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Ein fesselnder Plot, Charaktere mit Herz und viel Stuttgarter Lokalkolorit: der dritte Fall für Sebastian Franck. In einem Wald nahe Rottweil wird das Skelett einer jungen Frau gefunden, zusammen mit einer Prothese, die auf einen völlig anderen Fall verweist: Sie gehörte zu einem Münzhändler, der bei einem Raubüberfall vor über zehn Jahren ums Leben kam und dessen unvollständiger Leichnam im Stuttgarter Feuersee gefunden wurde. Sebastian Franck vom Stuttgarter LKA-Dezernat für ungeklärte Mordfälle kommt ein schockierender Verdacht – und er geht den längst vergangenen Ereignissen noch einmal auf den Grund.
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Seitenzahl: 412
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Thilo Scheurer, Jahrgang 1964, lebt und schreibt in einer Kleinstadt am Rande des Schwarzwalds. Er ist Mitinhaber eines kleinen Softwareunternehmens. Aus seiner Feder stammen mehrere Abenteuer- und Kriminalromane. Der Autor ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
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© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Klaus Scholz
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Lothar Strüh
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-559-6
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr. Michael Wenzel (www.editio-dialog.com).
Die Menschen häufen die Fehler ihres Lebens an und erschaffen darausdas Ungeheuer, das sie Schicksal nennen.
Aus dem Autoradio grölen die Sportfreunde Stiller. Mit den vier Jahreszahlen Vierundfünfzig, Vierundsiebzig, Neunzig, Zweitausendsechs reimen sie die Erwartung der Deutschen zur diesjährigen Fußballweltmeisterschaft zu einem eingängigen Liedtext.
Trotz der mondlosen Nacht fällt mir erst jetzt auf, dass ich vergessen habe, das Fahrlicht einzuschalten. Meine Hand zittert, als ich nach dem Schalter taste. Ich finde ihn, die Scheinwerfer flammen auf und tauchen den Feldweg vor mir in gleißendes Licht. Blut von meinen Händen klebt jetzt nicht nur am Lenkrad und am Schalthebel, sondern ich habe es auch über das Armaturenbrett verteilt. Kurz denke ich darüber nach, den Wagen in einem See verschwinden zu lassen. Sofort verwerfe ich den Gedanken wieder. Der Wagen mit seinen vielen Extras ist dafür zu schade.
Ich schalte einen Gang zurück, drücke das Gaspedal weiter durch, und für einen Moment taucht im Spiegel die schwarze Reisetasche auf dem Rücksitz auf. Ich werfe den Kopf in den Nacken und kann ein dröhnendes Lachen nicht zurückhalten. Das kleine Vermögen, das ich heute Abend gemacht habe, wird das Startkapital für mein neues Leben sein. Als Erstes werde ich diesen Scheißjob an den Nagel hängen und nur noch tun, wozu ich Lust habe. Und wenn ich mich nicht allzu blöd anstelle, kann ich mir bald schon ein eigenes Haus leisten, vielleicht sogar mit Swimmingpool wie die Stars in Hollywood. Ich beschleunige den Wagen weiter und spüre mit dem Rausch der Geschwindigkeit, wie das Hochgefühl des frühen Abends zurückkehrt.
Da fällt mein Blick auf das blutverschmierte Tuch in der Mittelkonsole. Dazwischen blitzt der Stahl der Messerklinge. Mit voller Wucht trete ich auf das Bremspedal, der Wagen schlingert auf dem losen Untergrund, kommt dann aber zum Stehen. Eine Staubwolke zieht an beiden Seitenscheiben vorbei und vereinigt sich im Licht der Scheinwerfer. Ich habe doch tatsächlich vergessen, das Messer in der Grube loszuwerden. Was alles muss an diesem verfluchten Abend noch schieflaufen?
Das verdammte Ding muss schleunigst verschwinden – für immer. Ich sehe in den Rückspiegel, dann in die Seitenspiegel. Schwärze, nichts als Schwärze bis auf die letzten Reste der Staubwolke im rötlichen Schein der Rücklichter. Womöglich ist es eine glückliche Fügung, dass ich mich nach der Abfahrt von der Autobahn in der Baustelle verfahren habe. Ich wickle das Tuch ganz um das Messer, öffne die Fahrertür und steige aus. Unerträglich laut piept der Warnton los.
Zwischen den Bäumen am Straßenrand finde ich schnell eine passende Stelle. Ich steche mit dem Spaten aus dem Wagen einen Block Lehm aus dem Boden und deponiere das Bündel mit dem Messer in der Vertiefung. Die verschließe ich wieder und stampfe die Erde fest. Gottverlassene Gegend – niemand wird es jemals hier finden.
Ich steige wieder ein, schlage die Tür zu. Der Warnton verstummt. In den letzten Refrain der Sportfreunde Stiller stimme ich mit ein, und das Gefühl, jetzt alles richtig gemacht zu haben, verstärkt sich. Endlich wird mein sorgenfreies Leben beginnen. Ich lege den Gang ein, fahre los und drücke das Gaspedal bis zum Anschlag durch.
Kaum Schauerneigung und bis zu zwanzig Grad lautete die Wettervorhersage für diesen Tag. Eine glatte Lüge. Schon seit dem frühen Morgen hielt sich zäher Nebel über der alten Reichsstadt. Und anstatt sich gegen Mittag aufzulösen wie vorhergesagt, wurde der Nebel immer dichter. Pünktlich zu Beginn des Einsatzes hatte es schließlich zu regnen begonnen. Zuerst nur ein Nieseln, sodass sich die nebelfeuchte Luft noch schwerer und nasser anfühlte. Dann immer heftiger. Und trotz des kühlen, böigen Windes, der noch zusätzlich Wasser von den Ästen herunterrieseln ließ, hielt sich der Nebel zäh zwischen den mächtigen Tannen.
Hauptkommissar Wolfgang Treidler hatte Mühe, seiner Kollegin Carina Melchior zu folgen, die auf dem steil ansteigenden Trampelpfad einen möglichst trockenen Weg durch das Unterholz suchte. Im Gegensatz zu ihm schaffte sie es immer wieder, den Pfützen und nassen Zweigen auszuweichen. Wohl auch deshalb hatte sich seine Jeanshose inzwischen bis zu den Oberschenkeln mit Wasser vollgesogen, und an den frisch geputzten Cowboystiefeln klebte zentimeterdick der Schlamm. Melchior hingegen schien wie immer für alle Eventualitäten gerüstet. Ihre gelben Gummistiefel reichten fast bis zu den Knien, und eine ebenso gelbe Öljacke mit Kapuze endete erst kurz oberhalb davon. Das alles hatte sie irgendwo in ihrem Auto verstaut. Vermutlich lagerte dort sogar Ausrüstung für die Apokalypse nach einem Kometeneinschlag.
»Skelettierter menschlicher Schädel gefunden«, so hatte vor knapp einer Stunde die Meldung einer Polizeistreife gelautet. Diesen hatten kurz zuvor zwei spielende Jungen im Alter von elf und zwölf Jahren im Wald entdeckt. Ziemlich aufgelöst waren sie auf die nahe Bundesstraße gerannt und der Besatzung eines Streifenwagens aufgefallen. Nachdem die Kinder die Polizisten zur Fundstelle geführt hatten, verständigten die sogleich ihre Kollegen von der Kriminalpolizei. Und seither blieb es auf den Funkfrequenzen nur selten länger als einige Sekunden stumm. Kein Wunder. Über ein Dutzend Beamte waren angerückt, um das Waldstück samt den Zufahrten zu sichern und es nach weiteren menschlichen Überresten zu durchsuchen.
»Scheißwetter«, fluchte Treidler und strich sich die Haare zurück. Wasser lief ihm in den Kragen.
»Sie sind falsch angezogen«, entgegnete Melchior, ohne ihr Tempo zu verlangsamen. »Haben Sie eigentlich keine anderen Schuhe?«
»Doch.«
»Und warum ziehen Sie die nicht an?«
»Ich wusste nicht, dass ich heute noch wegen eines Scheißschädels an einer Expedition durch den Regenwald teilnehmen muss. Dieses Ding geht uns garantiert nichts an«, brachte er hervor, ehe er Luft holen musste.
»Woher wollen Sie das wissen?«
Treidler blieb stehen, atmete ein weiteres Mal durch. »Es gibt keine offenen Vermisstenfälle in unserem Polizeibezirk.«
»Und wenn der Schädel zu einer vermissten Person aus einem anderen Bezirk gehört?« Melchior entfernte sich weiter. Das leuchtende Gelb ihrer Regenjacke verblasste im Nebel.
»Auch dann hätte man sich das dämliche Teil später anschauen können.«
Melchior blieb stehen, wandte sich um. Offenbar hatte sie bemerkt, dass er stehen geblieben war.
»Was?«
»Und Sie sollten mehr für Ihre Fitness tun.«
»Auf einer Skala von eins bis zehn liegt meine Fitness mindestens bei neun.«
»Für Ihre Fitness sollten Sie eine Skala mit negativen Werten in Erwägung ziehen.«
Lag da ein leichtes Grinsen um ihren Mund? Bevor er ihren Gesichtsausdruck im Nebel richtig deuten konnte, hatte sie schon auf dem Absatz kehrtgemacht und ging weiter.
»Und außerdem hab ich eine Abneigung gegen unnötige Wege«, rief er ihr nach.
»Ich weiß. Aber da müssen Sie jetzt durch.«
»Aber da müssen Sie jetzt durch«, äffte er sie nach.
»Das habe ich gehört, Treidler.«
Natürlich zählte ein menschlicher Schädel nicht zu der Art Fund, die man sich Tage später hätte anschauen können. Aber auf ein paar Stunden hin oder her, vorzugsweise nach dem Regen, wäre es nicht angekommen. Aller Voraussicht nach lag der Schädel nicht erst seit gestern da. Missmutig und immer noch knapp bei Atem setzte Treidler sich wieder in Bewegung.
Einige Minuten später verschwand Melchior hinter einer Kuppe, und er konnte das Ende des Anstiegs erkennen. Leises Stimmengewirr, noch gedämpft durch die üppige Vegetation, drang an sein Ohr. Mit jedem Schritt wurden die Stimmen lauter. Offenbar näherte er sich der Fundstelle. Oben angekommen, hielt Treidler inne, drückte den Rücken durch und wischte sich das Regenwasser-Schweiß-Gemisch aus der Stirn. Er fluchte.
Vor ihm lag eine dicht bewachsene, wellige Ebene. Riesige Tannen, hoch wie Kirchtürme, verdunkelten mit ihren ausladenden Ästen die Umgebung. Umhüllt von Nebelschwaden überwucherten mannshohe Farne und Büsche den Waldboden. Obwohl Treidler etliche Einsatzfahrzeuge auf dem Wanderparkplatz gesehen hatte, war er doch einigermaßen überrascht von den vielen Personen, die zwischen den Bäumen umherstreiften. Er machte eine Handvoll Kriminaltechniker in weißen Einwegoveralls und bestimmt noch mal so viele uniformierte Beamte aus.
Rot-weißes Flatterband umgab einen rechteckigen Bereich von der Größe eines halben Fußballfeldes. Wie eine unvollendete, gigantische Rohrleitung ragte inmitten der Absperrung ein umgestürzter Baum aus dem Dunst, dessen Wurzel gut und gern fünf Meter in die Höhe zeigte. An einigen Stellen überzogen Moos und Flechten seine Rinde, einem künstlichen Fell nicht unähnlich. Dort, wo die Wurzelstränge in den Stamm übergingen, lehnten einige windschiefe Bretterwände. Offensichtlich eine Art Baumhaus der beiden Jungen, die den Schädel entdeckt hatten. Direkt davor und im Vergleich zur riesigen Wurzel klein wie eine Hundehütte stand ein beiger Zeltpavillon, in dem sich Melchior mit einem Mann im weißen Einwegoverall unterhielt. Treidler erkannte Josef »Sepp« Dorfler, den Leiter der Kriminaltechnik Rottweil. Er hob das Flatterband an und stapfte quer durch das Unterholz auf den Zeltpavillon zu. Das nasse Gestrüpp, das bei jedem Schritt um seine Beine strich, verstärkte das Gefühl der Kälte weiter.
»Servus«, begrüßte Dorfler ihn.
Treidler trat unter das schützende Zeltdach. »Auch Servus«, gab er zwischen zwei Atemzügen zurück und deutete mit dem Kinn zum umgestürzten Baum. »Das ist ja ein verdammter Urwald.«
Statt auf seine Bemerkung einzugehen, musterte Dorfler ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen. »Ist Ihnen nicht wohl?«
»Wieso sollte mir nicht wohl sein?«
»Sie haben so ein knallrotes Gesicht.« Er strich sich mit der flachen Hand über seinen mächtigen Schnauzbart. »Sie sollten mehr für Ihre Fitness tun.«
Aus den Augenwinkeln sah Treidler, dass Melchior Mühe hatte, ein Schmunzeln zu unterdrücken.
Unbeirrt fuhr Dorfler fort. »Schauen Sie, ich gehe ja sehr oft wandern in Südtirol. Und die Alpen hab ich auch schon dreimal zu Fuß überquert. Bei dem Training macht so ein kleiner Anstieg überhaupt keine Mühe.«
»Ach, ist das so?« Treidler konnte nicht verhindern, dass sein Tonfall spöttisch klang.
»Warum denn so gereizt?«
Treidler betrachtete betont gelangweilt die Gegend. »Lohnt es sich wenigstens, dass ich die ›Mühe dieses kleinen Anstiegs‹ auf mich genommen habe?«
»Das kann ich jetzt noch nicht sagen.« Dorflers Ton wurde sachlicher. »Der Schädel liegt da.« Er deutete mit dem Daumen hinter sich zur Wurzel.
Treidler spähte in die angezeigte Richtung, sah aber nur zwei Personen in weißen Einwegoveralls, die auf dem Boden knieten.
»Wir müssen langsam vorgehen und den Schädel vorsichtig ausgraben. Es besteht die Möglichkeit, dass es noch andere Spuren gibt. Obwohl …«
»Obwohl was?«, fragte Melchior.
Dorfler wiegte den Kopf hin und her. »Obwohl der Schädel nun wirklich nicht so aussieht, als ob er erst seit Kurzem dort liegt. Er ist komplett skelettiert.«
»Womöglich sind wir ganz umsonst diesen verdammten Weg hier heraufmarschiert.« Treidler sah zu Melchior. »Wie alt ist das Ding denn nun?«
Zwei senkrechte Falten standen auf Dorflers Stirn. »Ein paar Jahre liegt er bestimmt schon in der Erde. Ich denke mal, zehn bis zwanzig.«
»Und wie sicher ist das?«
»Ziemlich sicher. Bei der Beschaffenheit des Bodens und der Oberfläche des Schädelknochens lässt sich das einigermaßen gut schätzen.«
Treidler nickte. »Gibt’s Spuren von Gewalteinwirkung?«
»Um dazu etwas zu sagen, ist es noch zu früh. Bisher konnten wir keine Einwirkung von Gewalt erkennen.«
»Wurde sonst noch was gefunden außer dem Schädel?«
Dörfler zögerte. »Vielleicht.«
»Vielleicht? Ich dachte eigentlich, dass diese Frage nur mit Ja oder Nein beantwortet werden kann.«
»Wir haben noch andere … Knochenfragmente gefunden.«
»Andere Knochenfragmente?« Melchior runzelte die Stirn. Sie schien nicht weniger verwirrt als er.
»Bis jetzt ist unklar, ob die menschlich sind, und wenn ja, ob sie dem Schädel zugeordnet werden können.«
»Diese anderen Fragmente, lagen die in der Nähe?« Treidler spähte erneut zu den beiden Kriminaltechnikern. Die hatten inzwischen Verstärkung durch einen dritten erhalten, dessen Gesichtsfarbe – weiß wie ein Fischbauch – sich kaum von der seines Overalls unterschied. Er hantierte mit einem Fotoapparat, und immer wieder flammte das Blitzlicht auf. Freilich war Treidler weiterhin der Meinung, dass sie hier draußen wenig ausrichten konnten. Aber zumindest einen Blick auf den Schädel sollte er werfen, bevor er zurück ins Büro ging. Falls es sich tatsächlich um einen Fall für das Kommissariat handelte, würden ihm sonst nur diese Aufnahmen bleiben.
»Nein, auf der rückwärtigen Seite des Baums. Aber das hat nichts zu bedeuten. Knochen können durch postmortalen Tierfraß in freiem Gelände oft weit, sogar sehr weit verteilt sein.« Dorfler räusperte sich. »Ich hatte vor einigen Jahren einen Fall«, erneut strich er sich mit der flachen Hand über seinen Schnauzbart, »da lagen die Knochen gut einen halben Kilometer voneinander entfernt. Wildschweine, Marder, Hunde, sogar Katzen graben und fressen …«
Treidler wandte sich in Richtung der Fundstelle ab. Nicht nur, weil er endlich den Schädel in Augenschein nehmen wollte, sondern weil Dorfler seine Schauergeschichten meist unnötig detailliert ausschmückte. Zu gut konnte er sich noch an dessen Erklärungen erinnern, welche Beziehungen zwischen Fliegenmaden und der Liegezeit einer Leiche bestünden. Glücklicherweise kam ein derartiger Zusammenhang bei Schädeln und Knochen nicht in Betracht.
Vor den Kriminaltechnikern entdeckte Treidler ein handballgroßes Etwas, das auf den ersten Blick aussah wie ein heller Stein. Hoch konzentriert gingen die Männer ihrer Arbeit nach und entfernten mit Plastikwerkzeug die Erde. Er ging ebenfalls in die Knie. Die typische Oberfläche, die Aussparungen für Augen und Nase, spätestens jedoch die bloßen Zähne bestätigten, dass vor ihm ein menschlicher Schädel lag, der ab dem Oberkiefer aus dem Waldboden ragte. Die beiden Jungen mussten panisch das Weite gesucht haben.
Aber warum hatte die Polizeistreife die beiden auf der Bundesstraße angetroffen? Die führte in einem Bogen nördlich des Waldstücks vorbei. Gab es noch einen anderen, womöglich kürzeren Weg aus dem Wald als über den Wanderparkplatz südlich von hier?
Trotz des Regens trat Treidler unter dem Pavillon hervor und umrundete den umgestürzten Baum. Nach dem Flatterband auf der anderen Seite stieg das Gelände leicht an. Er machte sich auf den Weg, die Anhöhe hinauf. Dahinter lichtete sich der Wald etwas, und einen Steinwurf entfernt führte tatsächlich eine kaum drei Meter breite, nur mit Gras überwachsene Furche nach Norden in Richtung Bundesstraße. Er marschierte weiter, ärgerte sich, dass sie nicht diesen Weg zum Fundort genommen hatten. Zumindest die nassen Hosenbeine und die verdreckten Schuhe wären ihm erspart geblieben.
Aus dem Grasbewuchs der Furche schälten sich allmählich zwei überwachsene Fahrrinnen heraus. Er stapfte entlang einer dieser Rinnen, immer drauf bedacht, den größten Pfützen auszuweichen, die sich darin gebildet hatten. Andere Geräusche drängten das Stimmengewirr hinter ihm zurück: Autos, schnell fahrende Autos. Die Bundesstraße konnte nicht mehr allzu weit entfernt sein. Schlamm und Morast wurden weniger, und einzelne Schottersteine schauten zwischen dem Moos und den Gräsern hervor. Hier musste es früher einen Feldweg oder eine Zufahrt für die Forstwirtschaft gegeben haben.
Die Bäume rückten weiter auseinander, ließen zögernd die Nebelschwaden los. Mit der besseren Sicht musste er seine Vermutung berichtigen. In rund zweihundert Metern Entfernung tauchte aus dem Dunst eine Wand aus dichtem Gebüsch auf. Dort schien der Weg auch zu enden. Keine Abzweigung weit und breit – eine Sackgasse. Schon wollte Treidler umkehren, als ein knallroter Fleck auf halber Höhe im Dickicht seine Aufmerksamkeit erregte. Er ging weiter, und mit den rasch anschwellenden Fahrgeräuschen wusste er, was sich direkt dahinter befand: die Bundesstraße. Und bei dem roten Fleck handelte es sich um eine Schildmütze. Er hatte die Stelle gefunden, wo die beiden Jungen auf die Straße gerannt waren, bevor die Polizeistreife sie aufgreifen konnte.
Treidler erreichte das Gebüsch. Rechts neben der Schildmütze gab es einen halbhohen Durchschlupf, vielleicht von Wildschweinen. Er bückte sich, schob ein paar Zweige beiseite und streckte den Kopf hindurch. Ein unbeschreibliches Getöse sprang förmlich auf ihn zu, dann ein Tuten, laut wie ein Schiffshorn. Er fuhr zusammen, zog schnell den Kopf zurück. Eine beträchtliche Menge Wasser ergoss sich über seine Haare und breitete sich im Hemdkragen weiter aus.
Einige Atemzüge später hatte sich sein Herzschlag wieder beruhigt. Ein weiteres Mal bückte er sich und spähte durch das Dickicht. Und diesmal erschrak er nicht, als ein dunkelroter Lastwagen gefolgt von einigen Autos vorbeischoss und eine haushohe Gischtwolke hinter sich herzog. Etwas oberhalb, in kaum einem Meter Entfernung, entdeckte er den verzinkten Stahl der Leitplankenrückseite. Und damit war auch klar, warum alle Einsatzfahrzeuge zum Wanderparkplatz beordert worden waren. Es gab keinen anderen Fahrweg zur Fundstelle. Hinzu kam, dass die Bundesstraße keine Möglichkeit bot, Fahrzeuge abzustellen, ohne ein mittleres Verkehrschaos auszulösen. Er nahm die rote Schildmütze mit einem Werbeaufdruck für »Rothaus Bier« an sich und machte sich auf den Rückweg.
Als Treidler wieder zur Fundstelle gelangte, erblickte er Melchior und Dorfler an der Stelle unter dem Zeltpavillon, an der sie schon gestanden hatten, als er losgegangen war. Sie starrten in die Gegend, als ob sie nach etwas Ausschau hielten. In Öljacke und Einwegoverall samt gleichfarbigen Kapuzen war die Ähnlichkeit mit einem gelben und einem weißen Gartenzwerg schwer zu leugnen. Es fehlten lediglich Schaufel oder Rechen über den Schultern.
»Da sind Sie ja endlich«, rief Melchior ihm entgegen, als sie ihn entdeckte. »Ich hab Sie überall gesucht.«
»Haben Sie mich schon vermisst?«
»Ich mach dann mal weiter«, sagte Dorfler und wandte sich der Fundstelle zu.
»Wo waren Sie?«, fragte Melchior.
»Dort oben.« Treidler deutete mit dem Daumen hinter sich.
Sie hob die Augenbrauen. »Das geht doch bestimmt etwas genauer.«
»Ich hab mir den Weg angeschaut, den die Jungs zur Bundesstraße gerannt sind.« Treidler hielt die Mütze hoch. »Die hier dürfte wohl einem der beiden gehören.«
»Ah«, erwiderte Melchior und gab sich keine Mühe, ihr Desinteresse zu verbergen. »Bringt uns das weiter?«
»So viel oder wenig wie alles andere hier draußen.« Außer klatschnassen Haaren und völlig durchnässter Kleidung hatte der Weg zur Fundstelle bisher nichts eingebracht. Treidler konnte seinen Frust nur schwer verbergen. »Oder haben die von der KTU neben dem Schädel und ein paar Knochen inzwischen was gefunden?«
Melchior schüttelte den Kopf.
Treidler zuckte mit den Schultern. »Wenigstens kriegt einer der Jungs seine Mütze wieder zurück.«
Ein durchdringender Pfiff schallte durch den Wald. Treidler fuhr herum. Dorfler stand bei der Fundstelle und winkte wild mit beiden Armen.
»Vielleicht haben wir jetzt doch mehr als die Mütze«, sagte Melchior und setzte sich in Bewegung.
Er folgte ihr, und noch bevor sie Dorfler erreicht hatten, hörte er ihn schon rufen: »Da drinnen liegt wohl ein ganzes Skelett!«
Treidler trat näher. Inzwischen hatten die Techniker mit ihren Plastikwerkzeugen ein rund ein mal zwei Meter großes Rechteck bis zu einer Tiefe von knapp zwanzig Zentimetern freigelegt. Der Schädel war komplett von Erde befreit. Etwas unterhalb davon und nur zum Teil ausgegraben, ragten jene Knochen aus dem Waldboden, auf die sich Dorflers Aussage stützte: Arme samt Hand- und Fingerknochen, Rippen, Becken, Oberschenkelknochen. Trotz aller Erwartungen ein doch erschreckender Anblick.
»Das hat fast schon was von Archäologie«, sagte einer der Techniker, ein jüngerer Mann, dessen gerötetes, kugelrundes Gesicht die Kapuze seines Einwegoveralls zu sprengen schien. Anders als bei seinen Kollegen stand die Kapuze am Kinn offen, und die Bändel hingen herunter. Treidler kannte den Mann nicht. Vermutlich ein neuer Mitarbeiter direkt von der Polizeihochschule.
Dorfler bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Was wollen Sie damit andeuten?«
Noch mehr Farbe trat in das Gesicht des jungen Mannes. »Dass wir es«, er begann zu stottern, »äh … mit einem Fund zu tun haben, der schon einige … Jahrhunderte hier liegen könnte.« Beim letzten Wort hob er die Stimme etwas an, sodass man seine Aussage auch als Frage verstehen konnte.
»Und in welchem Semester studieren Sie noch mal, Herr Mattheis?«
Mattheis’ Gesicht färbte sich jetzt dunkelrot, leuchtete wie eine rote Ampel unter seiner weißen Kapuze hervor. »Im vierten Semester.«
»Im vierten also.« Dorfler zupfte an seinem Schnauzbart, als ob er so den Wahrheitsgehalt dieser Antwort überprüfen könnte. »Hm.«
Mattheis’ Haltung versteifte sich weiter, als er Dorfler zunickte.
»Und im vierten Semester sind Sie schon so weit, dass Sie aufgrund des Skelettierungsfortschritts eine Aussage über die Liegedauer machen können?«
Es dauerte einige Sekunden, bis Mattheis reagierte und wie in Zeitlupe den Kopf schüttelte.
Ein zufriedenes Lächeln stahl sich auf Dorflers Gesicht. »Ich bleibe dabei: Schädel und Skelett liegen nicht länger als zwanzig Jahre hier.« Er sah in die Runde, bis sein Blick wieder an Mattheis hängen blieb. »Ohne Zweifel haben wir es hier mit einer vollständig abgeschlossenen Skelettierung zu tun. Aber von einem archäologischen Zeitraum kann natürlich nicht die Rede sein.«
»Es liegt am Boden«, entgegnete der Student schnell, und es war wohl erneut mehr als Frage denn als Feststellung gemeint.
»Richtig, Herr Mattheis. Die Skelettierungsdauer ist extrem umgebungsabhängig. Je lockerer und trockener der Boden ist, desto schneller geht das vonstatten. Von ein oder zwei Jahren in lockerer, trockener Erde bis hin zu mehreren Jahrzehnten in Lehmboden.«
Treidler kam der Fall einer Wachsleiche in den Sinn, die nach Jahrzehnten im Lehm noch fast gänzlich erhalten gewesen war.
Mattheis nickte. »Und hier haben wir es mit lockerem Waldboden zu tun. Also nach ein paar Jahren.«
»Erneut richtig.« Dorfler schien zufrieden mit der Aussage. »In unseren Breitengraden und in lockerem Waldboden zersetzt sich das Gewebe eines Körpers bereits nach wenigen Jahren. Haare, Fingernägel und Sehnen bleiben länger erhalten. Aber auch damit ist nach spätestens fünf Jahren Schluss, und nur noch das Knochengerüst des Körpers bleibt übrig.«
»Damit haben wir aber lediglich die Mindestliegezeit.« Treidler verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie kommen Sie dann auf zwanzig Jahre und nicht auf … was weiß ich … zweihundert?«
»Schauen Sie sich die Zähne an.« Vorsichtig ging Dorfler in die Knie und deutete auf den Oberkiefer. »Da sind deutlich die Farbunterschiede zum Knochen zu erkennen. Erst nach mehreren Jahrzehnten gleicht sich das an.« Er kam wieder hoch und rieb ein paarmal die Handflächen gegeneinander. »Aber Genaueres müssen die Rechtsmediziner klären. Und wie ich Dr. Karchenberg kenne, freut der sich bestimmt, Ihre Fragen nach Alter, Geschlecht und Todesursache zu beantworten. Und ich bleibe weiterhin dabei: Auf den ersten Blick gibt es keine Anzeichen für ein Gewaltverbrechen.«
»Gut.« Treidler nickte. »Warten wir Karchenbergs Bericht ab und entscheiden erst dann, ob diese Knochen ein Fall für uns sind. Ich denke, fürs Erste haben wir genug gesehen.«
Melchior rollte mit den Augen. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie so schnell wie möglich ins Trockene wollen?«
»Warum nicht? Hier gibt’s für uns eh nichts mehr zu tun.«
»Und die Identität des Toten?«
»Auch die werden wir heute hier draußen nicht mehr klären. Und falls es wider Erwarten doch noch was zu finden gibt«, er sah zu Dorfler, »die Kollegen von der KTU sind bestimmt noch ein Weilchen hier.«
Dorfler nickte.
»Dann zurück zum Wagen.« Schneller, als Treidler erhofft hatte, setzte Melchior sich in Bewegung. Offenbar hatte auch sie genug von der allgegenwärtigen Nässe. »Dort hab ich bestimmt auch ein Handtuch für Ihre Haare.«
Er folgte ihr den steilen Weg hinunter zum Wanderparkplatz. Inzwischen war der Untergrund derart glitschig, dass er bei jedem Schritt aufpassen musste, nicht auszurutschen.
Sie waren beinahe unten angekommen, als sich Treidlers Telefon in der Hosentasche bemerkbar machte. Er zog es heraus, und Dorflers Nummer leuchtete im Display.
Etwas verwundert und mit einem knappen »Ja« nahm er das Gespräch entgegen.
»Sie müssen unbedingt noch mal herkommen«, vernahm er Dorflers ungewohnt erregte Stimme aus dem Hörer.
»Warum das denn? Wir waren doch gerade oben.« Treidler empfand nicht die geringste Lust, diesen rutschigen Pfad ein weiteres Mal hinaufzusteigen. Ganz abgesehen davon, dass Nebel und Regen weiterhin die Wettervorhersage ignorierten. Und es deutete auch nichts darauf hin, dass sich daran bald etwas ändern würde.
»Ich weiß«, hörte er Dorfler sagen und spürte förmlich dessen Anspannung. »Aber wir haben da was gefunden, das Sie sich unbedingt anschauen müssen.«
Ein zweites Mal erklomm Treidler mit Melchior an diesem Nachmittag den steilen Pfad hinauf zur Fundstelle. Trotz Dorflers unüberhörbarer Erregung am Telefon verspürte er keinerlei Tatendrang, sondern fühlte sich eher wie nach einem zweiten Saunagang im Aquasol: ausgelaugt und durchnässt. Was für eine bescheuerte Idee, sich ein zweites Mal hier emporzuschleppen! Falls Dorfler nicht den Sinn des Lebens oder zumindest Gold gefunden hatte, konnte er sich auf etwas gefasst machen. Dieser verfluchte Schädel samt den anderen undefinierbaren Knochenfragmenten, die schon Jahrzehnte hier im Dreck lagen, interessierte Treidler einen Scheiß.
Als sie oben ankamen, sahen sie schon von Weitem Dorfler winken. Und zwar derart energisch, als ob er tatsächlich auf eine Goldader gestoßen wäre. Doch es gab noch etwas anderes, das Treidler auffiel. Das Stimmengewirr, das vorhin noch alle anderen Geräusche des Waldes übertönt hatte, war verstummt. Stattdessen vernahm er jetzt das Rascheln der Zweige und das Plätschern der Regentropfen. Nicht weit entfernt schrie ein Vogel, ein zweiter antwortete. Eigenartiger Ort, dachte Treidler. Eigentlich verhielten sich Vögel still, solange es regnete. Vielleicht war es aber nur ein Anzeichen, dass es bald aufhörte.
»Hier!« Laut wie Donner übertönte Dorflers Stimme den Vogeldialog. Immer noch mit einem Arm winkend, deutete er mit dem anderen auf den Waldboden direkt neben sich. »Das müssen Sie sich unbedingt anschauen.«
»Jaja.« Treidler versuchte, den Abstand zu Melchior nach dem Aufstieg schnell wieder zu verkürzen. »Was gibt’s denn so Wichtiges?«
»Mit den Schätzungen zur Liegezeit des Opfers lag ich nicht weit daneben«, sagte Dorfler nur wenig leiser. Bei ihm an der Fundstelle befanden sich inzwischen nicht nur drei Kriminaltechniker in weißen Overalls, sondern vier.
»Bitte sagen Sie mir jetzt, dass wir einen Anhaltspunkt für Ermittlungen haben!«, rief Treidler ihm entgegen.
Die beiden Vögel hatten aufgehört zu rufen. Womöglich hatten sie ihren Fehler bezüglich des Regens eingesehen.
»Das haben Sie garantiert.« Dorflers energisches Winken wollte nicht mehr aufhören.
Treidler beschleunigte seinen Schritt weiter. Warum nur war Dorfler so aufgeregt?
Um die Fundstelle herum tänzelte Fischbauch mit seinem Fotoapparat wie ein Paparazzo auf der Suche nach der besten Einstellung. Immer wieder flammte Blitzlicht auf. Im Takt dazu klackte der Verschluss seiner Kamera.
Treidler sah in die Grube, die zwar immer noch den gleichen Umfang aufwies, aber jetzt knapp einen halben Meter tief in den Boden reichte. Das Skelett war vollkommen freigelegt. Die gelblichen Knochen des Schädels, der Schulter, der Arme, des Brustkorbs und des Beckens zeichneten sich deutlich vom dunklen Waldboden ab. Im Gegensatz zum gut erhaltenen und zusammenhängenden oberen Teil des Skeletts war der untere Teil lose verteilt. Knochen in allen Größen und Formen lagen übereinander, durcheinander oder ragten nur halb aus der Erde. Treidler hätte nicht sagen können, ob sie zu den unteren Extremitäten gehörten, und wenn ja, ob die auch vollständig waren. Etwas jedoch, dazu reichten auch seine bescheidenen Anatomiekenntnisse aus, gehörte nicht dorthin: Inmitten des Knochenfeldes lag ein faustgroßes, chromglänzendes Stück Metall, das auf den ersten Blick aussah wie ein unförmiges Scharnier.
»Was ist das?«, fragte da Melchior, die inzwischen neben ihm in der Hocke saß.
»Eine Kniegelenksprothese«, antwortete Dorfler. »Oder, korrekt ausgedrückt, eine Knieendoprothese, da es ein Implantat ist und das Knie ganz oder teilweise ersetzt.«
Treidler kauerte sich ebenfalls hin. Erneut flammte Blitzlicht auf, diesmal direkt in sein Gesicht. »Hey, jetzt mach mal ’ne Pause«, rief er Fischbauch entgegen, »ich werde gleich blind.«
»Ich bin eh fertig«, sagte der und ließ die Kamera von seinem Hals baumeln. Gleichwohl machte er keinerlei Anstalten, seinen Platz vor der Grube aufzugeben, sondern starrte mit fasziniertem Schrecken hinein.
»Kann ich das Ding jetzt rausholen?«, fragte Melchior an Dorfler gewandt.
»Mit Handschuhen ja.«
Melchior kramte nacheinander in beiden Seitentaschen ihrer Öljacke, sah sich dann aber hilfesuchend zu Treidler um.
Der schüttelte den Kopf.
Melchior seufzte. »Wie konnte ich nur annehmen, dass Sie Handschuhe dabeihaben?« Erneut wandte sie sich an Dorfler. »Haben Sie welche für mich?«
»Aber klar doch.« Der zog ein paar Gummihandschuhe aus einer Seitentasche seines Overalls und gab sie Melchior.
Die blies in einen Handschuh hinein und streifte ihn über. »Warum ist das noch so gut erhalten?«
»Für Prothesen werden meist Legierungen aus Titan, Kobalt oder Chrom verwendet. Da rostet nix.« Dorfler fuhr sich mit der flachen Hand über seinen Schnauzbart. »Das Material übersteht sogar die hohen Temperaturen von Krematorien.«
Nachdem Melchior auch in den zweiten Handschuh gepustet hatte, zog sie ihn über und deutete hinunter auf die Prothese. »Müsste die nicht irgendwie mit den Ober- und Unterschenkelknochen verbunden sein?«
»Nach so vielen Jahren im Waldboden? Da wäre ich mir nicht mehr so sicher. Im Gegensatz zur Prothese verändern sich Knochen relativ schnell.«
Melchior beugte sich nach vorn und griff nach dem glänzenden Metallteil, das so gar nicht zu den gelblichen, brüchig wirkenden Knochen passen wollte. Sie zögerte kurz, zog dann aber die Prothese an einer bestimmt fünf Zentimeter langen Schraube aus dem Waldboden und betrachtete sie von allen Seiten.
»Und das Beste wissen Sie noch gar nicht.« Dorfler spähte auf die Prothese in Melchiors Händen. »Die Identifizierung des Toten dürfte jetzt einfacher werden.« Zweifellos hatte er seine Freude an dem unerwarteten Fund.
»Und warum?«, fragte Treidler. Bisher konnte er Dorflers Begeisterung nicht teilen.
»Seriennummer.« Dorfler grinste. »Jede Prothese hat eine. Wir müssen sie nur noch lesen können und den Hersteller ausfindig machen.«
Wenigstens ein Lichtblick an diesem Scheißtag, dachte Treidler. Das ersparte immerhin den Abgleich mit massenhaft Vermisstenfällen aus allen Bundesländern, womöglich noch aus der Schweiz und Frankreich. Auch wenn Karchenberg während der rechtsmedizinischen Untersuchung das Geschlecht und die genaue Liegezeit hätte bestimmen können, wären vermutlich immer noch Dutzende Fälle übrig geblieben.
»Und hier ist sie auch schon.« Melchior pustete etwas Erde beiseite und rieb mit dem Daumen daran. Sie legte den Kopf schief, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Es schien nicht zu helfen. Erneut rieb sie an derselben Stelle und las dann endlich eine zwölfstellige Nummer, gefolgt von den Buchstaben »BMS«, vor.
»BMS, das ist vermutlich das Kürzel des Herstellers«, sagte Dorfler und wandte sich mit einem Lächeln an Treidler. »Hat sich wohl gelohnt, dass Sie noch mal hier raufgekommen sind.«
Treidler nickte ergeben, obwohl er die Seriennummer ganz gewiss auch aus Karchenbergs Bericht hätte entnehmen können. Mit Widerwillen dachte er bereits an die rechtsmedizinische Untersuchung unter dessen Leitung. Auch die würde ihm nicht erspart bleiben, genauso wenig wie ein wissenschaftlicher Exkurs über irgendetwas, das außer Karchenberg niemanden interessierte.
Melchior kramte mit der freien Hand unter ihrer Öljacke, holte ihr Mobiltelefon hervor und fotografierte die Seriennummer ab. Sie streckte Dorfler die Prothese entgegen und verstaute das Telefon wieder. Mattheis, der Student aus dem vierten Semester, beeilte sich, seinem Chef den passenden Plastikbeutel für Beweismittel hinzuhalten. Fischbauchs Blitzlicht flammte ein paarmal auf, während Dorfler die Prothese eintütete und Mattheis sie in einer faltbaren Kunststoffbox hinter sich verschwinden ließ.
Gerade als Treidler wieder hochkommen wollte, bemerkte er ein helles Etwas, kaum größer als ein Fingernagel, das unter einem Knochen hervorragte. Er deutete darauf. »Und was ist das da?«
Einigermaßen erstaunt musterte Dorfler die Stelle. Er kniete sich hin, kniff die Augen zusammen und gab dann Fischbauch ein Zeichen. Nach einem kritischen Blick zu Treidler kam der näher, der Verschluss klackte, und Blitzlicht um Blitzlicht flammte auf.
Geduldig wartete Dorfler, bis nach einem guten Dutzend Aufnahmen offenbar alle notwendigen Perspektiven berücksichtigt worden waren. »Pinzette«, rief er dann und hielt die rechte Hand hoch.
Mattheis fühlte sich angesprochen, kramte in einem Kästchen neben der Plastikbox und drückte Dorfler Sekunden später tatsächlich eine Pinzette in die ausgestreckte Hand. Treidler kam sich vor wie in der entscheidenden Operationsszene einer amerikanischen Krankenhausserie. Dorfler der Arzt, Mattheis die Krankenschwester. Sogar die weiße Kleidung passte, es fehlte nur noch der Mundschutz.
Dorfler beugte sich nach vorn und griff mit der Pinzette nach dem hellen Farbtupfer. Langsam, als würde er einen Fremdkörper aus einem Glas Honig ziehen, förderte er einen vielleicht fünf Millimeter breiten, knittrigen Streifen von der Länge eines Streichholzes unter dem Knochen hervor. Er hielt ihn ins Licht, betrachtete erst die Vorderseite, dann die Rückseite. Treidler konnte sich keinen Reim darauf machen, was der Streifen des plastikähnlichen Materials einmal gewesen sein könnte.
Er musterte Dorfler. Zwei tiefe Falten standen zwischen seinen buschigen Augenbrauen. Auch er schien mit dem Streifen, der zwischen den Armen seiner Pinzette klemmte, nichts anfangen zu können.
»Ein Stück Plastik?« Melchiors Frage hörte sich mehr nach einer Feststellung an. »Und keinerlei persönliche Dinge? Merkwürdig.«
Wenig später und nach dem zweiten Abstieg an diesem Nachmittag saß Treidler mit einem pinkfarbenen Handtuch über dem Kopf in Melchiors VW-Passat-Dienstwagen und streckte beide Beine zur Beifahrertür hinaus. Während sie an der Heckklappe hantierte, streifte er den ersten Cowboystiefel ab und kippte ihn um, bis kein Wasser mehr heraustropfte. Er deponierte den Schuh im Fußraum und zog an der Socke, die, statt abzugehen, immer länger wurde. Letzten Endes schaffte er es doch und wrang auch hier bestimmt nochmals die gleiche Menge Wasser aus wie die, die sich schon im Schuh befunden hatte. Vermutlich waren auch deswegen seine Fußsohlen verschrumpelt wie nach längerem Aufenthalt in der Badewanne. Als er Socken und Stiefel schließlich wieder anhatte, kam ihm der Fuß nur unwesentlich trockener vor, dafür pappte alles aneinander. Missmutig wiederholte er die gesamte Prozedur am anderen Fuß.
Melchior kam um den Wagen herum und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Sie hatte inzwischen ihre Gummistiefel gegen ein paar Halbschuhe und die Öljacke gegen einen weinroten Blouson getauscht. Neidlos musste er anerkennen, dass sie offenbar alles richtig gemacht hatte. Haare und Kleidung waren vollkommen trocken.
»Wenn Sie Ihre Haare trocken haben, legen Sie bitte das Handtuch auf den Sitz.«
»Das ist doch nur Wasser«, gab Treidler mit einem Blick auf seine durchnässte Jeans zurück. »Das trocknet schnell wieder.«
Melchior warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wenn Sie sich gleich auf das Handtuch setzen, wird der Sitz nicht mal nass.«
Treidler rubbelte sich den Kopf. Er würde aussehen wie Struwwelpeter.
»So viele Haare sind das nun auch wieder nicht«, sagte Melchior. Seine Frisur schien sie zu amüsieren. »Können wir dann?« Sie steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
»Einen Moment noch.« Er stieg erneut aus und deponierte seine Lederjacke auf dem Rücksitz. Vollgesogen mit Wasser wog sie bestimmt das Doppelte. Er breitete das Handtuch auf dem Sitz aus, nahm wieder Platz und zog die Beifahrertür ins Schloss. »Gut so?«
Sie nickte.
»Dann kann’s losgehen.«
Melchior startete den Wagen und kurvte um die anderen Einsatzfahrzeuge auf dem Wanderparkplatz herum in Richtung Ausfahrt.
»Ich weiß nicht, was ich davon halten soll«, begann Melchior, als sie kurze Zeit später eine befestigte Straße erreicht hatten.
»So geht’s mir auch.« Treidler war sich nur bei einem sicher. Ob mit oder ohne Plastikstreifen: Sie hatten wohl einen neuen Fall auf dem Tisch.
»Merkwürdig ist, dass keine persönlichen Dinge gefunden wurden. Es müssten doch wenigstens Rückstände vorhanden sein.«
Ein Traktor mit Anhänger, groß wie ein Sattelschlepper, scherte vor ihnen ein und verteilte den Dreck von seinen monströsen Reifen in fächerartigen, schlammigen Fahrspuren auf dem Asphalt.
Melchior verlangsamte die Geschwindigkeit. »Mit Ausnahme einiger Sonderfälle kommt mir kein Szenario in den Sinn, wie ein Mensch selbstverschuldet zu Tode gekommen sein soll und die Leiche dann in der Erde verschwindet.«
Diesen Umstand hatte Treidler in seiner Gänze noch nicht berücksichtigt. Natürlich kannte er genügend Fälle, bei denen Leichen in der Erde aufgefunden wurden. Aber dabei handelte es sich um Verschüttete oder Opfer von Naturkatastrophen. Beides konnten sie hier wohl ausschließen. Und das wiederum bedeutete, dass das Opfer nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen, sondern bereits tot zum Fundort transportiert und dann vergraben worden war.
Treidler reckte den Kopf in Richtung Armaturenbrett und seufzte, als er die Tachonadel um die Zahl dreißig pendeln sah. Nein, er würde sich jetzt nicht aufregen. Er lehnte sich wieder zurück und sah zur beschlagenen Seitenscheibe hinaus.
»Lediglich eine Möglichkeit kommt mir da in den Sinn«, fuhr Melchior fort. Sie machte keinerlei Anstalten, den Traktor zu überholen, und tuckerte weiter in Schrittgeschwindigkeit hinterher. »Vielleicht ist er oder sie tatsächlich erst dort oben an einem Unfall gestorben, und sein Begleiter hat ihn danach vergraben.« Sie musterte ihn, sah kurz auf die Straße und schließlich wieder zu ihm. »Jetzt, Treidler, sagen Sie doch auch mal was.«
»Wollen Sie nicht mal überholen? Sonst hängen wir noch bis zum Polizeirevier hinter der Karre.« Er deutete auf den Traktor, der nur noch schemenhaft zu erkennen war. Der neblige Beschlag hatte inzwischen die gesamte Beifahrerscheibe und die rechte Hälfte der Frontscheibe überzogen.
»Ist das jetzt allen Ernstes Ihr Beitrag?«, fragte sie mit ungewohnter Schärfe.
»Beitrag zu was?« Treidler ließ das Fenster etwas herunter. Die Sicht wurde nur wenig besser.
»Zu meiner Hypothese, dass jemand das Opfer nach einem tödlichen Unfall vergraben hat.«
»Und aus welchem Grund sollte dieser Jemand das tun?«
Melchior zuckte mit den Schultern. »Vielleicht, weil ihm der Unfall nicht ungelegen kam oder er sich mitschuldig fühlte.«
»Blödsinn.« Treidler verzog das Gesicht und ließ die Seitenscheiben ganz hinunter. Kalte Luft strömte in den Innenraum.
»Ich gehe jede Wette ein«, fuhr Melchior fort, ohne auf seine Bemerkung einzugehen, »dass wir es mit einem Tötungsdelikt zu tun haben.« Sie sah kurz zur Seitenscheibe, dann wieder auf die Straße. »Auch wenn es bisher keine Spuren von Gewalteinwirkung gibt, könnte die rechtsmedizinische Untersuchung noch einiges ans Tageslicht bringen.«
»Gehen wir einfach mal von einem Tötungsdelikt aus.« Treidler betätigte den Fensterheber und sah der Scheibe zu, wie sie sich schloss. »Das legt nahe, dass dort oben nur der Fundort, nicht aber der Tatort liegt.«
»Daran hab ich auch schon gedacht.« Melchior setzte jetzt tatsächlich den Blinker, gab Gas. Sie zog am Traktor vorbei und scherte wieder ein. »Daraus folgt aber das nächste Problem für den Täter.«
»Und welches?«
»Wie hat der Täter die Leiche dort hochgeschleppt? Das ist ja nicht für jeden ein Spaziergang.« Wieder sah sie zu ihm, diesmal mit einem Grinsen im Gesicht. »Oder haben Sie etwa einen anderen Eindruck?«
»Schön, dass Sie sich amüsieren«, entgegnete er und gab sich keine Mühe, einen sarkastischen Unterton zu verbergen. Doch Melchior hatte zweifellos recht. Einen Körper dort hinaufzuschleppen, auch wenn der nur fünfzig Kilo wog, war ein schwieriges Unterfangen.
»Warum sind Sie denn gleich so eingeschnappt?«
»Ich bin nicht eingeschnappt.«
»Sagen Sie das mal Ihrem Gesicht.«
Treidler seufzte. »Ich lache später.«
Sie gelangten an eine Kreuzung und bogen auf die Bundesstraße Richtung Rottweil ein. »Ein Fahrzeug fällt auf diesem schmalen Pfad wohl ebenfalls aus. Oder haben Sie dort oben einen ausreichend breiten Weg gefunden?«
»Eigentlich nicht.«
»Eigentlich?«
»Ja. Es gibt keine Zufahrt. Auf der anderen Seite endet alles vor den Leitplanken der Bundesstraße. Und die liegt noch mal ein paar Meter oberhalb. Nicht mal mit einem Bergepanzer könnten Sie da hochfahren.«
An der Stadtgrenze nahm der Verkehr schnell zu, und schon an der ersten Ampel musste Melchior anhalten. Die Start-Stopp-Automatik schaltete den Motor ab. »Dann hab ich nur noch eine mögliche Hypothese.« Ihr ernster Blick mit der gerunzelten Stirn überraschte ihn.
»Ich höre.«
»Es müssen mehrere Personen gewesen sein, die den toten Körper an den Fundort transportiert haben.«
»Mehrere Täter? Sie meinen ein gemeinschaftliches Tötungsdelikt oder zumindest Mitwisserschaft?« Er schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Ihr Ernst.«
»Warum nicht?«
Treidler antwortete nicht, hätte aber auch nicht sagen können, warum er mehrere Täter ausschloss. Vielleicht war schon die pure Möglichkeit eines unentdeckten, jahrzehntealten Tötungsdelikts in Rottweil schwer zu akzeptieren, zumal es in den Jahren seither nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür gegeben hatte.
Zurück im Büro, verschwand Melchior schnurstracks hinter dem Monitor auf ihrem Schreibtisch und fuhr den Computer hoch. Sekunden später, er hatte noch nicht einmal seine Lederjacke aufgehängt, hörte er bereits ihre Tastatur klappern.
Treidler ließ sich ebenfalls auf seinen Schreibtischstuhl fallen und zog das zweite Mal an diesem Nachmittag seine Cowboystiefel aus. Er kramte in seinem Schreibtisch, fand eine Tageszeitung vom letzten Wochenende und stopfte das Papier in die Stiefel. Dort, wo er mit den Socken den Boden berührte, blieben feuchte Stellen zurück. Kein Wunder, sie waren immer noch klatschnass. Er streifte beide ab und deponierte sie so über dem Heizkörper, dass Melchior das Loch in der rechten Socke nicht sehen konnte. Er stellte die Stiefel davor und sah nach draußen in den trüben Tag. Noch immer hing der Nebel schwer wie eine Dunstglocke über den Dächern der Stadt. Der Regen jedoch hatte tatsächlich nachgelassen. Nur wenige Fußgänger huschten mit bunten Schirmen vorbei. Die beiden Vögel im Wald waren wohl nur etwas zu früh dran gewesen. So wie sie auch. Nicht das Geringste hätten sie verpasst, wenn sie erst jetzt, nach dem großen Regen, zum Fundort des Schädels gefahren wären.
Die nackten Füße klatschten auf dem Boden, als er zurück zum Schreibtisch marschierte. Er schob ein paar Aktenmappen beiseite, legte die Beine auf dem Schreibtisch ab und lehnte sich zurück.
Mit der Entspannung machte sich der Hunger breit. Zu allem Übel hatte dieser verdammte Schädel auch noch dafür gesorgt, dass das Mittagessen ausgefallen war. Treidler vertrug es nicht, eine Mahlzeit auszulassen. Er neigte in solchen Fällen dazu, gleichgültig und mürrisch zu werden. Mit einem Blick auf die Armbanduhr knurrte dann tatsächlich sein Magen. Kein Wunder, seit dem Frühstück waren sieben Stunden vergangen, und er hatte sich mehr angestrengt als normalerweise in Wochen. Wie viel Proviant musste ein Wanderer wie Dorfler bei seiner Alpenüberquerung wohl mitnehmen?
Ein kleiner Snack zur Überbrückung schien die Lösung. Erneut kramte er in seinem Schreibtisch, fand eine halb leere Packung Salzbrezeln und schob sich eine Handvoll davon in den Mund. Die eher weiche bis breiige Konsistenz der Brezeln war zwar gewöhnungsbedürftig, aber immerhin besser als ein knurrender Magen. Und das Haltbarkeitsdatum wurde eh überbewertet.
»BioMed Synthes«, hörte er Melchiors Stimme, als er sich die nächste Ladung Salzbrezeln hineinstopfte.
»BioMed …« Erst jetzt bemerkte Treidler, wie ihm das Sprechen mit den trockenen Salzbrezeln im Mund schwerfiel. Er schluckte. »… Synthes?«
»Ja, BMS, der Hersteller der Knieprothese.«
»Ah«, brachte Treidler heraus und schluckte dann den Rest der Salzbrezeln hinunter. Er spürte jeden einzelnen Krümel, wie er im Hals abwärts kratzte.
»Wir haben es mit einer Femur-Patella-Knieprothese zu tun.«
»Femur-Patella …«, wiederholte Treidler und registrierte, dass sich seine Stimme jetzt deutlich verständlicher anhörte. »Ist das wichtig?«
»Weiß ich noch nicht«, drang Melchiors Antwort hinter dem Monitor hervor. »Mobile Scheibe zementiert.«
»Mobile Scheibe zementiert, soso.«
»Das ›zementiert‹ könnte auch der Grund sein, warum die Prothese nicht mehr mit den Beinknochen verbunden gewesen ist. Meinen Sie nicht, Treidler?« Melchiors Kopf tauchte hinter dem Computermonitor auf. Als sie seine nackten Füße auf dem Schreibtisch bemerkte, runzelte sie die Stirn, fragte dann aber mit einem Schmunzeln im Gesicht: »Hoffen Sie, dass die so schneller trocknen?«
Er musterte seine Füße. »Jedenfalls sehen sie nicht mehr aus wie nach zwei Stunden Badewanne.«
»Ich ruf da mal an«, sagte Melchior und verschwand wieder hinter ihrem Monitor. »Die Firma ist ganz in der Nähe, in Tuttlingen.«
Treidler hörte, wie Melchior eine Telefonnummer wählte und ihren Namen sowie Dienststelle durchgab. Sie musste warten, wurde dann weiterverbunden.
Noch einmal stellte sie sich vor, gab den Grund ihres Anrufs durch und las anschließend die Seriennummer vom Display ihres Mobiltelefons ab. Eine ganze Weile hörte sie ihrem Gesprächspartner lediglich zu und machte sich nebenher Notizen. Mit unüberhörbar kühler Stimme verabschiedete sie sich schließlich und ließ den Telefonhörer etwas zu laut auf die Gabel fallen.
»Kein Erfolg?«, fragte Treidler.
»Keine Auskunft per Telefon.«
»Sie benötigen jetzt aber keinen Beschluss, oder?«
»Das nicht, aber die wollen etwas Schriftliches, Fax oder E-Mail.« Schon klapperte wieder ihre Tastatur.
Es sollte noch bis halb sechs an diesem Nachmittag dauern, bis Melchior eine Antwort auf ihre Anfrage bekam. Entsprechend erfreut verkündete sie: »Wir haben einen Namen.«
Treidler kratzte sich am Kinn, konnte ein zufriedenes Grinsen nicht zurückhalten. »Und ich dachte bisher, das würde heute ein Scheißtag werden.« Die Identifizierung schien tatsächlich abgeschlossen, noch bevor Karchenberg das Skelett überhaupt auf seinem Tisch liegen hatte. Vermutlich blieb Treidler jetzt sogar die rechtsmedizinische Untersuchung bei ihm erspart.
»Ein Mann. Heinrich Gerber, geboren am 18. April 1936 in Stuttgart. Letzte Adresse Gerokstraße 138.«
»Steht da auch, wann die Prothese implantiert wurde?«, fragte Treidler und kam von seinem Stuhl hoch.
»Ich habe nur das Datum der Auslieferung. Das war der 12. Februar 2004.«
»Dann lag Dorfler mit seiner Schätzung ziemlich gut. Es sind zwar keine zwanzig Jahre, aber maximal fünfzehn, die die Leiche dort gelegen haben könnte.« Treidler baute sich neben Melchiors Schreibtisch auf. »Zu dem Namen sollte es auch eine Vermisstenmeldung geben. Können Sie mal in POLAS schauen?«
Sie nickte und klickte mit der Maus auf dem Bildschirm herum. Die POLAS-Eingabemaske erschien, und Melchior gab den Namen »Heinrich Gerber« in das Suchfeld ein. Nach ein paar Sekunden blinkte der Cursor nicht mehr, stattdessen erschien der unterstrichene Link zu einer Datei oder einem Bericht.
Zufrieden mit dem Suchergebnis wechselten sie einen raschen Blick.
Melchior klickte auf den Link, worauf sich eine weitere Seite aufbaute. Sie begann zu lesen, und mit jeder Zeile schienen ihre Augen größer zu werden.
Noch konnte Treidler sich keinen Reim auf ihren Gesichtsausdruck machen. Er reckte den Hals, um einen Blick auf den Bildschirm zu erhaschen.
»Treidler«, sagte sie plötzlich in einem Tonfall, als hätte sie ein Gespenst gesehen. »Das kann nicht sein. Das kann verdammt noch mal nicht sein.«
»Was kann nicht sein?« Treidler kam jetzt ganz um den Schreibtisch herum.
Melchior schluckte, sah zu ihm, dann wieder auf den Bildschirm. »Es gibt schon eine Leiche zu diesem Heinrich Gerber.«
»Chef!«, rief Franziska Hegel, Kriminalassistentin im Stuttgarter LKA-Dezernat für ungeklärte Mordfälle. Sie hatte sich nach einem flüchtigen Klopfen an der Tür nicht lange mit Warten aufgehalten.
Sebastian Franck sah von der Aktenmappe auf. Franziska stand bereits mitten im Raum, komplett in Schwarz gekleidet. Als einziger Farbtupfer prangte ein roter »Slipknot«-Schriftzug auf ihrem T-Shirt. Und natürlich das farblich passende Strähnchen in den Haaren.
»Kommen Sie doch rein, Franzi.« Mit einiger Verwunderung musterte er ihre Plateauschuhe. Auf bestimmt zehn Zentimeter hohen Absätzen trat sie von einem Fuß auf den anderen und würde wohl dafür sorgen, dass er nicht mehr so schnell zum Weiterlesen kam. Dabei hatte er erst kürzlich zwei vielversprechende Fälle mit nahezu identischen Tatorten im Stuttgarter Norden ausgegraben; beides Tötungsdelikte an jungen Frauen. Allerdings erschöpften sich damit bereits die Gemeinsamkeiten. Die Tatzeiten lagen viele Jahre auseinander. Dennoch war Sebastian sich sicher, dass es eine Verbindung gab. Er wusste nur noch nicht, welche. Schweren Herzens legte er einen Zettel zwischen die Seiten und klappte den Aktendeckel zu. »Was gibt’s denn?«
»Boah«, rief sie noch lauter, und er konnte nicht sagen, ob ihr Gesicht Aufregung oder Betroffenheit ausdrückte.
»Boah ohne ›ey‹?« Sebastian wusste um ihre ausgefallene Sprache. Dass sie diese jedoch noch weiter abkürzte, kannte er bisher nicht. Aber vermutlich würden ihm die Feinheiten ihrer Ausdrucksweise ohnehin auf ewig verborgen bleiben.
»Das ist echt krass.« Sie schwang ihr schwarzes Notizbuch mit dem nur schwer lesbaren Aufdruck »Death Note«, und ein gutes Dutzend Kettchen um Hals und Handgelenke klimperten im Takt. Ihre sonst so blassen Wangen hatten eine leicht rosige Färbung angenommen. Neben dem nervösen Herumgezappel ein untrügliches Zeichen, dass sie auf etwas Außergewöhnliches gestoßen sein musste. »Das müssen Sie sich reinziehen, Chef.«
»Was muss ich mir ›reinziehen‹?«
»Dieser Alert, Sie wissen schon …«
Sebastian erwiderte nichts, ahnte jedoch bereits, dass es um eine Datenbankabfrage gehen musste. Vage konnte er sich an ihre Idee erinnern, Alarmfunktionen in den Systemen des Dezernats zu aktivieren.
Franziskas Worte sprudelten plötzlich aus ihr heraus. »Ich hab doch vor ein paar Wochen in unserem POLAS-System einen Alert aktiviert.«
»Eine Alarmfunktion. Und zu welchem Zweck?«
»Für nicht abgeschlossene Fälle, deren Tatzeitpunkt länger als zehn Jahre zurückliegt. Also …«, Franziska hielt inne und atmete durch, »Sie wissen schon … wenn eine Dienststelle in Baden-Württemberg eine Personensuchanfrage in POLAS durchführt …«
Sebastian horchte auf. »… die zu einer Tat in Bezug steht, deren Zeitpunkt vor mindestens zehn Jahren lag. Unsere Klientel sozusagen.«
»Sozusagen. Genau.« Sie lächelte und ließ das Piercing zwischen ihren Schneidezähnen aufblitzen.
»Von welchem Fall sprechen wir?«
Franziska klappte ihr Notizbuch auf. »Tötungsdelikt zum Nachteil von Heinrich Gerber, geboren am 18. April 1936, wohnhaft Gerokstraße 138, Stuttgart. Teile seiner Leiche wurden im Sommer 2006 aufgefunden.«
»Teile?«
»Ja, nur Teile. Die Leiche wurde zerstückelt, in Müllsäcke gepackt und in den Feuersee geworfen.« Nach einem weiteren kurzen Blick in ihre Notizen fuhr sie fort: »Zwei Müllsäcke mit Leichenteilen wurden damals aus dem Wasser gefischt. Von den unteren Extremitäten wurde bis heute nicht alles gefunden.«
»Ein dritter Müllsack?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Wer hat die Anfrage gestellt?«
Franziska blätterte in ihrem Notizbuch. »KHK Carina Melchior, Polizeirevier Rottweil.«
»Polizeirevier Rottweil … interessant«, sagte er mehr zu sich selbst. »Der Feuersee liegt doch hier in Stuttgart und nicht in Rottweil?«
»Richtig. Sogar mitten in der Stadt. Aber das ist eher ein großer Tümpel.«
»Und wo war der Tatort?«
Diesmal sah Franziska nicht in ihr Notizbuch. »Das Kaminzimmer in der Villa des Opfers, hier in Stuttgart.«
Das passte nicht zusammen. »Sind die Akten bei uns?«
»Und zwar komplett. Wir haben die Hauptakte, Personenakten und eine ziemlich dünne Spurenakte. Ich hab alles schon rausgesucht, allerdings noch keine Zeit gefunden, um reinzuschauen.«
»Und die Abfrage gab als Resultat diesen Heinrich Gerber, das damalige Opfer, zurück?«
Sie nickte vehement. »Ich hab sogar das Abfrageprotokoll mit Log-in und Datum ausgedruckt.«
Sebastian trommelte mit dem Finger auf seinen Schreibtisch. Der Fall hörte sich zweifellos interessant an. Und die Anfrage des Rottweiler Polizeireviers versprach zumindest einen neuen Ermittlungsansatz. Bevor er jedoch eine Entscheidung über die Aufnahme von Ermittlungen treffen wollte, musste er den Grund für die POLAS-Abfrage in Erfahrung bringen. »Haben Sie inzwischen mit KHK Melchior gesprochen?«
»Nein.« Franziska schüttelte schnell den Kopf. »Die Abfrage ist von gestern Abend.«
Sebastian griff nach dem Telefonhörer. »Dann werde ich das übernehmen.« Statt zu wählen, sah er auf.
»Die Telefonnummer?«, fragte Franziska.
Er nickte.
»Hab ich für Sie rausgesucht.« Mit einem Lächeln reichte sie ihm einen kleinen Zettel aus ihrem Notizbuch. Gleichwohl machte sie keine Anstalten, sein Büro zu verlassen. Franziskas Tatendrang lag wie ein Knistern in der Luft. Er konnte ihre Anspannung förmlich spüren.
Sebastian wählte die Nummer.
Scheinbar endlos erklang das Rufsignal vom anderen Ende der Leitung. Gerade als er auflegen wollte, drang ein mürrisches »Ja« an sein Ohr.
»Wer spricht da?«, fragte Sebastian etwas irritiert. Hatte er sich verwählt?
»KHK