Fennerleys Grauen - Niklas Quast - E-Book

Fennerleys Grauen E-Book

Niklas Quast

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Beschreibung

Aus dem einst belebten Dorf Fennerley verschwanden vom einen auf den anderen Tag alle Einwohner spurlos. Ein sechsköpfiges Forschungsteam macht sich daran, den Begebenheiten auf den Grund zu gehen. Die Suche gestaltet sich als sehr schwierig - bis dem Team ein Durchbruch gelingt, der jedoch schwerwiegende Folgen zu haben scheint...

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Zum BUCH

Aus dem einst belebten Dorf Fennerley verschwanden vom einen auf den anderen Tag alle Einwohner spurlos. Ein sechsköpfiges Forschungsteam macht sich daran, den Begebenheiten auf den Grund zu gehen. Die Suche gestaltet sich als sehr schwierig – bis dem Team ein Durchbruch gelingt, der jedoch schwerwiegende Folgen zu haben scheint…

Zum AUTOR

Niklas Quast wurde am 7.3.2000 in Hamburg-Harburg geboren und wuchs im dörflichen Umland auf. Nachdem er eine Ausbildung zum Groß- und Außenhandelskaufmann absolvierte, arbeitet er nun in einem Familienbetrieb und widmet sich nebenbei dem Schreiben.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Prolog

Still schwebte in einer Entfernung von über zwei Millionen Lichtjahren, tief in der Andromeda-Galaxie, ein gewaltiger Nebel durch die sternenbeleuchtete Schwärze des Weltalls. Dieser Nebel war schon sehr viele Jahre alt - tausende, ja, vielleicht sogar Millionen Jahre waren vergangen, seit er sich mit einer Energie aufgeladen hatte, aus der nun eine Lebensform entstanden war. Der Nebel hatte eine beachtliche Größe und waberte durch den vakuumartigen Raum. Niemals hätte man sich vorstellen können, dass dieser Nebel, der die Lebensformen der fremden Andromeda-Galaxie in sich trug, seinen Entstehungsort verlassen und auf eine andere Umlaufbahn stoßen würde. Doch genau heute war dieser Tag gekommen - der energiegeladene Nebel verließ auf unerklärliche Weise die Galaxie und raste in Lichtgeschwindigkeit durch Zeit und Raum. Und über zweieinhalb Million Lichtjahre später war es dann auch so weit - der Nebel drang in die Milchstraße ein und schwebte an allen möglichen Planeten vorbei - außer der Erde. Ja, es möge fast ein Zufall gewesen sein, doch an diesem Ort, den wir Menschen Heimat nennen, drang der Nebel in die Atmosphäre ein. Allerdings endete die Geschichte hier auch auf tragische Art und Weise - ein Satellit, der sich etwa sechzehntausend Kilometer über dem Erdboden befand, zog den Nebel fast magisch an und lud all die fremde Energie in sich auf. Die Wolke löste sich in Luft auf - doch was blieb, war der Satellit, mit dem etwas passiert war, was nie jemand zuvor gesehen hatte und vermutlich auch niemand mehr jemals sehen würde.

1

19. Dezember 2008, Arizona State Prison Complex

Alle Zeichen schienen darauf hin zu deuten, dass dieser Tag einer wie jeder andere werden würde. Seit dem 29. August befand sich Charles Reinhart jetzt in seiner kleinen Zelle - und das Urteil, das der Staatsanwalt hatte fallen lassen, war ein vernichtendes gewesen. Lebenslang - und das wegen Mord in mehreren Fällen. Die Polizei hatte die Geschehnisse in Kinmark komplett aufgearbeitet und letztlich sowohl Reinhart als auch seinem Halbbruder Bob alles in die Schuhe geschoben. In den vergangenen Monaten - es waren immerhin fast vier gewesen, die er bisher ausgehalten hatte - hatte er sich sehr viele Gedanken machen können. Ob das nun Fluch oder Segen war, wusste er nicht, er tippte aber auf ersteres. Manche Tage waren ihm länger vorgekommen, andere kürzer, doch alle hatten immer etwas gemeinsam. Der Ablauf war immer derselbe, und so wartete er nun, am Morgen des 19. Dezembers, darauf, dass der Wärter ihm sein Frühstück bringen würde. Er konnte nichts anderes tun als zu warten - und so lehnte er sich auf der Pritsche zurück, bis er die harten Steinkacheln in seinem Rücken spürte.

Daraufhin schloss er die Augen... und wachte erst wieder auf, als er ein leises Klopfen vernahm. Er zuckte zusammen, blinzelte mehrmals und drehte sich um. Er kannte den Mann nicht, der dort vor seiner Zellentür stand, und das konnte nichts Gutes verheißen. Oder vielleicht doch?

»Steh auf.«

Der Mann, ein hochgewachsener, muskelbepackter Afroamerikaner mittleren Alters sah ihn scharf an. Reinhart folgte seinem Befehl und fragte:

»Was ist los?«

»Es ist mitten in der Nacht. Wir sind gekommen, um euch abzuholen.«

Entgegen seiner Vermutung war der neue Tag also noch nicht angebrochen - aber das war erst einmal nebensächlich.

»Was geht hier vor sich?«

Das Schloss der Zellentür knackte laut, als der Mann es aufschloss. Die Tür schob sich leise quietschend über den Boden, und Reinhart zögerte einen Moment, ehe er seinen ersten Schritt nach draußen setzte. Im Flur herrschte spärliches Licht, eine kleine, gläserne Deckenlampe brachte ab und an flackernde Strahlen in den Bereich. Ansonsten war es dunkel.

»Los, komm mit.«

Reinhart sah ein, dass der Mann ihm seine Fragen nicht beantworten würde - zumindest noch nicht. Vielleicht würde er ja später Antworten bekommen. Er musste dem Mann jetzt erst einmal vertrauen, denn alles war besser, als weiter einsam in der Zelle zu versauern. Der Mann ging vor und Reinhart folgte ihm auf Schritt und Tritt. Er konnte keine einzelne Menschenseele sehen. Selbst in dem kleinen Häuschen, in dem sich zu jeder Tages- und Nachtzeit immer mindestens ein Wärter aufhielt, war niemand zu sehen. Als er jedoch genauer hinsah, entdeckte er die dunkelrote Blutpfütze auf dem Boden und die schmierigen Schlieren auf der Scheibe - er wandte sich sofort ab und konnte sich nun denken, weshalb niemand seinen Ausbruch bemerkt hatte. Dennoch stellte sich für ihn immer noch die Frage nach dem Warum - zumindest in seinem Inneren. Der lange Flur schien nie zu enden, sie passierten mehrere andere Zellenblöcke und bogen dann am Ende des Ganges links ab. Eine Stahltür führte nach draußen, aus der Ferne konnte Reinhart bereits sehen, dass sie nur lose im Rahmen hing. Der Mann schob sie leise auf, ließ ihn passieren und schloss sie dann wieder. Reinhart konnte in der Ferne bereits einen schwarzen Jeep erkennen, der an einer ungewöhnlichen Stelle mit Standlicht parkte. Er wartete dennoch, bis der Mann vorausging, und folgte ihm schließlich. Plötzlich waren da noch mehr Schritte zu hören, sie kamen jedoch aus einer ganz anderen Richtung.

»Alles klar?«, rief der Mann in die Richtung, in der Reinhart die Konturen von zwei weiteren Menschen sehen konnte.

»Alles klar«, kam knapp zurück.

Er wurde den Gedanken nicht los, dass hier irgendetwas lief, was ihm nicht gefallen würde. Die anderen beiden Menschen kamen langsam näher - und als sie unter dem Lichtkegel einer verwaisten Laterne standen, konnte Reinhart erkennen, um wen es sich handelte. Neben einem Mann, der ähnlich aussah wie der, der ihn befreit hatte, stand sein Halbbruder Bob.

»Hey.«

Reinhart nahm ihn kurz in die Arme.

»Was passiert hier?«

»Wenn ich das mal wüsste...«, nuschelte Bob.

Bei näherem Hinsehen bemerkte Reinhart, dass die Unterlippe seines Halbbruders aufgeplatzt war. Blut lief über sein Kinn, zudem wirkte er irgendwie benommen.

»Was ist passiert?«

Bob antwortete nicht, daher übernahm der Mann, der ihn begleitet hatte, das Wort.

»Grob gesagt lief alles gut. Einer der Wächter war jedoch ein ziemlich harter Brocken. Ich habe ihn letztendlich aber auch ausgeschaltet. Und jetzt los, steigt ein!«

Die Männer öffneten die beiden Türen und ließen Reinhart und Bob auf die Rückbank des Jeeps klettern.

»Was passiert hier?«

Reinhart kam sich langsam ziemlich blöd vor - diese Frage stellte er nun nicht zum ersten Mal, er hatte sie in den letzten fünf Minuten gefühlt einhundert Mal gestellt.

»Wir bringen euch weg von hier. Man verlangt nach euch.«

Das war schon eine Antwort, die mehr verriet - schlau wurde Reinhart aber auch daraus nicht.

»Wer verlangt nach uns?«

Der Motor des schwarzen Jeeps wurde gestartet. Der Fahrer, es war der Mann, der Bob aus seiner Zelle geholt hatte, blickte sich mehrmals in alle Richtungen um, bevor er langsam in die Querstraße einbog, in der die Ausfahrt des Gefängnisses lag. Als sie die Hauptstraße erreicht hatten, entspannte er sich langsam und schaltete das Radio ein. Es dauerte etwas, bis er mithilfe des Reglers die richtige Frequenz gefunden hatte.

»Wir haben von allem mitbekommen. Wir kennen deine komplette Geschichte, angefangen bei der Lagerhalle bis nach Kinmark hin.«

Der Fahrer machte eine kurze Pause.

»Es hat lange gedauert, dich und deinen Halbbruder zu finden.«

»Wo bringt ihr uns hin?«

»Nach Grönland.«

Die Antwort des Mannes traf Reinhart wie ein Schlag. Grönland? Was soll ich denn da?

»Was... soll das alles? Ich bin euch ja dankbar, dass ihr mich...

oder besser gesagt uns... gerettet habt. Aber was hat das zu bedeuten?«

»Nun, es gibt Probleme dort im Eis. Daher werdet ihr die Strecke ab New York auch mit dem Schiff zurücklegen - keine Sorge, keine einfache Yacht oder sowas, nein. Ihr werdet mit einem Eisbrecher dorthin fahren.«

Reinhart spürte, wie es ihm bei dem Gedanken daran, durch den tiefen Schnee und das Eis zu stapfen, kalt den Rücken hinunterlief.

»Und ihr wisst nicht, was mit uns passiert?«

Der Fahrer hielt seinen Blick starr auf die Straße gerichtet, während er antwortet.

»Nein. Aber alles ist besser als einfach so im Knast zu versauern, oder nicht?«

Reinhart stimmte ihm innerlich zu. Ja, verdammt, alles ist besser, als bis ans Ende des Lebens hinter schwedischen Gardinen zu sitzen.

2

Die Fahrt nach New York hatte eineinhalb Tage in Anspruch genommen. Sie hatten zwar durchaus einige Pausen eingelegt, doch Reinhart fühlte sich dennoch ziemlich ausgelaugt. Immer dann, wenn sie sich auf Raststätten die Beine vertreten oder etwas zu sich genommen hatten, hatte er die stechenden Blicke der beiden Männer in seinem Rücken gespürt. Mit Bob hatte er nicht viel geredet – sie hatten nur das Nötigste ausgetauscht. Er fühlte sich zu jedem Zeitpunkt belauscht, und genau genommen war das ja auch so gewesen. Alles, was er sagte, konnten die Männer auch mitbekommen - und so war es bei den Oberflächlichkeiten geblieben. Die Männer hatten sich am Steuer abgewechselt, und so war es schließlich nachmittags, als sie endlich durch die Stadt fuhren. Reinhart blickte sich um. Er war zuvor noch nie in New York gewesen, hatte sich nur ab und an mal Bilder der Metropole angesehen. Die Stadt war noch viel imposanter, als sie auf den Fotos schon gewirkt hatte. Wenige Zeit später hatten sie schließlich den Hafen erreicht. Der Mann am Steuer parkte den Jeep etwas abseits vom Pier und schaltete den Motor aus.

»Das Schiff legt um Mitternacht ab. Ihr habt bis dahin noch einige Stunden Zeit.«

Draußen hatte es derweil zu schneien begonnen. Feine Schneeflocken klatschten gegen die Fensterscheibe und schmolzen auf dem Glas. Reinhart versuchte sich über die Schulter des Fahrers hinweg durch einen Blick auf das Display eine Ahnung zu verschaffen, wie kalt es draußen war. Laut der leuchtend blauen Anzeige herrschten Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt. Der Beifahrer öffnete nun das Handschuhfach des Wagens und griff nach etwas, was Reinhart erst erkannte, als sich seine Hand wieder im Licht der Innenbeleuchtung befand. Es handelte sich um ein dickes Bündel Geldscheine. Er reichte es Reinhart entgegen, der beim Anblick dessen nur staunen konnte.

»Hier sind zehntausend Dollar in bar. Meine Kollegen erwarten euch um kurz vor zwölf am Pier. Ihr könnt nun aussteigen.«

Reinhart nahm das Geld in die Hand, öffnete die Tür und stieg aus. Bob folgte ihm nur wenige Sekunden später, und als sie beide ausgestiegen waren und im eiskalten Wind des New Yorker Hafens standen, fuhr der dunkle Jeep mit quietschenden Reifen davon. Der Wind fuhr ihm tief in die Glieder, nur mit einem T-Shirt und einem dünnen Pullover bekleidet begann er sofort zu frieren.

»Ey, man, ist das echtes Geld?«, fragte Bob und deutete auf die Scheine, die Reinhart in der Hand hatte.

Er nickte.

»Ich denke schon. Es sieht zumindest echt aus.«

»Na dann lass uns von hier abhauen. Verdammt, wir wurden aus dem Knast befreit und mit ‘ner Stange Geld ausgestattet.

Das klingt wie ein Traum.«

Reinhart hatte selbst schon über das nachgedacht, was Bob nun ausgesprochen hatte. Allerdings rang er mit seinen Gedanken… er wusste nicht was richtig und was falsch war.

»Wir dürfen das Schiff heute Abend nicht verpassen.«

»Warum?«, fragte Bob.

»Sie haben uns aus dem Knast befreit. Ich denke, wir müssen dem folgen, was sie sagen.«

»Was soll denn passieren? Sie haben uns doch jetzt hier abgesetzt.«

»Lass uns später darüber reden, okay?«

Reinhart sah ein, dass sie jetzt nicht zu einem vernünftigen Ergebnis kommen würden.

»Okay. Dann lass uns jetzt in die Stadt. Mir ist kalt und ich habe einen Mordshunger.«

Zehn Minuten später schlenderten sie bereits durch die belebte Innenstadt. Der Himmel war grau und die Sonne zeigte sich nicht, weshalb es bereits früh zu dämmern anfing. Als dann irgendwann die ersten Lichter angingen, hatten sie das Shake Schack erreicht. Die Buchstaben der Restaurantkette leuchteten blau und verteilten ihr Licht in direkter Umgebung. Von außen konnte Reinhart sehen, dass der Innenbereich gut besucht war.

Bei dem Gedanken an einen leckeren, saftigen Burger und dem Geruch nach Fett aus dem Inneren des Restaurants spürte Reinhart seinen Magen erneut knurren. Das letzte, was sie an diesem Tag zu essen bekommen hatten, war ein Bagel mit Frischkäse gewesen - dazu hatten sie einen lauwarmen Kaffee getrunken, der jedoch ziemlich fade geschmeckt hatte. Umso erleichterter war er, seinen Magen nun mit etwas füllen zu können, was ihm schmeckte. Die Kost im Gefängnis war ziemlich öde gewesen, und über die Monate, die er dort verbracht hatte, war das ziemlich nervenzehrend gewesen. Sie traten ins Restaurant ein, und Reinhart genoss die angenehm beheizte Luft, die ihn sofort einhüllte. Wenn du wirklich dem Befehl dieser mysteriösen Männer folgst und auf den Eisbrecher steigst, der um Mitternacht in Richtung Grönland ablegt, wirst du dich an die klirrende Kälte gewöhnen müssen. Reinhart hielt nicht viel vom Winter, in Arizona war dieser immer sehr mild gewesen - hier in New York tickten die Uhren aber anders. Es dauerte knapp zehn Minuten, bis Bob und er die Bestellung am Tresen abgegeben hatten. Sie orderten sich beide jeweils den größten Burger des Restaurants, eine große Portion French Fries und einen Milchshake dazu. Als Reinhart für sie beide mit einem fünfhundert Dollar Schein bezahlte, erntete er einen skeptischen Blick von der Verkäuferin.

»Ich habe es leider nicht kleiner«, murmelte er.

Sie gab ihm das Wechselgeld zurück, und sagte, dass die Bestellung nach der Zubereitung zum Tisch gebracht werden würde.

Reinhart stopfte sich das Wechselgeld und die restlichen Scheine in die Hosentasche, ehe er gemeinsam mit Bob an einem Tisch in der Nähe des Fensters Platz nahm. Aus einem Lautsprecher an der Decke dudelte leise ein bekannter Song der Rolling Stones, und fünf Minuten später kam die Verkäuferin mit einem Tablett an den Tisch. An den Seiten der Burger war der geschmolzene Käse bereits heruntergelaufen und hatte eine Spur aus Fett auf dem Teller hinterlassen. Die Frau wünschte einen guten Appetit und verschwand dann wieder im Verkaufsbereich. Reinhart trank einen kleinen Schluck von dem Milchshake, ehe er den ersten Bissen vom Burger nahm. Das Fleisch war so weich, dass es ihm auf der Zunge zerging. So langsam kehrten alle seine Kräfte wieder zurück, er genoss die warme Luft im Restaurant und wollte am liebsten gar nicht mehr raus.

Als er seine Portion schließlich aufgegessen hatte, war er so satt, dass er das Gefühl hatte, zu platzen. Bob hatte nicht alles geschafft, er ließ den Rest liegen, woraufhin sie das Restaurant nach zehn weiteren Minuten wieder verließen und sich ein Geschäft suchten, in dem sie sich dem Wetter entsprechend einkleiden konnten. Die Zeit verging wie im Flug, und mit ihr wurde es draußen auch immer dunkler. Als sie schließlich wieder auf die Straße traten, waren alle Lichter angeschaltet. Die Straßen waren voll, es herrschte die Hektik der Großstadt. Vereinzelt ertönte ein lautes Hupgeräusch, welches jedoch von den Geräuschen der Menschen verschluckt wurde. Die roten Leuchtziffern der Digitalanzeige einer elektronischen Uhr, die direkt über einer Apotheke hing, verrieten Reinhart, dass es bereits nach halb sieben war. Der Abend hatte also gerade erst begonnen. Er war froh, dass er nicht mehr frieren musste, der Stoff der Winterjacke und die Handschuhe, die er sich dazu gekauft hatte, wärmten ihn ausreichend. Es hatte in den letzten Minuten leicht zu schneien begonnen, auf dem Boden hatte sich bereits eine flache Schneedecke gebildet. Feine Eiskristalle wehten ihm ins Gesicht und schmolzen auf seiner Haut. Während sie so durch die belebten Straßen der Großstadt an vielen Geschäften vorbei schlichen, fiel Reinhart ein, dass er noch etwas mit Bob zu besprechen hatte.

»Lass uns ein Bier trinken«, meinte er und deutete auf eine kleine Eckkneipe auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

»Klingt gut«, murmelte Bob.

»Auch, wenn ich vermutlich eher einen doppelten Scotch nehme.«

Als sie in die kleine Kneipe eintraten, schlug Reinhart direkt eine dichte Wolke aus Zigarettenrauch entgegen. Im schwachen Licht der Deckenbeleuchtung nahm er zur Kenntnis, dass zwei Barhocker am Tresen frei waren - an diesen nahmen er und Bob schließlich auch Platz. Sie orderten sich die besprochenen Getränke und Reinhart begann dann, das Thema anzusprechen, über das sie schon kurz in der Kälte des Hafens gesprochen hatten.

»Ich glaube, wir sollten der Anweisung folgen«, sagte er.

»Sie haben uns befreit und uns eine Menge Geld gegeben. Warum sollten sie das tun, wenn sie uns dann in irgendeine Gefahr bringen? Wir sollten dankbar dafür sein.«

»Das habe ich mir in den vergangenen Jahren abgewöhnt. Menschen sind die falschesten Kreaturen auf dem Planeten Erde«, sagte Bob und nahm dann einen Schluck von dem Scotch. Er stellte das Glas wieder auf die Theke und bat um Nachschub.

»Zudem… wie sollen sie uns finden? Wenn jemand untertauchen kann, dann ich.«

Damit hatte er nicht ganz unrecht - Reinhart hatte ihn damals nur durch Zufall bei seiner Fahrt durch Kinmark entdeckt. Direkt dort hatte auch die Blutspur begonnen, die sie beide schließlich ins Arizona State Prison geführt hatte. Aber das war in der Vergangenheit passiert - was nun Thema war, war die unmittelbare Zukunft.

»Wir werden zu einhundert Prozent bereits über die Grenzen hinweg gesucht. Sie werden von dem Ausbruch mitbekommen haben, auch wenn die Leute, die das getan haben, recht skrupellos vorgegangen sind.«

»Okay, na gut. Dann lass uns das Netz mal weiterspinnen. Wir begeben uns also auf eine Reise ins Unbekannte - rüber nach Grönland. Wir wissen nicht, was uns erwartet, und können nicht sagen, was sie mit uns vorhaben. Wir könnten uns hier eine neue Identität verschaffen und ein neues Leben beginnen. Mal ganz ehrlich, was haben wir zu verlieren? Wir haben gutes Geld bekommen, könnten uns einen Job und eine Wohnung hier suchen… deine Karriere als Polizist ist doch sowieso vorbei.«

So hart das, was Bob sagte, auch klang, er hatte recht damit.

Reinhart hatte auf ganzer Linie versagt und war sämtliche Perspektiven in seinem Beruf los.

»Das stimmt. Ich habe nur kein gutes Gefühl dabei, der Anweisung nicht zu folgen.«

Bob legte ihm eine Hand auf die Schulter und senkte den Ton seiner Stimme mit den folgenden Worten.

»Jetzt mal von Bruder zu Bruder. Vertrau mir. Wir nehmen uns jetzt ein Hotelzimmer, kommen zur Ruhe, und starten dann morgen in unser neues Leben.«

Bob streckte ihm seine Hand entgegen - und Reinhart schlug ein. Damit fiel auch eine riesige Last von seinen Schultern, und das sorgte dafür, dass er sich frei fühlte. Sie tranken noch das eine oder andere alkoholische Getränk und verbrachten zwei weitere Stunden in der kleinen Eckkneipe. Reinhart fühlte sich an seine Ankunft in Kinmark erinnert, auch dort hatte er gemeinsam mit Bob die Gläser gehoben. Sie verließen die Kneipe dann wieder und traten auf die Straße. Mittlerweile war nicht mehr ganz so viel los wie zuvor, und als sie in der nächsten Querstraße ein unscheinbares Hotel entdeckt hatten, entschieden sie sich dazu, dort die Nacht zu verbringen. Als sie eintraten, bemerkte Reinhart, dass der Schuppen doch ziemlich heruntergekommen war – mehr, als er von außerhalb den Anschein gemacht hatte. Sie bezogen zwei Zimmer für eine Nacht und trennten sich voneinander. Reinhart zog seine Klamotten aus und legte sich ins Bett. Obwohl es noch recht früh war, war er total geschafft. Er versuchte, die Augen zu schließen, musste jedoch immer wieder an die Worte der Männer denken. Sie erwarten uns um Mitternacht am Hafen. Was passiert wohl, wenn wir nicht kommen? Er hatte ein ungutes Gefühl dabei, und obwohl er es vor Bob nicht gesagt hatte, zweifelte er an dem, wozu sie sich nun entschieden hatten. Allerdings war er viel zu müde, um sich nun noch Gedanken darüber machen zu können.

Seine Sinne drifteten langsam in eine andere Richtung – ob das an der Müdigkeit oder an dem konsumierten Alkohol lag, das vermochte er nicht zu sagen. Als er sich schließlich vollkommen entspannt und eine bequeme Position gefunden hatte, war er wenige Augenblicke später auch schon eingeschlafen.

3

Als Reinhart die Augen öffnete, war es hell im Raum. Er hatte vor dem Schlafengehen vergessen, die Gardinen zuzuziehen – der neue Tag hatte draußen bereits begonnen, und das Wetter war zumindest etwas besser als am gestrigen Tage. Obwohl der Himmel wieder von grauen Wolken getrübt wurde und vereinzelte Schneeflocken umherflogen, hatte es die Sonne geschafft, sich wenigstens etwas zu zeigen. Reinhart fühlte sich vollkommen gerädert und unausgeschlafen, entschied sich aber trotzdem dazu, aufzustehen. Es gab keine Uhr im Raum, doch er vermutete, dass der Vormittag bereits angebrochen war. Er brauchte ein wenig Zeit, um sich anzuziehen und den Raum schließlich zu verlassen. Bobs Zimmer lag direkt nebenan, er zögerte einen kurzen Moment, entschied sich dann aber dazu, zu klopfen. Er wiederholte das noch einmal, als sich dann jedoch auch nichts tat, hörte er auf. Ist er schon weg? Er konnte sich absolut nicht vorstellen, dass sein Halbbruder einfach so abgehauen war. Vorsichtig drückte er die Klinke herunter, und entgegen seiner Erwartungen stellte er fest, dass die Tür nicht abgeschlossen war. Er öffnete sie und trat ein. Das Zimmer war genau so eingerichtet wie sein eigenes, der einzige Unterschied war, dass die Gardinen zugezogen waren. Das Bett war leer, und es sah auch nicht so aus, als ob sein Halbbruder die Nacht darin verbracht hatte. Reinharts Magen verkrampfte sich, und er durchsuchte mit seinen Blicken das Hotelzimmer, versuchte, irgendetwas zu finden, was ihm Aufschluss über die Situation geben konnte. Direkt neben der Nachttischlampe auf der Kommode neben dem Bett lag ein zusammengefalteter Zettel. Reinhart nahm ihn entgegen, sein Herz schlug wild in seiner Brust. Er setzte sich auf das Bett und faltete das Papier mit zitternden Händen auseinander.

Hallo Charles. Ich habe mir nochmal Gedanken über alles gemacht, und bin zu dem Schluss gekommen, dass es besser ist, wenn wir das tun, was sie sagen. Du hast allerdings schon geschlafen, und ich wollte dich nicht wecken. Ich habe herausgefunden, dass das Schiff jeden Tag um Mitternacht nach Grönland fährt. Pier 88, heute Nacht. Folge mir, ich werde dich erwarten.

Reinhart las die Zeilen wieder und wieder, und wurde trotzdem nicht schlau daraus. Er kannte die Handschrift seines Halbbruders nicht, weshalb er nicht wusste, ob dieser den Text auch wirklich geschrieben hatte. Einerseits... warum sollte er so plötzlich einer anderen Meinung sein? Andererseits war es jedoch auch unwahrscheinlich, dass er den Weg nicht aus freien Stücken angetreten hatte. Reinhart seufzte auf. So oder so blieb ihm keine andere Wahl – er musste heute Abend ebenfalls das Schiff nehmen, obwohl ihm das überhaupt nicht mehr zusagte.

Enttäuscht darüber, dass sich die Möglichkeit, ein neues Leben aufzubauen, soeben zerschlagen hatte, nahm er den Brief mit und verließ das Zimmer seines Halbbruders wieder. Er ließ ein letztes Mal den Blick schweifen. Es sah fast so aus, als wäre dieses Zimmer nie bewohnt gewesen. Er schloss die Tür hinter sich, trat auf den Flur, ging aber dann direkt wieder in sein Zimmer. Das Hotel war nur eine kleine Absteige, es bot kein Frühstück an, weshalb Reinhart schnell wieder verschwand. Er las den Brief noch mehrere Male, wurde jedoch aus den Worten, die dort geschrieben standen, nicht schlauer. Als er wieder auf den verschneiten Asphalt der Querstraße trat, in der das Hotel abgelegen lag, hatte er den Brief bereits in seine Jackentasche gestopft und seinen Fokus auf andere Dinge gelegt.

Die Zeit verging langsamer, als es ihm lieb war. Er schlenderte durch die Straßen und blieb dauerhaft in Bewegung. Zwischendurch aß und trank er ein bisschen was, mied es jedoch, in andere Geschäfte zu gehen. Er fühlte sich an der frischen Luft wohler, der kalte Wind sorgte dafür, dass er einen kühlen Kopf behalten und in aller Ruhe Gedanken fassen konnte, die ihn in die Richtung lenkten, die er auch einschlagen wollte. Der Himmel klarte langsam auf, und um kurz nach dreizehn Uhr waren die meisten Wolken verschwunden. Der Wind war ebenfalls im Vergleich zum gestrigen Tage abgeflaut. Heute war etwas weniger los als gestern, es war ja auch ein Montag, die meisten Menschen schienen ihren Jobs nachzugehen. Ich habe auch einem Job nachzugehen, kam Reinhart in den Kopf. Um Mitternacht muss ich auf dieses verdammte Schiff steigen, was mich nach Grönland bringt. Mensch, Bob, du bist echt ein Idiot. Er hatte in den letzten Stunden viel nachgedacht, und war zu dem Schluss gekommen, dass Bob freiwillig gegangen war. Er hatte zwar gedacht, seinen Halbbruder zu kennen – doch sicher konnte er sich dessen absolut nicht sein. Er hatte ihn nur wenige Tage gesehen, bevor sie beide in Kinmark verhaftet und in getrennte Zellen gesteckt worden waren. Im Gefängnis selbst hatten sie sich keine einzige Sekunde lang gesehen. Zudem glaubte Reinhart nicht, dass sich sein Halbbruder einfach so entführen ließ.

Das wäre doch nachts im Hotel aufgefallen. Wobei... Im Gefängnis hatte zum Zeitpunkt des Ausbruches niemand etwas bemerkt – da die Leute rechtzeitig ausgeschaltet worden waren.

Allerdings hatte es in dem Hotel keine Blutspur und keine Zeichen auf ein Verbrechen gegeben, am Morgen war alles normal gewesen. Er schüttelte den Kopf und versuchte so, den Gedanken erst einmal zu vertreiben. Wenn die Zeit gekommen war, würde er genug erfahren – dessen war er sich sicher.

Als es dann langsam zu dämmern begann, suchte Reinhart erneut die kleine Eckkneipe auf, in der er sich schon gemeinsam mit Bob am gestrigen Abend aufgehalten hatte. Wie alles in der Stadt war auch sie heute etwas leerer, und er nahm erneut seinen Hocker am Tresen ein. Die Barkeeperin, die ihnen schon gestern die Getränke gebracht hatte, warf ihm ein charmantes Lächeln zu.

»Schon wieder hier?«, fragte sie ihn und grinste.

Reinhart nickte.

»Ja, dieses Mal nur alleine. Ich hätte gerne einen Tequila Sunrise. Gerne auch mit einem größeren Schuss Tequila.«

Er brauchte jetzt etwas, was ihm seine Sinne zumindest ein Stück weit vernebelte und die Gedanken an das, was ihm bevorstand, forttrieb.

»Kommt sofort.«

Wenige Augenblicke später stellte sie ihm das Getränk auf die Theke. Das Glas war geschmückt mit einer Zitronenscheibe und einer Kirsche, die auf einem Berg aus Eiswürfeln am oberen Rand des Getränkes thronte. Reinhart nahm einen Schluck und verzog das Gesicht. Sie hatte seinen Wunsch erfüllt, der Anteil an Tequila war sehr hoch.

»So muss das sein«, meinte er.

»Danke...«

Er ließ seinen Blick über die Bluse, die sie trug, schweifen, sah aber nichts, was ihm ihren Namen verriet.

»Michelle«, meinte sie daher.

»Und du bist?«

»John.«

Reinhart entschied sich zunächst, zu lügen. Er konnte sich vorstellen, dass man ihn und seinen Halbbruder bereits suchen würde – deswegen wäre es in diesem Moment dumm gewesen, seinen wirklichen Namen zu verraten.

»Freut mich, John.«

Sie zwinkerte ihm aufreizend zu.

»Also... hast du heute Abend noch Zeit? Wir könnten etwas unternehmen. Ich habe in einer halben Stunde Feierabend.«

Reinhart war überrascht von der Frage. Er hob seinen Blick und sah ihr in die Augen. Michelle war ziemlich attraktiv, sie hatte lange, blonde Haare, die ihr gelockt auf der Schulter hingen.

»Gerne.«

Er nahm einen weiteren Schluck seines Cocktails und stellte das Glas wieder ab. Michelle hatte sich derweil einem anderen Gast zugewandt, einem jungen Mädchen, welches ziemlich verzweifelt aussah. Aus der Ferne konnte Reinhart sehen, dass das Make-Up in ihrem Gesicht verwaschen war. Sie hatte ein Tattoo auf der Stirn, irgendeinen Schriftzug, den Reinhart nicht entziffern konnte. Hier treffen sich die verzweifelten Seelen der Stadt.

Reinhart konnte nicht verneinen, dass er aktuell auch dazu gehörte. Das Flair der Großstadt hatte ihn total eingenommen, Arizona war dazu gar kein Vergleich, den er ernsthaft heranziehen würde. Wäre er aus einem anderen Grund in New York gelandet, ja, er würde die Zeit genießen, dessen war er sich sicher. Er leerte seinen Cocktail, orderte noch ein Bier, und trank den letzten Schluck aus, als Michelle hinter der Theke hervorkam. Sie trug einen schwarzen Parka und eine Lederhandtasche in derselben Farbe.

»Also, John. Magst du Kino?«

Reinhart nickte. Er war zwar kein wirklicher Fan und hatte das Gefühl, dass er in seinem Leben bereits mehr Horror erlebt hatte, als viele andere im Kino gesehen hatten. Es kam ihm selbst immer surrealer vor, wenn wieder einer dieser Abende gekommen war, an denen er, mit einem doppelten Scotch in der Hand, bei sich zuhause saß und über sein bisheriges Leben nachdachte. Momente, die es so lange nicht mehr gegeben hatte – zuletzt vor seiner Reise nach Kinmark.

»Was läuft denn aktuell?«

Michelle grinste.

»Twilight. Ein Vampirfilm... mit dem verdammt heißen Robert Pattinson.«

»Okay.«

Reinhart war im Grunde egal, was sie gucken würden, er erhoffte sich einfach nur die nötige Ablenkung. Zudem fand er Michelle durchaus attraktiv und sympathisch – warum sollte er nicht mal etwas Spaß haben? Das letzte Mal, dass er sich auf eine Frau eingelassen hatte, war viele Jahre her gewesen. Seitdem hatte ihm sein Job immer ein Bein gestellt, aber da er diesem ja jetzt nicht mehr nachging, war das unsichtbare Bein verschwunden und er konnte sein Leben endlich wieder voll ausleben. Sie verließen die Eckkneipe schließlich. Michelle ging voraus, und fünf Minuten später hatten sie das Kino erreicht. Regal Cinemas, stand dort in roten Buchstaben geschrieben. Direkt darunter hing auch ein Plakat, welches auf den Film hinwies, den sie sich ansehen wollten. Twilight. Reinhart hörte davon zum ersten Mal, und es war auch verdammt lange her, seit er allgemein das letzte Mal einen Film gesehen hatte – geschweige denn im Kino gewesen war. Es dauerte zwei Minuten, bis sie vor dem Ticketschalter standen und bestellen konnten.

Michelle hatte bereits ihr Portemonnaie herausgeholt, doch Reinhart sagte, dass er bezahlen würde. Er griff in seine Tasche, bekam jedoch zunächst nur einen fünfhundert Dollar Schein zu fassen, woraufhin Michelle ihm einen skeptischen Blick zuwarf. Er beschloss spontan, ihr später, nach dem Film, alles über das zu erzählen, was ihm passiert war und was er vorhatte. Nun, alles, bis auf, dass ich im Gefängnis war. Er wusste auch noch nicht, ob er ihr seinen wahren Namen verraten würde, er wollte es ganz auf die jeweilige Situation ankommen lassen. Sie nahmen im Saal, der bereits relativ gut gefüllt war, Platz. Die Werbung lief noch, der Film hatte also noch nicht begonnen.

Etwas über zwei Stunden später war er auch schon wieder vorbei. Reinhart war nicht drum herumgekommen, sich während des Filmes zu langweilen. Es war einfach gar nicht sein Genre, doch Michelle zuliebe sagte er nichts und sah dem zu, was dort auf der Leinwand passierte. Als das Licht anging und sich die anderen langsam erhoben, sagte Michelle:

»Möchtest du noch mit zu mir? Ich könnte uns etwas kochen, ich wohne direkt in der Nähe.«

Bisher hatte Reinhart noch nichts Nahrhaftes an diesem Tag zu sich genommen, weshalb er ihre Einladung nicht ausschlagen konnte. Während des Weges unterhielten sie sich über die verschiedensten Dinge, doch Reinhart vermied es, ihr über seine wahre Identität zu berichten. Sie brauchten zehn Minuten, bis Michelle die Tür eines Mehrfamilienhauses aufschloss und ihn eintreten ließ. Ihre Wohnung lag im zweiten Stock, und Reinhart merkte, wie ihn die Treppenstufen schon aus der Puste brachten.

»Du kannst dich gerne ins Wohnzimmer setzen«, sagte sie, als sie beide in die Wohnung eintraten.

Sie knipste den Lichtschalter an, woraufhin die Deckenbeleuchtung ein warmes, weißes Licht spendete. Die Wohnung war relativ gut aufgeräumt, zumindest auf den ersten Blick. Durch den Flur ging es direkt ins Wohnzimmer, in dem eine graue Stoffcouch vor einem Fernseher stand. Neben einem kleinen Holztisch und einer Zimmerpflanze gab es nichts in dem Raum, der an der hinteren Wand ohne Tür in die Küche überging.

»Also, ich könnte eine Pfanne mit Bohnen, Paprika, Tomaten und Reis anbieten. Das lässt sich relativ schnell machen.«

»Ist okay. Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Du kannst mir Gesellschaft in der Küche leisten.«

Wenig später setzte Michelle bereits das Wasser für den Reis auf, während Reinhart damit beschäftigt war, die Paprika in kleine Stücke zu schneiden. Die Küche war zwar klein, dafür aber relativ geräumig. Michelle holte verschiedene Gewürze aus den Schränken, die sich direkt vor ihren Köpfen befanden.

Reinhart ließ seinen Blick schweifen. Thymian, Salz, Pfeffer und Knoblauch. Er hatte nun sowohl die Zwiebeln als auch die Chilis und Tomaten kleingeschnitten, und gemeinsam mit den Bohnen und Paprikas packten sie alles in die erhitzte Pfanne und bereiteten das Essen zu. Er warf Michelle immer wieder heimliche Blicke zu, die sie nicht zu registrieren schien. Er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart, und war gewissermaßen auch froh, jetzt nicht alleine sein zu müssen. So kam er wenigstens auf andere Gedanken. Sie hatte den Tisch bereits gedeckt und Getränke bereitgestellt, als Reinhart die Portionen auffüllte.

»Das sieht gut aus. Na dann mal Guten Appetit«, sagte sie und lächelte.

»Dir auch.«

Während er den ersten Bissen kaute, überlegte er. Soll ich ihr alles erzählen? Die Küchenuhr verriet ihm, dass es kurz vor halb zehn war. Er wusste nicht, wie weit es von ihrer Wohnung bis zum Hafen war – er war vielmehr ziellos in den letzten Stunden herumgeirrt und war froh, dass er überhaupt die Kneipe wiedergefunden hatte. Vermutlich würde er nicht lange bis zum Hafen brauchen, weshalb er noch ausreichend Zeit hatte. Allerdings musste er sich dann auch eine Ausrede ausdenken, wenn er sich dagegen entschied, ihr die Wahrheit zu erzählen. Er nahm einen Schluck Rotwein, Michelle hatte zuvor zwei Gläser gefüllt und auf den Tisch gestellt.

»Schmeckt wirklich fantastisch«, sagte er.

»Das haben wir gut hinbekommen.«

»Ja, finde ich auch.«

Sie nahm einen weiteren Löffel des Gerichtes und sagte dann:

»Es freut mich, dass du mitgekommen bist. Das letzte Mal, dass männlicher Besuch hier war, ist schon verdammt lange her.«

»Es gefällt mir hier«, meinte Reinhart.

»Du hast deine Wohnung wirklich bequem eingerichtet.«

Neben dem Kühlschrank hing ein gemaltes Bild, welches ein Lavendelfeld zeigte. Direkt daneben, auf der weiß gestrichenen Fensterbank, stand ein Topf mit frischem Basilikum.

»Danke. Sie ist nicht besonders groß, dafür aber ziemlich heimelig.«

Sie machte eine kurze Pause und sprach dann weiter.

»Heute war mein letzter Arbeitstag in diesem Jahr. Ich habe über die Feiertage frei – auch, wenn ich mir davon nicht wirklich was kaufen kann.«

»Hast du keine Familie?«

»Doch, aber sie leben in Minnesota. Das ist zu weit, um eben mal kurz hinzufahren. Wir sehen uns nur sehr selten, ich lebe hier mehr oder weniger komplett allein.«

Sie muss nicht arbeiten. Zudem hat sie keine Verpflichtungen über die Feiertage. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass sie mich für durchgeknallt hält. Einen Versuch ist es wert.

»Michelle... ich muss dir etwas erzählen.«

Sie stellte das Rotweinglas ab und sah ihm tief in die Augen.

»Was denn, John?«

»Nun... unter anderem, dass John nicht mein richtiger Name ist.«

Reinhart erzählte ihr alles, was er in den letzten zwei Tagen erlebt hatte. Er sagte fast immer die Wahrheit – nur in einem Punkt log er, da er nicht wollte, dass Michelle davon erfuhr. Er erzählte, dass er wegen eines Missverständnisses ins Gefängnis gekommen war und somit unschuldig in der Zelle gesessen hatte, was aber natürlich keinesfalls so gewesen war. Michelle hörte ihm aufmerksam zu, leerte in der Zwischenzeit das Weinglas und schenkte sich dann, als er alles erzählt hatte, ein weiteres ein.

»Da hast du mir aber ganz schön was erzählt, Charles.«

Reinhart registrierte, wie ihr Blick zur Uhr schweifte.

»Und du willst also in zwei Stunden auf dieses Schiff steigen?«

»Ich habe keine Wahl. Ich kann Bob nicht im Stich lassen... er ist mein Halbbruder.«

»Es ist halt alles möglich. Du musst verschiedenste Dinge in Betracht ziehen. Auch, dass er eventuell eben doch nicht freiwillig auf das Schiff gegangen ist, sondern entführt wurde.«

Reinhart hatte sich darüber schon zuvor Gedanken gemacht, war jedoch zu keiner zufriedenstellenden Lösung gekommen.

Er verfluchte den Umstand, dass er Bobs Handschrift nicht kannte – dann wäre alles leichter gewesen, und er hätte mit einem Blick auf den Brief, den er am Morgen in dem leeren Hotelzimmer gefunden hatte, sagen können, ob sein Halbbruder die Nachricht wirklich verfasst hatte, oder eben nicht.

»Ich werde das wahrscheinlich noch bereuen«, murmelte Michelle.

Sie hatte das zweite Weinglas geleert, und es war ihr bereits anzusehen, dass ihr der Alkohol schon etwas zu Kopf gestiegen war.

»Aber ich habe nichts, was mich für die nächsten Tage hier hält.

Ich würde dich auf der Reise gerne begleiten, wenn das für dich okay wäre.«

Reinhart überlegte. Einerseits fühlte es sich gut an, sich jetzt nicht mehr alleine auf den Weg nach Grönland zu machen, doch andererseits wollte er Michelle natürlich auch nicht in Gefahr bringen. Sein früheres Ich, das Ich, welches er während seiner Zeit bei der Polizei gewesen war, hätte ihm davon abgeraten. Er hätte sein Ding alleine durchgezogen. Doch dieses Ich gab es nicht mehr – es war, mit den vielen anderen Menschen, mitten in den Solven-Hills in dem beschaulichen Dorf Kinmark gestorben.

»Wenn du dir wirklich sicher bist... dann ist es okay.«

Michelle nickte.

»Ich bin schon immer jemand gewesen, der kein Abenteuer gescheut hat. Und hey, deine Mission klingt aufregend. Ich freue mich auf die Zeit, die wir zusammen verbringen werden.«

Er konnte nicht anders als ihr zuzustimmen. Plötzlich wich die Angst vor dem, was vor ihm lag, der Abenteuerlust. Der Lust, neue Ufer zu erkunden, und das auch mal über die Landesgrenzen hinaus.

4

Michelle packte sich eine kleine Tasche zusammen. Reinhart hingegen musste es bei den Sachen belassen, die er am Körper trug – was anderes blieb ihm nicht übrig, denn mehr besaß er nicht. Etwa eine Stunde später verließen sie das Mehrfamilienhaus und traten wieder auf die Straße hinaus. Während sie dort entlanggingen, streckte Michelle ihre Hand aus, und Reinhart ergriff diese. Sie fühlte sich warm an, und er genoss das Gefühl, welches ihn durchströmte. Es war das erste Mal seit Jahren, dass er sich in der Nähe einer Frau wohlfühlte, und das, obwohl die Situation, in der sie steckten, bei weitem nicht die Beste war.

»Ich liebe die Stadt einfach«, meinte Michelle irgendwann.

»Die Lichter, die Menschen, das Leben... ich könnte in keinem Dorf leben. Da würde mir definitiv was fehlen.«

»Kann ich verstehen«, murmelte Reinhart.

»Man hat hier alles in der Nähe, was man braucht. Ich muss aber sagen, dass mir das Klima nicht gefällt. In Arizona ist es wärmer.«

Er rieb sich symbolisch über die Arme, was Michelle ein Lächeln entlockte.

»Und du willst nach Grönland?«

Sie lachte auf.

»Von wollen kann nicht die Rede sein. Ich habe das Gefühl, dass ich es tun muss.«

»Und du weißt nicht, was dort passiert?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nicht das kleinste Bisschen. Aber sie werden diesen ganzen Aufwand ja nicht betrieben haben, um mich dann einfach abzumurksen.«

»Das stimmt.«

Reinhart überlegte, ob er ihr von seiner Vergangenheit erzählen sollte. Von dem, was er erlebt hatte – die Geschehnisse in der Lagerhalle und im Arizona Splash. Er konnte sich vorstellen, dass die Medien im Sommer auch hier in New York über die Geschehnisse dort berichtet hatten, jedoch wahrscheinlich nicht so einschlägig wie eben in Teilen Kaliforniens und Arizona. Er entschied sich deshalb dazu, das Thema für die Schifffahrt aufzubewahren – dort würde definitiv genug Zeit dafür da sein, um über solche Dinge zu sprechen. Eine halbe Stunde später hatten sie schließlich den Hafen erreicht.

»Kennst du dich hier aus?«, fragte Reinhart.

Michelle schüttelte den Kopf.

»Leider nicht. Wieso?«

»Wir müssen zu Pier 88. Von dort legt das Schiff ab.«

Er ließ seinen Blick schweifen, und entdeckte in der Ferne ein kleines, beleuchtetes Häuschen neben einer Schranke. Hinter einer Glasscheibe saß ein Mann, augenscheinlich ein Hafenarbeiter, der dafür zuständig war, die Ein- und Ausfahrt des Geländes zu kontrollieren. Wenn der uns nicht weiterhelfen kann, wer dann? Reinhart ging voraus, und Michelle folgte ihm.

»Hallo?«

Der Mann, der in einer Zeitung vertieft war, hob seinen Kopf.

Er nahm einen Schluck aus einem Becher mit einer dunklen Flüssigkeit, Reinhart vermutete, dass es sich dabei um Kaffee handelte, und fragte:

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich... muss zu Pier 88«, stammelte Reinhart.

»Können Sie mir sagen, wie ich dort hinkomme?«

»Ach, Sie sind Mr. Charles Reinhart?«

Reinhart war überrascht, dass der Mann seinen Namen kannte.

Er zog eine Augenbraue hoch und sah den Arbeiter an.

»Ja. Aber was tut das zur Sache?«

»Nun, Sie werden bereits erwartet.«

Der Mann schilderte ihm den Weg zu Pier 88, und zehn Minuten später hatten sie den Ort erreicht. Weit und breit war kein Schiff zu sehen, was Reinhart etwas verwunderte. Es war zwar erst kurz vor Mitternacht, doch er hatte schon damit gerechnet, erwartet zu werden – eben so, wie es der Mann gesagt hatte.

»Schau mal, da!«

Michelle deutete auf einen gelben Punkt am Horizont, der sich mit jeder weiteren Sekunde mehr und mehr vergrößerte. Das Schiff steuerte genau auf sie zu, und zehn Minuten später hatte es die Hafenmauer erreicht. Die Brücke, die direkt auf das Deck führte, wurde ausgefahren, und ein Mann kam aus dem Schatten getreten.

»Hallo.«

Er trug eine Kapitänsmütze und setzte ein freundliches Lächeln auf.

»Mein Name ist Daryl Ratting, ich bin Ihr Kapitän.«

Er streckte Reinhart eine Hand entgegen. Nach kurzem Zögern ergriff er diese und schüttelte sie.

»Ich sehe, Sie haben eine Begleitung mitgebracht, Mr. Reinhart.«

Der Kapitän begutachtete Michelle für wenige Sekunden mit einem Blick, den Reinhart nur schwer deuten konnte, und sagte dann:

»Seien Sie willkommen, junge Lady. Auf unserer Fahrt sind eigentlich nur geladene Gäste erwünscht, doch Sie dürfen heute gerne mitkommen.«

Er machte den Platz frei, sodass beide über die herausgefahrene Brücke das Deck betreten konnten. Ein eisiger Wind pfiff, Reinhart spürte ihn trotz seiner dicken Winterjacke bis tief in seine Glieder eindringen. Der Kapitän führte sie an Bord, und durch eine Tür gelangten sie schließlich ins Innere eines Kabinentraktes.

»Wir werden in den nächsten Minuten ablegen. Ich würde euch gerne in einem kurzen Rundgang das Schiff vorstellen, wenn euch das recht ist.«

»Wie lange werden wir unterwegs sein?«, fragte Reinhart.

»Ungefähr fünfundsiebzig Stunden, wenn alles glattgeht.«

Reinhart riss seine Augen weit auf und sah den Kapitän an.

»Fünfundsiebzig Stunden?«

»Das mag vielleicht nach viel klingen, aber wir haben hier an Bord der Starsun wirklich einiges zu bieten. Los, kommt mit, dann zeige ich euch mal, was wir alles hier haben.«

Wortlos folgte Reinhart dem Mann. Er hielt Michelles Hand fest umklammert und war in diesem Moment sogar noch froher, nicht alleine sein zu müssen. In dem Gang, den sie nun durchquerten, gab es Kabinen zu beiden Seiten. Am Ende führte eine weitere Tür in ein kleines Treppenhaus, durch das sie allerdings nur nach unten konnten.

»Auf dem zweiten Deck gibt es ein kleines Restaurant, in dem ihr zu jeder Zeit essen könnt. Selbst nachts ist unsere Mannschaft für euch da und kann euch eine Vielzahl an leckeren Gerichten zaubern.«

Reinhart fühlte sich noch satt von der Bohnenpfanne, die sie bei Michelle gegessen hatten, aber er wusste auch, dass er das Angebot zu gegebener Zeit definitiv annehmen würde.

Daryl führte sie nun durch das kleine Restaurant, es war bis auf einen Mann, der sein Dasein hinter einer Theke fristete, komplett menschenleer.

»Wie viele Leute befinden sich an Bord?«, fragte er.

»Ach, neben unserer kleinen Mannschaft nur wenige Passagiere. Eine Crew aus Forschern, die das Starsun sonst als Forschungsschiff nutzen, und ein dunkelhäutiger Mann namens Bill. Oder Bob? Ich weiß es nicht. Irgendetwas mit B.«

Ein dunkelhäutiger Mann namens Bob. Bei Reinhart schrillten alle Alarmglocken. Bob ist hier! Das Ganze ergab mit jeder wieteren Sache, die passierte, immer weniger Sinn. Wo hatte Bob die letzten vierundzwanzig Stunden verbracht, wenn er doch jetzt erst auf dem Schiff war? Zudem war das Schiff aus der Ferne gekommen... hatte es ein Problem gegeben? Ihm wurde mulmig, und gleichzeitig auch klar, dass er sich nun auf die Suche nach Bob begeben musste. Das Schiff war zwar relativ groß, doch so viele Möglichkeiten, sich an Bord zu verstecken, sollte es nicht geben.

»Danke für die Informationen.«

Er ließ sich nichts anmerken und folgte Daryl. Dieser führte ihn durch das Restaurant hindurch wieder in einen Bereich, in dem ein paar Stufen ein Deck tiefer führten. Im Treppenhaus war es dunkel und es schien auch kein Licht zu geben. Reinhart war froh, als sie das untere Deck erreicht hatten. Daryl öffnete die Tür, und Reinhart ließ seinen Blick beeindruckt über das schweifen, was er nun zu sehen bekam. Durch Bullaugen an der Seite des Raumes konnte er einen Blick auf das tiefschwarze, unheilvolle Meer werfen. Wellen schlugen wild an den Rumpf des Schiffes, und jede einzelne sorgte dafür, dass ein leichtes Zittern durch den Abschnitt ging. Direkt unter den Bullaugen stand eine beige Couch, neben der auf einem kleinen Tisch ein Stapel Bücher lag. Der Boden war mit dunklem Parkett überzogen, und an der gegenüberliegenden Seite führte eine weitere Tür in den nächsten Bereich.

»Ab hier beginnt der Wellnessbereich des Schiffes«, sagte Daryl, und führte sie daraufhin in selbigen.

Vor ihnen lag nun ein kleiner Pool, hinter dem sich eine Saunakabine befand. Durch die Glasfront an der Wand konnte Reinhart erkennen, dass sich direkt dahinter ein Fitnessraum befand. Er sah zahlreiche Trainingsgeräte und war über die moderne Ausstattung des Eisbrechers verwundert.

»Wozu gibt es denn hier einen Trainingsraum?«, fragte er Daryl.

»Nun, ich sagte ja bereits, dass dieses Schiff hier sonst als Forschungsschiff genutzt wird. Die Crew muss oft lange Reisen hinter sich bringen, und gerade da ist es wichtig, für den entsprechenden Ausgleich zu sorgen.«

Der Kapitän machte eine kurze Pause.

»Sie können den Bereich auch sehr gerne nutzen. Wir haben in Ihrer Kabine, im Trakt auf dem oberen Deck, alles Notwendige an Kleidung bereitgelegt. Hier ist der Schlüssel.«

Er kramte in der Brusttasche seiner Uniform herum und reichte Reinhart dann einen Schlüssel, an dem ein runder Anhänger baumelte.

»Und für Sie, Miss, mache ich natürlich auch noch eine Kabine klar.«

»Danke.«

Michelle lächelte.

»Sie sagten etwas von einem dunkelhäutigen Mann, der ebenfalls mit an Bord ist. Wo haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, begann Reinhart.

Er wollte in diesem Moment in Erfahrung bringen, wo Bob sich aufhielt – vielleicht wusste Daryl ja davon. Die Gesichtszüge des Kapitäns verfinsterten sich für den Bruchteil einer Sekunde, ehe er wieder einen freundlicheren Blick aufsetzte.

»Ich bin ihm nur kurz begegnet, als er letzte Nacht das Schiff betreten hat. Ich habe ihm einen Rundgang gegeben – wie ich es bei euch auch tue.«

»Okay.«

Reinhart entschied sich, nicht weiter nachzuhaken. Es gab aktuell einfach viel zu viele Fragezeichen, und er würde sich darüber in aller Ruhe Gedanken machen müssen. Eines wurde er jedoch nicht los: das Gefühl der Beklemmung, welches aufgekommen war, seit er seinen ersten Fuß auf das scheinbar verlassene Schiff gesetzt hatte.

»Oh, wir legen ab.«

Reinhart folgte dem Blick von Daryl, der sich vor einem der Bullaugen positioniert hatte. Ein leichtes Wackeln ging durch das Schiff, und wenige Minuten später hielten sie bereits Kurs auf das offene Meer. Daryl verabschiedete sich von ihnen und sagte, dass sie ihn jederzeit aufsuchen konnten, er befände sich in der Steuerkabine an Deck. Als er außer Hörweite war, setzte Reinhart sich auf die Couch und lehnte sich zurück.

»Denkst du dasselbe wie ich?«, fragte Michelle ihn.

»Das weiß ich nicht.«

Reinhart verzog sein Gesicht zu einem verkniffenen Grinsen.

»Wenn du mir sagst, was du denkst, dann werde ich es dir sicherlich verraten können.«

»Irgendetwas stimmt hier nicht. Das ist es, was ich denke.«

Sie nahm neben ihm Platz und blickte auf den Tisch, auf dem die Bücher lagen.

»Literatur von Ernest Hemingway und Edgar Allen Poe. Ich meine, die Geschichten sind zeitgenössisch... aber die hätten sich ruhig etwas Moderneres aussuchen können.«

»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Bob nicht gefunden werden will.«

Reinhart überging ihre Bemerkung, jedoch nicht absichtlich.

»Wie kommst du denn darauf?«

»Er hat mir diesen Brief hinterlassen und ist einfach so verschwunden. Und dieses Schiff... als wir vorhin am Pier angekommen waren, war es noch nicht da. Es muss also irgendetwas geben, was hinter meinem Rücken abläuft. Und das würde ich gerne versuchen, herauszufinden.«

Er gähnte. Der Tag hatte ihn ziemlich geschafft, er war fast die gesamte Zeit über auf den Beinen gewesen und hatte viel gesehen. Während das Schiff in den tosenden Wellen des offenen Meeres stetig den Kurs hielt und sich immer weiter vom New Yorker Hafen entfernte, überlegte er, ob es nicht das Beste wäre, jetzt schlafen zu gehen. Dann ließ er seinen Blick zu Michelle schweifen, und musste auch wieder an Bob denken. Vertrau dich ihr an. Sie scheint wirklich ziemlich klug zu sein und wird dir sicher eine Hilfe sein.

»Ich habe dir ja schon erzählt, dass ich, bevor ich verhaftet worden war, als Polizist in Arizona gearbeitet hatte.«

Michelle nickte.

»Hast du von den Geschehnissen im Arizona Splash Mitte dieses Jahres mitbekommen?«

»Das war dieses Schwimmbad, in dem ein paar Leute getötet wurden, oder?«

»Ja. Ich habe damals an der Sache mit ermittelt, und bin auf Dinge gestoßen, die du dir nicht ansatzweise vorstellen kannst.«

Er erzählte alles, auch die Dinge, die ihm in der Lagerhalle widerfahren waren. Es fühlte sich gut an, sich das von der Seele zu reden, was bisher als unsichtbare Wolke zwischen ihnen gehangen hatte. Michelle hörte aufmerksam zu und stellte keine Zwischenfragen.

»Wow«, meinte sie dann nur.

»Das ist ja der Wahnsinn.«

Es machte den Anschein, als würde sie ihm das, was er erzählt hatte, direkt glauben, was ihn etwas verwunderte. Er hatte damit gerechnet, von ihr als verrückt verkauft zu werden, doch sie war offenbar doch etwas anders, als er dachte.

»Diese Wesen existieren jetzt aber ja nicht mehr. Ich habe die Quelle eigenhändig zerstört... das war ein prägendes Erlebnis, das kannst du mir glauben.«

Es war immer später geworden, und während sie beide nah aneinander auf der Couch saßen und der Eisbrecher weiterhin durch das offene Meer steuerte, wurde Reinhart müde.

»Lass uns unsere Kabinen aufsuchen«, meinte er.

»Es ist schon ziemlich spät.«

»Meinst du?«, fragte sie.

»Ich würde gerne noch etwas Zeit mit dir verbringen.«

Sie setzte ein verschmitztes Lächeln auf, welches ihre mädchenhaften Züge noch etwas hervorhob. Sie sah wirklich verdammt gut aus, und Reinhart konnte ihr einfach nicht widersprechen, obwohl er sich ziemlich ausgelaugt fühlte.

»Okay, was schlägst du vor?«

»Lass uns noch das ein oder andere Getränk im Restaurant trinken. Wir müssen das ausnutzen – schließlich sind wir ja eingeladen.«

Es gefiel Reinhart, dass sie das Wort wir nutzte. Sie fühlte sich wirklich als ein Teil der Mission, auf die er sie mitgenommen hatte.

»Gut, dann machen wir das.«

Sie verließen den Aufenthaltsraum und gelangten über das Treppenhaus in das kleine Restaurant. Dort orderten sie sich erneut einen Wein. Reinhart war kein großer Fan davon, er bevorzugte Bier oder Whiskey, doch er fand, dass das jetzt nicht passen würde. Aus dem kleinen Restaurant hatten sie einen Ausblick auf das Meer – auch, wenn man jetzt nichts als die tiefschwarze Nacht sah und ab und an Wellen, die gegen die Fenster schlugen. Bei Tag würde der Ausblick sicher atemberaubend sein, und Reinhart freute sich schon etwas darauf. Sie sprachen noch einiges miteinander, es ging jedoch nicht um ihre Reise, sondern vielmehr um private Dinge. Zwei Stunden später befanden sie sich wieder in ihren Kabinen, doch Reinhart war mittlerweile über die erste Müdigkeit hinweggekommen und fühlte sich wach. Alles um ihn herum schaukelte, und er wusste nicht, ob das mehr auf den Alkohol oder auf den Seegang zu schieben war. Er legte sich auf das einfache Bett, es war nicht gerade bequem, doch drei Nächte würde er darauf schlafen können. Es fühlte sich nicht gut an, alleine zu sein – daher war das Letzte, an das er dachte, bevor er eingeschlafen war, tatsächlich das, dass er sich darauf freute, Michelle am nächsten Tag wiederzusehen.

5

Ein leises Klopfen an der Kabinentür weckte Charles Reinhart am nächsten Morgen auf. Draußen war es bereits hell geworden, und der Eisbrecher schaukelte weiter munter hin und her auf den Wellen. Er stand aus dem Bett auf, ging auf die Tür zu und öffnete sie.

»Guten Morgen«, sagte Michelle und lächelte.

Sie trug ein Tablett mit Brötchen und einer Auswahl an Aufschnitt in den Händen. Zudem standen dort noch zwei Tassen Kaffee drauf, Reinhart nahm diese herunter und stellte sie auf die kleine Kommode, die neben seinem Bett in der engen Kabine stand.

»Wir hätten uns auch im Restaurant treffen können«, sagte er und schlug die Bettdecke zurück, so dass sie auf der Matratze Platz nehmen konnte.

»Hier sind wir unter uns. Das ist doch besser, oder nicht?«

Michelle lächelte ihn an. Sie hatte sich noch nicht geschminkt, sah aber trotzdem fantastisch aus. Sie trug ein einfaches, weißes T-Shirt und eine Schlafhose, es sah so aus, als wäre sie ebenfalls gerade erst aufgestanden. Ist sie so ins Restaurant gegangen?

»Hast du irgendjemanden gesehen, als du das Frühstück geholt hast?«

»Ja, ein paar Menschen saßen im Restaurant. Es waren aber nicht viele, ich denke, wir sind hier wirklich so ziemlich unter uns.«

»Da hätte ich nichts gegen«, meinte Reinhart, und begann, die Situation zu mögen.

Er schmierte sich die Hälfte eines Brötchens und nahm einen Bissen, während er jedoch weiterhin verstohlene Blicke in die Richtung von Michelle warf. Ihr rutschte ein Krümel in den Ausschnitt, woraufhin sie ihn sich aus dem Dekolleté pickte und zurück auf das Tablett schnippte. Auf dem Bett war nicht viel Platz, weshalb sie nah beieinandersaßen und ihr Frühstück verzehrten. Reinhart stand danach auf und zog die Vorhänge zurück, sodass er einen Blick nach draußen erhaschen konnte. Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel herunter, und das Meer wogte in sanften Wellen dahin. Als Michelle ebenfalls fertig gegessen hatte, sagte er:

»Lass uns mal an Deck. Ich könnte etwas Frischluft gut vertragen.«

Sie zogen sich die richtigen Klamotten an und brachten das Tablett zurück ins Restaurant. Danach verließen sie es dann wieder durch das Treppenhaus, Reinhart ging voraus und öffnete die Tür, die sie direkt auf das Oberdeck führte. Es wehte ein frischer Wind, doch es fühlte sich einfach herrlich an. Kurz nach dem Aufstehen hatte er noch leichte Kopfschmerzen verspürt, diese waren jetzt jedoch verschwunden. Die Luft verschaffte ihm einen klaren Kopf, und das war genau das, was er jetzt brauchte. Er ging auf die Reling zu und genoss das Gefühl der Freiheit. Wie sehr hatte er sich im Gefängnis danach gesehnt, sich wieder frei bewegen zu können... und das, obwohl es ja nur wenige Monate gewesen waren, die er hinter Gittern verbracht hatte. Sie hatten ihn dennoch zermürbt und ihn gewissermaßen auch verändert.

»Die Aussicht ist fantastisch«, meinte Michelle und streckte ihre Hand aus.

Reinhart ergriff sie. Sie fühlte sich schweißnass an, und er genoss das Gefühl ihrer Anwesenheit. Trotzdem wurde er den Gedanken nicht los, dass er nach Bob suchen musste.

»Wir sollten uns langsam mal auf die Suche nach meinem Halbbruder machen. Was denkst du?«

Michelle nickte.

»Wenn er wirklich an Bord ist, dann würden wir ihn recht schnell finden. Wir sollten mal in dem Abschnitt sehen, den uns der Kapitän gestern nicht gezeigt hatte.«

Sie deutete auf eine Stahltür, direkt unter dem riesigen Schornstein des Eisbrechers. Diese führte in einen weiteren Trakt, der, zumindest von außen, ähnlich aufgebaut war wie der, in dem sich neben ihren Kabinen auch das Restaurant und der Pool befanden. Reinhart sah sich kurz um, um sicher zu gehen, dass niemand in der Nähe war. Er traute der Situation noch nicht so ganz, weshalb er das Risiko, gesehen zu werden, nicht eingehen wollte. Langsam öffnete er die Stahltür, sie ließ sich nur schwer und mit großer Anstrengung aufschieben. Hinter ihr herrschte vollkommene Dunkelheit, und als sie hinter ihm wieder ins Schloss fiel, hörte er, wie der Wind tosend gegen die Tür schlug.

Das Geräusch verursachte eine Gänsehaut bei ihm, die seinen gesamten Körper überzog. Es klang irgendwie unheimlich.

Vielleicht ein Vorbote auf das, was uns in diesem Abschnitt erwartet? Ohne noch eine Sekunde länger zu zögern, wagte Reinhart sich voran. Die Stufen wirkten unebener und rutschiger als im anderen Trakt, er musste sich an der Wand festhalten, um nicht auszurutschen.

»Pass auf, es ist sehr glatt«, sagte er zu Michelle, als er die ersten paar Schritte gemacht hatte.

Das Wasser, welches sich zu Pfützen zusammengesammelt hatte, wurde mit jedem Schritt nach unten immer tiefer. Dennoch ließ Reinhart sich davon nicht abhalten und folgte den Stufen, die ihn tiefer ins Herz der Starsun führten. Als er schließlich das Ende des Treppenhauses erreicht hatte, stand er knöcheltief im eiskalten Wasser. Er tastete an der Wand nach einem Lichtschalter, entdeckte und betätigte ihn wenige Sekunden später.

Der Trakt wurde in flackerndes, gelbes Licht getaucht, und Reinhart sah, was sich vor ihm befand. Ein Gang mit Türen zu beiden Seiten, in diesem Abschnitt sah alles jedoch viele Jahre älter aus als in dem, in dem die anderen Kabinen lagen. Er griff sich fast schon aus Gewohnheit an den Bund seiner Hose, musste jedoch registrieren, dass er seine Waffe natürlich nicht bei sich trug. Jahrelang hatte dort immer seine Dienstwaffe, eine Sig Sauer, gesteckt. Tja, die Zeiten sind eben vorbei, und das hast du verdammter Idiot dir selbst zuzuschreiben. Er wusste nicht, welche Tür er zuerst prüfen sollte, weshalb er sich instinktiv für die erste auf der rechten Seite entschied. Sie war unverschlossen und ließ sich leicht öffnen. Auch im dahinterliegenden Raum gab es nur schwaches Licht, und Reinhart ließ seinen Blick schweifen. An den Wänden hingen überall viele verschiedene Uhren, sie zeigten unterschiedliche Zeiten an.

Mehr gab es hier nicht zu sehen.

»Was soll das denn?«, fragte Michelle.

»Ich weiß es nicht. Sieht auf jeden Fall harmlos aus.«

Reinhart zuckte mit den Schultern. Die Uhren schienen die Zeit in verschiedenen Weltmetropolen anzuzeigen, als er sich näher an die Wand heranwagte, erkannte er feine, handgeschriebene Buchstaben. Dennoch gab es hier nichts, was ihm Aufschluss über das gab, was an Bord der Starsun vor sich ging. Deshalb verließen sie den Raum wieder und machten sich nun daran, den ersten Raum zu ihrer Linken zu durchsuchen. Von außerhalb drang ein leichtes Surren durch die Tür, welches Reinhart jedoch erst hörte, als er seinen Kopf direkt vor das Holz hielt. Er öffnete die Tür, und sah das, was er bereits erwartet hatte. Der Maschinenraum. Dieser Raum war etwas größer als der andere, doch auch hier schien es, zumindest auf den ersten Blick, nichts Interessantes zu geben. Fast schon etwas enttäuscht wandte Reinhart sich ab und ging zu Michelle zurück, die im Gang gewartet hatte.

»Da sind nur die Maschinen drin. Dann lass uns mal sehen, was sich hinter der nächsten Tür verbirgt.«

Nun war die rechte Seite wieder dran. An der hinteren Wand stand ein großes Aquarium, in dem viele bunte Fische umher schwammen. Direkt daneben befand sich ein verwaister Schreibtisch, auf dem neben einem leeren Bierkrug und einem Becher mit Stiften noch eine Mappe lag. Reinhart ging darauf zu und nahm die Mappe in die Hand. Er blätterte etwas darin herum, und entdeckte viele verschiedene Zeitungsartikel. Es handelte sich immer um die Starsun, anfangs waren es nur Artikel, die über den Aufbau des Schiffes und den Hintergrund verschiedenster Forschungsreisen berichteten. Doch dann... ein paar Seiten später entdeckte er etwas, was ihm direkt ins Auge fiel.

»Schau mal, hier.«

Er zeigte Michelle den Bericht, in dem es darum ging, dass die Starsun offenbar eines Tages einfach so komplett vom Radar verschwunden war.

»Was soll das bedeuten?«, fragte sie verwirrt.