Feuer & Schatten - Kai Herrdum - E-Book

Feuer & Schatten E-Book

Kai Herrdum

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Beschreibung

Zen will in die Fußstapfen seiner Mutter treten und an der Feuergilde zum Magier ausgebildet werden. Gerade als sein Ziel in greifbare Nähe rückt, deckt er eine Verschwörung gegen sein geliebtes Zuhause auf und wird zum Gejagten. Plötzlich kämpft er nicht nur gegen seinen Gildenleiter und dessen finstere Verbündete - auch das überwunden geglaubte Ungeheuer in seinem Inneren gewinnt wieder an Kraft und droht selbst die Boshaftigkeit seiner Feinde in den Schatten zu stellen. Während Zen immer tiefer in den Sog von Macht und Verrat gerät, ahnt er nicht, dass er mehr in den Händen hält als die Leben seiner Freunde. Denn ein Schrecken vergangener Tage regt sich auf der Toteninsel und schon bald steht das Schicksal ganz Andrals auf dem Spiel.

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Inhalt

Prolog

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Zweiter Teil

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Dritter Teil

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Personenverzeichnis

Stopp, geh noch nicht!

Kai Herrdum
Feuer & SchattenDie Andral Chroniken 1
Eisermann Verlag

Die Andral Chroniken 1 – Feuer & Schatten E-Book-Ausgabe  3/2020 Copyright ©2020 by Eisermann Verlag, Bremen Ein Imprint der Eisermann Media GmbH Covergestaltung: © Miriam Verlinden, Guter Punkt, München, unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und Getty Images Kartenillustration: © Markus Weber, Guter Punkt, München Satz: André Piotrowski Lektorat: Christine Hochberger Korrektur: Daniela Höhne http://www.Eisermann-Verlag.de ISBN: 978-3-96173-190-9

Prolog

Einatmen.

Sinaí umschloss das geschmeidige Holz mit der linken Hand. Die Rechte erreichte seine Wange und strich beinahe zärtlich an dieser entlang. Beides fühlte sich vertraut an. Beides fühlte sich richtig an.

Ausatmen.

Sinaí spürte die Spannung seiner Muskeln, die trotz der Anstrengung nicht zitterten. Er spürte auch seinen Herzschlag, der ruhig in seiner Brust pulsierte. Beides war so, wie es sein sollte. Jetzt vernahm er sogar das leise Knarzen des Holzes – ein Geräusch, das ihn an seine kämpferische Jugend erinnerte.

Einatmen.

Sinaí zielte zwischen den Baumstämmen und dem fallenden Laub hindurch, das in den ersten Sonnenstrahlen des Tages einen melancholischen Tanz aufführte. Mindestens hundert Schritte trennten ihn von seiner Beute. Er hob kurz den Blick und wählte eines der unzähligen Blätter aus, die überall um ihn herum in satten Rottönen zu Boden segelten, wo sie von ihren ergrauten Artgenossen empfangen wurden.

Ausatmen.

Sinaí ließ den Pfeil von der Sehne schnellen und verfolgte dessen Flugbahn. Das Blatt von der Farbe frischen Blutes wurde von dem Geschoss durchstoßen und herumgewirbelt, als wäre es als Einziges unter Tausenden von einem Windstoß erfasst worden. Dann schoss der Pfeil auf die Lichtung und durchbohrte Sinaís Beute auf Höhe des Herzens.

Ein guter Schuss. Ein schneller Tod.

Er ließ den Bogen sinken und beobachtete, wie die Tiere ihren angeborenen Trieben nachgaben und die Flucht ergriffen. Sie kümmerten sich nicht um ihren Gefährten, als hätte dieser in dem Augenblick, da ihn Sinaís Pfeil durchbohrt hatte, jedes Recht auf ihre frühere Verbundenheit verwirkt.

Die Tiere gerieten außer Sicht und verschmolzen mit dem Wald. Sinaí ging gemessenen Schrittes auf die Lichtung zu, wobei er kurz innehielt, um das durchbohrte Blatt aufzuheben. Eine kleine Erinnerung an sein gelungenes Kunststück.

Er kniete neben dem Hirsch nieder, dessen Augen bereits ihren Glanz verloren hatten. Es war ein stolzes Tier mit prächtigem Geweih, das von vielen Kerben gezeichnet war und von einem harten Leben kündete. Sinaí senkte den Kopf, um der Natur für ihre Gabe zu danken und dem Hirsch Respekt zu erweisen.

Es war mehr als nur ein alter Brauch seines Volkes, den er aus reinem Pflichtgefühl fortführte. Es war der Weg des ersten Jägers, der lange vor seiner Geburt eingeschlagen worden war und noch lange nach seinem Tod fortgeführt werden würde. Diesen Augenblick des Schweigens war er seiner Beute schuldig, die ihn mit Fleisch, Fell und vielem mehr versorgte.

Schließlich ergriff er den Pfeilschaft mit beiden Händen und zog ihn aus dem leblosen Körper. Er rieb ihn mit einer Handvoll Laub ab, ehe er ihn zurück in den Köcher auf seinem Rücken schob. Dann schlang er sich den Kadaver um die Schultern und stemmte sich auf die Beine.

Der Hirsch war schwer, aber im Vergleich zu der Last, die Sinaí im Herzen trug, fiel er kaum ins Gewicht. Warmes Blut sickerte aus der Wunde und tränkte Sinaís Kleider, aber er störte sich nicht weiter daran. Ohne große Eile machte er sich auf den Weg nach Südwacht, um seine Beute mit den dort lebenden Menschen zu teilen.

Trotz des Gewichts auf seinen Schultern erfreute er sich an dem Anblick des Waldes, der sich für den nahenden Wintereinbruch wappnete. Die herbstlichen Baumkronen leuchteten in kräftigen Farben, als wollten sie dem Winter beweisen, wie bunt das Leben ohne ihn war.

Als Sinaí sein Volk verlassen hatte, war er sich sicher gewesen, keine neue Heimat finden zu können, die es mit der Anmut von Thármin aufnehmen konnte. Doch als die glücklichste Zeit seines Lebens nahtlos in die unglücklichste übergegangen war, hatte er in diesem Wald Zuflucht vor seinen Erinnerungen gesucht. Und gefunden.

Seit fünf Zyklen lebte er nun schon in diesem Teil des Waldes im Südwesten des Hügellands. Im Gegensatz zum Wald von Thármin erstreckte sich dieser über geschwungene Hügel und Täler, sodass man von den höher gelegenen Orten über schier unendliche Weiten von Baumkronen blicken konnte.

Sinaí hatte sich auf einer uralten Buche ein Heim errichtet, das der Bedeutung des Wortes gerecht wurde. Wenn er seinen Blick dort an sonnigen Tagen über das weitläufige Tal schweifen ließ, war er sich sicher, dass er an keinem Ort auf Andral lieber sein mochte.

Er stieg eine Anhöhe hinauf, ohne auf dem rutschigen Laub ins Straucheln zu geraten. Seine Füße fanden von selbst einen sicheren Halt, wie sie es seit jeher getan hatten. Die Last auf seinen Schultern machte ihm allmählich zu schaffen, aber er näherte sich bereits dem Dorf und die Vorfreude auf das Wiedersehen mit den Menschen ließ ihn seine Schritte beschleunigen.

Nachdem sie ihre anfängliche Angst vor ihm abgelegt hatten, war er zu einem gern gesehenen Gast in Südwacht geworden. Er trank, tanzte und lachte mit ihnen, als wäre das für einen Elfen nichts Besonderes.

Aber all das konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass er den Kontakt zu den Menschen im Grunde suchte, um nicht irgendwann gänzlich der nagenden Einsamkeit zu erliegen, die er ebenso brauchte, wie er sie fürchtete.

Seit er sein Volk verlassen hatte, war seine Schwester die einzige Elfe, die er zu Gesicht bekam. Sie nahm in unregelmäßigen Abständen die Strapazen der langen Reise aus dem Norden auf sich, um ihn im Exil zu besuchen.

Niemals würde er in Worte fassen können, wie dankbar er ihr war. Niemals würde er ihr verraten, wie sehr er nach ihren Besuchen lechzte. Der letzte lag bereits über einen Zyklus zurück. Es konnte also nicht mehr lange dauern, bis er sie wiedersah, und die Vorfreude zauberte ein Lächeln auf seine Züge. Vielleicht sogar schon heute.

Sinaí wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als aus der Ferne ein Schrei an seine Ohren drang. Ein Schrei voller Furcht und Pein, der sein Lächeln augenblicklich erstarren ließ.

Er kam aus der Richtung von Südwacht.

Ohne lange nachzudenken, ließ Sinaí den Kadaver auf den Waldboden sinken und eilte dem Dorf entgegen.

Kehliges Brüllen und das unverkennbare Klirren von aufeinanderprallenden Waffen mischten sich unter die vielstimmigen Schreie. Der Kampflärm toste in seinem Kopf und drohte jeden rationalen Gedanken beiseitezufegen, aber noch war nicht die Zeit für Raserei. Er duckte sich hinter einen Strauch am Waldrand und blickte über die Wiese zur Siedlung hinüber.

Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, als er die Quelle der Angst erkannte: Es waren Tobor’ákin. Der graue Hunger.

In Südwacht wimmelte es nur so von ihren sehnigen Körpern. Ihre rissige Haut erweckte den Anschein, als bestünden sie aus kargem Fels, anstatt aus Fleisch und Blut. Die charakteristischen Eckzähne in ihren aufgerissenen Mäulern machten jedem Raubtier Konkurrenz.

Sie wüteten gnadenlos unter den Menschen, die wohl im Morgengrauen von dem Angriff überrascht worden waren. Sinaí erspähte eine Flotte von schwarzen Schiffen in der Bucht, von denen immer mehr Tobor’ákin in die Fluten sprangen, um sich dem Gemetzel anzuschließen.

Die in Südwacht stationierten Soldaten hatten dem Ansturm wenig entgegenzusetzen. Der Boden war von ihren reglosen Leibern übersät, als wären sie für die Angreifer nicht mehr als ein lästiges Hindernis gewesen. Zwischen ihnen lagen die Leichen der Dorfbewohner, von denen keiner eine Rüstung oder eine Waffe besaß.

Sinaí erblickte einen dünnen Ring aus Verteidigern in der Mitte des Dorfes, der sich um die Frauen und Kinder gebildet hatte. Doch ihr Kampf war ebenso heroisch wie aussichtslos. Bei dem Gedanken an das, was unweigerlich auf das Gemetzel folgen würde, drehte sich ihm der Magen um.

Sinaí wollte den Menschen helfen, aber es war ausgeschlossen, dass er ihr Schicksal abwenden konnte. Dies war kein einzelner Clan der Tobor’ákin, der gekommen war, um schutzlose Dörfer zu überfallen. Dies war eine Streitmacht, die Ilwyss bald in einen zweiten Krieg stürzen würde. Einen Krieg, auf den die Menschen nicht im Geringsten vorbereitet waren.

Warum die Tobor’ákin ihren Feldzug ausgerechnet in Südwacht begannen und wann sie gelernt hatten, Schiffe zu bauen, wusste Sinaí nicht. Er wusste nur, dass er das Menschenreich warnen musste, damit kein weiteres Dorf das gleiche Schicksal wie Südwacht ereilte.

Er wollte sich gerade abwenden, als zwei Gestalten seine Aufmerksamkeit erregten, die am Dorfrand im Schatten einer Scheune kauerten. Selbst aus der Entfernung erkannte er, dass es sich um Mutter und Tochter handelte. Die Art wie sich das Mädchen an die Frau klammerte, ließ einfach keinen anderen Schluss zu.

Sinaí beobachtete angespannt, wie die Mutter um eine Ecke der Scheune spähte, bevor sie sich aus den Schatten löste und mit ihrer Tochter im Schlepptau auf den Wald zurannte. Ihm fielen die Kleider der beiden auf, die nichts mit den Trachten gemeinsam hatten, die er von den Bewohnern Südwachts kannte. Die Kleider waren kurz geschnitten und hatten eine dunkelgelbe Farbe, die er nie zuvor in Ilwyss gesehen hatte. Auch die Haut der Fremden kam ihm merkwürdig vor. Sie war für Menschen des Hügellands zu stark gebräunt.

Ehe er jedoch länger über die Herkunft der beiden rätseln konnte, brachen die Tobor’ákin den Ring der letzten Verteidiger auf und fielen über die hilflosen Frauen und Kinder her. Wut brauste in Sinaí auf, als er mit ansehen musste, wie die Bestien ihre Zähne in zarte Kinderhaut schlugen und ihr schauriges Mahl unter dem Kreischen der Sterbenden begannen.

Als er den Blick von der Dorfmitte losriss, fiel ihm ein großer Tobor’ákin ins Auge, der ein buschiges Fell auf den Schultern trug. Anstatt sich dem Hunger hinzugeben, blickte sich dieser Krieger aufmerksam im verwüsteten Dorf um. Fast so, als würde er etwas Bestimmtes suchen. Oder jemanden.

Unterdessen eilten die beiden Fremden weiter auf den Wald zu. Die Erschöpfung stand ihnen ins Gesicht geschrieben, aber die Furcht trieb sie unnachgiebig an. Noch waren sie nicht bemerkt worden, und Sinaí wagte schon zu hoffen, dass sie dem Gemetzel entkommen konnten, als die Frau auf der Wiese ins Straucheln geriet und der Länge nach ins Gras stürzte.

Das Mädchen ging neben seiner Mutter in die Hocke und schaute kurz in Sinaís Richtung, als hätte es ihn in seinem Versteck erspäht. Er blickte in das schmutzige Gesicht eines Mädchens von weniger als zehn Zyklen. Der Ausdruck in ihren Augen kündete von so unvorstellbarem Grauen, dass er unwillkürlich die Lippen zusammenpresste.

Irgendwie schaffte es die Kleine, ihre Mutter wieder auf die Beine zu ziehen, doch diese war mit ihren Kräften am Ende. Sie stolperte zwei Schritte vorwärts, bevor sie erneut nach vorn kippte. Sofort war das Mädchen an ihrer Seite, doch das Gewicht war zu viel für die Kleine und so stürzten sie diesmal beide zu Boden.

Als witterten sie die Verzweiflung, die von dem Mädchen ausströmte, tauchten plötzlich zwei Tobor’ákin neben der Scheune auf. Selbst aus der Entfernung konnte Sinaí den Hunger auf ihren Zügen erkennen, als sie die Verfolgung aufnahmen.

Er konnte nicht länger untätig bleiben.

Es war eine Entscheidung des Herzens, nicht des Geistes, für die er bis ans Ende der Zeit von seinem Volk verspottet worden wäre. Aber das änderte nichts an seinem guten Gefühl, als er sich endlich aus seiner Starre befreite.

Das Mädchen bemerkte die Verfolger ebenfalls, rappelte sich wieder auf und sprach auf seine reglose Mutter ein. Flehend zerrte es an ihrer Kleidung und versuchte, sie unter Tränen in Richtung Wald zu schleifen. Doch so tapfer ihr Vorhaben auch war, hätte sie ebenso gut versuchen können, einen Berg hinter sich herzuziehen.

Sinaí zog einen Pfeil aus seinem Köcher, nockte ihn auf die Sehne und strich mit der rechten Hand geistesabwesend über die Befiederung. Die Linke umschloss den Griff des Bogens so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. Mit einer fließenden Bewegung spannte er die Wurfarme und spürte die Kraft, die sie auf seinen Wunsch hin freigeben würden. Er legte all seinen Zorn in den Schuss und löste die Sehne.

Der Pfeil durchschlug die Augenhöhle des vorderen Tobor’ákin mit einem markerschütternden Knirschen, das selbst am Waldrand noch deutlich zu hören war. Der Krieger stürzte, schlug hart auf die Wiese und wirbelte Gras und Dreck auf. Sein Mitstreiter stolperte über den herumwirbelnden Leichnam und ging ebenfalls zu Boden.

Als er sich wieder aufrappelte, bohrte Sinaís zweiter Pfeil sich in seinen Hals. Der Tobor’ákin tastete ungläubig nach dem Schaft, der dicht unter seinem Kinn herausragte und spuckte Blut auf seine rauen Hände. Ehe er sich seiner Verletzung vollends bewusst werden konnte, durchschlug ein dritter Pfeil seine linke Hand und nagelte diese an seine Brust. Genau auf Höhe des Herzens.

Ein guter Schuss, aber ein viel zu schneller Tod für diese Bestie.

Sinaí verließ sein Versteck und rannte auf die beiden Fremden zu, die ihm erschrocken entgegenblickten, als wäre er nur ein weiteres Monster, das nach ihrem Leben trachtete. Irgendwie gelang es der Mutter, auf die Beine zu kommen und sich schützend vor ihre Tochter zu stellen.

»Schnell, ihr müsst fliehen«, flüsterte Sinaí, als er sie erreichte, doch sie blickten ihn nur verständnislos an. Hätte er nicht bereits vermutet, dass die beiden nicht aus Südwacht stammten, wäre es ihm spätestens jetzt klar geworden.

Ein durchdringendes Heulen ließ ihn herumfahren. Sein Blick fiel auf den Tobor’ákin mit dem Pelz um die Schultern, der mit seinem Schwert in ihre Richtung deutete. Die Bestien um ihn herum ließen augenblicklich von den Leichen ab und nahmen die Verfolgung auf, als fürchteten sie, von der Klinge ihres Oberhaupts niedergestreckt zu werden, wenn sie auch nur einen einzigen Herzschlag zögerten.

Sinaí wandte sich wieder der Mutter zu und deutete energisch mit dem ausgestreckten Arm in Richtung Wald. Sie begriff die Geste, packte ihre Tochter am Arm und zischte ihr etwas zu, auf das diese mit einem einzigen Wort antwortete. Als die beiden loseilten, bedachte die Mutter Sinaí noch mit einem letzten flehenden Blick, dem er sich jedoch rasch entzog. Er verstand, was sie von ihm verlangte, aber er konnte den Ansturm der Horde nicht länger aufhalten.

Dennoch spannte er seinen Bogen und schoss in den Pulk der Verfolger. Sein Pfeil bohrte sich zwischen die unverhüllten Brüste einer zierlichen Kriegerin, die gleich zwei Kreaturen mit sich zu Boden riss, als sie von der Wucht des Treffers zurückgeworfen wurde.

Sinaí wandte sich unter dem wilden Heulen der Verfolger zur Flucht und rechnete fest damit, dass ihm nun ein Teil der Krieger nachjagen würde. Aber ein kurzer Blick über seine Schulter zeigte, wie sehr er sich irrte. Sie kümmerten sich nicht um ihn und seine todbringenden Pfeile, sondern hetzten unbeirrt ihrer Beute hinterher.

Kurz beschlich Sinaí das Gefühl, sie könnten so etwas wie einen Befehl erhalten haben. Aber das konnte nicht sein, weil Tobor’ákin im Blutrausch keine Befehle befolgten. Er hatte vor langer Zeit gesehen, wie sie sich in diesem Zustand gegenseitig zerfleischten, als wären sie nicht in der Lage, Freund und Feind auseinanderzuhalten.

Er stieß einen zornigen Schrei aus, der von seiner inneren Zerrissenheit kündete. Jede Faser seines Körpers drängte danach, die beiden Fremden zu verteidigen, während sein Verstand ihm unmissverständlich klarmachte, dass er gegen diese erschreckende Übermacht nichts ausrichten konnte.

Er war keine fünfzig Schritt weit gekommen, als ein erstickter Laut ihn erneut herumfahren ließ. Er glaubte, die Mutter sei nur gestürzt und würde sofort wieder auf die Beine kommen, doch dann bemerkte er die Wurfaxt, die aus ihrem Rücken ragte. Die Fremde krümmte sich mit schmerzverzerrtem Gesicht im Gras, während ein dunkler Blutfleck sich auf ihrem Kleid ausbreitete.

Wider allen Gesetzen der Natur schaffte sie es, sich auf die Hände zu stemmen und ihrer Tochter einen sehnsüchtigen Blick nachzuwerfen. Der vorderste Tobor’ákin kam heran und stieß der Mutter seinen Speer in den Nacken. Sie bäumte sich ein letztes Mal auf, als könne sie sich allein durch ihre Willenskraft dem Tod widersetzen und ihr Kind vor dem Unvermeidlichen bewahren.

Dann erschlaffte ihr Körper und sank zurück ins Gras. Einzig ihre rechte Hand öffnete und schloss sich krampfhaft, als könne sie die Welt nicht verlassen, ohne ein letztes Mal ihre Tochter berührt zu haben.

Sinaí würde niemals begreifen, was im Kopf des Tobor’ákin vorging, als er seinen Speer aus dem Hals der Sterbenden herausriss und wie besessen auf die zuckende Hand einstach, bis diese sich nicht mehr rührte.

Es war in diesem Augenblick, dass Sinaí die Beherrschung verlor und sich gänzlich seinem Zorn hingab. Dieser Zorn schickte ihn in den Tod, um ein kleines Mädchen zu beschützen, das ihm völlig unbekannt war. Aber immerhin würde er in dem Wissen sterben, Wärme Vorzug vor Kälte gewährt zu haben.

Er spannte seinen Bogen und riss eine weitere Lücke in die Horde der Verfolger, ehe er die Jagd aufnahm. Er lief auf den Abschnitt des Waldrands zu, in dem das Mädchen verschwunden war und versuchte, den Tobor’ákin den Weg abzuschneiden.

Diese Bestien rannten schnell. Viel schneller als jeder Mensch. Aber Sinaí rannte schneller. Er holte binnen weniger Herzschläge zur vordersten Gruppe auf, schickte einen letzten Pfeil auf die Reise und zog im Laufen seine Klingen.

Seine rechte Hand führte das leicht gebogene Kurzschwert, das er einst von seiner Schwester geschenkt bekommen hatte. Es war die Arbeit eines talentierten Elfenschmieds, die schon das Blut vieler seiner Feinde gekostet hatte.

Seine Linke führte den Dolch aus Kargstein, in dessen Klinge feine Buchstaben eingraviert waren. Auch dieser Dolch war ein Geschenk gewesen und er erinnerte sich noch genau an das Versprechen, das an die Klinge geknüpft worden war. Ein Versprechen, das er nicht zu halten vermocht hatte und das ihn jeden Tag aufs Neue quälte. Aber vielleicht hatte diese Qual bald ein Ende.

Ein besonders flinker Tobor’ákin hatte sich zu der restlichen Horde einen kleinen Vorsprung erarbeitet. Sinaí näherte sich ihm unbemerkt von der Seite und rammte ihm seinen Dolch in den Rücken. Er spürte, wie seine Klinge einen Rückenwirbel durchtrennte und sah befriedigt zu, wie das Ungeheuer zusammenbrach. Es überschlug sich zweimal, ehe es mit verdrehten Augen liegen blieb.

Sinaí wandte sich um und erwartete die heranstürmende Horde mit festem Stand. Die Angreifer heulten und geiferten, aber ihre Wut glitt wirkungslos an ihm ab. Krumme Speere flogen auf ihn zu, doch er wich ihnen mit fließenden Bewegungen aus.

Seine Feinde konnten nicht wissen, wie viele hundert Zyklen er bereits auf der Welt wandelte. Sie konnten nicht wissen, wie viele Kämpfe er schon bestritten hatte. Und sie konnten nicht wissen, wie hoffnungslos sie ihm unterlegen waren. Sein Bewusstsein war für den Kampf geschliffen. Sein Körper war zum Töten geschaffen. Nun, da der Tanz begonnen hatte, würde er diese Kreaturen das Fürchten lehren.

Der erste Tobor’ákin stürmte mit erhobener Keule auf ihn zu, aber mit dieser klobigen Waffe hätte er ebenso gut versuchen können, einen Adler im Sturzflug zu treffen. Sinaí wich dem Angriff mit einer leichten Drehung des Oberkörpers aus und stieß seinem Gegner das Kurzschwert seitlich in den Hals.

Der Tobor’ákin packte seinen Arm und versuchte ihn zu sich zu ziehen, doch Sinaí reagierte blitzschnell und machte einen festen Schritt auf seinen Gegner zu. Dabei drückte er sein Schwert unter dem Kiefer des Kriegers durch. Blut spritzte aus der Wunde und besprenkelte die Wiese mit hässlichen Flecken.

Während sein Gegner halb enthauptet zu Boden sank, parierte Sinaí bereits den wuchtigen Schlag des nächsten Angreifers. Mit einem Klingen prallte das Axtblatt an seinem Schwert ab. Der Tobor’ákin wurde von Sinaís Standfestigkeit so überrascht, dass er aus dem Gleichgewicht geriet. Sinaí schnellte vor und zog ihm den Dolch über die Brust, ohne jedoch mehr als einen dünnen Schnitt zu hinterlassen.

Der Angreifer witterte seine Gelegenheit und holte erneut mit der Axt aus, aber Sinaí war viel zu schnell für ihn. Das Schwert fuhr in die Achselhöhle des erhobenen Arms und ließ heißes Blut aus der Wunde hervorspritzen.

Sinaí nahm aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr und lenkte den Schwertstreich eines weiteren Angreifers mit seiner eigenen Klinge ab. Das Schwert des Tobor’ákin schabte kreischend an dem elfischen Stahl entlang und bohrte sich in die Seite eines überraschten Mitstreiters. Der Getroffene stieß einen wütenden Schrei aus und zerschmetterte den Schädel des Verräters mit seiner Keule, ehe er selbst zu Boden ging.

Sinaí wich ein Stück zurück, um sich den nächsten Gegnern zu stellen. Er konnte von Glück reden, dass Tobor’ákin weder Schlachtordnung noch Zusammenarbeit kannten. Wie in ihrer felsigen Heimat kämpfte jeder von ihnen nur für sich.

Er duckte sich gewandt unter einem waagerechten Schlag hindurch, doch anstatt wieder hochzukommen, blieb er in der Hocke, um dem Angreifer die Kniesehnen zu durchtrennen. Der Krieger sank heulend auf die Knie, als wollte er seine Ehrfurcht vor der Kampfkunst seines Gegners bekunden.

Bevor Sinaí ihm den Rest geben konnte, stach ein Speer nach ihm, und er musste zur Seite hechten, um nicht aufgespießt zu werden. Er rollte direkt vor die Füße einer weiteren Bestie, die geistesgegenwärtig nach seinem Kopf schlug und ihn nur um Haaresbreite verfehlte. Sinaí federte auf die Beine und stach dem Krieger mit solcher Wucht sein Schwert in die Kehle, das die Spitze den Schädelknochen durchschlug und auf der Rückseite des Kopfes wieder austrat.

Als der Tobor’ákin wie vom Donner gerührt zusammenbrach, verlor Sinaí den Schwertgriff aus der Hand, aber ihm blieb keine Zeit, um sich seine Waffe zurückzuholen. Das Ungeheuer mit dem Speer drängte bereits wieder auf ihn ein und Sinaí hatte alle Mühe, den Stößen auszuweichen. Dann erkannte er in dem Gegner den Mörder der Mutter und spürte erneut Zorn in seinem Inneren aufflackern.

Er änderte den Griff um seinen Dolch, den er jetzt wie ein Meuchelmörder in der geschlossenen Faust mit der Klinge nach unten führte. Anstatt dem nächsten Speerstoß auszuweichen, fing Sinaí die Waffe mit seiner freien Hand ab und rammte seine schwarze Klinge in einen sehnigen Unterarm.

Die Kiefer des Tobor’ákin schnellten vor, aber er konnte seinen Kopf gerade noch rechtzeitig zurückziehen. Er hätte seinem Gegner die Waffe entwinden und ihn damit aufspießen können, aber diese Kreatur hatte eine besondere Wunde verdient.

Er riss den Dolch frei, ließ den Knauf gegen die zuschnappenden Kiefer krachen und stieß die Klinge bis zum Heft in den Hals seines Gegners, als dessen Kopf nach hinten geschleudert wurde. Nun konnte der Sterbende in aller Ruhe die Pein nachempfinden, die er der wehrlosen Frau vor wenigen Augenblicken zugefügt hatte.

Sinaí riss seine Waffe frei und sprang instinktiv zur Seite, als er eine Bewegung im Rücken wahrnahm. Er entging dem Speerstoß einer Kriegerin, deren Waffe stattdessen in die Brust eines anderen Tobor’ákin eindrang. Ehe Sinaí die Gelegenheit nutzen konnte, um ihr seine Klinge in die Flanke zu treiben, drängte der nächste Angreifer auf ihn ein.

Sinaí wich vor den ungestümen Schlägen zurück und prallte gegen den Oberkörper eines weiteren Gegners, der gerade mit seiner Keule zum Schlag ausholte. Doch anstatt zuzuschlagen, ließ dieser seine Waffe fallen und umschlang Sinaís Oberkörper. Er grub ihm seine scharfen Zähne tief in die Schulter und ließ ihn vor Schmerz aufschreien.

Sinaí rammte seinem Gegner den Dolch in den Oberschenkel, aber die Kiefer schienen nur noch fester zuzupacken. Mit einer ruckenden Kopfbewegung riss der Tobor’ákin ein Stück Fleisch ab und stieß ein triumphierendes Geheul aus, das von den Umstehenden aufgegriffen wurde. Es klang, als stünde dieser erste Bissen symbolisch für ihren nahen Sieg.

Sinaí riss den Kopf zur Seite, um dem Schwerthieb seines vorherigen Gegners zu entgehen. Mit einem satten Schmatzen drang die Klinge in die Schulter des Tobor’ákin hinter ihm ein und ließ dessen triumphales Heulen abrupt verstummen. Sinaí wurde von einem Schwall Blut übergossen, konnte sich aber aus dem jetzt kraftlosen Klammergriff befreien.

Er tauchte unter dem nächsten Schlag seines Gegenübers hindurch und spürte einen Luftzug am Ohr, als die Klinge an ihm vorbeisauste. Den ungestümen Schlägen zweier weiterer Gegner wich er mit elfischem Geschick aus und befreite sich so aus dem dichten Knäuel von Leibern. Dann hastete er zur Seite, um etwas Abstand zwischen sich und die Horde zu bringen.

Er war über und über mit schmierigem Blut besudelt. Sein Blut und das seiner Feinde. Seine Schulterwunde pochte und seine Arme waren schwer. Aber irgendwo, nicht weit entfernt, rannte ein kleines Mädchen durch den Wald, das er beschützen musste.

Ehe er sich seinen Feinden jedoch mit neuem Mut zuwenden konnte, schoss ein heißer Schmerz durch seine Brust.

Ungläubig blickte er auf die Pfeilspitze, die ein gutes Stück aus seinem Oberkörper ragte. Er stieß ein kehliges Husten aus, das seinen Körper erbeben ließ und ihn in die Knie zwang.

Er griff nach dem Pfeilschaft, wollte ihn aus seinem Fleisch herausreißen, aber seine Hände verweigerten den Befehl. Hilflos sah er zu, wie die Tobor’ákin an ihm vorbeieilten, ohne sich länger um ihn zu kümmern. Als die ersten den Waldrand erreichten, tauchte plötzlich der Krieger mit dem Pelz um die Schultern neben Sinaí auf und bedachte ihn mit einem gehässigen Grinsen.

Heißer Zorn packte Sinaí. Er spuckte der Kreatur Blut vor die Füße und erwiderte ihren Blick ohne Furcht. Das Grinsen verschwand, als der Tobor’ákin sich zu seiner vollen Größe aufbaute und sein Schwert mit beiden Händen hoch über den Kopf hob.

Mit letzter Kraft tauchte Sinaí unter dem Schlag hindurch und warf sich gegen den Krieger. Er rammte ihm seinen Dolch seitlich in den Oberkörper. Wieder und wieder, bis seine Hand den Halt um den glitschigen Griff verlor. Mit Genugtuung sah er, wie die Kreatur zu Boden sank und mit dem Tod rang.

Dann gaben seine Beine unter ihm nach und er sank ebenfalls zu Boden. Der glühende Schmerz in seiner Brust ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen, aber irgendwo in seinem Inneren dämmerte die Erkenntnis, dass seine Zeit gekommen war. Er blickte zum Dorf hinüber und sah zwei Gestalten im Schatten der Scheune stehen, von denen eine ihren Bogen spannte.

Nur benutzten Tobor’ákin keine Bögen und sahen auch nicht gelassen bei einem Kampf zu. Als wären dies nicht schon genug Hinweise, strahlte von den beiden Gestalten eine Aura der Kälte aus. Eine Kälte, die Sinaí vor langer Zeit zu hassen gelernt hatte. Das Auftauchen dieser Wesen ließ die Geschehnisse in Südwacht in einem noch finsteren Licht erscheinen, aber es stand nicht länger in seiner Macht, dagegen anzukämpfen.

Einatmen.

Sinaí schmeckte Blut in seinem Mund und spürte es in Rinnsalen über seine Lippen und sein Kinn hinablaufen. Er sah es auf die Wiese tropfen, wo es sich mit dem Blut des Tobor’ákin vermengte. Es würde jetzt nicht mehr lange dauern.

Ausatmen.

Seine Gedanken entglitten ihm. Das anmutige Gesicht seiner Schwester geisterte schwerfällig durch seinen Kopf. Er hätte sie so gerne noch einmal wiedergesehen, sich ihrer Zuneigung und ihres Wohlergehens versichert. Dann schwebte eine weitere Erinnerung heran, verdrängte Nahriels Antlitz und entführte ihn in einen Augenblick voller Leidenschaft. Strahlend hell und unverkennbar mächtig.

Einatmen.

Schwarzes Haar, das in der Sonne glitzerte und unendlich weich zwischen seinen Fingern hindurchglitt. Blasse Lippen, die unablässig seinen Namen flüsterten. Fast konnte er den warmen Hauch der liebevollen Worte an seiner Wange spüren. Und dann kamen die leuchtenden grünen Augen, die ihn mit unvorstellbarer Kraft anflehten.

»Bald sehen wir uns wieder«, flüsterte Sinaí und spürte, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.

Dann wurde es schwarz um ihn.

Ausatmen.

Erster Teil

Kapitel 1

Mit rasendem Herzen schrak Zen aus einem Albtraum hoch. Sein Magen kündete vom flauen Gefühl des Fallens, und er stieß einen ängstlichen Laut aus. Dann schlug er samt Stuhl auf dem unnachgiebigen Steinboden auf, der ihm die Luft aus den Lungen presste.

Der Schreck und der Schmerz des Aufpralls weckten seine Lebensgeister so rasch, wie es kein Eimer voll kaltem Wasser vermocht hätte. Sein Blick fiel auf ein staubiges Bücherregal und ließ die Erkenntnis, dass er in der Bibliothek war, in seinen Verstand sickern.

Zen setzte sich auf und rieb sich den Hinterkopf, bevor er der Stuhllehne, die sich in seinen Rücken gebohrt hatte, einen Tritt verpasste. Seine nackten Füße waren so kalt, dass sie dabei nur leicht kribbelten.

Dann erhob er sich und streckte seinen Rücken durch. Mit einem Knacken, das er mehr spürte, als hörte, rückte ein Wirbel zurück an seine angestammte Position. Er entdeckte seine Filzpantoffeln auf dem Boden und schlüpfte hinein.

Langsam begannen sich seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Einzig eine fast heruntergebrannte Kerze auf dem Holztisch an der Wand spendete ein wenig Licht und warf dünne Schatten den Gang hinunter. Als Zen untersuchte, ob sein Sturz den Stuhl in Mitleidenschaft gezogen hatte, drängten sich Fetzen des Albtraums in seinen Geist, aus dem er so unsanft erwacht war.

Wieder einmal hatte er etwas mit Flammen, Rauch und brennenden Menschen zu tun gehabt. Seine Albträume hatten schließlich nur dieses eine grausame Gesicht. Doch zum Glück verblassten die Bilder bereits wieder, was Zen die Einzelheiten diesmal ersparte.

Gähnend betrachtete er das Buch, über dem er eingeschlafen war. Er konnte sich nur vage an das erinnern, was er gelesen hatte. Es hatte irgendetwas mit der Historie der vier Magiergilden zu tun gehabt – einem Thema, dem er sich seit jeher zu entziehen versuchte. Seiner Meinung nach konnte es keinen unwichtigeren und langweiligeren Inhalt geben.

Was nutzte einem das Wissen über die Entstehung der Gilden und die Namen der Gründungsmitglieder, wenn diese Geschichte über fünfhundert Zyklen zurücklag? Zumal alle Namen – mochten sie Helden oder Halunken gehört haben – schon lange verblasst und ihre Besitzer zu Staub zerfallen waren. Diese Geschichten versuchten lediglich, Illusionen einer Zeit heraufzubeschwören, die vor Wandel strotzte. Eine Zeit, in der sich das Schicksal der Menschen in grausamen Kriegen entschied. Eine Zeit, in der die Magiergilden Schulter an Schulter standen.

Die Wahrheit im fünfhundertelften Zyklus nach dem Drachenfall sah jedoch ganz anders aus. Nur drei der vier Elemente hatten die Zyklen überdauert, und die Magiergilden hatten kaum noch Kontakt untereinander. Nur selten erreichten die Feuergilde Boten der anderen Elemente, um belanglose Briefe zu überbringen oder Schriften auszutauschen. Und all diese Mühe nur, um vor dem Rest der Welt den Schein zu wahren, dass die Gilden noch immer Schulter an Schulter standen, während sie sich in Wahrheit längst den Rücken zugekehrt hatten.

Ohne den aufgeschlagenen Seiten weitere Aufmerksamkeit zu schenken, klappte Zen den Wälzer zu. Auf dem verschlissenen Buchdeckel stand in verschnörkelten Buchstaben Chroniken der Frühzeit, Die Magiergilden, Band 1. Zen las die Aufschrift, die in kleineren Lettern am unteren Buchdeckel stand: Überliefert von Sirafin.

Er schnippte mit dem Zeigefinger gegen die verblichenen Lettern. Danke für deine Mühen, Sirafin, dachte er mürrisch, als er sich das Buch unter den Arm klemmte. Wie schade, dass du damals nichts Besseres mit deiner Zeit anzufangen wusstest.

Unter dem Wälzer war ein weiteres, dünneres Buch zum Vorschein gekommen. Ein flüchtiges Lächeln huschte über Zens Lippen, als er die leuchtenden, gelbroten Linien auf dem Buchdeckel sah, die den Titel Höhere Feuermagie und deren Anwendung formten.

Zen erinnerte sich augenblicklich, warum er den Abend in der ungeliebten Bibliothek verbracht hatte. Er hatte heimlich in seinem Lieblingsbuch gelesen, während er so tat, als arbeite er an seinem Vortrag über die Entstehung der Magiergilden.

Erst als die Wachskerze vom nahenden Sonnenuntergang kündete, war Zen aufgefallen, dass er sich wirklich noch mit der langweiligen Lektüre beschäftigen musste. Ansonsten riskierte er bei der Zeremonie des ersten Magiergrads eine Ablehnung von Kantalor, woraufhin er sich auch gleich selbst in Brand stecken konnte, um nicht miterleben zu müssen, wie sich sein größter Traum in Rauch auflöste.

Es wunderte ihn dennoch kaum, dass er vor Langeweile und Erschöpfung eingeschlafen war. Er würde sich Sirafins Werk am nächsten Tag erneut ausleihen müssen, um sich für seinen Vortrag vorzubereiten.

Die Zeitkerze auf dem Tisch war inzwischen bis zur letzten Markierung heruntergebrannt, was bedeutete, dass es fast zwei Wachslängen nach Mitternacht war. Zen konnte ein ausgiebiges Gähnen nicht zurückhalten. Es war wirklich höchste Zeit, ins Bett zu gehen.

Als er das kleinere der beiden Bücher an seinen angestammten Platz in der Bücherwand schob, hörte er ein leises Klingen und verharrte in der Bewegung. Verwundert blickte er den Gang hinunter, der zu beiden Seiten von hohen Bücherregalen gesäumt wurde. Doch er konnte nichts erkennen. Der Gang war leer.

Unwillkürlich beschlich ihn das Gefühl, etwas gehört zu haben, das nicht für seine Ohren bestimmt war. Dieses Klingen hatte etwas Verborgenes, etwas Vorsichtiges an sich gehabt.

Das habe ich mir bestimmt nur eingebildet, beruhigte er sich und drückte das Buch weiter in den engen Spalt zwischen zwei verstaubten Wälzern, die aussahen, als wären sie seit hundert Zyklen nicht angerührt worden. Dann machte er sich auf den Weg zu dem Regal mit den historischen Werken.

Er war noch keine zehn Schritte gegangen, da erklang das Geräusch erneut. Hinter ihm. Näher als zuvor. Ein helles Klingen, wie von einem Glöckchen. Zen wandte sich ruckartig um, aber er konnte wieder nichts erkennen.

»Wer ist da?«, fragte er in den düsteren Gang. Doch er erhielt keine Antwort. Nicht, dass er wirklich eine erwartet hätte. Alle Gildenmitglieder lagen sicherlich wohl behütet in ihren Betten. Das Haupttor wurde nachts verriegelt und mit eisernen Verstrebungen gesichert. Außerdem hatte niemand je gewagt, in die Gilde einzudringen.

Dennoch keimte Unruhe in ihm auf. Dieses merkwürdige Geräusch und die Tatsache, dass er dessen Ursache nicht ausmachen konnte, ängstigten ihn.

Zen wollte seinen Weg gerade fortsetzen, als die Kerze ihren Todeskampf verlor und ihn vollkommene Schwärze einhüllte. Fast wäre er blindlings den Gang hinunter geflohen. Doch stattdessen hielt er den Atem an und lauschte angestrengt in die Dunkelheit. Während er wartete, spürte er sein Herz zum zweiten Mal in dieser Nacht wie wild in seiner Brust pochen.

Reiß dich zusammen, schoss es ihm jäh durch den Kopf. Wer schleicht nachts durch die Gilde und klingelt mit einem Glöckchen? Das ergibt keinen Sinn!

Er kanalisierte seine Kraft, um zwei Schritte vor sich eine kleine Flamme in der Luft entstehen zu lassen. Hastig sah er sich im Gang um. Zahllose Bücher in staubigen Regalen, die im flackernden Licht etwas Gespenstisches an sich hatten. Sonst nichts.

Ermutigt und von dem Feuer gewärmt, ging er weiter. Er ließ die magische Flamme stets ein paar Schritt vor sich her schweben, sodass sein Weg durch die Bibliothek erhellt wurde. Umso schneller er zu seinem Zimmer gelangen, sich in sein Bett legen und sich in seine Decke einwickeln konnte, desto schneller würde er dieses merkwürdige Geräusch hinter sich lassen.

Bald erreichte er den Gang mit den historischen Werken und schob das Buch kurzerhand an den ersten freien Platz. Es würde schon niemandem auffallen, bis er es sich am nächsten Tag wiederholte.

Dann machte er sich auf den Weg zu seinem Zimmer. Die Vorfreude auf sein Bett ließ ihn seine Schritte beschleunigen. Er würde seine müden Glieder ausstrecken und sich bis zum Hals in seine Decke einkuscheln. Fast konnte er den weichen Stoff des Kissens an seiner Wange spüren.

Zen gelangte zu dem schweren Eichenportal, das die Bibliothek von der Eingangshalle trennte. Auf ihn hatte es schon immer wie die Pforte zu einer Schatzkammer gewirkt, hinter der unvorstellbare Reichtümer in glitzernden Haufen aufgetürmt warteten. Dieser Eindruck wurde durch die vielen Schlösser und Riegel in allen Formen und Größen verstärkt, die sich auf der ihm zugewandten Seite befanden.

Aber wer würde schon auf die Idee kommen, Bücher zu stehlen?

Zen zog das Portal einen Spalt auf, schlüpfte hindurch, lehnte sich von der anderen Seite dagegen und seufzte erleichtert. Obwohl seine Angst vor dem unheimlichen Geräusch bereits wieder abklang, war er froh, die Bibliothek für diese Nacht verlassen und das Geräusch in der Dunkelheit eingesperrt zu haben.

Vor ihm lag nun die weite Eingangshalle, durch die man in die verschiedenen Teile der Gilde gelangte. Gegenüber, im linken Flügel, waren die Lehrstätten zu finden. Zu seiner Rechten erhob sich die hohe Flügeltür, hinter der sich der große Saal erstreckte, in dem alle Gildenmitglieder gemeinsam aßen, Versammlungen abhielten und Feste feierten.

Die Tische im Saal waren kreisförmig um eine riesige Feuerstelle angeordnet. Während der Gildenleiter zusammen mit den wenigen Magiern des dritten Grades am innersten Tisch saß, befanden sich die Tische der Lehrlinge weiter außen. Auch Zen hatte zunächst an dem Tisch nahe der Wand Platz genommen und war von Zyklus zu Zyklus näher zur Mitte des Saals vorgerückt. Inzwischen saß er mit den Lehrlingen seines Zyklus nur noch wenige Schritte vom Tisch der Magier des ersten Grades entfernt, und er konnte es kaum erwarten, endlich in ihre Reihen aufgenommen zu werden.

Als Zen die Eingangshalle durchschritt und auf die breite Treppe zuhielt, die zu den Gemächern führte, blickte er zur hohen Decke empor, die er im schwachen Schein seiner Flamme nicht ausmachen konnte. Allerdings musste er die Inschrift, die in großen Lettern kreisförmig um das Gildenwappen an der Decke geschrieben stand, nicht lesen, um sich an ihr zu erfreuen. Denn er kannte sie seit seinem ersten Tag in der Feuergilde auswendig.

Lediglich die Hingabe für andere Menschen ist es wert, eine Kraft wie die Magie zu entfesseln. Möge das Feuer in euren Herzen stets heißer brennen als eure Leidenschaft für Reichtum, Ruhm oder Macht.

Bevor Zen den ersten Stock erreichte, brach er den Strom von Magie zu der schwebenden Flamme ab, welche augenblicklich verschwand. Für das nächtliche Herumwandern in der Gilde konnte er mit weiteren unangenehmen Strafen belegt werden, die er auf jeden Fall vermeiden wollte. Auch wollte er sich auf keinen Fall so kurz vor seiner Zeremonie erwischen lassen. Den Weg zu seinem Zimmer würde er selbst mit verbundenen Augen finden.

Er streifte seine Filzpantoffeln ab und stopfte sie in die Taschen seiner Robe. Der Steinboden fühlte sich so kalt an, dass er unwillkürlich seine Zehen anzog, um der Kälte so wenig Angriffsfläche wie möglich zu geben. Aber barfuß konnte er im Notfall besser davonrennen.

Als weitere Vorsichtsmaßnahme zog er seine Kette über den Kopf, wobei er darauf achtete, dass sie sich nicht in seinen langen Haaren verhedderte. Sie war das einzige Erbe seiner Mutter und sein kostbarster Besitz. Ein glatter Bernstein von der Farbe flüssigen Feuers an einem Lederband.

Doch der Stein erzeugte beim Gehen gelegentlich ein klickendes Geräusch, wenn er gegen den obersten Knopf seiner roten Robe stieß und Zen wollte nicht riskieren, ausgerechnet wegen seiner geliebten Kette erwischt zu werden. Er küsste den Stein in Gedanken an seine verstorbene Mutter, die er nie kennengelernt hatte, und nahm die Kette in seine Faust.

Dann schlich er auf den Gang, wandte sich nach rechts und hielt abrupt in der Bewegung inne.

Auf der Wendeltreppe am Ende des Gangs war etwas. Ein Umriss, der lautlos die Stufen nach oben stieg und aus seinem Blickfeld verschwand.

Zen wich rasch hinter die Ecke zurück und spähte durch die Dunkelheit Richtung Treppe. Doch die Gestalt war nicht mehr zu sehen. Er wollte gerade zur Wendeltreppe auf der gegenüberliegenden Seite des Gangs schleichen, als ihm ein Licht aufging.

Das war bestimmt der Unhold, der mich in der Bibliothek mit dem Glöckchen erschreckt hat, dachte er grimmig.

Er sprang auf, huschte den Gang entlang und machte sich an die Verfolgung die Wendeltreppe hinauf. Dabei bemühte er sich, keine Geräusche zu verursachen und fand, dass er sich gar nicht so schlecht anstellte.

Als er den zweiten Stock erreichte, spähte er vorsichtig in beide abzweigenden Gänge. Er hatte den Übeltäter unter den Lehrlingen im zweiten Stock vermutet, aber er konnte in der Finsternis keine Gestalt ausmachen. Mit einem flauen Gefühl im Magen schlich er weiter die Treppe hinauf.

Im dritten Stock atmete er einmal tief durch, ehe er um die Ecke in den linken Gang blickte. Fahles Mondlicht fiel durch die Fenster und tauchte den Korridor in ein gespenstisches Halbdunkel. Doch bis auf die Gemälde und die eisernen Fackelhalter an den Wänden war der Gang leer. Er schluckte sein Unbehagen hinunter und schob seinen Kopf Stück für Stück vor, bis er auch in den anderen Gang sehen konnte.

Und da war sie. Die Gestalt hockte mit dem Rücken zu ihm vor der Treppe zu Gallidos’ Turm. Mit klopfendem Herzen beobachtete Zen, wie sie mit der Hand über den rauen Steinboden strich. Die Geste wirkte beinahe zärtlich und verursachte Zen eine Gänsehaut. Dann stand die Gestalt auf und er zog hastig den Kopf zurück.

Da saß er nun, zitternd in der Dunkelheit, und wusste nicht, was er tun sollte. Dutzende Fragen schossen ihm durch den Kopf, doch er wusste nur auf eine die Antwort: Diese Gestalt war kein Mitglied der Gilde!

Er drückte die Kette in seiner Faust, nahm all seinen Mut zusammen und spähte erneut um die Ecke. Der Eindringling war verschwunden. Er konnte in der kurzen Zeit unmöglich den Gang hinuntergelangt sein, also gab es nur eine Möglichkeit: Er war auf dem Weg zu Gallidos’ Gemächern.

Zen versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Wenn jemand plante, dem Gildenleiter zu schaden, blieb keine Zeit, lange nachzudenken oder Hilfe zu holen. Es lag an ihm, etwas zu unternehmen. Er konzentrierte sich und griff nach der Magie, die pulsierend durch seinen Körper floss. Falls er dem Eindringling begegnete, würde er vorbereitet sein.

Noch immer darauf bedacht, kein Geräusch zu verursachen, eilte er zum Fuß der Treppe. Stufe für Stufe schlich er hinauf, die Augen stets auf die Dunkelheit vor sich gerichtet. Je höher er gelangte, desto mulmiger wurde ihm zumute. Auch die Zweifel an seinem Vorhaben wuchsen mit jedem Schritt. Als die Spannung unerträglich wurde, vernahm er von oben gedämpfte Stimmen.

Seine Neugier gewann die Oberhand, sodass er sich bis zum Ende der Treppe wagte. Unter der Tür zu Gallidos’ Gemächern schimmerte ein dünner Lichtstrahl hindurch. Zen konnte an den Schatten erkennen, dass sich im Zimmer jemand bewegte. Er kniete sich auf die letzte Stufe an die Wand, um im Notfall schnell verschwinden zu können, ohne erkannt zu werden.

»Sind alle Vorbereitungen abgeschlossen?«, fragte eine kräftige Stimme, die er seinem Gildenleiter zuordnen konnte. Keine Antwort.

»Ausgezeichnet, aber vertraust du ihnen auch?«, kam die nächste Frage von Gallidos nach einer kurzen Pause. Wieder hörte Zen keine Antwort. Auf allen vieren pirschte er sich noch näher heran und legte ein Ohr an die Tür.

»Gold ist eine mehr als zweifelhafte Grundlage für Vertrauen«, erklärte Gallidos, und in seiner Stimme klang unverhohlener Ärger mit. »Gier hält nur so lange vor, bis sie befriedigt wird. Außer einem wird vorher eine feindliche Klinge an die Kehle gedrückt. In diesem Fall wird sie augenblicklich von stärkeren Trieben abgelöst, allen voran dem nach Selbsterhaltung. Was ich verlange ist Loyalität!«

»Loyalität kann man nicht kaufen«, antwortete der Unbekannte. Seiner Stimmlage nach zu urteilen, handelte es sich um einen Mann. Er sprach fast gezwungen deutlich und betonte jedes Wort, als spräche er mit einem Kind. Und dennoch hatte diese Stimme etwas an sich. Etwas, das Zen nicht richtig greifen konnte, ihm jedoch einen kalten Schauer über den Rücken jagte.

»Aber ich habe mit diesen Männern bereits mehrfach erfolgreich gearbeitet«, fuhr der Unbekannte fort. »Sie sind gut ausgebildet und fürchten mich mehr, als sie den Tod fürchten. Sie werden meinen Anweisungen bedingungslos Folge leisten.«

Gallidos grummelte etwas. Die Schatten unter der Tür bewegten sich erneut. Erst fürchtete Zen, man könnte ihn entdeckt haben und wich hastig ein Stück zurück. Dann begriff er, dass der Gildenleiter lediglich im Zimmer auf und ab ging. Schnell kroch er wieder näher heran.

»Wie viel hast du ihnen von dem Plan erzählt?«, fragte Gallidos mit ruhigerer Stimmlage.

»Nur das, was sie wissen müssen.«

»Was soll das bedeuten?«

»Sie wissen, was sie zu tun haben. Sie wissen, wie hoch sie bezahlt werden. Sie wissen, dass ich jedem einzelnen von ihnen den Schwanz abhacke, falls sie versagen.«

Zen gefiel die Richtung, die das Gespräch nahm, überhaupt nicht. Sein schlechtes Gefühl wurde von Gallidos’ rauem Lachen noch verstärkt.

»Der furchterregende Anführer.« Gallidos’ Schatten blieb stehen. »Ich muss gestehen, dass dir die Rolle ausgesprochen gut zu Gesicht steht. Verrate ihnen auf keinen Fall, dass der Auftrag von mir kommt. Um mit den Worten meines nutzlosen Vorgängers zu sprechen«, er räusperte sich und sprach mit weinerlicher Stimme weiter, »gehe kein Wagnis ein, das es sich nicht zu wagen lohnt.« Er schnaubte verächtlich. »Sein Tod war wirklich jede Münze wert.«

Der Fremde hatte darauf offenbar nichts zu erwidern, doch Zen konnte nicht glauben, was er gerade gehört hatte. Er wollte es auch nicht glauben. Gallidos konnte nichts mit dem Tod des vorherigen Gildenleiters zu tun haben. Das durfte einfach nicht wahr sein.

»Nun gut«, fuhr Gallidos fort. »Beginnt mit der Ausführung des Plans, sobald ihr könnt. Vergesst jedoch nicht, was wir besprochen haben. Alle sollen glauben, dass die Gilde von kaltblütigen Dieben überfallen wurde. Also plündert gefälligst gründlich. Und bei Kalóhas glühendem Zorn, lasst euch nicht erwischen!« Er hielt kurz inne. »Ist das Kernstück unseres Täuschungsmanövers ausgearbeitet?«

»Ich habe einige Männer ausgewählt, auf die ich verzichten kann. Außerdem haben wir eine Handvoll Gefangene aus dem Kerker von Kehrwall befreit. Sie werden genauso gut brennen wie meine Männer, und niemand wird sie vermissen. Du wirst deine verkohlten Leichen bekommen.«

»Ausgezeichnet.« Gallidos tat sich laut schlürfend an einem Getränk gütlich. »Wie schreiten die Vorbereitungen im Seenreich voran?«

»Alles läuft wie geplant. Allerdings habe ich den Zugang über die Zugbrücke überdacht und eine sicherere Alternative ersonnen.«

»Davon will ich nichts hören. Sorg nur dafür, dass die Durchführung des Plans gelingt. Schick mir einen deiner garstigen Vögel, bevor ihr beginnt. Ich kann dieses krächzende Federvieh nicht ausstehen, aber ihre Nützlichkeit lässt sich kaum abstreiten.«

Zen hörte ein leises Klimpern.

»Hier, verteil das unter deinen Männern. Sag ihnen, dass ihr Auftraggeber besonders großzügig sein wird, wenn sie ihre Arbeit gründlich erledigen.«

»Wir werden unser Bestes geben«, versicherte der Unbekannte. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber Gallidos unterbrach ihn mit drohendem Unterton.

»Nein, Janus, euer Bestes reicht mir nicht. Ich verlange Perfektion. Ich verlange, dass der Plan reibungslos in die Tat umgesetzt wird. Wenn ihr versagt, werde ich persönlich dafür sorgen, dass die Dunkelschwingen vom Angesicht Andrals gefegt werden.«

Doch der Fremde schien von dieser Drohung kaum beeindruckt. Als er sprach, war seine Stimme fest, mit einem leicht spöttischen Unterton. »Keine Sorge, Magier, wir werden den Kontrakt erfüllen.«

Eine Pause entstand, in der keiner der beiden Männer etwas sagte. In der Stille hörte Zen hinter sich ein leises Trippeln. Etwas krabbelte flink über sein linkes Bein. Beinahe hätte er vor Schreck aufgeschrien, doch er konnte sich gerade noch die freie Hand vor den Mund pressen. Eine schwarze Ratte tauchte neben ihm auf. Jemand hatte etwas an ihrem Hals befestigt. Zen sah genauer hin.

Es war eine kleine Glocke.

Ehe er begreifen konnte, was vor sich ging, war die Ratte schon unter dem Türschlitz verschwunden. Dann erklang ein helles Klingen von der anderen Seite der Tür, das Zen das Blut in den Adern gefrieren ließ.

Zeit zu gehen!

Er rannte los, ohne sich umzugucken. Nur einen Atemzug später flog die Tür hinter ihm auf und Licht flutete die Treppe.

»Töte ihn!«, grollte Gallidos, doch Janus brauchte keine Aufforderung. Zen hörte bereits die Schritte seines Verfolgers hinter sich und musste sein ganzes Geschick aufbringen, um nicht zu stürzen.

Er sah gerade das Ende der Treppe vor sich, da spürte er einen Lufthauch an seinem linken Ohr und einen ziehenden Schmerz am Oberarm. Ein mühevoll zurückgehaltener Schmerzenslaut entrang sich seiner Kehle. Dann hörte er, wie etwas hinter ihm gegen den Stein prallte.

Er sprang die letzten Stufen hinunter, strauchelte und raste unkontrolliert auf die Wand gegenüber der Wendeltreppe zu. Im letzten Augenblick erinnerte er sich an den Bernstein in seiner Hand, sodass er sich nur erfolglos mit der freien Hand abfing, bevor er mit der Schulter gegen die Steinwand prallte.

Dumpfer Schmerz durchzuckte seinen Arm, doch er wandte sich sofort wieder um, griff nach seiner Magie und entfachte eine Flammenwand am unteren Ende der Treppe, die seinem Verfolger den Weg versperrte. Die Flammen brannten hell und warfen flackerndes Licht in den Gang.

In der Hoffnung, von Janus nicht gesehen worden zu sein, hastete Zen weiter. Er erreichte das Ende des Korridors und bog auf die Wendeltreppe ab, während er spürte, wie die Magie in Strömen aus seinem Körper floss. Hinter sich sah er noch immer die tanzenden Schatten an den Wänden.

Er rannte hinunter in den zweiten Stock und brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Er spürte, wie etwas Nasses an seinem Arm hinunter und auf seine Handfläche lief. Kurzerhand wischte er mit dem Ärmel seiner Robe über das dünne Rinnsal und wickelte den Arm danach in dem Stoff ein.

Dann hastete er weiter. An seiner Tür angelangt, schlüpfte er so leise wie möglich hinein und sackte dahinter zusammen. Erst jetzt brach er den Strom von Magie ab, der die Flammenwand aufrechterhielt.

Der Ärmel seiner Robe fühlte sich feucht und klebrig an, doch die Aufregung ließ ihn den Schmerz nicht spüren. Zen hatte keine Erfahrungen mit Wunden. Außerdem traute er sich nicht, eine Flamme zu erschaffen, um sie bei Licht genauer zu untersuchen. Bestimmt suchte dieser Janus noch nach ihm. Zen nahm die Kette seiner Mutter aus seiner schweißnassen Hand und hängte sie sich wieder um den Hals. Das vertraute Gefühl des Steins auf seiner Brust beruhigte ihn ein wenig.

Dann stand er auf und schlich auf Zehenspitzen zu seinem Nachttisch, auf dem eine Holzschüssel und ein mit Wasser gefüllter Tonkrug standen. Leise goss er eine kleine Pfütze in die Schüssel, zog seine Robe aus und riss ein Stück von ihr ab. Mit dem Stofffetzen wusch er vorsichtig seinen Arm.

Die Wunde brannte bei der Berührung. Er sog scharf die Luft ein. Als er begriff, dass der Schnitt nicht aufhörte zu bluten, versteckte er den nassen Stofffetzen in der ersten Schublade seiner Kommode, zog seine restlichen Gewänder bis auf die Unterwäsche aus und wickelte sich die Robe um den Arm.

Dann legte er sich ins Bett, den Blick starr auf die Schwärze gerichtet, die seine Tür verbarg, während Gedanken und Fragen durch seinen Kopf rasten. Angst hatte sich in seinem Körper eingenistet und er fühlte sich gelähmt, ob der Ungeheuerlichkeit des Gehörten.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Herz wieder in einen gemächlicheren Rhythmus überging. Obwohl sich sein Körper unter der Decke erwärmte, fiel das Zittern nicht von ihm ab. Sein Geist lechzte nach Erholung, aber er kam einfach nicht zur Ruhe. Er suchte Antworten auf die vielen Fragen in seinem Kopf und ersann nebenbei ständig weitere, die ihn vollkommen überforderten.

So angestrengt Zen auch nachdachte, fand er in dieser Nacht keine Antworten. Er lag zitternd in seinem Bett und fürchtete, was der nächste Tag bringen mochte.

Erst als die Morgendämmerung vor seinem kleinen Fenster heraufzog, fiel er in einen unruhigen Schlaf.

Kapitel 2

Hauptmann Thóran Leinenhand schleppte sich schlecht gelaunt den Wehrgang entlang. Wie jede Nacht, wenn sich seine Schicht dem Ende zuneigte, waren seine Glieder schwer und seine Augen müde. Zu allem Überfluss verspätete sich die Wachablöse schon wieder, die an seiner Stelle dem Wind und der Dunkelheit ausgesetzt sein sollte.

Thóran konnte sich den Namen des Mannes nicht merken, aber da sie noch nie miteinander gesprochen hatten, spielte das wohl kaum eine Rolle. Ihre Begegnungen beschränkten sich auf ein respektvolles Nicken, wenn sie aneinander vorbeigingen, wobei der Respekt auf Thórans Seite nur vorgetäuscht war.

Und sollte dieser Kerl sich nicht in Zukunft um Pünktlichkeit bemühen, könnte es Thóran durchaus gefallen, ihm einen ausführlichen Vortrag über militärisches Gehorsam und Respekt gegenüber Offizieren zu halten.

In Gedanken hatte er das Nicken sogar schon mehrfach durch einen schwungvollen Schlag auf die ohnehin schon krumme Nase des Mannes ersetzt, was ihm jedoch als Hauptmann im wahren Leben ausgesprochen schlecht zu Gesicht stehen würde.

Thóran blieb vor einer der Treppen stehen, die hinunter zum Hafenviertel von Ulerion führte, hängte seine Fackel in die dafür vorgesehene Halterung an der Wand des Wachturms und suchte mit verengten Augen die Straßen zu seinen Füßen ab. Er hatte noch nie wirklich scharfe Augen gehabt, aber es schien ihm, als nähme seine Sehleistung in den letzten Zyklen stetig weiter ab.

Die Gassen des Hafenviertels waren in dieser kalten Nacht menschenleer, und von seiner Ablöse fehlte weiterhin jede Spur. Lediglich ein streunender Hund, der wie ein geisterhafter Schemen von Schatten zu Schatten schlich, durchsuchte die Abfälle nach einem nächtlichen Happen.

Ein paar Lampen vor Bordellen und Schankstuben, die ihre unmittelbare Umgebung in flackerndes Licht tauchten und potenzieller Kundschaft den Weg wiesen, waren die einzige Beleuchtung. Doch in dieser Nacht lockten sie hauptsächlich Insekten an. Allen voran die behaarten Eisenmotten, die fast so groß waren wie Fledermäuse und mindestens genauso hässlich. Sie schwirrten geschäftig um die Lichter, als wären diese ihre persönlichen Gottheiten.

Von irgendwo unter ihm drang Stöhnen an Thórans Ohren, das eine Spur zu ekstatisch klang, um wahre Lust widerzuspiegeln. Trotzdem ließ es ihn an seine Frau denken, die wohlbehalten in ihrem gemeinsamen Bett schlief. Die Vorfreude, zu ihr unter die Laken zu kriechen und sich an ihren warmen Körper zu schmiegen, war das Einzige, das ihn durchhalten ließ.

Wie so häufig fragte er sich, warum sich überhaupt jemand die Mühe machen sollte, nachts auf dem Wehrgang zu patrouillieren und er sich noch dazu freiwillig für diese Aufgabe gemeldet hatte. Schließlich gab es keine Bedrohung für die Hauptstadt. Die Menschen von Ilwyss waren schon ewig unter einem König vereint und hatten die meisten Fehden untereinander beigelegt. Viel wichtiger war jedoch, dass sich die Tobor’ákin im Süden gegenseitig bekämpften.

Tatsächlich hatte es seit dem Sieg der Menschen über die Steinhäute vor elf Zyklen keine Angriffe mehr gegeben, und Thóran war darüber heilfroh. Schließlich konnte er sich noch viel zu lebhaft an die Zeit erinnern, in der er als junger Mann gegen die Tobor’ákin gekämpft hatte. Zwar hatte er weit weniger Schlachten geschlagen als die meisten anderen Soldaten, aber ihm kam es trotzdem wie ein Wunder vor, dass er und seine beiden Brüder mit dem Leben davongekommen waren.

Thóran warf einen neuerlichen Blick auf die Zeitkerze, die unter einer gläsernen Glocke in einer Nische des Wachturms herunterbrannte. Rötlicher Rauch kringelte sich aus der schmalen Öffnung an der Spitze der Glocke, der von dem Gemisch verschiedener Erze herrührte, die dem Wachs zugefügt wurden.

Die Wachablöse war bereits eine halbe Wachslänge zu spät und in Anbetracht von Thórans Rang, war das eine bodenlose Frechheit. Er überlegte kurz, ob er noch eine Runde drehen sollte, damit der Mann auf ihn warten musste. Aber ein Blick den Wehrgang entlang, der sich wie eine dicke Schlange um die Stadt wand, genügte, um ihn von dieser Idee abzubringen.

Stattdessen stützte er die Ellbogen auf eine der zum Meer gewandten Zinnen, um seine Beine zu entlasten. Zwanzig Schritt unter ihm schlugen Wellen gegen die Stadtmauer und verursachten ein beruhigendes Rauschen. Beim schwachen Licht des Halbmonds wirkten sie wie flüssige Tinte.

Thóran dachte darüber nach, wie er seine Ablöse in Zukunft zu mehr Pünktlichkeit bewegen konnte, während er schweigend auf das Meer hinausblickte. In der Ferne konnte er die Umrisse von Karth erkennen, die nachts wie tags bei vielen Bürgern der Stadt Unbehagen auslösten, ihn jedoch nicht weiter kümmerten.

Noch nie, seit er in Ulerion wohnte, hatte er gehört oder gesehen, wie jemand einen Fuß auf die Toteninsel gesetzt hatte. Selbst Schiffe umsegelten sie möglichst weiträumig, wenngleich Karth im Gegensatz zur Bucht nicht von gefährlichen Riffen umgeben war. Aber warum sollte auch irgendjemand die Insel betreten wollen? Dort gab es nichts, außer scharfkantigen Felsen und kargem Ödland. Und den Gräbern natürlich.

Auch Thóran kannte die Geschichte von Karth. Als kleine Jungen hatten er und seine Brüder häufig den Erzählungen ihres Großvaters gelauscht, der bis zu seinem Tod im Haus ihrer Eltern gelebt hatte. Thóran hatte die Geschichten geliebt, die stets von Krieg, Magie und großen Heldentaten gehandelt hatten. Die Ereignisse, von denen sein Großvater erzählte, wenn er in seine kratzige Decke gewickelt vor dem Feuer in der kleinen Stube saß, stammten aus einer Zeit, in der die Welt noch roh und brutal gewesen war.

Thórans Eltern waren nicht in der Lage gewesen die Begeisterung ihrer Söhne zu bremsen. Sie hatten sich zunächst über die Geschichten lustig gemacht, später die Köpfe geschüttelt und zuletzt versucht, sie als Märchen und Legenden abzutun. Sein Großvater hatte sich jedoch nicht beirren lassen, und Thóran erinnerte sich genau an seine Worte, obwohl sie schon so lange zurücklagen.

Diese Geschichten sind düster und grausam, aber gerade deswegen dürfen sie nie in Vergessenheit geraten. Wir müssen uns an die Tage der Finsternis und des Krieges erinnern, um zu verhindern, dass sie sich wiederholen.

Doch Thórans Großvater hätte im Machtgefüge von Ilwyss kaum von geringerer Bedeutung sein können, und so hatten sich die Schrecken der Vergangenheit wiederholt. Das Reich war auf den zweiten Einfall der Tobor’ákin und den darauf folgenden Krieg genauso wenig vorbereitet gewesen, wie auf den ersten. Hätte es mehr Großväter wie den seinen gegeben, hätte der zweite Krieg gegen die Steinhäute womöglich abgewendet werden können.

Man hätte ihre Flotte entdeckt, bevor sie damit über das Meer gekommen wären und das Massaker in Südwacht angerichtet hätten. Thóran hätte nicht in den Krieg ziehen müssen, um die Tobor’ákin zu bekämpfen und sie bis nach Serani zu verfolgen. Aber diese Ereignisse lagen nun bereits viele Zyklen zurück und waren nicht mehr rückgängig zu machen.

Thóran vernahm ein Geräusch hinter sich und wandte sich hastig um. Mit fünf großen Schritten überquerte er den Wehrgang und sah eine Wache durch eine nahegelegene Gasse schlendern. Das Scheppern ihrer Stiefel durchbrach die Stille unangebracht laut. Sie schien es keineswegs eilig zu haben, was Thóran wütend zur Kenntnis nahm.

Der Soldat erklomm die Treppe zum Wehrgang, grüßte ihn wie erwartet mit einem knappen Nicken und nahm wortlos an den Zinnen hinter ihm Aufstellung. Die kleinen Augen über der krummen Nase hatten ihn keines Blickes gewürdigt. »Ihr seid schon wieder zu spät«, sagte Thóran unfreundlich.

»Ach ja?«, fragte Krummnase, ohne sich umzudrehen.

»Ich bin es leid, immer auf Euch zu warten. Ich befehle Euch, von nun an pünktlich zur Wachablöse zu erscheinen. Ansonsten zwingt Ihr mich, disziplinarische Maßnahmen zu ergreifen!«

»Könnte nicht behaupten, dass mich das interessiert.«

Thóran verlor die Beherrschung. Er ging auf den Mann zu und riss ihn an der Schulter zu sich herum. Er überragte ihn um mindestens eine Haupteslänge, aber dieser schien sich davon nicht beeindrucken zu lassen.

»Vielleicht interessiert es Euch, dass ich Eurer Narbensammlung eine weitere Kerbe hinzufügen werde, solltet Ihr mich noch ein einziges Mal warten lassen.«

»Es ist nicht meine Schuld«, erwiderte Krummnase feixend. »Diese Hure konnte einfach nicht genug von mir bekommen.«

»Ich glaube, Ihr unterschätzt die Ernsthaftigkeit dieser Unterredung«, fauchte Thóran und drängte ihn gegen die Zinnen. Er roch Alkohol im Atem des Soldaten. »Ist Euch bewusst, welche Strafe auf Befehlsverweigerung und Trunkenheit während der Wache steht?«

»Ich glaube, Ihr überschätzt Eure Befehlsgewalt und die Wirkung Eurer Einschüchterungsversuche, Hauptmann.« Krummnase schubste Thóran mit beiden Armen von sich. »Ich komme und gehe, wie es mir beliebt, und es kümmert mich einen Dreck, wie lange Ihr wartet!«

Natürlich hätte es elegantere Lösungen für diesen Konflikt gegeben. Thóran hätte es bei seinem ausdrücklichen Befehl belassen können. Er hätte in Absprache mit der Wachführerin eine Reihe von Strafen über den Soldaten verhängen oder eine neue Zuteilung der Wachmannschaften veranlassen können. Er hätte einfach davongehen und zu seiner Frau ins Bett kriechen können. Aber in dieser Nacht schien es nur eine Antwort zu geben.

Thóran schlug Krummnase ansatzlos ins Gesicht, sah, wie dessen Kopf nach hinten geschleudert wurde und gegen eine der Zinnen prallte. Das Scheppern, das dessen Helm an dem soliden Steinquader verursachte, klang wie Musik in Thórans Ohren.

Er holte zu einem weiteren Schlag aus, doch Krummnase tauchte geistesgegenwärtig darunter hindurch und konterte mit einem Hieb gegen Thórans Kinn. Sein Kopf wurde zurückgeworfen und Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen. Bevor er sich wieder sammeln konnte, führte Krummnase mit seiner behandschuhten Faust einen gemeinen Schlag gegen seine Körpermitte. Obwohl sein Kettenhemd einen Teil der Wucht abfing, wurde ihm die Luft aus den Lungen gepresst, und er sank atemlos auf ein Knie, während sich sein Gegner vor ihm aufbaute.