Sturm & Sand - Kai Herrdum - E-Book

Sturm & Sand E-Book

Kai Herrdum

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Beschreibung

Das Königreich Ilwyss ist von Feinden umzingelt. Aus dem Süden strömen wilde Horden von Tobor’ákin ins Land. Im Nordosten treibt der verräterische Leiter der Feuergilde sein Unwesen. Und im Westen lauert der Schrecken der Toteninsel auf seine Gelegenheit, ins Reich der Menschen einzufallen. Nur wenige erahnen die drohenden Gefahren und leisten erbitterten Widerstand. So versucht Thóran die Hauptstadt mit aller Kraft vor dem Untergang zu bewahren, während Seido mit seinen Gefährten in die Wüste reist, um das größte Geheimnis der letzten Wacht aufzudecken. Zen kämpft noch immer für eine Rückkehr in seine Heimat, als er in den heraufziehenden Krieg verstrickt wird. Dabei beginnt er zu begreifen, dass die größte Gefahr für seine Freunde womöglich nicht von den Mächten des Bösen, sondern von dem roten Monster in seinem Inneren ausgeht.

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Sturm & Sand
Impressum
Andral
Ulerion
Was bisher geschah
Prolog
ERSTER TEIL
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
ZWEITER TEIL
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
DRITTER TEIL
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Personenverzeichnis

Kai Herrdum

Sturm & Sand

Die Andral Chroniken 2

Impressum

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.deabrufbar.

Print-ISBN: 978-3-96173-140-4

E-Book-ISBN: 978-3-96173-191-6

Copyright (2022) Eisermann Verlag

Covergestaltung: © Miriam Verlinden, Guter Punkt, München

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock und Getty Images

Buchsatz: Grit Richter, Eisermann Verlag

Kartenillustration: © Markus Weber, Guter Punkt, München

Lektorat: Bettina Dworatzek

Korrektorat: Daniela Höhne

Hergestellt in Bremen, Germany (EU)

Eisermann Verlag

ein IMPRINT der EISERMANN MEDIA GMBH

Gröpelinger Heerstr. 149

28237 Bremen

Alle Personen und Namen innerhalb dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Andral

Ulerion

Was bisher geschah

Zen befindet sich im letzten Lehrzyklus an der Feuergilde, als er ein nächtliches Gespräch zwischen seinem Gildenleiter Gallidos und einem furchteinflößenden Fremden belauscht. Als er versucht, etwas gegen die aufgedeckte Verschwörung zu unternehmen, muss er bald feststellen, dass er seinen Widersachern hoffnungslos unterlegen ist. Selbst mit der Hilfe seiner Freundin Nila und seines Mentors Asúrmin vermag er das Unheil nicht mehr von seiner Gilde abzuwenden. Am Ende bleibt ihm nur die Flucht aus seiner Heimat. Als wäre das nicht überfordernd genug, hetzt ihm Gallidos mit den Dunkelschwingen die tödlichsten Assassinen des gesamten Kontinents auf den Hals, deren Anführer Janus auf übernatürliche Weise mit Tieren in Verbindung steht. Ehe Zen sich versieht, spüren ihn seine Verfolger auf. Sein Tod scheint beschlossene Sache, doch dann wird er von der Kriegerin Shiva gerettet, die es alleine mit Janus und einem Dutzend seiner Mitstreiter aufnimmt. Als Zen ihr später von den Ereignissen an der Feuergilde berichtet und ihr seinen Plan verrät, bei der Wassergilde Unterstützung zu ersuchen, beschließt Shiva kurzerhand, ihn bei seinem Abenteuer zu begleiten.

Derweil entdeckt Hauptmann Thóran Leinenhand nächtliche Lichter auf der Toteninsel unweit von Ulerion, die schon bald die ganze Hauptstadt in Angst und Schrecken versetzen. Kurz darauf findet er sich in der Gegenwart der letzten Wacht wieder und wird in die Geheimnisse dieser uralten Bruderschaft eingeweiht. Großmeister Argon Treuschwur und Wachführerin Vika Feinklinge sind der Überzeugung, dass die Lichter die Rückkehr von Karthos ankündigen, der als mächtigster Magier aller Zeiten gilt und einst ganz Andral in den Krieg stürzte. Dafür spricht auch eine Mordreihe in und um Ulerion, die sie Karthos’ Dienern zuschreiben. Die Wissensverschlinger töten systematisch die letzten Mitglieder der Bruderschaft und vernichten jegliches Wissen darüber, wie Karthos vor fünfhundert Zyklen besiegt wurde. Gemeinsam mit Vika soll Thóran den Dienern des Feindes auf die Spur kommen.

Unweit dieser Ereignisse ist der Überlebende damit beschäftigt, auf den Straßen der Hauptstadt nicht zu verhungern. Nachdem ihn die Lichter auf der Toteninsel zunächst kalt lassen, warnt ihn seine Intuition zunehmend vor der heraufziehenden Gefahr und zwingt ihn zum Umdenken. Während er sich für den schlimmsten Fall wappnet und eine Fluchtroute plant, freundet er sich mit einer verkrüppelten Taube an und nimmt sie schließlich in seine Obhut.

Im Osten des Kontinents ahnt Seido nichts von den heraufziehenden Schrecken. Er ist wild entschlossen, seinen Einfluss zu mehren, um seine Nachfolge als Gildenleiter zu sichern. Als jüngster Wassermagier des dritten Grades seit zweihundert Zyklen verfügt er über große Macht und blickt auf eine Reihe erfolgreicher Aufträge zurück. Ein Dorf im Alleingang von einer Diebesbande zu befreien, empfindet er als angemessene Herausforderung. Es gelingt ihm zwar, doch trägt er eine tiefe Wunde am Bein und eine noch tiefere in seiner Selbstsicherheit davon. Der arrogante Magier stellt fest, dass ihm das Töten weit mehr zu schaffen macht als erwartet. Auf dem Rückweg zu seiner Gilde wird er von Einfall aufgelesen, der sich als fahrender Händler und Erfinder ausgibt. Sie machen einen kurzen Abstecher nach Kand, wo Seido einen Gefallen seines Weggefährten einlöst und seine Wunde von der Schmugglerin Aschenvogel versorgen lässt.

Auf seiner Reise ins Seenreich überredet Zen seine unverhoffte Weggefährtin zu einem Zwischenstopp in Frühesse, wo er vom Wachführer der Stadt hereingelegt wird. Als Kamon Starkarm versucht, ihn und Shiva festzunehmen, verliert der Lehrling die Beherrschung. Sein Zorn ist durch die Ereignisse an der Feuergilde aus tiefem Schlaf erwacht und bricht nun aus seiner Zelle tief in Zens Innerem aus, was die Friedfertigkeit des Feuerlehrlings vorübergehend in blinde Zerstörungswut verwandelt. Shiva kann Zen zwar davon abhalten, den Wachführer im Wahn umzubringen und ganz Frühesse zu verwüsten, fordert aber kurz darauf eine Erklärung für sein Verhalten. Daraufhin erzählt ihr Zen von seinem Vater und seinen Brüdern. Sie schrieben ihm die Schuld am Tod seiner Mutter zu, weil sie bei seiner Geburt verstarb. Seine Familie drangsalierte ihn seine gesamte Kindheit, bis sein angestauter Zorn erstmals aus ihm herausbrach und Rache am ältesten Bruder übte. Seit diesem Tag lebt Zen in der ständigen Angst, dass das Monster in seinem Inneren wieder an Kraft gewinnt und irgendwann gänzlich außer Kontrolle gerät. Dazu kommt es zwar vorerst nicht, doch werden Shiva und er erneut von den Dunkelschwingen aufgespürt, denen sie nach einer hektischen Verfolgungsjagd entkommen.

In Ulerion erfährt Thóran, dass Vika von Großmeister Argon nach Serani entsandt wird, um eine verschollene Schrift der letzten Wacht aufzuspüren und herauszufinden, wie die Bruderschaft Karthos einst besiegt hat. Während er der Wachführerin bei den Vorbereitungen für die Expedition in die Wüste zur Hand geht, wird die Beziehung zu seiner Frau Fara auf eine harte Probe gestellt. Sie fürchtet die Toteninsel so sehr, dass sie mit ihren beiden Töchtern aus Ulerion fliehen will. Thóran will die Stadt jedoch nicht im Stich lassen und sieht sich in der Pflicht, Vikas Nachfolge als Wachführer anzutreten. Während der Streit darüber zunehmend eskaliert, besetzen Vika und er die Posten des Übersetzers und Kundschafters notgedrungen mit Estári und Ilai, die zwar für den Erfolg der Reise unerlässlich sind, für derlei Gefahren jedoch äußerst ungeeignet erscheinen. Die Tatsache, dass der vorlaute Seraner seine Mitreise an die seiner drei seltsamen Gefährten knüpft, macht die Sache nicht besser. Zudem trifft Thóran noch ein doppelter Schicksalsschlag, als er in kurzer Aufeinanderfolge erst vom Verschwinden seines Bruders Valíth auf einer Erkundungsmission in Serani und von dem Überfall der Tobor’ákin auf die südliche Grenzmauer erfährt, bei dem sein zweiter Bruder Kailas den Tod findet. Während der folgenden durchzechten Nacht lernt Thóran den Überlebenden kennen. Der Bettler kommt ihm zwar bekannt vor, aber er kann die Erinnerung nicht zuordnen.

Seido trennt sich unweit der Wassergilde von Einfall und muss bei seiner Heimkehr erschrocken feststellen, dass der Gildenleiter und alle Magier ermordet wurden. Von der einstmals stolzen Institution sind nur eine Gruppe verstörter Lehrlinge geblieben. Somit liegt es an ihm, die Führung der Wassergilde zu übernehmen – eine Herausforderung, die ihn rasch an die Grenzen seiner Belastbarkeit treibt. Durch drei Briefe erfährt er von den Morden an der Feuergilde, dem bevorstehenden Krieg gegen die Steinhäute und den Ereignissen auf der Toteninsel. Er empfängt Zen und Shiva, kann ihnen jedoch keinerlei Unterstützung im Kampf gegen Gallidos und die Dunkelschwingen anbieten. Kurz darauf überlässt er die Führung der Gilde seinen Eltern und reist nach Ulerion, um den Gerüchten von Karthos’ Rückkehr persönlich nachzugehen. Dabei trifft er auf Vika und entschließt sich dazu, sie auf ihrer Mission zu begleiten.

Der Überlebende arbeitet derweil weiter an seinem Fluchtplan. Dafür entlockt er den beiden Stadtstreichern Kindlich und Tapp das Geheimnis, wie sie ihre Messer in die Stadt schmuggeln. Sie verwenden dafür einen Geheimgang, der unter dem nördlichen Wehrgang hindurchführt. Kindlich kennt diesen Weg noch aus seiner Zeit bei den Dunkelschwingen. Der Überlebende findet besagtes Haus, erfährt jedoch bei einem Gespräch mit einer alten Frau, dass seltsame Gestalten den Geheimgang seit einer Weile benutzen. Er bringt dieses Wissen in Zusammenhang mit den Morden in der Hauptstadt. Als er Thóran davon berichten will, wird er jedoch von einer Wache am Tor zum Stadtkern abgewiesen. Seine Taube wird von der Wache verletzt und verlässt den Überlebenden. Zuletzt kann er sie jedoch vor einem tödlichen Unfall bewahren und sie wieder in seine Obhut nehmen.

Nachdem Argon von den Wissensverschlingern ermordet wird, klärt Thóran das Verbrechen auf. Er findet Argons letzten Hinweis, den sich der Großmeister in die Handflächen geritzt hat. Dadurch erfährt er, dass Vika und er es bei Karthos’ Dienern mit Elfen zu tun haben. Als er kurz darauf vom Geheimgang der Dunkelschwingen erfährt und diesen aufspürt, findet er heraus, dass die Wissensverschlinger erneut ihr Unwesen in Ulerion treiben. Er spürt sie bei Vikas Haus auf und nimmt nach einer verlustreichen Verfolgungsjagd einen Elfen gefangen. Bei einem späteren Verhör erfährt er, dass Karthos’ Rückkehr tatsächlich bevorsteht. Zudem händigt er dem Überlebenden zum Dank für seine Mithilfe zwei Schlüssel aus. Einen für das Haus am nördlichen Wehrgang und einen weiteren für das Haus eines ermordeten Mitglieds der letzten Wacht.

Zen erfährt an der Wassergilde einige Hintergründe über Shiva, die ursprünglich von den Sturminseln stammt und als die letzte Überlebende ihres Volkes gilt, das einst von den Tobor’ákin ausgerottet wurde. Shiva schenkt ihm neue Hoffnung auf einen Sieg gegen Gallidos, als sie eine Reise zur Windgilde vorschlägt, um dort Unterstützung zu ersuchen. Kaum sind sie aufgebrochen, werden sie jedoch erneut von Janus’ Spähern aufgespürt. Anstatt wieder vor den Dunkelschwingen davonzulaufen, entscheidet sich Zen entgegen Shivas Rat zum Kampf, was zu einem tiefen Vertrauensbruch zwischen ihnen führt. Er stellt Janus eine Falle, gerät am Ende jedoch selbst in einen Hinterhalt, wodurch seine Weggefährtin schwer verwundet wird. Als er keinen Ausweg mehr sieht, überlässt er seinem Zorn die Kontrolle. Das Monster tötet die Dunkelschwingen, zieht sich jedoch wieder zurück, als es von Janus getäuscht wird und sein Ende kommen sieht. Zen gelingt es zwar mit letzter Kraft, den Anführer der Dunkelschwingen umzubringen, wird dabei jedoch ebenfalls schwer verletzt. Dennoch trägt er Shiva zu einem nahen Dorf, wo sie auf Aschenvogel treffen. Die Schmugglerin hat wenig Hoffnung für seine Gefährtin, versucht aber trotzdem, ihr Leben zu retten.

Prolog

Ihr Bruder war tot.

Er war allein gestorben. Weit ab von seinem Volk und seiner Heimat, aber nur einen Katzensprung von ihr entfernt.

Die Sonne lachte am endlosen blauen Himmel weit über dem endlosen blauen Meer. Sie lachte über die Ungerechtigkeit des Schicksals und über Nahriels Leid. Sie verbrannte ihre alabasterfarbene Haut und verlieh ihr ein heißes Gefühl der Lebendigkeit. Es trieb Nahriel Tränen in die Augen - halb Freude und halb Trauer. Denn während sie von der lachenden Sonne verspottet wurde und das Leben durch ihre Adern pulsierte, würde ihr Bruder nie wieder etwas spüren.

Sie erinnerte sich an einen ihrer Besuche im Hügelland, bei dem Sinaí ihr von seiner Freundschaft zu den Bürgern von Südwacht und deren abstrusen Vorstellungen erzählt hatte. Die Menschen glaubten, dass Elfen über Wasser laufen konnten. Sie glaubten, dass Elfen bei Nacht leuchteten. Und sie glaubten, dass die Haut von Elfen allen Elementen trotzte, sie weder Hitze noch Kälte spürten.

Darüber hatten Nahriel und ihr Bruder gelacht. Doch nun lachte nur noch die Sonne.

Nahriel bewegte das Ruder. Der Bug ihres kleinen Boots folgte dem Befehl und steuerte direkt auf die Insel zu. Wellen brandeten auf den weißen Strand - führten einen Ansturm bis unterhalb der Palmen und zogen sich wieder zurück. Hinter dem leblosen Weiß blühte ein dichtes Grün, das wie ein gewaltiger Organismus unter dem strammen Wind hin und her wogte. Im Westen stieg das Land an und endete in einer zackigen Bergspitze, aus der einst glühende Lava gesprudelt war und das Erscheinungsbild der Region maßgeblich geprägt hatte.

Dies war die größte der Sturminseln und Nahriels letzte Hoffnung. Wenn sie hier nicht fand, wonach sie suchte, würde sie sich der Ungewissheit ein für alle Mal geschlagen geben und nach Thármin zurückkehren.

Lange war sie davon ausgegangen, dass sie ihre Reisen in den Süden unternahm, um auf den Spuren ihres Bruders zu wandeln. Doch irgendwann hatte sie sich eingestehen müssen, dass dieser Pfad sie Zyklus für Zyklus im Kreis herumgeführt hatte. Also war sie auf einen anderen übergetreten, der den ihres Bruders nur an einer einzigen Stelle tangierte.

Shivas Pfad.

Der wahre Grund für Nahriels anhaltende Ruhelosigkeit war die Einsicht, dass er gestorben war, damit Shiva leben konnte.

Dass er gestorben war, um ein hilfloses Mädchen vor einer Horde Tobor’ákin zu retten. Ein Mädchen, das Nahriel bei sich aufgenommen hatte, als niemand sonst dazu bereit gewesen war. Ein Mädchen, das inzwischen zu einer jungen Frau herangewachsen und nicht mehr ganz so hilflos war. Eine junge Frau, die Nahriel für den Tod ihres Bruders verantwortlich machte, obwohl sie keine Schuld trug. Eine Menschenfrau, bei der Nahriel selbst nach Zyklen des Zusammenlebens nicht wusste, wie sie zu ihr stand.

Also war sie erneut in den Süden gereist, hatte ein Boot aus einem friedlichen Küstendorf entwendet und war in Shivas Heimat gesegelt. Zu einem Ort, der einst die Heimat eines ganzen Volks gewesen war, an das nunmehr heruntergekommene Hütten und vereinzelte Knochen erinnerten. Ihre Existenz war dem grauen Hunger zum Opfer gefallen wie zuvor schon Serani.

Nahriel reffte das Segel, band das Ruder fest und griff nach einem Paddel. Sie war in ihrem langen Leben vor dieser Reise noch nie zur See gefahren, doch sie hatte schnell Freude daran gefunden. Sie mochte das Gefühl, wie die feine Gischt ihr Gesicht benetzte, wie der Wind an ihren Kleidern zupfte und ihr die Haare ins Gesicht wehte. Das Boot tanzte wie ein übermütiges Kind auf den Wellen und brachte sie mit jedem Atemzug näher an ihr Ziel.

Kurz bevor der Bug den Strand berührte, sprang Nahriel mit einem Seil in der Hand ins knietiefe Wasser und schleppte das Boot an Land. Sie spürte auf Anhieb, dass diese Insel anders war als die vorherigen. Hier gab es Leben abseits der üblichen Vögel und Kleintiere.

Intelligentes Leben. Gefährliches Leben.

Nahriel nahm ihren Bogen zur Hand und zog die Sehne auf. Im Vergleich zu ihrem toten Bruder war sie im Umgang mit dieser Waffe eine Dilettantin, doch dafür hatte sie ihn im Nahkampf stets übertroffen. Die beiden dünnen Klingen an ihrem Gürtel waren eigens nach ihren Vorgaben von einem der begabtesten Elfenschmiede angefertigt worden.

Während sie einen Pfeil auflegte, blickte sie in das saftig grüne Dickicht hinter den Palmwedeln. Wie jeder Angehörige ihres Volkes besaß auch sie scharfe Augen, doch was immer in den Schatten lauerte, wusste sich zu verbergen. Ihr erster Impuls riet ihr umzukehren, aber sie war nicht den weiten Weg über das Meer gekommen, um vor einem Gefühl davonzulaufen.

Und war sie nicht sogar auf der Suche nach einer Ungereimtheit? Einer weittragenden Unstimmigkeit? Einer Anomalie im Weltgefüge?

Ja, das war sie.

Und wollte sie diese Ungereimtheit nicht auflösen? Wollte sie nicht versuchen, die Schlüsselfiguren aufzudecken? Eine Reinigung herbeizuführen, die ihre ungelösten Fragen in Antworten und ihre schlaflosen Nächte in Erholung verwandelte?

Doch, genau das wollte sie.

Sie fühlte sich beobachtet und spürte, dass etwas vor sich ging. Etwas, das mit dem Tod ihres Bruders und dem Leben der jungen Menschenfrau in ihrem Heim zusammenhing. Vielleicht hatte es mit dem Überfall auf die Sturminseln begonnen. Vielleicht erst mit dem Angriff auf Südwacht. Vielleicht aber auch schon sehr viel früher. So viel früher, dass es den Schatten der Vergangenheit wie einen Tarnumhang trug.

Nahriel war noch nicht weit gekommen, als sie eine Bewegung in ihrem Rücken herumfahren ließ. Zwei Gestalten traten gemessenen Schrittes auf den Strand und verharrten unweit ihres Segelboots. Sie waren hochgewachsen und trugen hauchdünne Kleider, die genügend Haut preisgaben, um jedem Menschen den Kopf zu verdrehen. Bei ihrem Volk war Nacktheit keine Besonderheit, wie Nahriel sehr genau wusste. Immerhin war sie selbst eine Elfe.

Sie festigte den Griff um ihren Bogen und musterte die beiden aufmerksam. Wenn einer von ihnen auch nur zuckte, würde sie ihre Waffen sprechen lassen. »Ynóras. Nihlae. Es ist lange her.«

»Nicht lange genug«, erwiderte Ynóras. Sein Gesicht war ausdruckslos. Eine Maske der Gleichgültigkeit, hinter der Nahriel lange gereiften Hass spürte. »Auch wenn dein unerwartetes Auftauchen uns von Nutzen sein könnte.«

»Indem ich euch von eurem traurigen Dasein erlöse?«, fragte sie schneidend und hob den Bogen, sodass die Pfeilspitze auf die Brust ihres Gegenübers zielte.

Ynóras hielt seinen eigenen Bogen weiterhin gesenkt, als stelle sie für ihn keine ernstzunehmende Bedrohung dar. »Ich finde deine Impulsivität erheiternd und bedauerlich zugleich.« Er bedachte erst die Pfeilspitze und dann sie mit einem abschätzigen Blick. »Du ähnelst deinem Bruder sehr.«

»Was wisst ihr über ihn?«

»Wir waren am Tag seines Todes zugegen«, antwortete Nihlae. Ihr Lächeln war makellos. Und es war kalt. Wie eine zu früh erblühte Blume, die vom Frost überrascht wird.

»Ihr habt ihn sterben sehen?«

»Ich habe ihm einen Pfeil in die Brust geschossen, sein Herz herausgeschnitten und es den Tobor’ákin zum Fraß vorgeworfen.«

Nahriel spannte die Bogensehne mit einer fließenden Bewegung und ließ den Pfeil fliegen. Das Geschoss überbrückte die Distanz zu Ynóras im Bruchteil eines Lidschlags, prallte mit einem hellen Klingen auf blanken Stahl und wirbelte davon. Ynóras stand regungslos da und begegnete ihrem Zorn mit gleichgültiger Miene.

»Deine Schießkunst ist fast so armselig wie ich sie in Erinnerung habe«, sagte Nihlae und ließ ihr Schwert sinken. Es zeigte nicht mal eine Kerbe an der Stelle, wo das Geschoss auf das Metall getroffen war. »Erkennst du es wieder?«

Ja, Nahriel kannte diese Klinge. Sie glich den beiden Schwertern an ihrer Hüfte bis aufs Haar. Drei Arbeiten des gleichen Schmieds. Zwei für sie selbst und eine als Geschenk für ihren Bruder. Ein Geschenk, das nun in den Händen seiner Mörder war.

»Du wirst an diesem Strand sterben«, sagte Ynóras. »Nur die Art und Weise deines Endes kannst du noch beeinflussen.«

»Glaubt ihr denn, ich ergebe mich euch kampflos? Dass ich meine Waffen einfach niederlege? Dass ich den Tod meines Bruders ungerächt lasse?« Sie schüttelte den Kopf und nockte demonstrativ einen neuen Pfeil auf die Sehne.

»Das hast du völlig falsch aufgefasst.« Nihlaes eiskaltes Lächeln wurde noch breiter. »Wir wollen sogar, dass du kämpfst. Nur nicht gegen uns.« Sie stieß einen gellenden Pfiff aus und sah zum Dickicht oberhalb des Strands.

Nahriel folgte ihrem Blick widerstrebend und rechnete mit einer List ihrer Feinde. Dann bemerkte sie eine Gestalt, die sich durch das Unterholz bewegte. Eine düstere Vorahnung beschlich sie und ließ sie den Bogen unvermittelt in Richtung Palmen schwenken.

Ein graues Wesen löste sich aus dem dichten Grün. Seine Haut wirkte wie rauer Fels. Sein Gesicht war eine hungrige Fratze mit einer flachen Nase in der Mitte. In den Händen trug es einen primitiven Holzspeer, der eine leichte Krümmung aufwies. Die Kreatur stieß ein Heulen aus, das weit über das Meer hallte und vom Wind davongetragen wurde.

Weitere Tobor’ákin traten aus den Schatten. Allesamt ungewöhnlich groß und breitschultrig für ihre Art. Alle nur mit einem Speer bewaffnet und einem Lendenschurz bekleidet.

»Sie sind erst zwei Zyklen alt und noch in der Ausbildung«, erklärte Ynóras. »Aber du wirst feststellen, dass sie ihren Verwandten aus der Wüste bereits jetzt weit überlegen sind.«

»Der Stärkste von ihnen wird eines Tages die Tobor’ákin zum dritten und letzten Mal vereinen und sie ins Reich der Menschen führen«, ergänzte Nihlae. »Du wirst uns bei der Auslese behilflich sein.«

»Ich werde erst sie umbringen und anschließend euch«, zischte Nahriel und spannte den Bogen.

»Das denke ich nicht«, gab Ynóras gelassen zurück. Er wandte sich den wartenden Tobor’ákin zu und stieß einen gutturalen Laut aus. Die Kreaturen stürmten los.

Nahriel schoss ihren Pfeil nach dem vordersten Angreifer, der den Oberkörper im Laufen geschmeidig zur Seite neigte. Das Geschoss verfehlte ihn und schlug mit einem Pochen in den Stamm einer Palme. Es war die einzige Warnung, die sie benötigte.

Sie riss einen weiteren Pfeil aus ihrem Köcher, wartete, bis der erste Gegner mit seinem Speer nach ihr stieß, und schoss ihm aus nächster Nähe ins Gesicht. Das Geschoss schlug ihm zwei Zähne aus, trat am Hinterkopf wieder aus und bespritzte einen nachfolgenden Tobor’ákin mit Blut.

Nahriel zog ihre Schwerter und sprang vor. Sie duckte sich unter einer Speerspitze hindurch, stach nach der Brust des Speerträgers und durchbohrte nichts als Luft. Doch sie hatte die Ausweichbewegung des Gegners vorhergesehen. Ihre zweite Klinge drang tief in seine Seite ein.

Ehe der Tobor’ákin reagieren konnte, schob sie den Körper in die Stoßrichtung eines weiteren Angreifers und zuckte vor der Speerspitze zurück, die jäh aus dem Bauch der toten Kreatur hervorbrach.

Sie riss ihre Klinge frei und durchbohrte das Herz des Kriegers, dessen Waffe in seinem Artgenossen feststeckte. Mit der anderen schlug sie einen Speer entzwei und fällte den dazugehörigen Feind in der gleichen Bewegung.

Dann löste sich Nahriel aus dem Knäuel von Gegnern und lief mit wirbelnden Schwertern über den Strand. Sie fand mühelos einen festen Stand auf dem schlüpfrigen Sand, doch auch ihre Feinde waren an den Untergrund gewöhnt. Der elfische Stahl enthauptete zwei Speere und verwandelte sie in harmlose Stöcke. Er trennte eine Klaue von einem Arm ab, der sich zu weit vorgewagt hatte. Und er verpasste einem grauen Bauch ein blutrotes Grinsen, aus dem Eingeweide wie Erbrochenes quollen.

Ein doch nicht ganz so harmloser Stock entging ihren Klingen, traf ihre Schulter und brachte sie für einen Herzschlag aus dem Gleichgewicht. Ein Speer schnellte auf sie zu und ließ sie zurückspringen. Doch vor einer Stangenwaffe nach hinten auszuweichen, besaß naturgemäß wenig Chance auf Erfolg. Die hölzerne Spitze riss ihre Haut auf und glitt an ihrem Brustkorb ab.

Nahriel biss die Zähne zusammen, wirbelte herum und führte ihre Klingen in einer schimmernden Bahn mit sich. Ihr Gegner riss seinen Speer zur Abwehr hoch. Er hätte ebenso gut versuchen können, ihren Stahl mit bloßer Willenskraft abzulenken. Blut spritzte auf, als das Scheusal zu Boden ging. Ihm fehlten der rechte Arm und die obere Hälfte seines Schädels.

Dahinter tauchte ein weiterer Tobor’ákin mit einem kopflosen Speer aus dem Gedränge auf. Nahriel erkannte gleich, dass diese Kreatur eine der gefährlichsten der ganzen Rotte war. Ihre Augen kündeten von einer animalischen Schläue. Dicke Muskelstränge zeichneten sich unter ihrer rissigen Haut ab.

Nahriel wirbelte Sand mit dem Fuß auf, aber falls die Körner in den Augen ihres Gegners brannten, kümmerte ihn das nicht. Sie stach nach ihm, duckte sich unter seinem Schlag hindurch und stach abermals zu. Der Tobor’ákin entging ihren Klingen nur um Haaresbreite, doch anstelle von Hektik lag Berechnung in seinen Bewegungen. Sie täuschte einen Angriff gegen seinen Kopf vor und stach nach seinem Knie, aber er durchschaute auch diese Finte und sprang leichtfüßig zurück.

Sie spürte eine Bewegung im Rücken und fuhr gerade rechtzeitig herum, um einen Speerstoß abzulenken. Sie hob ihr Schwert, um den Gegner für seinen hinterhältigen Angriff zu bestrafen, doch jemand packte ihr Handgelenk und hielt es fest. Der Tobor’ákin am Ende des Speers witterte seine Gelegenheit und holte erneut mit seiner Waffe aus, aber ihre zweite Klinge bohrte sich in seine Brust, ehe er zustoßen konnte.

Dann explodierten Schmerzen in ihrem Kopf. Sterne und Funken tanzten einen munteren Reigen vor ihren Augen. Sie versuchte, sich loszureißen, aber der Griff des Tobor’ákin in ihrem Rücken war unnachgiebig. Sie wirbelte herum und schlug mit ihrem Schwert zu, doch der Angriff war schwächlich und ohne jede Raffinesse. Er entging der funkelnden Schneide und schlug seinerseits zu.

Holz krachte in Nahriels Gesicht. Sie spürte ihre Nase brechen. Blut strömte über ihre Lippen und tropfte von ihrem Kinn. Die Kraft rann aus ihrem Körper. Ihr Widerstand erlahmte.

Der Tobor’ákin ließ sie zu Boden sinken und ging neben ihr in die Hocke, um ihre Arme fest in den Sand zu drücken. Seine Fratze schien neben dem allgegenwärtigen Hunger nun auch Genugtuung auszudrücken. Warmer Speichel tropfte aus seinem aufgerissenen Maul und benetzte ihren Haaransatz.

Zwei weitere Tobor’ákin kamen dazu. Anstatt mit ihren Speeren zuzustoßen, hielten sie Nahriels Beine fest. Sie bäumte sich auf und wand sich auf dem heißen Sand, ohne sich aus den Klauen befreien zu können. Jemand versuchte, ihr die Schwerter zu entreißen, doch sie umklammerte die Griffe krampfhaft. Erst als einer ihrer Finger mit einem Knacken brach, gab sie sich dem Unausweichlichen geschlagen.

Eine Welle kroch zu ihr hinauf, berührte die Fingerspitzen ihrer rechten Hand und zog sich wieder zurück, als könne sie das Bevorstehende nicht ertragen.

Ynóras ausdrucksloses Gesicht tauchte vor dem blauen Himmel auf. »Wie ich bereits sagte, kannst du auf die Art und Weise deines Endes Einfluss nehmen. Gib uns eine Auskunft und du stirbst durch das Schwert deines Bruders. Schnell und ehrenvoll, wie es einer Kriegerin gebührt. Ansonsten …« Er deutete vielsagend auf die grauen Kreaturen, die Nahriel gierig angafften.

Der Hunger auf ihren Zügen war elementar. Eine ungezügelte Naturgewalt.

»Es gab eine Zeit, da uns lediglich unsere Überzeugungen voneinander unterschieden«, sagte sie mit einer Mischung aus Zorn und Furcht. »Wir kämpften mit Hingabe auf verschiedenen Seiten eines Konflikts und doch bewahrten wir uns die Grundsätze unserer Kultur. Was ist bloß seitdem geschehen?«

»Wir ordneten sie der Rettung des Kontinents unter«, antwortete Nihlae anstelle ihres Bruders. Ein Hauch von Ärger hatte sich in ihre Stimme geschlichen. Ihr Lächeln war verschwunden. »Und jetzt entscheide endlich über dein Ende, bevor wir es tun.«

»Was kann ich schon wissen, das euch von Nutzen ist?«

»Du weißt, wo das Mädchen ist, für das dein Bruder einst sein Leben gab.« Ynóras Blick glitt in weite Ferne, als hätte er etwas Bedeutsames am Horizont ausgemacht. »Immerhin musst du es gewesen sein, die es einst im Wald bei Südwacht fand und vor den Tobor’ákin in Sicherheit brachte.«

»Was wollt ihr von ihr?«, fragte Nahriel überrascht.

»Sie umbringen natürlich.«

»Aber wieso? Sie ist doch nur ein Mensch.«

»Versuch nicht, uns zu täuschen. Du warst damals zugegen und hast es gesehen. Du musst die Zusammenhänge entschlüsselt haben.«

»Wobei soll ich -«, setzte Nahriel an, ehe eine nackte Fußsohle auf sie hinabfuhr und ihr schmerzhaft den Hals zudrückte.

»Keine Fragen mehr«, fauchte Nihlae. »Nur noch Antworten.«

»Ich werde euch nichts verraten«, krächzte Nahriel, der mehrere Dinge kurz hintereinander mit strahlender Präzision klar wurden, wie auf eine Kordel aufgefädelte Perlen.

Die wesentlichste Erkenntnis war die Unabwendbarkeit ihres herannahenden Todes und die zentrale Forderung war ein sinnvoller Einsatz ihrer letzten Atemzüge. Shiva bedeutete ihr nicht genug, um Erniedrigungen und Qualen zu ertragen, doch Sinaí hatte einst sein Leben für das Menschenkind gegeben und sein Opfer durfte nicht umsonst gewesen sein.

Um Ynóras und Nihlae irrezuführen, musste Nahriel Unnach-giebigkeit vortäuschen. Sie musste unvorstellbare Qualen in Kauf nehmen und sie so lange ertragen, bis ihr Einbrechen glaubhaft wirkte. Und dann musste sie die Wahrheit sagen und sie als Lüge verkaufen, weil ihre Peiniger zuerst mit einer Lüge rechneten. Einer Lüge, die Nahriel die Gnade eines schnellen Todes gewähren sollte. Eine Gnade, die ihr verwehrt bleiben würde.

Stattdessen würde sie abermals Qualen erdulden müssen, bis ihre Täuschung ausreichend Glaubwürdigkeit gewann. Und dann würde sie eine Lüge erzählen und sie als Wahrheit verkaufen, weil ihre Peiniger erst dann dafür bereit waren.

Also erwiderte sie Nihlaes Blick stur und schüttelte nachdrücklich den Kopf.

Ynóras trat seufzend zwei Schritte zurück. Dann gab er den Tobor’ákin einen knappen Befehl und verschwand aus Nahriels Blickfeld. Graue Fratzen nahmen seinen Platz ein und kamen näher. Auch die des großen Tobor’ákin, der ihre Arme festhielt. Trotz seiner animalischen Züge war ihm deutlich anzusehen, wie sehr er die Situation genoss. Ein langer Speichelfaden baumelte von seinem Kinn und pendelte im Wind. Aus den Fratzen wurden Mäuler und aus den Mäulern Zähne, bis die ganze Welt aus ihnen zu bestehen schien.

Dann drangen sie in Nahriel ein. In ihre Arme. In ihre Beine. Sie schrie auf - kreischte ihre Schmerzen und ihre Pein der lachenden Sonne entgegen. Die Zähne des großen Tobor’ákin kamen unaufhaltsam näher. Sie spürte seinen Atem auf ihrer Wange. Etwas Hartes strich beinahe zärtlich über ihre Haut.

Ynóras Stimme durchschnitt die Luft. Die Zähne zogen sich zurück, als gehörten sie einem einzigen folgsamen Wesen.

Der Schmerz blieb. Blut rann aus ihren Wunden und tränkte ihre Kleider. Eine neuerliche Welle kroch den Strand zu ihr hinauf und umspielte ihre Handfläche, aber es war nur ein geringer Trost für ihre Agonie.

»Wo ist sie?«, fragte Nihlae, deren makelloses Gesicht wieder zwischen den grauen Fratzen auftauchte.

»Sie ist in Thármin«, keuchte Nahriel und starrte ängstlich auf die blutverschmierten Mäuler der Tobor’ákin. »Unser Volk hat sie aufgenommen und zieht sie groß.«

»Das ist eine Lüge«, erwiderte Ynóras. »Niemals würden sie einen Menschen in ihrer Mitte dulden.«

»Und es ist nicht mehr unser Volk«, ergänzte Nihlae. Diesmal war sie es, die den Tobor’ákin mit einem gutturalen Laut den Befehl zum Fressen gab.

Erneut senkten sich Zähne auf Nahriel herab. Sie glaubte nicht, dass es zu ihren Schmerzen noch eine Steigerung gab, doch als ein Gebiss in ihre Fußsohle und ein anderes in ihre rechte Brust eindrang, wurde sie eines Besseren belehrt.

Ihr wurde schwarz vor Augen und sie hieß die nahende Ohnmacht wie einen alten Freund willkommen, auf den man viel zu lange gewartet hatte. Doch dann brandete die bislang größte Welle an den Strand. Sie schwappte über Nahriels Arm bis zu ihrem Halsansatz und riss sie rücksichtslos in die Wirklichkeit zurück.

Jetzt nahm sie die Schmerzen fast überdeutlich wahr, als würden diese ihren Ursprung direkt hinter ihren Augen nehmen. Panik ergriff sie und ließ ihren gesamten Körper erbeben. Sie versuchte, sich mit letzter Kraft loszureißen, doch alle ihre Bemühungen waren vergebens.

Die Zähne des großen Tobor’ákin schabten über ihren Wangenknochen. Blut und Tränen ließen ihren Blick wie unter einem roten Schleier verschwimmen. Die Scheusale zerrten und rissen an ihr. Sie war nichts weiter als Beute in den Fängen eines Rudels Raubtiere.

Sie fasste einen letzten klaren Gedanken. »Genug«, kreischte sie wie von Sinnen. Ihre Stimmbänder protestierten. Ihr Atem ging flach und ihr Herzschlag raste. »Genug!«

»Sag es uns«, erklang Nihlaes Stimme von irgendwoher.

»Ich habe sie zur letzten Wacht gebracht«, wimmerte Nahriel - zitternd und der Bewusstlosigkeit nahe. Ihr gemarterter Verstand förderte einen Namen aus den dunklen Tiefen ihrer Erinnerung zutage und spie ihn ihren Peinigern entgegen. »Zu Großmeister Argon Treuschwur in Ulerion.«

Ynóras und Nihlae schienen einen Blick zu wechseln, aber das konnte genauso gut eine Sinnestäuschung sein. Der Schmerz thronte jetzt über allem und verzerrte die Realität nach Belieben.

»Ich glaube dir«, sagte Ynóras milde.

»Dann töte mich! Bitte töte mich!«

»Nein«, entgegnete Nihlae. Ihr kaltes Lächeln war in ihrer Stimme zu hören. »Dein Bruder hat den letzten Trok’kar getötet und uns viele unnötige Mühen bereitet. Es erscheint nur gerecht, dass du an seiner Stelle dafür leidest.«

Die beiden hellen Flecken verschwanden aus dem Meer von Grau. Im Weggehen zischte Nihlae eine einzige Silbe.

Zum dritten Mal überkam Nahriel grenzenlose Qual. Doch diesmal hatte sie eine andere Qualität - ein anderes Temperament. Diesmal wurden die Tobor’ákin nicht durch die Absichten ihrer beiden Herren gezügelt. Diesmal gaben sie sich gänzlich ihrem Hunger hin.

Einer schnappte gnädigerweise nach Nahriels Kehle und riss sie auf. Selbst in ihrem Martyrium war ihr bewusst, dass es kein Akt der Gnade war. Die Kreatur war im Blutrausch und all ihre Gedanken hatten sich diesem unterworfen.

Eine wohltuende Taubheit breitete sich über Nahriel aus und spülte die Schmerzen aus ihrem Körper. Die Sonne lachte auf sie herab, als hätte diese längst gewusst, was dieser Tag für sie bereithalten würde.

Nahriels letzter Gedanke galt nicht ihrem Bruder, sondern Shiva. Selbst im Sterben wusste sie nicht, was sie für ihre Ziehtochter empfand. Sie hoffte nur, dass Shiva ihrem Leben einen tieferen Sinn geben konnte. Schließlich war kaum eines je durch so viel Leid und so große Opfer erkauft worden.

ERSTER TEIL

Kapitel 1

Zen saß an der Rückwand eines Hauses irgendwo an der Grenze zwischen Seenreich und Hügelland und starrte zu irgendwelchen Kindern am Waldrand hinüber. Ihr begeistertes Kreischen schallte unter der gleißenden Mittagssonne, ohne wirklich bis zu ihm vorzudringen. Er hatte sich an seinem üblichen Platz niedergelassen, konnte jedoch nicht sagen, wie und wann er dorthin gelangt war.

Sein Bewusstsein kroch mal hier und mal dorthin, ohne lange an ein und demselben Ort oder Gedanken zu verweilen. Überhaupt verschmolzen willentliche Prozesse mit unabsichtlichen Handlungen und stumpfen Gewohnheiten zu einer nebulösen Wolke, die ihn mit jedem weiteren Tag stärker vereinnahmte. Sein Leben schien die Gegenwart auszulassen und direkt in Erinnerung überzugehen, wobei ihm nicht klar war, ob es sich dabei um Fluch oder Segen handelte.

Menschen und Dinge wirklich und wahrhaftig wahrzunehmen, fiel seinem trägen Geist ausgesprochen schwer. Der Kosmos mit all seinen Sorgen und Gefahren war um ihn herum geschrumpft, bis er nur noch aus zwei Welten bestand: Der kleinen Welt draußen vor dem Haus, mit ihren immer gleichen Gesichtern, und der noch viel kleineren Welt in dessen Inneren, mit ihrer endlosen Trostlosigkeit.

Die Kinder am Waldrand spielten Fangen und hätten in ihrer ausgelassenen Freude kaum einen größeren Gegensatz zu seiner Stimmung ausstrahlen können. Das Spiel hieß roter Wolf und folgte einfachen Regeln. Der Fänger begann alleine und verwandelte alle Kinder, die er berührte, in weitere rote Wölfe. Es ging so lange weiter, bis alle Kinder verwandelt waren. Die Klügeren unter ihnen nutzten die Stämme und niedrigen Äste als Deckung, doch letztendlich fand das Spiel immer zum gleichen Ende.

Hier, dachte Zen verbittert, ist die Welt noch in Ordnung. Vielleicht war es der letzte Ort auf ganz Andral, von dem man das noch behaupten konnte. Die vielen schlechten Nachrichten, die sich seit Wochen wie eine Seuche im Seenreich ausbreiteten, ließen jedenfalls nichts anderes vermuten.

Ein Aufjaulen an Zens Seite riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Er bemerkte erschrocken, dass sich seine Hand im Fell seines Freunds festgekrallt hatte. »Entschuldige, Brôm«, murmelte er und blickte in die milchig trüben Augen des großen Hundes. Brôm war ebenso steinalt wie blind, doch das Spenden von Wärme und Nähe wurde durch keins von beidem beeinträchtigt. Aus unerklärlichen Gründen war er Zen seit dem ersten Tag in Grenzfeld nicht von der Seite gewichen und ihm längst ans Herz gewachsen.

Brôm hatte ihm bereits verziehen und bettete den Kopf erneut auf seinem linken Oberschenkel. Sein Freund hatte schnell gelernt, dass er auf dieser Seite mehr Zuwendung erwarten konnte als auf der anderen. Denn obwohl Zens rechte Hand allmählich verheilte, schmerzte sie noch immer bei manchen Bewegungen. Aber das war wohl auch nicht anders zu erwarten, wenn das Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger vor nicht allzu langer Zeit von einem Pfeil durchbohrt worden war. Laut Aschenvogel gab es keine bessere Stelle für eine Schusswunde in der Hand, was ihm jedoch nur ein geringer Trost war.

Das Gleiche galt auch für die anderen Verletzungen, die er aus dem Kampf bei Torns Zähnen davongetragen hatte. Ein durchstoßener Arm ohne gebrochenen Knochen, ein Schnitt auf der Wange, der sein Auge um Haaresbreite verfehlt hatte sowie ein weiterer auf der Brust, der von den Rippen abgeglitten war, ohne die darunter liegenden Organe zu verletzen. Allesamt glückliche Wunden, die dadurch jedoch nicht weniger Schmerzen verursacht hatten.

Sie würden mit der Zeit zu einer ansehnlichen Narbensammlung verblassen, aber es waren nicht Zens äußere Verletzungen, die ihm so sehr zusetzten. Es waren die nagenden Schuldgefühle, die ihn seit jenem Tag heimsuchten. Schließlich war er für das Gemetzel auf der Lichtung verantwortlich. Er hatte nicht nur sein Leben, sondern auch das von Shiva aufs Spiel gesetzt. Nur hatte sie mit ihren Wunden weitaus weniger Glück gehabt. Gar kein Glück, um genau zu sein.

Auch Janus’ Tod konnte Zen noch immer nicht das Gefühl vermitteln, einen Sieg errungen zu haben. Es hieß gemeinhin, dass alle großen Siege der Geschichte teuer erkauft werden mussten. Doch in diesem Fall war der Preis einfach zu hoch gewesen. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sich im Krieg nicht die meisten Sieger in Wahrheit wie Verlierer fühlten.

Ehe er sich wieder in dieser Fragestellung verlieren konnte, ließ ihn eine Bewegung aufblicken. Aschenvogel kam um die Ecke des Hauses geschlendert und lächelte ihr wölfisches Lächeln. Sie fasste ihre langen braunen Haare mit geübten Handgriffen zu einem Zopf zusammen, schnallte ihre Schwertscheide ab und ließ sich neben ihm an der Wand nieder. »Wie geht es dir?«

»Es ging mir schon besser«, antwortete Zen und kraulte Brôm hinter den Ohren. »Aber mein Freund versucht alles, um mich aufzumuntern.«

»Und du lebst noch«, ergänzte sie. »Das ist allemal mehr, als die Toten bei Torns Zähnen behaupten können. Ich habe mir mit ihren Gräbern zwar Mühe gegeben, aber dennoch würde jeder einzelne von ihnen sicher gerne mit dir tauschen.«

»Ja, ich lebe noch«, murmelte er und schluckte schwer. Die Erinnerungen an die verkohlten Überreste von Janus’ Doppelgängern bereiteten ihm noch immer großes Unbehagen. Und entgegen seiner Erwartung tat es nichts zur Sache, dass er ihr Begräbnis bezahlt hatte. Vielleicht würde er besser schlafen, wenn er auch Janus’ Leichnam begraben ließ, doch dazu konnte er sich einfach nicht durchringen.

»Du kannst wirklich von Glück reden, dass du nicht neben ihnen in der kalten Erde liegst. Ich habe in meinem Leben wahrlich genug Schlachtfelder gesehen, um die Glücklichen und die Glücklosen auseinanderhalten zu können.«

Und doch fühlt es sich nicht wie Glück an, dachte Zen und öffnete den Mund, um sich für das Gemetzel zu rechtfertigen. Er wollte die Umstände, unter denen er sich damals zum Kampf entschieden hatte, allesamt vor ihr ausbreiten. Er wollte ihr von seinem Zorn erzählen, der wie ein Dämon in ihm gewütet und all diesen Männern das Leben genommen hatte. Doch die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. »Hast du inzwischen alles besorgen können?«, fragte er stattdessen.

»Natürlich. Ich habe schließlich einen Ruf zu verlieren.«

»Auch ausreichend Vorräte? Ich tauge kaum zum Sammler und schon gar nicht zum Jäger.«

Aschenvogel warf ihm einen beleidigten Blick zu, der ihm als Antwort genügte.

»Und mein Angebot?«

»Ich denke noch darüber nach.« Sie wickelte sich eine ihrer langen Strähnen mehrfach um den Zeigefinger, als wolle sie Garn für ihre nächste Tunika spinnen. »Was wirst du jetzt tun?«

»Ich denke noch darüber nach«, log er und hielt den Blick starr auf Brôm gerichtet. Tatsächlich hatte er keinen Schimmer, was er jetzt tun sollte. Bisher hatte er sich auch noch nicht dazu durchringen können, ernsthafte Pläne zu schmieden. Er wollte einfach nur fort aus diesem Kaff, das über die Zeit zur Verkörperung seines Scheiterns und seiner Schmerzen gereift war. »Gibt es Neuigkeiten?«

»Du meinst außer den Tobor’ákin im westlichen Hügelland, den Gerüchten aus Ulerion und der schlechten Nachricht von der Leiterin der Luftgilde?«

Nun wandte er ihr doch sein Gesicht zu. Was sie darin sah, ließ sie zurückschrecken und abwehrend die Hände heben.

»Tut mir leid«, sagte sie beschwichtigend. »Ich neige zu Sarkasmus, wenn die Welt am Abgrund steht.«

»Schon gut«, gab er zurück und erhob sich. Er half Brôm auf die Beine, der kaum noch aus eigener Kraft aufstehen konnte. Wenn es ihm gelang, dann nur mit zitternden Hinterläufen, die unter ihm nachzugeben drohten. Ein Anblick, der Zen jedes Mal aufs Neue das Herz brach. »Ich möchte dir für alles danken.« Er streckte Aschenvogel seinen Arm entgegen, die sich lächelnd von ihm aufhelfen ließ. »Ohne deine Hilfe wäre ich gestorben.«

»Wer würde mich denn für meine Arbeit der letzten Wochen bezahlen, wenn ich dich hätte sterben lassen?«

»In diesem Fall hättest du dir das Gold, das du bei Torns Zähnen geborgen hast, einfach unter den Nagel reißen können, anstatt es mir ans Krankenbett zu bringen.«

»Vielleicht bin ich ja von deinem Tod ausgegangen und wollte nur den Schein einer anständigen Schmugglerin wahren. Es wäre nicht die erste Enttäuschung in meinem Leben.«

»An deinem Beruf und den Preisen für deine Arbeit ist überhaupt nichts anständig.« Doch er lächelte nun ebenfalls und störte sich nicht an dem fremden Gefühl auf seinen Lippen. Früher war es ihm einmal wohl vertraut gewesen, aber diese Zeit schien eine Ewigkeit zurückzuliegen.

Als er Brôm um das Haus herum folgte, fiel sein Blick auf eine Menschenansammlung vor einem Karren mit Ochsengespann. Die Versammelten standen dicht gedrängt, um ja kein einziges Wort des Priesters in seiner weiten Kutte zu verpassen. Nur wenige Schritte entfernt wurde ein Dutzend blökender Schafe von einem Bauern über den Dorfplatz getrieben und Zen fragte sich unwillkürlich, ob dieses Gleichnis nur für seine Augen bestimmt war.

»Whuust hat die Luft geschaffen, die jedes Neugeborene mit seinem ersten Atemzug aufsaugt und jeder Greis mit seinem letzten Atemzug aushaucht«, rief der Priester mit göttlichem Eifer in der Stimme. »Seine Gabe an die Welt war ebenso großherzig wie selbstlos und doch strafen ihn seine Kinder überall auf Andral mit Missachtung. Seine Liebe bleibt unerwünscht und unerwidert.«

»Es gibt wirklich nichts Erfrischenderes als das Geschwafel eines Jüngers von Whuust«, flüsterte Aschenvogel. »Da überkommt einen doch gleich der Wunsch, sich zurückzulehnen und all seine Sorgen in göttliche Hände zu legen.«

»Die Zeit der Besinnung und der Vergebung ist gekommen. Es ist die Zeit, da Whuusts Kinder sich aus den Schatten der Ungläubigkeit lösen, sich die Liebe ihres Vaters verdienen und in seinen Schoß zurückkehren. Die Zeit ist gekommen, da sie sich gegen alles Übel der Welt auflehnen und allen unwürdigen Geschöpfen Whuusts Geschenk entreißen.«

»Wenn mein Gelöbnis bei der Aufnahme in die Feuergilde mich nicht daran hindern würde, könnte ich glatt selbst in Versuchung geraten«, sagte Zen und sorgte sich über den unbestimmten Wahrheitsgehalt seiner Worte.

»Ich habe während des letzten Kriegs zu viele vergebliche Gebete gehört, um mich in die Klauen eines Gottes zu begeben. Ich vertraue im Leben nur auf zwei Dinge.« Sie tippte mit einer Hand an ihre Schwertscheide und klopfte mit der anderen auf ihre Börse, in der es verführerisch klimperte.

Das mit dem Vertrauen ist so eine Sache, dachte Zen trübsinnig. Ich habe Nila versprochen, dass alles gut wird. Ich habe Asúrmin zugesichert, Hilfe für unsere Heimat zu holen und Gallidos aufzuhalten. Und Shiva. Ihr Vertrauen war etwas ganz Besonderes. So kostbar wie das Leben eines Neugeborenen und genauso verletzlich. Ich habe es mit Füßen getreten und muss nun den Preis dafür zahlen.

»Wenn der Glaube den Menschen Hoffnung gibt, entsteht daraus niemandem ein Schaden«, sagte er abwesend.

»Außer denjenigen, deren Gebete unerhört und deren Hoffnungen unerfüllt bleiben«, bemerkte sie und wandte sich ab. »Du wirst meine Entscheidung bis heute Abend erhalten. Vielleicht weißt du ja bis dahin, was du mit ihr anzufangen gedenkst.«

Wohl kaum, dachte er und schottete seinen Geist gegen die vielen verzückten Gesichter in der Menge ab. Die Worte des Priesters würden Grenzfeld nicht davor bewahren, von den Tobor’ákin heimgesucht zu werden. Sie würden die Einwohner nicht vor dem Hunger und den Zähnen schützen.

Die Vernünftigen und die Vorausschauenden hatten längst die Flucht nach Norden ergriffen. Sie hatten ihre Habseligkeiten auf Karren geladen, ihr Vieh davor gespannt und waren in ein neues Leben aufgebrochen, das womöglich bald von ihrem alten eingeholt werden würde. In Grenzfeld verweilten vor allem die Unverzagten und die Unbelehrbaren, wobei sie bald genug Gesellschaft von einigen Bekehrten bekommen mochten. Dabei würde ihre Hoffnung mit jeder weiteren Predigt in dem Maße steigen, wie ihre Überlebenschancen sanken. Doch falls sie irgendwann dahinterkamen, würde es zu spät sein.

Zen beugte sich zu Brôm hinab und streichelte mit den Fingerspitzen über die wulstige Narbe in seinem Nacken. Sie stammte laut Marton von einem Kampf gegen ein Wolfsrudel, das es auf eine Schafsherde abgesehen gehabt hatte. Zwei von Brôms Geschwistern hatten damals ihr Leben gelassen und auch wenn Zens Freund nicht mehr viele Tage auf Andral blieben, hatte er ein besseres Ende als die Reißzähne der Steinhäute verdient.

Die Menge vor dem Karren löste sich rasch auf und Zen erblickte Marton, der in seine Richtung kam. Er mochte Brôms Besitzer und seine fünfköpfige Familie, aber im Augenblick konnte er keine Gesellschaft ertragen. Marton würde fragen, wann seine Familie wieder in ihr Haus zurückkehren konnte, das sie bereitwillig zwei todgeweihten Fremden überlassen hatte, und Zen wusste darauf keine Antwort. Irgendwie schienen ihm alle Antworten derzeit abhandengekommen zu sein, als wäre der dafür zuständige Teil seines Verstands in tiefen Schlaf versunken.

Also verschwand er durch die Tür und schob den Riegel vor, wobei er sich der Ungebührlichkeit seines Verhaltens vollauf bewusst war. Ein Seufzen entrang sich seiner Kehle, das sich in der leeren Stube erschreckend hilflos anhörte. Sein Blick fiel auf die offene Tür zum Schlafzimmer und seine Beine bewegten sich wie von selbst darauf zu.

Er fürchtete sich davor, den Raum zu betreten. Dieser hielt nichts außer weiteren Schmerz und weitere Schuldgefühle für ihn bereit. Gleichzeitig sehnte er sich nach dem Raum, als könne jedes neuerliche Betreten Geschehenes ungeschehen machen oder die Vergangenheit neu schreiben.

Rechts von der Tür stand das Bett, in dem er so viele Tage und Nächte gelegen hatte, während Aschenvogel seine Wunden versorgt und ihn gesund gepflegt hatte. Sein Blick glitt jedoch zu der Ruhestätte daneben und klammerte sich daran fest. Shivas Elfenschwert lehnte am Fußende und schien Melancholie in grauen Schlieren zu verströmen. Ein gleißender Lichtkegel fiel durch das Fenster und ließ Staub in der Luft tanzen - konnte dem Zimmer jedoch nicht die Kälte nehmen, die wie Gift in Zens müde Glieder kroch.

Er starrte lange auf das leere Bett, bevor er sich von dem Anblick losreißen konnte. Seine tauben Füße führten ihn zurück in die Stube, wo er sich mit einer Hand am Tisch abstützte und mit der anderen seine feuchten Augen bedeckte. Es war niemand hier, der ihn so hätte sehen können. Dennoch fühlte er sich eigentümlich verwundbar, als wären die Wände plötzlichen durchsichtig geworden, um der ganzen Welt seinen Kummer preiszugeben.

Vermutlich hätte er eine ganze Weile so dort gestanden, wenn nicht ein leises Keuchen an seine Ohren gedrungen wäre. Das Geräusch kam aus Martons Werkstatt, in der er seinem Handwerk als Goldschmied nachging. Das Herzstück bildete ein großer Schmelzofen, der noch Tage nach seiner Benutzung Wärme ins ganze Haus abstrahlte. Die Wände waren über und über mit verschiedenen Werkzeugen behangen, deren spezifische Funktionen sich Zen nicht erschlossen.

Aschenvogel hatte sie für Brôms Besitzer aus allen Teilen Andrals zusammengetragen, der im Gegenzug für sie gewisse Arbeiten erledigte. Zen wusste nicht, worum es sich dabei handelte, doch es war ihm auch herzlich gleichgültig. In einem anderen Teil von Andral hätte Marton vermutlich längst genug Vermögen angehäuft, um zu den Wohlhabenden zu gehören. Sein Heim in Grenzfeld war jedoch so schlicht wie das eines herkömmlichen Bauern.

Ohne lange nachzudenken, wischte Zen mit dem Hemdsärmel die Tränen aus seinem Gesicht und ging auf die Werkstatt zu. Mit der Hand auf der Klinke hielt er noch einmal kurz inne, um sich zu sammeln. Die vernarbte Haut auf seinem Handrücken wirkte im Halbdunkel so verletzlich, wie ein weißer Fischbauch. Sie schien eine zehrende Schwäche auszustrahlen, die seinen Körper und seinen Geist gleichermaßen erfasste. Ehe diese Schwäche ihm auch den letzten Rest seiner Willenskraft rauben konnte, drückte er die Klinke hinunter.

Inmitten des Raums stand Shiva.

Sie trug nur die dünnen Stoffwickel, die ihre Brüste und ihre Scham verdeckten. Ihre Hände umfassten den Griff eines schweren Zweihänders und ihr Körper glänzte vor Schweiß. Das schwarze Haar klebte strähnig in ihrem Gesicht, verlieh ihrer Erscheinung etwas unsagbar Gehetztes.

Der Pfeil in ihrer Seite hatte ihren Darm nicht aufgerissen und hatte auch keine Entzündung hervorgerufen. Stattdessen hatte er zwei Narben von der Größe eines Fingernagels und zwei faustgroße Blutergüsse als Andenken hinterlassen, die zunächst von Violett in Blau übergegangen waren und noch immer in einem matten Gelb blühten.

Ihr Körper war so ausgemergelt, dass ihre Rippen wie übergroße Skelettfinger unter der wächsernen Haut hervortraten. An ihrem Bein prangte eine großflächige Narbe, wo Aschenvogel das tote Gewebe entfernt hatte. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen und ließen kein Anzeichen des Strahlens erkennen, in das Zen sich gleich bei ihrer ersten Begegnung verliebt hatte. Doch das Schlimmste waren ihre einst so anmutigen und kraftstrotzenden Bewegungen, die nun von einem hässlichen Hinken entstellt wurden.

Hätte mein Zorn doch bloß unsere Ausrüstung verschont, durchzuckte es ihn zum hundertsten Mal und ließ ihn die Lippen schmerzhaft zusammenpressen. Selbst mit einer kleinen Menge der elfischen Heilsalbe sähen ihre Wunden weniger schlimm und meine Welt weit weniger düster aus.

Shiva wirkte derweil so sehr in ihre Kampfübungen vertieft, dass sie ihn gar nicht wahrzunehmen schien. Selbst als er den Raum betrat, hielt sie nicht in ihrem Treiben inne. Er bemerkte, dass sie bei jeder Belastung ihres schlimmen Beins ein schmerzgeplagtes Stöhnen zu unterdrücken versuchte. Dennoch dröhnte es in seinen Ohren und löschte jedes andere Geräusch aus.

Laut Aschenvogel mochte Shivas Bein eines Tages wieder ganz verheilen oder sie für immer zu einem Krüppel machen - das war nach einem Wundbrand einfach nicht zu sagen. Seit der ersten Nacht in Grenzfeld hatte seine Weggefährtin an einem schweren Fieber gelitten, das erst vor wenigen Tagen abgeklungen war. Noch konnte es jederzeit zurückkehren, um sein Werk zu vollenden.

»Du solltest im Bett bleiben, wenn du wieder ganz gesund werden willst«, sagte Zen und rieb sich unbehaglich den Nacken.

»Ich konnte nicht länger in diesem Zimmer bleiben«, entgegnete Shiva zwischen flachen Atemzügen. »Es stinkt nach Krankheit und Schwäche.«

»Wenn unsere Retterin wüsste, wozu du das Schwert verwenden würdest, hätte sie es uns niemals besorgt.«

»Sie weiß es aber nicht.«

»Du bist dem Tod gerade soeben entwischt«, mahnte er und konnte die Sorge nicht aus seiner Stimme heraushalten. »Wenn das Fieber zurückkehrt, wird er erneut nach dir greifen. Selbst Aschenvogel könnte dir dann nicht mehr helfen.«

»Wir haben ganz andere Sorgen als mein Fieber.« Sie stieß mit dem Schwert nach einem unsichtbaren Feind. Ihr Bein gab unter ihr nach und ließ sie auf ein Knie sinken. Sie stieß ein verärgertes Zischen aus und stemmte sich mit Hilfe der Waffe wieder hoch, bevor er sie erreichen konnte.

»Ich werde gegen die Tobor’ákin in den Krieg ziehen«, fauchte sie unvermittelt und durchbohrte ihn mit funkelnden Augen, die tief in seinem Inneren auf Resonanz stießen. Sein Zorn erwachte und frohlockte über die rohe Gewalt in ihrem Blick. »Und ich will, dass du mit mir kommst.«

Er blieb mitten im Raum stehen und wartete vergeblich auf eine Erklärung. Aber natürlich kannte er bereits alle relevanten Gründe. Shiva hatte kein Zuhause, zu dem sie zurückkehren konnte. Keine Freunde oder Familie. Die Tobor’ákin hatten ihre Eltern getötet und ihr Volk ausgerottet. Und nun, da sie erneut in Ilwyss eingefallen waren, bot sich Shiva endlich die Gelegenheit zur Rache.

Was ihre Forderung anbelangte, lagen die Dinge ebenso offensichtlich. Sie wusste um Zens Reue und seine magische Kraft. Ersteres eignete sich hervorragend, um das Zweite zu kontrollieren. Sie hatte etwas gut bei ihm und sie beide wussten das.

Auch war Zen derzeit völlig ziellos, wie er ihr in den vergangenen Tagen mehrfach offengelegt hatte. Die Nachricht von der Leiterin der Luftgilde hatte seine letzte Hoffnung auf magischen Beistand bei der Rückeroberung seiner Gilde zunichtegemacht. Gallidos hatte inzwischen längst all seine Pläne umsetzen können und Zen war nicht in der Lage, ihm alleine entgegenzutreten.

Also Krieg, dachte er, ohne dabei wirklich etwas zu empfinden. Ein gefundenes Fressen für meinen Zorn, der so vielleicht eine weitere Gelegenheit bekommt, die ganze Welt in Brand zu stecken. »Wann willst du aufbrechen?«, fragte er tonlos.

»Am liebsten noch heute!«

Du kannst dich kaum auf den Beinen halten, wollte er ihr entgegenschleudern, konnte die Worte aber gerade noch zurückhalten. Er kannte sie lange genug, um die Sinnlosigkeit von Widerspruch im Angesicht der Entschlossenheit auf ihren Zügen zu erkennen. Sie würde nicht ruhen, bis jeder Tobor’ákin nördlich der Wüste zerschmettert ihren blutigen Pfad säumte.

»Aschenvogel benötigt noch einen Tag, um Pferde für uns aufzutreiben«, log er und wandte sich von ihrem nahezu nackten Körper ab, dessen Anblick ihn einst vor Erregung zum Erröten gebracht hatte und ihm nunmehr das Gefühl vermittelte, einem einzigartigen Schmetterling die Flügel ausgerissen zu haben.

»Ich werde auf dem Weg in den Westen einen Kampfpartner brauchen«, sagte sie in seinem Rücken. Ihre Stimme klang herausfordernd und bereitete ihm eine Gänsehaut. »Mir gehen langsam die imaginären Gegner aus.«

»Ich hab da schon jemanden im Kopf«, erwiderte er und überließ sie dem stickigen Zwielicht der Werkstatt. Ehe er die Tür erreichte, hörte er sie wieder stöhnen und umschloss den Bernstein auf seiner Brust mit seiner gesunden Hand. In Gedanken flehte er das letzte Andenken an seine verstorbene Mutter um Shivas Genesung an. Gleichermaßen um seinet- wie um ihretwillen.

Kapitel 2

»Diese verfluchten Magier«, grollte König Hidóras und seine Stimme hallte wie Donner durch den Thronsaal.

Bis vor Kurzem war Thóran bei den königlichen Wutanfällen jedes Mal zusammengezuckt, doch er schien sich allmählich an sie zu gewöhnen. So wie er sich seit seiner Ernennung zum Wachführer Ulerions bereits an so vieles gewöhnt hatte. Der Tod seiner beiden Brüder gehörte ganz sicher nicht dazu, doch dies war der denkbar schlechteste Zeitpunkt zum Trauern.

»Wie konnten sich alle drei Gilden nur so überrumpeln lassen?«, fragte Hidóras an Oros Nirmhaut gewandt, als wäre der Abgesandte der Händler in irgendeiner Weise für die Magier zuständig.

Thóran hatte Bedenken, ob überrumpeln wirklich das richtige Wort für die Ermordung nahezu aller Magiern des Reiches war, aber er hütete sich davor, seinen Gedanken mit den Anwesenden zu teilen.

»Niemand hat es je gewagt, die Magiergilden direkt anzugreifen.« Oros Nirmhaut zuckte die Achseln. »Selbst ein Kind kann einem schlafenden Bären eine Klinge ins Herz stoßen.«

Obwohl Thóran es nicht für möglich gehalten hatte, verzog Hidóras die Mundwinkel noch weiter nach unten. Bevor der König jedoch zu einer bissigen Entgegnung ansetzen konnte, wurde er von einem Hustenanfall überrascht, der seinen ganzen Körper durchschüttelte.

Thóran fiel erneut auf, wie stark der Herrscher binnen der letzten Wochen an Gewicht verloren hatte. Bis vor Kurzem hätte sich eine Waage mit Hidóras auf der einen und Thórans ganzer Familie auf der anderen Seite sicherlich in Richtung des Königs geneigt. Inzwischen wirkte jedoch selbst Iffrath neben Hidóras wie ein Schwergewicht, obwohl der Abgesandte der Priester bestenfalls als dürr bezeichnet werden konnte.

Eine Krankheit zehrte den König allmählich auf und würde ihm eher früher als später den Tod bringen, wenn nicht bald ein Heilmittel gefunden wurde.

Oros Nirmhaut trat an Hidóras heran und füllte dessen goldenen Becher auf, ehe er wieder an seinen angestammten Platz an der Kopfseite des großen Kartentisches zurückkehrte. Dies wäre unter normalen Umständen die Aufgabe eines Dieners gewesen, aber die Ratssitzungen fanden inzwischen im Geheimen statt und schlossen selbst das königliche Personal aus.

Hidóras trank einen Schluck, zog die Nase hoch und spuckte Schleim in das dafür vorgesehene Tuch. Thóran fragte sich unvermittelt, ob die Heiler wohl später eine lebhafte Debatte über die Beschaffenheit dieses Schleims führen würden. Menge, Farbe und Konsistenz besaßen für sie vermutlich eine geradezu fatale Bedeutung, weil neben dem Leben des Herrschers auch ihre eigenen Zukunftsaussichten daran geknüpft waren.

»Ohne die Kampfkraft der Magier wird es ungleich schwieriger, die Steinhäute zu besiegen«, sprach Siegmar Krom das aus, was jeder im Thronsaal bereits wusste. Sein Gesichtsausdruck wirkte distanziert, als beträfe ihn der Ausgang des Kriegs überhaupt nicht. Vielleicht hatte er auch einfach entschieden, dass dieser Gesichtsausdruck seiner Position als Schatzkanzler am ehesten entsprach.

Dabei müsst Ihr innerlich doch Freudensprünge machen, dass die Magiergilden zerschlagen wurden, dachte Thóran übellaunig. Immerhin entlastet das die königliche Schatzkammer erheblich. Zudem habt Ihr Hidóras praktisch im Alleingang davon überzeugt, dass der Kronrat selbst in Kriegszeiten auf den Beistand eines Magiers verzichten kann.

»Was gibt es Neues von der Front?«, fragte Hidóras an Thóran gewandt und riss ihn aus seinen Gedanken. Alle Anwesenden beugten sich wie in Erwartung eines aufmunternden Kunststücks über den Kartentisch. Thóran gefiel die allgemeine Aufmerksamkeit nicht im Geringsten, aber als Wachführer der Hauptstadt war er gleichzeitig des Königs ranghöchster militärischer Berater und somit Hauptverantwortlicher für den Feldzug im Süden des Reiches. Nur war es weniger ein Feldzug als ein endloser Strom aus Schreckensmeldungen.

»Die Tobor’ákin haben unsere verbliebenen Streitkräfte in Rissheim eingekesselt«, sagte er und deutete überflüssigerweise auf den Haufen weißer Würfel, der sich seit Tagen nicht von der Stelle gerührt hatte. »Entgegen unserer Erwartungen hält sich der Feind jedoch mit einem Angriff auf die behelfsmäßig befestigte Stadt zurück. Stattdessen streifen kleinere Clans durch das Hügelland und das südliche Seenreich, wo sie schutzlose Dörfer überfallen. Uns erreichen täglich Berichte der Spähtrupps und Meldereiter, die sich nach Leibeskräften bemühen, den Tobor’ákin einen Schritt vorauszueilen und die Menschen auf der Flucht durch sicheres Terrain zu geleiten.«

»Warum greifen sie Rissheim nicht an?«, fragte Iffrath, der am Ärmel seines Priestergewands nestelte. Seit Wochen schien er es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, eine unangenehme Frage nach der anderen zu ersinnen. »Während keiner der beiden vorherigen Kriege haben die Steinhäute jemals eine Stadt belagert. Warum also fangen sie jetzt damit an?«

»Woher soll ich das wissen?«, fragte Thóran zurück. »Die Tobor’ákin mögen nach menschlichem Ermessen nichts weiter als geistlose Scheusale sein, aber sie haben uns in der Geschichte bereits mehrfach überrascht. Vor dem zweiten Krieg hatte schließlich auch niemand angenommen, dass sie in der Lage wären, eine Flotte zu bauen - oder überhaupt irgendein seetüchtiges Gefährt.«

»Schluss damit«, grollte Hidóras. »Uns fehlt die Zeit für derlei gehaltloses Geschwafel. Niemandem ist damit geholfen, wenn wir uns in Mutmaßungen und Eitelkeiten verstricken. Stattdessen brauchen wir eine Strategie zur Befreiung unserer Streitkräfte in Rissheim, um einen Vormarsch der Scheusale nach Ilwyss zu verhindern.«

»Die Einberufung hat noch keine schlagkräftige Streitmacht hervorgebracht, mit der wir uns ihnen entgegenstellen können.« Thóran deutete auf die vielen weißen Holzwürfel, die ungeordnet in den Dörfern und kleinen Städten im Osten und Norden Ulerions lagen. Selbst wenn man sie alle zu einem Haufen zusammengelegt hätte, würde dieser im Angesicht der vielen grauen Würfel wie ein Hügel am Fuße eines Berges wirken. Die meisten Grauen waren um Rissheim aufgetürmt, doch viele weitere lagen auch über das Hügelland und das Seenreich verstreut. Für ihn sah es aus, als wäre der gesamte Süden des Reiches an einem tödlichen Ausbruch der grauen Pocken erkrankt.

»Zudem kursieren Gerüchte von der Vernichtung der Magiergilden und den Lichtern auf Karth im ganzen Reich und schüren die Furcht der Bevölkerung«, ergänzte Oros. »Die meisten denken eher an eine Flucht nach Norden, als sich den Tobor’ákin im Kampf entgegenzustellen. Auch die Ausbildung und Ausrüstung der neuen Truppen gestaltet sich schleppend. Unsere Waffenkammern sind leer und es macht den Anschein, als hätten die Norgs über Zyklen nahezu alle Waffen der Schmieden von Ilwyss aufgekauft.«

»Wie ist das möglich?«, fragte Hidóras an Dorin Kaan gewandt. Der Abgesandte der Regenten hatte bislang noch kein Wort gesagt und schien auch auf diese Frage keine Antwort zu haben. Er machte lediglich ein verkniffenes Gesicht und hob hilflos die Hände. Thóran fand, dass von einem Adligen seiner ehrwürdigen Abstammung auch nichts anderes zu erwarten war.

»Sollen sich die Bauern doch mit Schaufeln und Mistgabeln in den Kampf stürzen«, meinte Siegmar Krom. Seine goldenen Ringe funkelten, während er den Rubin von der Größe eines Vogeleis an seiner Halskette befingerte.

Thóran wünschte sich, dass sich anstelle des riesigen Skeletts ein lebendiger Drache um die Säulen des Thronsaals schlängelte. Der Schädel mit den armlangen Zähnen lag jedenfalls nah genug am Schatzkanzler, um dessen abfällige Bemerkungen mit einem Biss für immer verstummen zu lassen.

»Ihr habt offensichtlich noch nie einer Steinhaut gegenübergestanden«, entgegnete er scharf. »Wenn Ihr die Männer ohne Ausrüstung und einen erfahrenen Befehlshaber gegen diesen Feind ins Feld schickt, könnt Ihr ihnen ebenso gut die Köpfe abschlagen und den Tobor’ákin zum Fraß vorwerfen.«

»Was schlagt Ihr vor?«, fragte Hidóras geradeheraus, nachdem er Siegmar mit einem Blick voll königlicher Verachtung gestraft hatte.

»Zunächst sollten wir unsere Truppen vereinen«, begann Thóran den Plan vorzutragen, der über die letzten Tage in ihm herangereift war. Er beugte sich über den Kartentisch und untermalte seine Worte, indem er die weißen Würfel auf dem Abbild von Andral positionierte und Marschbewegungen andeutete. »Die Kompanie aus Nordwacht wird spätestens in einer Woche vor den Toren der Hauptstadt eintreffen. Bis dahin bewaffnen wir möglichst viele der neuen Rekruten und stellen weitere fünfhundert Mann aus Ulerion bereit. Auch das Anwerben eines Söldnerheers könnte von großem Nutzen sein.«

»Wir dürfen die Streitkräfte auf dem Wehrgang nicht schwächen«, murmelte Iffrath, aber niemand schenkte seinem Einwand Beachtung.