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Ein Anruf, der alles verändert - Judiths Vergangenheit holt sie ein Der Anruf dauert höchstens drei Minuten, doch er stellt Judiths Leben in Rom auf den Kopf. Nach einer schicksalhaften Entscheidung vor zwanzig Jahren hatte sie Hamburg, ihre Eltern und ihre Jugendliebe hinter sich gelassen. Nun droht die Vergangenheit sie einzuholen. In Rom hat sich Judith als Restauratorin von Renaissance-Fresken ein neues Leben aufgebaut. Mit ihrem Mann Francesco führt sie eine glückliche Ehe, auch wenn ihnen der ersehnte Kinderwunsch versagt blieb. Doch von ihrem früheren Leben in Hamburg ahnt er nichts - bis zu diesem verhängnisvollen Anruf. Jetzt muss Judith zurück in ihre Heimatstadt, um sich dem Tod ihres Vaters, der Krankheit ihrer Mutter und den nie vergessenen Gefühlen für ihre Jugendliebe zu stellen. Wie soll sie Francesco erklären, dass ihr gemeinsames Leben in Italien auf einer Lüge basiert? Ferne Tochter ist ein bewegendes Familiendrama über Liebe, Lebenslügen und die Suche nach Versöhnung.
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Seitenzahl: 263
Veröffentlichungsjahr: 2012
Renate Ahrens
Ferne Tochter
Roman
Knaur e-books
Es sind die kleinen Augenblicke, die unser Leben aus den Angeln heben können
Der Anruf dauert höchstens drei Minuten, doch er verändert alles. Das neue Leben, das Judith sich in Rom aufgebaut hat, gerät ins Wanken. Sie wird eingeholt von dem, was sie vor zwanzig Jahren, nach einer verhängnisvollen Entscheidung, hinter sich gelassen hat – Hamburg, die Eltern, ihre Jugendliebe. In Rom arbeitet Judith als Restauratorin von Fresken der Renaissance; Engel sind ihre Spezialität. Mit Francesco führt sie eine glückliche Ehe, nur Kinder sind ihnen versagt geblieben. Von ihrem früheren Leben ahnt er nichts. So hatte es bleiben sollen. Nie mehr, das hatte Judith sich geschworen, wollte sie nach Hamburg zurückkehren. Aber jetzt muss sie zurück, muss sich ihrer Vergangenheit stellen – dem Tod des Vaters, der kranken Mutter und dem Menschen, an den sie die letzten zwanzig Jahre jeden Tag gedacht hat. Wie soll sie ihrem Mann erklären, dass ihr gemeinsames Leben auf einer Lüge basiert?
Für Alan
Ich steige aus dem Bus, es flimmert vor meinen Augen. Feuchte, glühende Luft nimmt mir den Atem. Kein Windhauch, nur Autoabgase.
Beim Überqueren der Straße bleibe ich mit dem Absatz im weichen Asphalt stecken. Ein Motorino fährt hupend auf mich zu, quietschende Bremsen, die Fahrerin flucht. Mein Kleid klebt am Körper. Warum fährst du nicht mit deinem Wagen?, würde Francesco jetzt sagen.
In den Nachrichten war von Hitzealarm die Rede. Die ersten Toten, nicht nur im Süden, nicht nur alte Menschen. Abends um halb sieben noch neununddreißig Grad im Schatten. Ich erinnere mich nicht, dass es in Rom Ende August jemals so heiß gewesen wäre.
Unter der Markise eines Cafés bleibe ich stehen und wische mir den Schweiß von der Stirn. Meine Wasserflasche ist leer. Ich könnte mir ein Lemonsoda bestellen. Oder ein Tonic Water. Der Kellner nickt mir zu und deutet auf einen Tisch. Nein. Die letzten zweihundert Meter schaffe ich auch ohne Getränk.
Im Eingang unseres Nachbarhauses sehe ich einen rotbraunen Vogel mit einem krummen Schnabel sitzen. Stimmt etwas mit mir nicht? Ich mache einen Schritt auf ihn zu. Es ist keine Fata Morgana, da sitzt tatsächlich ein kleiner Greifvogel. Er rührt sich nicht, schaut mich nur ängstlich an. Dunkle Tupfen überziehen sein Gefieder. Ein Turmfalke. Ist er verletzt? Ist er aus dem Nest gefallen? Seit siebzehn Jahren lebe ich in der Via della Stazione di San Pietro und habe hier noch nie einen Turmfalken gesehen. Ich schließe die Haustür auf. In dem Moment breitet er seine Schwingen aus und fliegt davon.
Erleichtert trete ich ein. Im Treppenhaus ist es kühl. Ich nehme meine Sonnenbrille ab und hole die Post aus dem Briefkasten. Drei Rechnungen, Werbung und eine Karte von Francescos Vater aus Sardinien.
Von oben höre ich ein Baby weinen. Die Fahrstuhltüren klappern. Ich lehne mich gegen die Marmorwand. Heute habe ich nicht die Kraft, in den fünften Stock zu laufen. Der Druck im Kopf lässt allmählich nach. Gleich werde ich einen Eistee mit Minze trinken, duschen und mich ein paar Minuten hinlegen. Francesco kommt nicht vor acht.
»Hallo.«
Ich zucke zusammen. Vor mir steht die kleine Isabella aus der Wohnung unter uns. Sie trägt ein hellgelbes Kleid und passende Haarspangen.
»Bist du krank?«
»Nein, mir macht nur die Hitze zu schaffen.«
»Wir waren schwimmen. Und jetzt fahren wir zu meiner Omi.«
»Vielleicht hätte ich auch schwimmen gehen sollen, aber ich musste arbeiten.«
»In der Kirche?«
»Ja.«
»Kirchen sind schön kalt.«
»Da hast du recht.«
Der Fahrstuhl hält, Isabellas Mutter steigt aus, mit dem Baby im Tragesitz. Wir wechseln ein paar Worte über das Wetter, den Stromausfall heute Morgen und den drohenden Streik der Müllabfuhr.
Sie sieht müde aus, denke ich auf der Fahrt nach oben. Mit Ende dreißig noch ein Kind. Wie würde ich … Nein. Nein. Immer derselbe Gedanke.
Das Ziehen im Bauch. Es ist nicht nur die Hitze. Wieder ein vergebliches Hoffen.
In der Wohnung ist es dunkel, die Klimaanlage läuft. Ich öffne die Fensterläden, der Marmorfußboden glänzt im Sonnenlicht. Auf dem Wohnzimmertisch steht ein frischer Strauß roter Dahlien.
Paola hat geputzt, gebügelt, eingekauft und einen Nudelsalat vorbereitet. Pasta fresca, mit getrockneten Tomaten, Basilikum, Büffelmozzarella und schwarzen Oliven. Genau das Richtige für einen heißen Tag wie heute. Zum Nachtisch gibt es Zitronensorbet.
Ich schenke mir ein Glas Eistee ein, die Minze beruhigt.
Im Badezimmer duftet es nach der neuen Seife, Zimt mit Orange. Ich dusche, wasche mir die Haare und creme mich ein. Meine Haut im Gesicht und im Nacken ist gerötet. Immer wieder vergesse ich, dass ich einen Hut tragen sollte.
Ich ziehe eine ärmellose, weiße Bluse an, dazu die sandfarbene Hose, die ich mir letzte Woche gekauft habe. Sie sitzt etwas locker. Ich muss aufpassen, dass ich nicht weiter abnehme.
Paola hat die Betten frisch bezogen. Ich lege mich hin und schließe die Augen. In der Ferne höre ich ein Martinshorn. Das leise Brummen der Klimaanlage lullt mich ein.
Es klingelt. Ich schrecke hoch. Das Telefon. Kurz vor acht. Francesco meldet sich immer übers telefonino.
Ich schaue auf das Display. Eine Hamburger Nummer. Meine Kehle schnürt sich zu. Niemand in Hamburg weiß, dass ich hier lebe. Ich werde nicht abnehmen. Der Anrufbeantworter ist eingeschaltet.
Kurz bevor er anspringt, greift meine Hand zum Hörer. »Pronto?«
»Judith, bist du’s?«
»Wer ist da?«
»Claudia Dressler.«
»Ach …«
»Bitte leg nicht auf.«
Ich sehe meine pausbackige Jugendfreundin vor mir. Zehn Jahre lang haben wir nebeneinander gesessen, alle Geheimnisse miteinander geteilt. Aber als es darauf ankam, hat sie mich im Stich gelassen.
»Bist du noch da?«
»Wie hast du meine Nummer rausgefunden?«
»Ich arbeite in einer Galerie und habe neulich in einem Magazin einen Artikel über restaurierte Fresken der italienischen Renaissance gelesen.«
Das Interview. Ich habe von Anfang an gewusst, dass es ein Fehler war.
»Darin wurde erwähnt, dass man dir einen Preis für deine Arbeit verliehen hat.«
»Du kennst nicht mal meinen Nachnamen.«
»Ich habe dich auf dem Foto sofort erkannt. Deine blonden Locken, der helle Teint, die grünen Augen. Und dein verhaltenes Lächeln.«
Ich muss mir nicht anhören, was sie mir sagen will.
»Seltsam, dass du dich Judith Velotti nennst. Ich dachte, in Italien behalten die Frauen ihren Geburtsnamen, wenn sie heiraten.«
»Das geht dich nichts an.«
»Ist er dir so verhasst, der Name ›Wolf‹?«
Ich schließe die Augen und hole tief Luft.
»Übers Internet habe ich die Mail-Adresse des Verbands der italienischen Restauratoren herausbekommen«, fährt Claudia fort.
»Der ist nicht befugt, meine Privatnummer weiterzugeben.«
»Es war auch nicht so einfach. Ich habe schließlich geschrieben, dass es sich um eine dringende Familienangelegenheit handele. Da hatte die Frau ein Einsehen. Den Italienern geht ja bekanntlich die Familie über alles.«
»Was willst du?«
»Judith, wir waren mal sehr gut befreundet …«
»In einer anderen Welt. Die existiert für mich nicht mehr.«
»Dein Elternhaus in Winterhude macht einen vernachlässigten Eindruck.«
»Das hat nichts mit mir zu tun.«
»Ich dachte nur … vielleicht willst du wissen, wie es um deine Eltern …«
»Nein«, unterbreche ich sie.
»Es ist zwanzig Jahre her.«
»Eben.«
»Warum bist du immer noch so verbittert?«
»Du hast kein Recht, dich in mein Leben zu mischen.«
»Ich habe es nur gut gemeint.«
»Ruf mich nie wieder an.«
»Aber …«
Ich lege auf. Meine Hand zittert.
Seit einer Stunde sitze ich auf der Terrasse und warte. Es weht ein leichter Wind. Ich habe die Pflanzen gegossen und den Tisch gedeckt. Der Jasmin steht in voller Blüte. Sein Geruch hat etwas Betäubendes.
An der Hauswand lauert ein gelb-brauner Gecko auf eine Mücke, eine Motte. Jetzt läuft er weiter, kopfüber, entlang des Dachvorsprungs. Ich erinnere mich an den Abend, als ich zum ersten Mal auf dieser Terrasse saß. Wie sehr es mich überraschte, dass Francesco mir nicht von seiner Kanzlei oder seiner Familie erzählte, sondern von den Lebensgewohnheiten der Geckos. Ich wusste nicht, dass sie Haftlamellen unter ihren Füßen haben. Ich wusste sehr vieles nicht.
Es macht mir nichts aus, dass Francesco sich verspätet. Wäre er pünktlich gewesen, hätte ich womöglich das Telefonat erwähnt.
Warum habe ich den Hörer abgenommen? Es war ein innerer Zwang, ich konnte mich nicht wehren, auch wenn mein Kopf mir sagte, tu es nicht. Die Ansage auf dem AB gibt unseren Namen nicht preis, Claudia hätte eine Nachricht hinterlassen, ich hätte sie gelöscht, wenn nötig ein zweites Mal. Danach hätte Claudia es vermutlich aufgegeben, mich erreichen zu wollen.
Der Gecko schnappt sich einen großen Falter und versucht, ihn zu verschlingen. Er bleibt in seinem Maul stecken, die Flügel flattern. Ich greife nach meinem Wasserglas. Der Gecko lässt sich nicht stören. Erst als ich aufstehe, verschwindet er samt Beute in einer Mauerritze.
Ich trete ans Geländer. Der Petersdom ist hell erleuchtet. Mein Blick wandert über die Stadt bis zu den Albaner Bergen im Süden. Dort funkeln die Lichter der kleinen Dörfer, in denen wir im Herbst den neuen Wein probieren.
Seit zwanzig Jahren vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Hamburg denke. Was ist anders als sonst? War es Claudias Stimme? Die Erwähnung meines Elternhauses, meines geliebten Stadtteils Winterhude?
Nein, es war das Wort ›vernachlässigt‹.
»Judith, tut mir leid!«
Ich drehe mich um.
Francesco nimmt mich in die Arme und gibt mir einen Kuss. »Du hättest schon essen sollen.«
»Ich esse lieber mit dir zusammen.«
Er fährt sich mit den Fingern durch seine dichten, grauen Haare, wie immer, wenn er erschöpft ist.
»In der Kanzlei ist die Hölle los. Es gibt einen großen Konflikt zwischen zwei Partnern …«
»Setz dich erst mal. Ich hole die pasta fresca und einen kühlen Vermentino.«
»Wunderbar.«
Als ich auf die Terrasse zurückkomme, hat Francesco bereits die Windlichter und die Räucherspiralen gegen Mücken angezündet.
Ich schenke uns Wein ein und reiche ihm ein Glas.
»Auf dein Wohl«, sagt er leise.
Ich sehe seinen ernsten Blick.
Wir beginnen zu essen. Nach wenigen Bissen habe ich keinen Hunger mehr. Es ist, als ob sich eine Sperre vor meinen Mageneingang schiebt.
»Du siehst traurig aus.«
Mir steigen Tränen in die Augen. Dabei war ich sicher, dass ich mich unter Kontrolle hätte.
Er spricht die Frage nicht aus und ich nicht die Antwort. Unendlich oft haben wir uns so gegenübergesessen.
»Quäl dich nicht mehr.«
»Wir wünschen uns so sehr ein Kind.«
»Du zermürbst dich. Monat für Monat frisst die Enttäuschung an dir.«
»Ich hatte so viel Hoffnung in diese neue Behandlung gesetzt.«
»Du bist noch dünner geworden. Ich mache mir Sorgen um dich.«
Ich schlucke.
»Es würde dir guttun zu verreisen. Du hast den ganzen Sommer geschuftet.«
»Ich will unbedingt die Arbeit am Engel beenden, bevor ich eine Pause mache.«
»Wir könnten nach Sardinien fahren. Mein Vater kommt in ein paar Tagen zurück. Dann ist das Haus frei.«
»Wenn der Engel fertig ist.«
»Dort schwimmst du so gern und hast immer Appetit.«
Der Gecko ist wieder aufgetaucht und lauert auf neue Beute.
Francesco legt seine Hand auf meinen Arm. »Judith …«
Ich bekomme trotz der Wärme eine Gänsehaut.
Efeu überwuchert das Haus, die Fensterscheiben sind zerbrochen, das Schieferdach ist eingestürzt. Neben dem Schornstein ragt Gestrüpp hervor, an den Wänden des Elternschlafzimmers hängen Reste der bunten Blümchentapete. Die Tür ist nur angelehnt, ich schiebe sie auf, ein Rascheln von Mäusen oder Ratten. Die Holzdielen sind vermodert, überall wächst Unkraut, in einer Pfütze schwimmen Zigarettenkippen. Plötzlich höre ich von hinten, aus der Küche, ein leises Wimmern, mein Herz klopft, ich stolpere, fange mich wieder, laufe so schnell ich kann, sehe die blaue Plastikschüssel mit dem kleinen Kopf … Ich schreie.
»Judith …« Francesco nimmt mich in den Arm, streicht mir über die nasse Stirn. »Ganz ruhig.«
»Ich …«
»Hast du wieder von deinen Eltern geträumt?«
»Nein … von unserem Haus.«
»So hast du noch nie geschrien … als ginge es um Leben und Tod.«
Ich schließe die Augen.
»Soll ich dir etwas zu trinken holen?«
»Ja … danke.«
Der Anruf. Ich muss ihm davon erzählen.
Nicht jetzt.
Er kommt zurück, reicht mir ein Glas Wasser, ich trinke hastig ein paar Schlucke.
»Wir sollten wirklich verreisen«, sagt er und legt sich wieder hin. »Du brauchst Entspannung, dein Engel kann warten.«
Ich wache um kurz nach sieben auf. Das Bett neben mir ist leer. Auf meinem Nachttisch liegt ein Zettel. Guten Morgen! Hoffentlich hast Du noch ein paar Stunden geschlafen. Ich bin ganz früh ins Büro gefahren. Melde mich mittags. Kuss, Dein F.
Nicht nachdenken. Aufstehen, duschen, anziehen, einen Cappuccino trinken, ein paar biscotti essen, meinen Rucksack packen.
Um acht verlasse ich das Haus. Es ist genauso heiß wie gestern. Kein Turmfalke in Sicht.
Ich bekomme einen Platz in einem klimatisierten Bus. Dicht gedrängt stehen die Menschen im Gang. Ich schaue aus dem Fenster. Der Tiber fließt träge, er hat von Tag zu Tag weniger Wasser.
Ich werde Francesco nichts erzählen, werde mich zusammenreißen, werde weiterleben wie bisher.
Am Largo Argentina steige ich aus. In ein paar Minuten fange ich an zu arbeiten, dabei kann ich fast alles vergessen.
Ich stehe auf meinem Gerüst in der Cappella Carafa und reinige die bläulich schimmernden Flügel des Engels.
Ich bin nicht religiös, und dennoch liebe ich diese Szene, in der der Erzengel Gabriel Maria verkündet, dass sie bald den Sohn Gottes gebären werde. Voller Erwartung und mit fast kindlicher Vorfreude schaut der Engel zu der in sich versunkenen, leicht abgewandten Maria, die sich nicht sicher zu sein scheint, ob dies eine so beglückende Nachricht ist.
Ich habe das Fresko in meinem ersten Jahr in Rom entdeckt und schon damals den Mut des Malers bewundert, Maria als eine Frau mit ambivalenten Gefühlen darzustellen. Die meisten Kunsthistoriker interpretieren Marias Haltung als Furcht vor dem Engel. Aber diese Sichtweise hat mich nie überzeugt. Der Engel hat nichts Furchteinflößendes.
Zehn nach eins. Auch wenn die Kirche durchgehend geöffnet bleibt, ebbt das Stimmengewirr allmählich ab. Den ganzen Vormittag sind Besucherströme an der Kapelle vorbeigezogen, haben Touristenführer in den verschiedensten Sprachen Santa Maria sopra Minerva als einzige gotische Kirche Roms beschrieben, die unschätzbare Kunstwerke enthalte. Leider dürfe die Cappella Carafa zurzeit nicht betreten werden, weil das Fresko Mariä Verkündigung von Filippino Lippi restauriert werde. Und trotzdem gibt es immer wieder Leute, die versuchen, unter den Plastikplanen durchzukriechen, um einen Blick darauf zu werfen. Neulich hat eine deutsche Gruppe das Gerüst fast zum Einstürzen gebracht.
Mein telefonino klingelt. Ich greife in die Tasche meines Overalls. Es ist Francesco.
»Wie geht es dir?« Seine Stimme klingt besorgt.
»Die Arbeit lenkt mich ab.«
»Gut. Hier in der Kanzlei gibt’s nach wie vor viel Ärger.«
»Wird es wieder spät?«
»Nein, ganz sicher nicht. Wir haben um fünf eine Krisensitzung, danach komme ich nach Hause.«
»Hoffentlich findet ihr eine Lösung.«
»Ich bin skeptisch. Übrigens … wir sind am Samstagabend bei meiner Schwester eingeladen. Ein Willkommensessen für meinen Vater.«
Ich habe plötzlich einen Kloß im Hals.
»Bist du noch da?«
»Ja …«
»Wir haben doch nichts anderes vor, oder?«
»Nein …«
»Du klingst auf einmal so fern. Ist dein Akku gleich leer?«
»Kann sein …«
»Ich muss jetzt aufhören. Bis nachher. Pass auf dich auf.«
Du auch auf dich, denke ich.
Mir ist schwindelig. Schwankt das Gerüst? Ich kauere mich hin, kralle mich an den Holzplanken fest. Das habe ich noch nie erlebt. Was ist los mit mir? Warum bekomme ich bei der Vorstellung eines Abendessens auf einmal Höhenangst? Ich mag Francescos Familie, habe mich bei ihr immer gut aufgehoben gefühlt. Sein schrulliger Vater ist manchmal etwas anstrengend, aber auch sehr geistreich und humorvoll.
Ich robbe mich vorwärts, bis zu der Leiter, die nach unten führt. Ich sehe die Sprossen und weiß, ich werde es nicht schaffen, hinunterzusteigen.
Ich hole tief Luft. Es sind höchstens drei Meter bis zum Boden. Ich habe schon auf Gerüsten gearbeitet, die zwanzig Meter und höher waren. Man wird mich für hysterisch halten, wenn ich um Hilfe rufe.
Der Schwindel nimmt zu. Gleich Viertel vor zwei. Es ist lächerlich, hier zu sitzen und sich nicht rühren zu können.
Ich höre vereinzelte Stimmen von Kirchenbesuchern, ein Spanier, eine Italienerin, ein Franzose. Heute versucht niemand, in die Cappella Carafa zu gelangen.
Zwei junge Frauen unterhalten sich auf Deutsch über ihre Au-pair-Jobs. Ich spüre einen Stich. Die Sprache ist mir so vertraut und gleichzeitig so fern. Gestern, als Claudia angerufen hat, habe ich zum ersten Mal seit Jahren wieder deutsch gesprochen.
Jetzt nähern sich schlurfende Schritte. Der Küster. Vor ihm brauche ich mich nicht zu schämen.
»Hallo?«
Die Plastikplane wird beiseitegeschoben.
»Signora Velotti!« Der alte Mann schaut erschrocken zu mir nach oben. »Was ist passiert?«
»Ich weiß nicht …«
»Warten Sie, ich helfe Ihnen.«
Er schlurft auf die Leiter zu und hält sie mit beiden Händen fest.
»Kommen Sie herunter. Ganz langsam.«
Es dauert eine Weile, bis ich mich aufrichten kann. Der Küster hat Geduld.
Ich konzentriere mich auf meine Atmung. Der Schwindel lässt ein wenig nach.
»Soll ich einen Arzt rufen?«
»Nein …«
Es hat etwas Beruhigendes, den alten Mann dort unten an der Leiter stehen zu sehen. Sein faltiges Gesicht blickt immer noch zu mir empor. Vorsichtig setze ich einen Fuß auf die erste Sprosse.
»Meine Frau hatte neulich einen Hexenschuss. Kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.«
Einatmen, ausatmen.
»Da ging gar nichts mehr.«
Dritte Sprosse, vierte Sprosse.
»Erst als sie eine Spritze bekommen hat, konnte sie sich wieder bewegen.«
Sechste Sprosse, siebte Sprosse.
»Sie haben nichts mit dem Rücken. Das sieht anders aus.«
Wieder packt mich der Schwindel. Ich bleibe mit einem Fuß hängen, drehe mich um.
»Nicht nach unten gucken.«
Ich schließe die Augen, meine Füße tasten nach den Sprossen.
»Gleich haben Sie’s geschafft.«
Ich höre die Stimme des Küsters wie durch eine Nebelwand.
Mein rechter Fuß berührt den Boden.
»Danke …«
»Soll ich Ihnen einen Kaffee holen?«
»Nein, ich … fahre am besten sofort nach Hause.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Wie ist Ihr Name?«
»Meloni.« Er lächelt und entblößt seinen beinahe zahnlosen Mund. »Michele Meloni.«
»Grazie, Signor Meloni. Ich weiß nicht, was ich ohne Sie gemacht hätte.«
»Vergessen Sie nicht Ihren Rucksack.«
Ich will ihm zehn Euro geben, aber er winkt ab.
»Bitte! Wenn Sie das Geld nicht wollen, geben Sie es Ihrer Frau.«
Er lächelt wieder und nimmt nach kurzem Zögern den Schein entgegen.
»Auf Wiedersehen.«
»Alles Gute, Signora. Hoffentlich bis morgen.«
Draußen schlägt mir die Hitze entgegen. An der Bushaltestelle merke ich, dass ich noch meinen fleckigen Overall anhabe. Nie zuvor bin ich in meiner Arbeitskleidung auf die Straße gegangen.
Ich sitze im abgedunkelten Wohnzimmer, die Klimaanlage brummt, es riecht auch hier drinnen nach Jasmin.
Der Schwindel kommt und geht in Wellen. Ich bin so unruhig, kann kaum meine Hände stillhalten. Im Liegen wird es nur schlimmer.
Ich sehe die zerbrochenen Fensterscheiben vor mir, das eingestürzte Dach, die blaue Plastikschüssel …
Ich ertrage es nicht.
Selina. Vielleicht ist sie zu Hause. Sie wird sich wundern, wieso ich sie an einem Dienstagnachmittag anrufe. Es ist mir egal.
»Pronto?«
»Ich bin’s … Judith.«
Im Hintergrund schreit ein Kind, ein anderes protestiert.
»Moment …«
Ich höre Selinas tröstende Worte, ihr Schimpfen, ihre Anweisungen. Dann wird eine Tür zugeschlagen.
»So, da bin ich wieder. Hier herrscht gerade absolutes Chaos. Matteo hat sich Alessias Dreirad geschnappt, und die beiden Großen testen aus, wie weit sie bei dem neuen Au-pair-Mädchen gehen können. Camille, eine reizende Französin, aber völlig überfordert.«
»Sollen wir später telefonieren?«
»Nein. Wo bist du?«
»… Zu Hause.«
»Deine Stimme klingt so seltsam.«
»Mir ist nicht gut …«
»Was hast du?«
Meine Kehle ist trocken.
»Judith?«
»Ich weiß nicht …«
»Soll ich vorbeikommen?«
»Und deine Kinder?«
»Es ist ja nur für ein oder zwei Stunden. Camille muss sich sowieso daran gewöhnen, dass ich ab und zu unterwegs bin.«
»Danke.«
Ich lege auf, öffne die Fensterläden und steige unter die Dusche.
Selina macht uns einen caffè. Ich kenne niemanden, der sich auf High Heels so schnell bewegen kann wie sie. In ihrem kurzen, cremefarbenen Kleid sieht sie aus wie ein Model.
Sie setzt sich mir gegenüber. Ihre dunklen Augen schauen mich prüfend an. »Jetzt sag mir, was mit dir los ist.«
Ich erzähle ihr von der Schwindelattacke und meiner plötzlichen Höhenangst. Selina will wissen, ob in den letzten Tagen etwas vorgefallen sei, ob es Probleme mit meiner Arbeit oder mit Francesco gegeben habe. Ich schüttele den Kopf.
»Vielleicht liegt es an der neuen Hormonbehandlung.« Meine Lippen zittern.
»Wann hast du damit begonnen?«
»Vor sechs Monaten. Ich werde sie abbrechen, es hat keinen Zweck.«
Selina legt mir ihre Hand auf den Arm. »Nicht aufgeben.«
»Das sagst du so einfach!« Ich fange an zu weinen. »Seit zwölf Jahren versuche ich, schwanger zu werden! Es ist der reinste Wahnsinn! Wir müssen damit aufhören!«
»Judith …«
»In der Zeit hast du ein Kind nach dem anderen geboren!«
»Du brauchst Ruhe und Erholung.«
»Das hilft alles nichts.«
»Niemand zwingt dich, den ganzen Sommer lang so hart zu arbeiten.«
Ich putze mir die Nase und trinke den caffè. Er ist stark und süß.
»Manchmal denke ich, du bestrafst dich selbst.«
»Ich liebe meinen Beruf.«
»Du bist zu viel allein.«
»Das hat mir bisher nichts ausgemacht.«
»Aber jetzt hast du Höhenangst bekommen.«
»Vielleicht ist sie morgen wieder weg.«
»Das glaube ich nicht.«
Ich auch nicht. Wir schweigen. Warum schaffe ich es nicht, ihr von dem Anruf, von dem Traum zu erzählen?
Selinas telefonino klingelt. Ich sehe einen Anflug von Erleichterung in ihrem Gesicht. Sie erklärt dem Au-pair-Mädchen, dass es sich nicht erpressen lassen dürfe. Die Kinder hätten für heute genug Schokolade gegessen. Und auch wenn Matteo einen seiner Tobsuchtsanfälle bekommen sollte, müsse sie hart bleiben. Im Übrigen sei sie bald wieder zurück.
»Tut mir leid, dass es meinetwegen …«
»Mach dir darüber keine Gedanken.«
»Fahr ruhig, ich komme zurecht.«
Selina greift nach meiner Hand »Irgendetwas ist bei dir völlig aus dem Ruder gelaufen. Ich sehe es dir an.«
Ich kann ihrem Blick nicht standhalten.
»So kannst du nicht weitermachen.«
»Ich wünschte, ich könnte noch mal von vorn anfangen.«
»Womit?«
»Mit allem.«
Ich bin wieder allein. Selina wollte mich mitnehmen, aber ich kann heute nicht in ihrem Garten sitzen und den spielenden Kindern zusehen.
Sonst gehe ich dienstags am frühen Abend ins Fitnessstudio. Oder Walken, an weniger heißen Tagen. Bewegung tut mir gut. Heute nicht. Heute lähmt mich der Schwindel. Ich kann nicht einmal lesen.
Ich schalte einen Klassiksender ein und lege mich aufs Sofa. Klaviermusik, eine Mazurka von Chopin. Es folgt die Ouvertüre zu Mozarts Zauberflöte. Ich denke an die Aufführung in New York im letzten Winter. Francescos Weihnachtsgeschenk.
Die Ankündigung des nächsten Stücks verpasse ich. Bei den ersten Klängen bricht mir der Schweiß aus. Beethoven. Das Violinkonzert. Jeden Sonntag, zwischen Kirchgang und Mittagessen lauschte Vater dieser Musik.
Ich springe auf, um das Radio auszuschalten.
In diesem Moment kommt Francesco ins Wohnzimmer. »Judith, was ist …«
»Ich kann das nicht hören.«
»Aber wieso …«
Ich dränge mich an ihm vorbei und drücke auf den Knopf.
»Es war schön.«
»Das Lieblingsstück meines Vaters!«
Er nimmt mich in die Arme und streicht mir über den Kopf. Jetzt nicht weiter über die Eltern reden.
»Es ist mir unbegreiflich, wie jemand diese Musik lieben und seine Tochter schlagen kann.«
Ich reiße mich los und verberge mein Gesicht in den Händen.
»Und die betrunkene Mutter schaut zu.«
Nichts davon ist wahr. Ich werde ihm nie sagen können, warum ich ihn angelogen habe.
»Dir geht’s nicht gut, oder? Normalerweise bist du um diese Zeit doch immer beim Sport.«
»Ich habe heute auf dem Gerüst plötzlich einen Schwindelanfall bekommen …«
»Hattest du zu wenig gegessen?«
»Nein. Vielleicht hängt es mit dem Anruf zusammen …«
»Mit welchem Anruf?«
»Gestern hat sich eine frühere Freundin aus Hamburg bei mir gemeldet.«
»Aha …«
»Sie sagte, dass mein Elternhaus einen vernachlässigten Eindruck mache. Ich habe ihr geantwortet, dass das nichts mit mir zu tun habe.«
»Judith …«
»Ich will nicht wissen, wie es um meine Eltern bestellt ist!«
»Familie ist so wichtig.«
»Hör auf!«
»Du brauchst nicht zu schreien.«
»Ich bin mit dem Thema fertig.«
»Und was ist mit deinem Alptraum? Und deiner plötzlichen Höhenangst?«
»Der Anruf hat mich aus der Bahn geworfen. Ich muss mich erst mal wieder beruhigen.«
»Vielleicht wäre es gut für dich, nach Hamburg zu fahren und endlich deinen Frieden zu finden.«
»Mein Leben dort war die Hölle.«
»Das ist lange her. Jetzt lebst du hier, mit mir. Du hast ein Zuhause, einen Beruf. Du bist nicht mehr von ihnen abhängig. Sie können dir nichts tun.«
Wenn du wüsstest.
Ich wache auf. Fahles Licht fällt durch die Fensterläden. Mir ist nicht mehr schwindelig.
Francesco schläft. Er liegt auf der Seite, die linke Hand unter der Wange, seine Lippen zucken, wie bei einem Kind, das gleich in Tränen ausbrechen wird. Zwischen den Augenbrauen hat sich eine Falte eingegraben, die er sonst im Schlaf nicht hat. Ich möchte sie mit dem Finger glatt streichen, möchte die letzten anderthalb Tage aus unserem Leben streichen.
Es wird mir nicht gelingen, im Gegenteil, meine Unruhe wächst. Alles Vertraute erscheint mir fern, als sei ich durch eine gläserne Wand von Francesco, seiner Familie, meiner Arbeit getrennt worden.
Plötzlich weiß ich, dass ich heute nicht zu meinem Gerüst, meinem Engel zurückkehren werde. Und am Samstag werde ich nicht am Willkommensessen für meinen Schwiegervater teilnehmen. Wusste mein Körper schneller als mein Kopf, dass ich nach Hamburg reisen würde? Ist mir deshalb schwindelig geworden?
Ich stehe auf. Francesco stößt einen Laut aus, als täte ihm etwas weh. Vielleicht träumt er schlecht, träumt von mir.
Leise schließe ich die Tür und gehe in mein Zimmer. Ich öffne das Fenster, die Luft ist kühl, zum ersten Mal seit Wochen.
Am Horizont kündigt ein schmaler orangefarbener Streifen den Sonnenaufgang an.
Ich setze mich an meinen Schreibtisch und klappe den Laptop auf. Es dauert nicht lange, bis ich gefunden habe, was ich suche: tägliche Direktflüge nach Hamburg. Um zwölf Uhr fünfundvierzig ab Fiumicino. Die Maschine heute ist noch nicht ausgebucht. Ich gebe meine Daten ein und zahle, ohne zu zögern. Mir bleiben sechseinhalb Stunden.
Ich miete mir einen Leihwagen und suche im Internet nach Hotels in Winterhude. Es ist keine Gegend für Hotels. In der Nähe des Flughafens reserviere ich mir ein Nichtraucherzimmer, Frühstück im Café Hopfen & Malz nicht inbegriffen.
Ich fange an zu packen. Laut Wetterbericht ist es in Norddeutschland kühl und regnerisch. Ich greife nach einem schwarzen Pulli, schwarzen Jeans, schwarzen Longsleeves. Nach ein paar Minuten halte ich inne und entscheide mich für Beige- und Brauntöne. Ich fliege nicht nach Hamburg, um zu trauern.
Gleich zehn nach acht. Ich habe alles erledigt. In einer Stunde muss ich aufbrechen.
Ich setze mich zu Francesco auf die Terrasse. Er hat uns frische Mandelhörnchen besorgt und Cappuccino vorbereitet.
»Viel Glück«, sagt er und greift nach meiner Hand. »Ich bin so erleichtert, dass du fährst. Es wird dir guttun.«
»Hoffentlich …«
»Am liebsten würde ich mitkommen, aber das ist im Moment einfach nicht drin.«
Ich sage ihm nicht, dass es für mich undenkbar wäre, mit ihm nach Hamburg zu reisen.
»Wann bist du wieder da?«
»Am Sonntag.«
»Meinst du, das reicht?«
»Es ist ein Anfang. Was die Arbeit am Fresko angeht, habe ich per Mail eine Beurlaubung beantragt – wegen einer dringenden Familienangelegenheit. Da wird es sicher keine Rückfragen geben.«
»Und selbst wenn! Du hast noch nie außerplanmäßigen Urlaub genommen!«
Ich beiße in mein Mandelhörnchen. Zum ersten Mal seit Claudias Anruf habe ich wieder Hunger.
»Schickst du mir eine SMS, wenn du im Hotel angekommen bist?«
Ich nicke.
»Hast du dir ein Taxi bestellt?«
»Mit dem Zug dauert es auch nicht länger.«
»Judith, du musst nicht so sparsam sein.«
»Ich weiß … aber es steckt nun mal tief in mir drin.«
Das Vermächtnis meines Vaters. In zwanzig Jahren habe ich es nicht gelernt, mich darüber hinwegzusetzen.
Wir schweigen.
»Glaubst du, dass sie tot sind?«
»Kann sein … keine Ahnung.«
»Wie alt wären sie jetzt?«
Jahrgang ’49 und ’44. Wir haben Freunde, die älter sind. »Meine Mutter wäre zweiundsechzig und mein Vater siebenundsechzig.«
»Dann ist er zwanzig Jahre jünger als meiner.«
»Er war schon immer alt.«
Ich sitze im Zug und schaue aus dem Fenster. Die Klimaanlage ist ausgefallen. Drei Männer sprechen in ihre telefonini, ein Kind quengelt, mir gegenüber sitzt eine grell geschminkte, alte Frau und feilt ihre Fingernägel. Francesco würde es nicht ertragen.
In den Vororten hier und da ein blühender Garten, oleandergesäumte Straßen, dazwischen halbverfallene Häuser. Ich kenne diese Gegend nur von der Zugfahrt nach Fiumicino.
Allmählich lassen wir die Stadt hinter uns, eine verdorrte Landschaft umschließt die Dörfer und kleinen Industriebetriebe. Verrostete Autos, ausrangierte Kühlschränke, Müllsäcke in den Straßengräben.
Meine Hose klebt am Plastiksitz. Ich versuche, nicht auf die Nägel der Frau zu blicken. Warum habe ich mir kein Wasser mitgenommen?
Der Zug hält auf offener Strecke. Es gibt keine Durchsage, was passiert ist. Drei magere Ziegen werden von einem Jungen in abgerissener Kleidung durch die Hitze getrieben.
Protest kommt vom anderen Ende des Abteils. Fast jeder spricht jetzt in sein telefonino. Ich schließe die Augen und kämpfe gegen die aufsteigende Panik. Noch über zwei Stunden bis zum Abflug. Ich werde die Maschine schon nicht verpassen.
Es wird immer heißer. Die Fenster lassen sich nicht öffnen. Ein Mann versucht auszusteigen, die Tür ist blockiert. Eine Frau schreit nach dem Schaffner, es kommt niemand. Das Kind brüllt.
Nach zehn Minuten geht die Fahrt weiter. Ich wundere mich über nichts, ich lebe länger in diesem Land, als ich jemals irgendwo gelebt habe.
Die Sonne brennt auf meinem Kopf. Ich stolpere hinter Vater her. Ich bin acht. Überall liegen Steine und Säulen, die Häuser sind kaputt. Trotzdem haben wir Eintritt bezahlt. Vater hält ein grünes Buch in der Hand und liest uns etwas über die Römer und die Tempel und die großen Tore vor. Triumphbögen heißen die. Was ist ein Triumph? Irgendwas Schönes. Ich muss in den Schatten, sagt Mutter. Er hört nicht auf zu lesen. Wie soll sich das Kind die Namen all dieser Tempel merken, sagt Mutter. Das Kind merkt sich mehr als du. Er schaut hoch, in die Ferne, und aus seinem Mund kommen lauter Wörter, die ich nicht verstehe. Nun lass das doch mit dem Latein, sagt Mutter. Die Leute gucken schon.
»Signora?« Vor mir steht ein Schaffner. »Sie müssen aussteigen.«
Hastig greife ich nach meinem Koffer.
Ich eile hinter den anderen Passagieren her, finde mich nur schwer zurecht. Unzählige Male bin ich von Fiumicino aus geflogen, in alle Welt, mit Francesco oder allein. Ich habe nie Probleme gehabt.
Dreimal muss ich fragen, bis ich den Abflugschalter finde. Es gibt eine Schlange. Zwanzig nach elf. Zeit genug.
An der Sicherheitskontrolle ist die Schlange noch länger. Eine Frau beginnt einen Streit, weil man ihr die Nagelschere weggenommen hat. Ich lege meinen Laptop aufs Band. Den Gürtel vergesse ich. Körperkontrolle. Ich mag diese suchenden Hände nicht.
Ich kaufe mir eine Repubblica und eine Flasche Wasser und gehe zum Gate. Eine Reisegruppe aus Hamburg. Der Akzent ist nicht zu überhören. Vier Paare, gut situierte Mittsechziger, braun gebrannt, sportlich elegant, kultiviert. Vater hätte solche Leute verachtet. Wahrscheinlich spielen sie auch noch Golf. Mutter hätte gern Golf gespielt.
Ich setze mich ein Stück weiter weg.