungleicher Geschlechterverhältnisse stehen dabei im Zentrum der Analyse. Die Diskussionen sind die gleichen wie überall, wo durch den Staat Institutionen wie Gleichstellungsämter und neue Rahmenbedingungen zur Förderung der Teilhabe von Frauen an politischen Entscheidungen geschaffen wurden.23

Diskursive Politik und Rahmungsarbeit

In der Lesart des relationalen Realismus ist Diskurs eine Schlüsselkategorie zum Verständnis von politischen Prozessen. Ausgehend von Nancy Frasers Argument, dass Politik stets bei der Bedürfnisdefinition beginnt, und von Michel Foucaults Methode der Genealogie als historischer Analytik der Macht sprachlicher Kategorien und Begriffe, ist die praktische Theorie des relationalen Realismus eine Kritik der institutionellen Rahmenwerke (Frameworks) von Konzepten und der Rahmungsstrategien konkreter Akteure, anhand derer sich die Funktionsweise des politischen Diskurses über Geschlecht und Feminismus illustrieren lässt.24 Für Feministinnen stehen dabei die Analyse spezifischer Bedeutungsinhalte von Mutterschaft, Bürgerrechten, Gleichheit und Autonomie, von gruppenbezogener Differenz und kollektiver Macht im Mittelpunkt. Diese Bedeutungsinhalte sind das Ergebnis einer diskursiven Tätigkeit, die als »Rahmungsarbeit« bezeichnet wird.

Ich definiere Rahmung als eine Form der Interaktion, in der soziale Akteure mit einer bestimmten Agenda auf diskursive Gelegenheiten stoßen, die durch institutionell verankerte autoritative Texte strukturiert werden. Gelegenheitsstrukturen werden in Analysen der Rahmungsarbeit sozialer Bewegungen mittlerweile vorausgesetzt, doch entscheidend für das Ergebnis sozialer Kämpfe sind vor allem autoritative Texte wie Verfassungen, Gesetze, Gerichtsentscheidungen und administrative Regelungen. Solche Texte finden zwar als politisch relevante Dokumente Beachtung, sie sind jedoch immer auch das institutionalisierte Resultat früherer Rahmungsprozesse bei der Definition von Problemen. Als solche spiegeln sich in ihnen Regierungsprogramme, Bündnisse zwischen sozialen Bewegungen, aber auch die diskursiven »Mauern« mit den sich bisweilen öffnenden Gelegenheitsfenstern. Ich unterschiede hierbei zwischen aktiver Rahmungsarbeit und institutionalisierten diskursiven Gelegenheitsstrukturen, die in autoritativen Rahmen hinterlegt sind. Es sind die institutionell bereits verankerten Rahmen in politischen Texten wie Gesetzen, Gerichtsentscheidungen oder administrativen Regelungen, die über Ein- und Ausschluss bestimmter Themen und Möglichkeiten im politischen Bereich entscheiden. Das bedeutet jedoch nicht, dass diese Texte einen Leitrahmen bilden, vielmehr formen sie ein Netzwerk von Bedeutungen – ein Rahmenwerk –, das die aktive Rahmungsarbeit von Akteurinnen mit einer bestimmten politischen Zielsetzung prägt, von dieser jedoch auch reflexiv geprägt wird.25

Zum Beispiel überführte die internationale Kampagne »Frauenrechte sind Menschenrechte« nicht etwa eine feministische Forderung in einen bereits existierenden Leitrahmen der Rechte oder Menschenrechte, sondern veränderte den Bedeutungsinhalt des Begriffs »Menschenrecht« in der Praxis und dehnte dessen Sinngehalt so weit, dass damit auch Erfahrungen von Frauen als Menschen erfasst werden – nachdem es im vergangenen Jahrhundert zunehmend schwieriger wurde, Frauen die vollen Bürgerrechte in der Gemeinschaft der Menschen zu verweigern.26 Diskursive Lücken im Rahmenwerk der politischen Bedeutungen festigen den Status Quo: Diese Erkenntnis spiegelt sich auch im feministischen Engagement, neue Bezeichnungen für alte Unterdrückungsmechanismen einzuführen (der Begriff »sexuelle Belästigung« wurde zum Beispiel erst Anfang der 1970er Jahre geprägt). Die Sprache der Politik zu verändern, zählt somit zu den radikalsten Interventionen einer sozialen Bewegung.27

Im Folgenden will ich zeigen, dass sich die konkreten Projekte sozialer Bewegungen und somit ihre Agenda erst im Zusammenspiel von institutionalisierter Gelegenheitsstruktur und der Persönlichkeit, die Akteure einbringen, entwickeln. Strategisch denken alle Beteiligte, doch tun sie dies mit verschiedenen Zielsetzungen und aus unterschiedlichen Erfahrungen heraus. Während die einen ihre Forderungen gemäßigt und praxisnah als notwendige, durchsetzbare Reform innerhalb des Systems rahmen, rekurrieren andere auf diskursive Rahmungen, die die Ziele als einschneidende Veränderung präsentieren, die innerhalb der bestehenden Institutionen nicht zu realisieren ist. Solche radikalen Rahmungen blieben aufgrund der fehlenden Anschlussfähigkeit an die gegebenen diskursiven Gelegenheitsstrukturen oft erfolglos. Ob radikale Forderungen auf breite Resonanz stoßen, ist für soziale Akteure aber bisweilen zweitrangig. Häufig geht es in solchen Fällen vor allem um visionäre Ideen, theoretische Stringenz oder moralische Glaubwürdigkeit. Unabhängig von ihrer Radikalität ist die tatsächliche (transformative) Wirkung einer Forderung in der Praxis vorher jedoch nicht absehbar.

Reformer und Radikale unterscheiden sich daher weniger in ihrem politischen Gespür oder ihrer Haltung, und vielmehr darin, auf welche diskursiven Gelegenheitsstrukturen sie in ihrem Aktionsfeld stoßen. Dies belegt auch eine vergleichende Studie von Mary Katzenstein, die Forderungen von Feministinnen im Kontext der römisch-katholischen US-Kirche und in der US-Armee untersucht. Beide Gruppen wurden in derselben politischen Kultur sozialisiert und beide trafen beruflich auf einen streng hierarchisch strukturierten, männlich dominierten Verwaltungsapparat. Im Kontext der Kirche etablierte sich eine radikal-diskursive Strategie der feministischen Kritik, die an den Grundpfeilern des Systems rüttelte; beim Militär hingegen dominierten reformistische Forderungen nach Inklusion. Feministinnen in der Armee konnten nämlich zur Durchsetzung ihrer Belange auf bestehende Rechtsvorschriften (diskursive Gelegenheiten) zurückgreifen, was in der katholischen Kirche nicht der Fall war. Das institutionelle Gefüge einer Organisation prägt so die Agenda und Strategie der Aktivistinnen.

In der Forschung werden Spannungen zwischen radikalen und reformerischen Flügeln einer Bewegung als Form der Arbeitsteilung durchaus produktiv bewertet (Stichwort: radikaler Flankeneffekt).28 In einer über ein Jahrzehnt angelegten gesamteuropäischen Studie untersuchten Amy Mazur und Dorothy McBride die Effekte dessen, was sie als »Staatsfeminismus« bezeichnen – die Ausweitung des politischen Apparats, um Instrumentarien zur Stärkung der Rolle der Frau zu schaffen –, auf die Verwirklichung feministischer Ziele. Die aussichtsreichste Strategie, so die Schlussfolgerung, läuft auf eine Zusammenarbeit der Verantwortlichen innerhalb des Apparats mit Außenstehenden hinaus und schließt die Förderung der politischen Repräsentation von Frauen bei Wahlen, die Besetzung von Stellen in der staatlichen Verwaltung mit Feministinnen und die Mobilisierung von Aktivistinnen in den Frauenbewegungen außerhalb der Institutionen ein.29