Neckarsturm - Thilo Scheurer - E-Book

Neckarsturm E-Book

Thilo Scheurer

4,9

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2016
Beschreibung

Rottweil im Spätsommer: Auf der Baustelle des Aufzugstestturms wird ein zerschmetterter Körper gefunden. Hauptkommissar Wolfgang Treidler und seine Kollegin Carina Melchior rechnen mit einem schnellen Ermittlungserfolg, da Fremdeinwirkung ausgeschlossen scheint. Mit Hilfe eines italienischen Kollegen finden die beiden jedoch bald Hinweise auf eine schreckliche Tat . . .

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Seitenzahl: 433

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Thilo Scheurer, Jahrgang 1964, lebt und schreibt in einer Kleinstadt am Rande des Schwarzwalds. Er ist Geschäftsführer und Gesellschafter eines kleinen Softwareunternehmens. Aus seiner Feder stammen mehrere Kriminalromane sowie ein Abenteuerroman. Der Autor ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.   Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog, Dr.

©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Montage aus shutterstock.com/mike_expert, photocase.com/meer1.com Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Lothar Strüh eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-140-6 Originalausgabe

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I don’t know where I’m going from here,but I promise it won’t be boring.

David Bowie(1947–2016)

Prolog

Wenn er leben wollte, blieb ihm keine Wahl. Er musste verschwinden. Schon wieder. Das wusste er. Je schneller, desto besser. Auch das wusste er.

Er hatte auf sein Gefühl gehört, war immer weiter hinaufgestiegen. Hier oben auf Ebene zwölf jedoch endete die Welt von allen Seiten in einer Sackgasse. Als Rückweg blieben nur die endlosen Treppen nach unten. Doch genau dort lauerte die Gefahr. Eine Gefahr, der er nichts entgegenzusetzen hatte. Er konnte nur abwarten, hier oben ausharren, bis sie vorüberging. Und wenn es bis zum Schichtwechsel am Morgen dauerte.

Der Mann nahm einen Zug von seiner Zigarette. Nicht die erste, mit der er seine Nerven zu beruhigen versuchte. Vor ihm auf dem Boden lagen schon zwei gelbliche Stummel. Er trat näher an die Holzabsperrung, schnippte die Kippe hinaus und sah ihr nach. Sie fiel und fiel und fiel. Hundertzwanzig Meter bis zum Boden, taghell beleuchtet von Flutlichtstrahlern. Auch nachts sollte man auf halber Rohbauhöhe schwindelfrei sein.

Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, kam, als er einen Schritt zurückmachte. Da war dieses Rascheln irgendwo hinter ihm. Noch bevor er sich umdrehen konnte, ließ ihn der Schmerz im Nacken zusammenzucken wie unter einem Peitschenschlag. Einen Moment später versank die Umgebung in absoluter Dunkelheit, als hätte jemand einen Schalter umgelegt. Erst dann registrierte er das elektrische Knistern.

Im nächsten Augenblick versetzte ihm jemand einen heftigen Stoß auf die Brust. Instinktiv breitete er die Arme aus, bekam eine Metallstütze zu fassen. Wo war der Angreifer? Völlige Schwärze umgab ihn. Warum konnte er nichts sehen? Wieder ein Schlag aus dem Dunkel. Diesmal ins Gesicht.

Die Wucht riss seine Hand von der Metallstütze los. Er stolperte rückwärts. Holz splitterte. So nah am Abgrund. Der Mann versuchte, sich nach vorne zu werfen, kam ins Taumeln und stürzte. Wie von einer unsichtbaren Kraft erfasst, rutschte er über den Betonboden. An einem Absatz fanden seine Finger schließlich Halt. Doch die Beine, nein der ganze Körper baumelte im Leeren und schien die Arme aus den Schultern reißen zu wollen. Bunte Flecken tanzten auf seiner Netzhaut. Dann kam das Augenlicht zurück. Er sah nach oben. Seine Finger klammerten sich an die Holzrampe vor der Fensteröffnung. Da tauchte im schwarzen Rechteck über ihm ein heller Fleck auf. Ein verschwommenes Gesicht. Endlich!

»Hilf mir!«, schrie er dem Gesicht entgegen.

Niemand antwortete.

Einige Sekunden noch konnte er den groben Arbeitsstiefeln standhalten, die seine Finger zu zerquetschen drohten. Dann wurde der Schmerz unerträglich.

1

Montag, 21.September

Jonas wusste weder, was ein Meter bedeutete, noch, wie viel zweihundertsechsundvierzig davon waren. Bei Frau Kirchholz in der Schule hatten sie erst die Zahlen bis einhundert. Aber es sah nach richtig viel aus, bis ganz nach oben, dorthin, wo sich der Ausleger des gelben Krans befand. Wie ein gigantischer Strohhalm reichte die kahle Betonröhre in den Himmel. Wie groß musste wohl das Glas dazu sein? Dann bemerkte er die viereckigen Öffnungen in der Außenwand. So löcherig war die Röhre als Strohhalm nicht zu gebrauchen. Sicher machten sie da noch Fenster rein, damit man auch von ganz oben runterschauen konnte, ohne rauszufallen.

Ein Dutzend Aufzüge würden irgendwann in der Röhre hin- und herfahren. Zu Testzwecken, hatte Frau Kirchholz gesagt. Eigentlich redete sie seit Beginn des Schuljahres von nichts anderem. Schon am ersten Schultag hatte sie ihnen versprochen, dass die gesamte zweite Klasse bald einen Ausflug mit dem Bus zur Baustelle des Aufzugstestturms machen würde. Inzwischen wusste Jonas, dass der Turm jeden Tag um irgendwelche Meter wuchs und die Aussichtsplattform am Ende höher sein würde als alle anderen in Deutschland. Am meisten jedoch beeindruckte ihn das Gewicht von einigen tausend Elefanten. Auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, wie viel Platz so viele Elefanten benötigten. Aber es war bestimmt eine Menge.

Jonas spürte einen Stoß in seinen Rippen und fuhr herum. Leon neben ihm tat so, als ob er von nichts wüsste. Doch Jonas ließ sich nicht beirren. Es war immer Leon, der ihn piesackte. Er war nicht nur dicker, stärker und größer, sondern der Liebling von Frau Kirchholz. Und deswegen hatte es keinen Sinn, dass er überhaupt etwas zu ihr sagte.

»Hör auf, du blöder Trottel.« Jonas sprach leise, sodass ihn Frau Kirchholz nicht hören konnte. Sie stand nur wenige Meter abseits und hatte bisher nichts bemerkt.

»Hau ab, du stinkst«, gab Leon etwas lauter zurück. »Frau Kirchholz mag keine Jungs, die stinken.«

»Dann solltest du ihr nicht so nahe kommen.« Jonas versuchte, gefährlich dreinzuschauen.

Leon machte einen Schritt auf ihn zu, drückte Brust und Bauch heraus und baute sich auf Zehenspitzen direkt vor ihm auf. Er überragte ihn um fast einen Kopf und war so dick, dass Jonas zurückweichen musste.

»Willst du eine?« Leon musterte ihn von oben herab. »Hau ab, hab ich gesagt.«

»Mann, hör auf. Du bist einfach nur blöd.« Jonas wollte sich wegdrehen, da landete Leons Faust in seinem Bauch, ohne dass er sie hatte kommen sehen. Jonas stieß einen Schrei aus und krümmte sich vor Schmerz, während Leon über ihm lachte.

Unbändige Wut stieg in ihm auf. Zwei, drei Atemzüge später konnte Jonas kaum die Tränen zurückhalten. »Du Schwein«, schrie er und wich etwas zurück.

Leon setzte ein überhebliches Grinsen auf, als er sah, dass Frau Kirchholz auf Jonas aufmerksam geworden war. Egal, sollte sie es doch sehen. Er hatte angefangen.

Jonas rannte auf Leon zu und rammte ihn mit der Schulter derart stark, dass der umfiel wie ein Sack. Sofort schrie Leon los, als ob er am Spieß steckte. »Er… hat mich… einfach… geschlagen.«

Schon im nächsten Augenblick stand Frau Kirchholz neben ihm. »Jonas! Hör sofort auf.«

»Ich hab mich nur gewehrt.« Jonas’ Atem ging schnell.

»Papperlapapp. Ich hab’s genau gesehen. Du hast Leon umgeworfen.«

»Er hat angefangen. Er hat mich zuerst geschlagen.« Jonas deutete auf die Stelle am Bauch, an der er kurz zuvor den Hieb eingesteckt hatte. »Hier, schauen Sie mal. Es tut immer noch weh.«

»Ich will nichts mehr hören, Jonas. Du gehst zurück in die hinterste Reihe und wartest, bis wir hier fertig sind.« Sie wandte sich ab und beugte sich hinunter zu Leon, der noch immer wimmernd am Boden lag.

Jonas hatte nicht geahnt, dass er überhaupt so viel Kraft besaß, den dicken Leon umzuwerfen. Vielleicht lag es ja am rutschigen Boden, der durch den Regen ganz aufgeweicht war. Aber warum nur gab Frau Kirchholz immer ihm die Schuld und nie Leon? Er hasste Leon. Und er mochte auch Frau Kirchholz nicht mehr. Zumindest heute würde er kein Wort mehr mit ihr reden. Sollte sie doch denken, was sie wollte. Blöde Kuh.

Als Jonas den Kopf senkte und sich abwenden wollte, bemerkte er das kleine Loch im Zaun, der den Besucherbereich von der Baustelle trennte. Nicht weit entfernt und gerade mal so groß, dass er hindurchschlüpfen konnte. Und genau das würde er jetzt tun. Sollte sich Frau Kirchholz doch einmal Sorgen um ihn machen, nicht immer nur um diesen blöden Leon.

Er schaute sich nach der Lehrerin um. Noch immer kniete sie neben Leon, strich ihm über das Gesicht. Sein Gejammer ließ nur langsam nach. Die Gelegenheit schien günstig. Jonas machte zwei, drei schnelle Schritte, bückte sich und war im nächsten Augenblick auf der anderen Seite des Zauns. Die anderen starrten alle nach oben. Niemand konnte ihn bemerkt haben.

Dass es auf dieser Seite des Zauns so schnell und so tief nach unten ging, damit hatte Jonas nicht gerechnet. Schon beim nächsten Schritt rutschte er mit dem Fuß auf der glitschigen Erde aus, kam ins Straucheln und konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Er war so damit beschäftigt, sich irgendwo festzukrallen, dass er ganz vergaß zu schreien.

Doch alles Festhalten half nichts. Die ersten Meter purzelte Jonas weiter nach unten, landete auf dem Bauch, und sein Sturz stockte. Doch nur für einen Moment. Bäuchlings, beinahe in Zeitlupe, schlitterte er die Schräge hinunter in die Baugrube. Es gab nichts, an dem er sich festhalten konnte.

Er hätte nicht sagen können, wie lang es dauerte, bis sein Körper endlich zur Ruhe kam. Irgendwann schien er nicht mehr zu rutschen, musste unten angekommen sein. Das Erste, was Jonas wahrnahm, war der Geruch von Erde. Nein, es war nicht nur der Geruch, sondern auch der Geschmack. Er hatte wohl richtig viel davon im Mund.

Merkwürdigerweise tat ihm nichts weh. Er versuchte, die Augen zu öffnen, spürte den Schlamm auf seinen Lidern. Nur verschwommen nahm er die Umgebung wahr. Sie schien nur aus brauner Farbe zu bestehen. Jonas versuchte, auf die Knie zu kommen, wollte wissen, wo er gelandet war. Es gelang ihm nicht. Sein rechtes Bein steckte fest. Für einen Moment überlegte er, um Hilfe zu rufen, entschied sich aber dagegen. Das würde er selbst hinbekommen. Schließlich war er keine Memme wie Leon, der immer gleich nach Frau Kirchholz rief.

Er wischte sich mit den Handflächen ein paarmal über die Augenlider, in der Hoffnung, mehr zu erkennen. Ein Fehler. Statt mehr zu sehen, verschmierte er den Schlamm nur noch weiter. Doch obwohl es in den Augen brannte wie Feuer, zwang sich Jonas, die Lider weiter zu öffnen. Und tatsächlich nahm die Umgebung langsam Gestalt an.

Da, direkt vor ihm, war eine Hand. Jemand streckte ihm eine Hand entgegen, wollte ihm aus dem Schlamm helfen. Er griff danach. Die Hand war eiskalt, und je stärker er daran zog, desto länger wurde der Arm dahinter. Plötzlich schien der Arm aufzuhören, kam ihm vor wie ein dicker Ast, der lose am Boden lag. Und dann begann Jonas zu schreien.

* * *

»Warum denn bei uns?«, fragte Hauptkommissar Wolfgang Treidler und musterte Carina Melchior, seine Kollegin im Kommissariat eins. Obwohl sie schon seit einer halben Stunde zwischen Büro und Sekretariat hin- und herrannte, trug sie weiterhin eine Lederjacke über ihrem dunkelroten Rollkragenpulli. Vermutlich war ihr immer noch zu kalt. Da halfen auch nicht die zwei oder drei Kilos, die sie während der drei Wochen im Krankenhaus zugenommen hatte. Sie standen ihr gut, fand Treidler. Aber vor allem bewiesen sie eines: Ihr Körper hatte die Vergiftung längst überstanden.

»Was schauen Sie mich so an?« Melchior hob die Achseln. »Ich kann nichts dafür. Das hat Petersen so entschieden.«

Trotz ihrer vierzig Lebensjahre besaß Melchior eine schlanke, fast zierliche Figur, die ihr ein mädchenhaftes Äußeres verlieh. Dazu trugen auch ihr bronzener Teint und die halblangen, dunklen Haare bei, die sie im Dienst meist zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengebunden hatte. Gleichwohl haderte Melchior mit ihrem Gewicht und aß seit ihrer Entlassung nur noch Salat. Nicht dass sie sonst eher Fleisch und Kohlenhydrate zu sich genommen hätte. Aber diesmal fielen ihm ihre neuen Essgewohnheiten ganz besonders auf. Auch ließ sie sich nicht davon abbringen, nachdem er ihr gesagt hatte, dass das Abnehmen mit zunehmendem Alter schwerer wurde. Warum sie seinen gut gemeinten Zuspruch mit einem bösen Blick quittiert und ihn den Rest des Nachmittags ignoriert hatte, wusste er bis heute nicht.

Treidler sah zur Wanduhr über der Tür. Kurz nach neun, und seine Laune war bereits am Nullpunkt angelangt. »Winklers Ein-Mann-Team ist seit Borcherts Abgang unterbelegt. Hier ist voll. Oder sehen Sie einen dritten Schreibtisch?«

»Treidler, bitte«, sagte Melchior.

Sie hatte ja recht. Warum regte er sich überhaupt auf? Schon vor einigen Tagen hatte Kriminalrat Petersen ihnen eröffnet, dass das Kommissariat eins einen Hospitanten aus der Rottweiler Partnerstadt L’Aquila zu Gast haben würde. Und zwar für drei Monate. Gleichwohl blieb Treidler dabei: Dieses deutsch-italienische Polizeiaustauschprogramm war nicht mehr als eine Verschwendung von Zeit und Geld.

»Ich will keinen neuen Mitarbeiter.« Treidler sah nach draußen in den trüben Vormittag. Ab und an huschten Menschen mit bunten Schirmen vorbei. Das regnerische Spätsommerwetter, das seit Tagen über der alten Reichsstadt lag, passte zu seiner Stimmung. Er vermochte der Aussicht auf einen italienischen Kollegen, der womöglich nur gebrochen Deutsch sprach, nur wenig abgewinnen. Der Typ würde ihm überall nachlaufen und dumme Fragen stellen. Aber Treidler wollte nicht gefragt werden. Er wollte einfach nur seine Ruhe haben.

»Auch nicht, wenn sie Francesca heißt und Anfang dreißig ist?« Über Melchiors Mund huschte ein Lächeln.

Treidler riss seinen Blick vom Fenster los und schielte auf das Fax in ihren Händen. »Polizia di Stato– Questura di L’Aquila«, las er. Es folgte ein mehrseitiges Formular, auf dem einige Felder handschriftlich ausgefüllt worden waren.

Melchior blätterte um und tippte mit dem Finger auf eine Stelle, ganz oben auf der zweiten Seite. »Hier.«

Er kniff die Augen zusammen. »Commissario Francesca…«, entzifferte er die ersten beiden Wörter. »Und weiter?« Den Nachnamen konnte er schon nicht mehr lesen. Entweder lag es an der schlechten Qualität des Faxes oder an der recht unleserlichen Handschrift.

»Bertusi. Commissario Francesca Bertusi. Geboren am 17.April 1984.«

»Francesca… na ja.« Treidler räusperte sich. »Vielleicht sollten wir doch nicht so sein.«

»Wir?«

»Ja, wir«, gab er zurück. »Aber warum grinsen Sie eigentlich so fröhlich?«

Bevor Melchior antworten konnte, klingelte das Telefon auf Treidlers Schreibtisch. Er fischte den Hörer von der Gabel, schaffte es jedoch nicht, sich zu melden.

Aus dem Hörer schlug ihm Anita Schobers Stimme entgegen. »Herr Treidler, ein Arm.«

Auch das noch. Die Halbtagskraft vom Sekretariat würde ihm noch den letzten Nerv an diesem Morgen rauben. »Aha, ein Arm. Was für ein Arm denn, Frau Schober?«

Ein Stakkato an Wörtern brach über ihn herein. »Ein Arm. Vorhin. Ein abgetrennter, menschlicher Arm. Draußen, Sie wissen schon.«

Nein, Treidler wusste nicht. »Wo draußen?«

»Na, draußen auf der Baustelle am Testturm.« Schober klang, als hielte sie ihn für schwer von Begriff.

»Ein Arbeitsunfall?«

»Ich… ich glaube nicht. Es ist ein…« Schober hielt die Luft an. »…Verbrechen.«

»Wie kommen Sie denn darauf?« Wenn Treidler allen von Anita Schober vermuteten Verbrechen nachgehen würde, brauchten sie nicht nur ein Kommissariat, sondern deren zehn. Eines jedoch musste er ihr zugutehalten: Sie war es gewesen, die bei ihrem letzten großen Fall durch einen nicht unbedeutenden Hinweis zur Überführung des Neckarteufels beigetragen hatte.

»Weil sie nur den Arm gefunden haben. Er gehört niemandem.« Schobers Atem ging schnell. »Äh… natürlich gehört der Arm jemanden. Aber der ist… wie soll ich sagen… derjenige ist nicht da.«

»Derjenige ist nicht da, soso. Gibt’s sonst noch was, das Sie mir sagen sollten?«, fragte Treidler, weil er genau wusste, dass Schober zwar schnell und viel reden konnte, aber oftmals wichtige Information dabei einfach vergaß.

Für einen Moment drang nur noch ihr schweres Atmen an sein Ohr. »Ein Streifenwagen ist dort.« Zwei weitere schnelle Atemzüge folgten. »Die haben die Hundestaffel aus Zimmern schon angefordert.«

»Gut. Wir kümmern uns darum.« Treidler legte schnell auf. Er war froh, das Gespräch in so kurzer Zeit hinter sich gebracht zu haben.

»Was Wichtiges?«, fragte Melchior und suchte seinen Blick. Sie schien noch in Gedanken beim Inhalt des Fax.

Treidler zuckte mit den Achseln. »Schober meint, ja. Vielleicht aber auch nur ein Arbeitsunfall.«

»Was wissen wir?«

»An der Testturm-Baustelle wurde ein menschlicher Arm gefunden. Vermutlich abgetrennt.«

»Nur der Arm?«

Treidler nickte. »Nur der Arm.«

»Das sollten wir uns anschauen.« Melchior deponierte das Fax auf ihrem Schreibtisch, zog ihre Lederjacke aus und hängte sie an die Garderobe. In der rechten Gesäßtasche ihrer Jeans zeichneten sich Handschellen ab, links am Gürtel hing ihr Holster mit der Dienstwaffe.

»Warum ziehen Sie die Jacke jetzt aus?«, fragte Treidler ehrlich irritiert. »Sie sagten doch gerade, dass wir uns das anschauen sollten.«

Melchior nahm eine rote Regenjacke vom Haken nebenan und zog sie über. »Draußen regnet es. Und meine Lederjacke ist nicht wasserdicht.«

»Die ist bestimmt wasserdicht«, gab Treidler zurück.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Weil Kühe auch wasserdicht sind. Oder glauben Sie, dass es in die reinregnet?«

Melchior zog den Reißverschluss bis hoch zum Kinn. »Meine Jacke ist aber nicht aus Rindsleder, sondern Nappaleder.«

»Egal. Nappas sind bestimmt auch wasserdicht.« Treidler nahm seine alte Lederjacke von der Stuhllehne. Sie hatte wohl schon Hunderte Regengüsse überstanden.

Melchior hob die Augenbrauen, kramte in ihrer Hosentasche und förderte einen Schlüsselbund zutage. »Was ist? Haben Sie Ihren neuen Wagen schon?«

Nein, hatte er nicht. Leider. Treidler schüttelte den Kopf. »Den kann ich erst morgen abholen. Sie müssen nochmals fahren. Auch wenn’s dann länger dauert.« Er konnte es kaum erwarten, nicht mehr von ihr herumkutschiert zu werden.

Keine Viertelstunde später lenkte Melchior ihren silbernen VW-Passat-Dienstwagen vorbei an einer Polizeiabsperrung auf die Zufahrt der Baustelle. Lastwagen hatten dicke Schlammspuren auf dem Asphalt hinterlassen und wiesen den Weg. Inzwischen befand sich nicht nur ein Polizeifahrzeug auf dem Gelände. Treidler zählte drei Streifenwagen, zwei zivile Einsatzwagen sowie einen Rettungswagen mit eingeschalteter Signalleuchte. Offenbar ohne Ordnung standen Baumaschinen, Abfallcontainer, Toilettenhäuschen und palettenweise Material herum. Melchior steuerte ihren Wagen vorbei an einer Gruppe Bauarbeiter mit gelben Helmen und hielt auf eine Ansammlung von Wohn- und Bürocontainern zu, die aufeinandersteckten wie übergroße Legosteine. Vor einem riesigen Radlader fand Melchior einen freien Platz für ihren Wagen. Sie stellte ihn kurzerhand vor dessen Schaufel ab, die derart groß war, dass sie den Passat problemlos auch darin hätte parken können.

Treidler stieg aus und legte den Kopf in den Nacken. Es war wie ein Reflex, obwohl es in Rottweil kaum eine Stelle gab, an der man den Testturm nicht sehen konnte. Wie ein riesiger Finger zeigte der fast zweihundertfünfzig Meter hohe Zylinder aus grauem Beton gen Himmel. Und erst dort oben fanden seine Augen Halt. In ganz Süddeutschland gab es außer zwei Sendemasten nichts, das diesen Turm überragte.

Melchior hatte inzwischen ebenfalls ihre Tür geöffnet, saß aber immer noch im Wagen.

»Worauf warten Sie?«, fragte Treidler. Es war immer das Gleiche. Wenn er die Zeit gutgeschrieben bekäme, die er schon auf sie hatte warten müssen, könnte er die eine oder andere Woche zusätzlichen Urlaub nehmen.

»Bin gleich so weit«, kam es mit einem Ächzen zurück. »Ich ziehe nur noch meine Gummistiefel über.«

»Gummistiefel?« Treidler betrachtete das glänzende Leder seiner Cowboystiefel. So schlimm würde es schon nicht werden. Es nieselte nur noch leicht, und die Baugrube in der Größe eines Fußballfeldes begann gleich hinter den Absperrgittern. Von dort führte ein mit Schotter befestigter Fahrweg zwischen felsgroßen Betonbruchstücken hindurch nach unten.

Als er sich in Bewegung setzte, fiel es ihm auf: Statt des Baulärms, den er eigentlich hier erwartet hatte, hörte er tatsächlich seine und Melchiors Schritte im Schotter. Eine ungewöhnlich ruhige Baustelle.

Erst vorne am Absperrgitter konnte Treidler bis zum Boden der Baugrube sehen. Ein Mann mit gelbem Bauhelm unterhielt sich mit einem Polizeibeamten. Etwas abseits der beiden suchten zwei weitere Uniformierte mit ihren Schäferhunden die Baugrube ab.

Unten angekommen, endete der Schotter, und bei jedem weiteren Schritt schmatzte der Boden. Der Regen der letzten Tage hatte das Gelände aufgeweicht wie ein Schwamm. An manchen Stellen stand das Wasser noch in kleinen Pfützen. Er sah an sich hinunter. Schuhspitze und Absatz versanken im Schlamm, Dreckspritzer reichten bis hoch ans Schienbein. Er schielte zu Melchior. Die Gummistiefel, die an ihren kleinen Füßen aussahen wie winzige gelbe U-Boote, waren kaum verschmutzt. Vermutlich hatte sie bisher nur Glück gehabt und war auf solche Stellen getreten, die nicht so tief einsanken.

Treidler trat neben den Polizeibeamten, einen jüngeren Mann Ende zwanzig. Sofort verstummte das Gespräch, und die Blicke der beiden blieben auf Treidler gerichtet. Er stellte sich und Melchior vor. Der Beamte nickte ihm mit ernster Miene zu, als würde er ihn kennen. Nach einem Blick auf das Namensschild wusste Treidler auch, woher. Lukas Meyer war einer der beiden Polizisten, die vor drei Jahren seine tote Frau Lisa gefunden hatten; zu Hause, erdrosselt mit einer Garrotte. Bilder trieben durch seinen Kopf. Erst blass, dann scharf: die Untersuchungshaft, der Prozess, der Freispruch mangels Beweisen.

»Petzold. Gerd Petzold. Ich bin hier Bauleiter«, hörte Treidler eine tiefe Stimme. Ein massiger Mann mit einem tief ins Gesicht gezogenen Bauhelm hielt ihm eine raue, schwielige Hand hin. Hochgekrempelte Ärmel entblößten kräftige, stark behaarte Unterarme.

Treidler schüttelte die angebotene Hand. »Hauptkommissar Wolfgang Treidler.«

Die Anspannung stand Petzold ins Gesicht geschrieben. Er wandte sich an Melchior und reichte auch ihr die Hand.

Treidler fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, wollte die düsteren Bilder der Vergangenheit so schnell wie möglich aus seinem Kopf vertreiben. »Gut, Herr…« Treidler hielt inne. Er hatte doch tatsächlich den Namen des Bauleiters vergessen.

»…Petzold.« Er lächelte knapp.

»Ja. Petzold. Bauleiter. Ich weiß.« Treidler versuchte sich an einem Lächeln, spürte jedoch schon im Ansatz, dass es misslingen würde. »Können Sie uns in wenigen Sätzen sagen, was auf Ihrer Baustelle geschehen ist?«

»Geschehen? Das weiß ich doch nicht. Aber den hier hat eines der Kinder gefunden.« Petzold trat einen Schritt zur Seite und deutete auf eine Stelle am Boden, etwa einen Meter hinter sich.

Fünf Finger, Hand, Unterarm, Ellenbogen, Oberarm– Stumpf. Noch durch den Schlamm und Dreck konnte Treidler jedes Detail erkennen: Fingernägel, Haare sowie Ausbeulungen und Risse in einer elefantenähnlichen Haut. Aus dem Stumpf ragte ein Stück des Oberarmknochens. Er zuckte zusammen, nicht darauf gefasst, so unvermittelt mit dem abgetrennten Arm konfrontiert zu werden. Es dauerte einen Moment, bis er seinen Blick losreißen konnte. »Kinder? Welche Kinder?«

Meyer räusperte sich. »Eine Schulklasse. Die haben einen Ausflug hierher gemacht. Einer der Jungs ist wohl ausgebüxt, durch ein Loch im Zaun, und die Grube hinuntergerutscht. Er hat den Arm gefunden.«

Aus Richtung des Turms drang das Hecheln der Hunde an Treidlers Ohr. Und mit einem Mal war er sich sicher, dass sie es nicht mit einem Arbeitsunfall zu tun hatten.

»Und wo sind die Kinder jetzt?«, fragte Melchior, ohne den Blick von dem Arm am Boden zu nehmen.

»Der Junge, der ihn gefunden hat, Jonas Franzl, ist bereits im Krankenhaus. Die Sanis sagen, er wäre nur leicht verletzt, muss aber wohl zur Sicherheit noch untersucht werden. Den Rest der Klasse haben wir gehen lassen. Die sind bereits mit ihrem Bus auf dem Heimweg.«

»Warum?«

Meyer wiegte den Kopf. »Das sind Zweitklässler. Die waren ganz durch den Wind. Aber ich hab hier Name, Adresse und Telefonnummer der Lehrerin, die dabei war.« Meyer hielt Melchior einen Zettel hin. »Magda Kirchholz heißt sie, wohnt hier in Rottweil.«

Melchior nahm den Zettel entgegen, warf einen Blick darauf und verstaute ihn in ihrer Hosentasche. »Konnte sie etwas zu den Umständen des Fundes sagen?«

Meyer hob die Achseln. »Ich denke nicht. Sie war die ganze Zeit oben bei den Kindern.«

»Haben Sie mit ihr gesprochen?«

Meyer schüttelte den Kopf. »Aber Duffner, mein Kollege.«

»Wo ist der?«

»An der Absperrung.« Meyer deutete mit dem Kinn nach oben.

»Und warum stehen Sie hier unten am Fundort herum, statt ihn zu sichern?« Melchiors Stimme klang vorwurfsvoll.

»Hier versinkt doch alles im Dreck. Was sollten wir denn sichern?«, gab Meyer unerwartet selbstbewusst zurück.

Melchior schien sich mit seiner Antwort zufriedenzugeben. Sie trat neben den Arm, ging in die Hocke und musterte den Stumpf. »Kein sauberer Schnitt. Der Arm wurde nicht mit einer scharfen Klinge abgetrennt. Der Oberarm ist völlig zerfetzt. Vielleicht handelt es sich doch um einen Unfall.«

»Dazu passt aber nicht«, gab Meyer zurück, »dass es bisher keinen einarmigen Mann in den umliegenden Notaufnahmen gibt. Das haben wir schon überprüft.«

Treidler wandte sich an Petzold, der ohne sichtbare Regung den Arm betrachtete. »Wenn jemand seinen Arm verliert, ist das nie leise. Auch in diesem Fall scheint es mir ziemlich unwahrscheinlich, dass es geräuschlos geschah.«

»Was wollen Sie damit andeuten?«

»Dass jemand etwas gesehen oder gehört haben muss.«

Petzold zuckte mit den Schultern. »Das müssen Sie die Arbeiter fragen. Bei mir jedenfalls ist bisher noch niemand mit nur einem Arm aufgetaucht.«

Das Hecheln eines der Hunde veränderte sich. Es wurde zu einer Art Heulen und schwoll gleich darauf zu einem Bellen an. Sofort fiel der zweite Hund in das Gebell mit ein.

2

Die Zeit heilt alle Wunden. Aber nur äußerlich, dachte Ursula Lohrmann, während sie im Badezimmer vor dem Spiegel stand und ihren nackten Oberkörper betrachtete. Die blaurot schimmernden Hämatome an den Oberarmen und am Brustkorb verwandelten sich allmählich in gelbbraune Flecken. Einige waren bereits verschwunden. Im Gegensatz zu den Schmerzen. Vermutlich hatte Holger ihr eine Rippe gebrochen. Bisher ahnte niemand etwas von dem, was sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte. Nicht ihre Mutter und auch niemand im Kriminalkommissariat eins, wo sie halbtags im Sekretariat arbeitete.

Nie hätte sie geglaubt, dass ein Mensch sich derart schnell verändern konnte, wie Holger es tat. Zuerst hatte sie sich überhaupt nicht auf ihn einlassen wollen. Zu viele Männer hatte sie schon getroffen, nachdem sie auf ein vielversprechendes Dating-Portal gestoßen war. Doch schnell war ihre Hoffnung der Gewissheit gewichen, dass es nur zwei Sorten von Männern auf derartigen Portalen gab. Solche, die so schnell wie möglich mit ihr ins Bett wollten, oder jene, die oft ihr eigenes Aussehen und noch viel öfter ihren Intellekt überschätzten. So kam es, dass sie nach jedem Treffen unglücklicher geworden war und Kontaktanfragen nur noch angesehen, aber nicht mehr beantwortet hatte. Bis auf jene von Holger.

Wider Erwarten funktionierte es mit ihm. Holger schien ein charmanter, zuvorkommender Mann zu sein, der immer wusste, was sie von ihm erwartete. Eine harmonische Beziehung entstand, die viele Monate hielt. Noch Anfang des Jahres hatten sie über eine mögliche Heirat gesprochen. Schließlich waren sie beide mit Mitte dreißig nicht mehr die Jüngsten. Besonders nicht für ein Kind, das sie sich wünschten. Finanziell hätten sie es sicher geschafft, ihre kleine Familie durchzubringen. Auch noch, nachdem Holger seinen Job verloren hatte. Er hätte bestimmt bald wieder einen bekommen, wenn er sich nur bemüht hätte. Und notfalls hätte sie ihren Job im Kommissariat eins schon wenige Wochen nach der Geburt wieder aufnehmen können. Doch Holger hatte sich nie bemüht, stattdessen wurde er ihr jeden Tag ein bisschen fremder.

Im Nachhinein konnte sie nicht sagen, warum sie nicht schon früher versucht hatte, ihn loszuwerden. Niemand würde es verstehen. Zu lange hatte sie seine Launen ertragen, sich ohne Gegenwehr von ihm anschreien lassen. Auch noch, als er das erste Mal zuschlug, hatte sie versucht, besonnen zu reagieren, und seine Aggressivität auf den Verlust des Jobs geschoben. Ein Fehler, den sie viel zu spät einsah. Holger hatte immer öfter zugeschlagen.

Ein Geräusch, ein dumpfes Klopfen aus der Küche ließ sie zusammenzucken. Sie riss den Kopf herum. Verdammt, die Badezimmertür. Sie stand halb offen. Sofort begann das Zittern, und sie spürte, dass die Angst, die sie bis jetzt unterdrückt hatte, in ihr wuchs. Mit zwei schnellen Schritten war sie an der Tür, knallte sie ins Schloss und drehte den Schlüssel um. Mit dem Rücken an der Tür ließ sie sich langsam hinuntersinken. Noch bevor sie auf dem Boden saß, spürte sie die Tränen auf der Wange; Tränen der Wut, weil sie ihre Angst nicht kontrollieren konnte. Schließlich war es kaum möglich, dass sich jemand anders in der Wohnung befand. Schon vor zwei Wochen hatte sie es endlich geschafft, Holger aus ihrem Leben zu verbannen. Und zur Sicherheit hatte sie gleich das Schloss austauschen und eine Vorlegekette anbringen lassen.

Seither hatte er zweimal vor der Tür gestanden. Das erste Mal betrunken und grölend, das zweite Mal angriffslustig. Er hatte sie angeschrien, gedroht, sie fertigzumachen, und sie als Schlampe beschimpft. Erst als die Nachbarn auf ihn eingeredet hatten, verschwand er. War er nun das dritte Mal gekommen, hatte er es in die Wohnung geschafft?

Unmöglich.

Und wenn doch?

Was konnte sie schon alleine gegen einen Mann wie Holger ausrichten? Das kaum zu ertragende Gefühl von Machtlosigkeit machte sich in ihr breit. Vermutlich würde er erst von ihr ablassen, wenn es einen Neuen an ihrer Seite gab. Aber eine neue Beziehung? War sie überhaupt schon wieder bereit für einen anderen Mann? Egal. Sie brauchte jemanden, der sie vor Holger beschützen konnte.

Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus den Augen und kam hoch. Sie zog ein T-Shirt über und kramte entgegen ihrer Überzeugung, alleine in der Wohnung zu sein, im Badezimmerschrank nach etwas, mit dem sie sich notfalls zur Wehr setzen könnte. Sie fand eine Schere, ging zurück zur Tür und lauschte. Nichts, nur das Rauschen des Blutes im Ohr. Sie atmete ein paarmal durch, drehte dann ganz langsam den Schlüssel im Schloss. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis der Riegel nahezu geräuschlos einrastete. Sofort verließ sie der Mut wieder.

Wie von selbst umklammerte ihre Faust die Schere immer fester, sodass bald das Weiß der Knöchel hervortrat. Zwei, drei Atemzüge später tastete Ursula nach der Klinke und drückte sie sanft nach unten. Mit jedem Zentimeter, den sie die Tür weiter öffnete, wuchs die Angst, dass jemand sie mit Wucht aufstoßen könnte. Doch nichts geschah. Als der Spalt schließlich groß genug für ihren Kopf war, spähte sie in den Flur. Niemand war zu sehen. Sie schlich hinaus.

Nach jedem Schritt in Richtung Küche verharrte sie, schaute hinter sich und lauschte. Da, das Klopfen begann erneut: dumpf und regelmäßig. Es klang, als ob jemand mit den Fingern auf den Küchentisch trommelte. Plötzlich meinte sie, keine Luft mehr zu bekommen, so heftig schlug ihr das Herz bis zum Hals. Saß Holger etwa in der Küche und wartete einfach ab, bis sie dort auftauchte? Ihr Mobiltelefon kam ihr in den Sinn. Verdammt, es lag ebenfalls in der Küche.

»Ist da jemand?«, rief sie.

Das Klopfen hörte auf.

Sie nahm allen Mut zusammen, hielt die Schere auf Kopfhöhe vor sich hin und ging langsam weiter. »Wer ist da?«, rief sie und einen Schritt später: »Bist du das, Holger?«

Niemand antwortete.

Ursula schlich voran, versuchte, nicht auf die Stellen des Dielenbodens zu treten, die immerzu knarrten. Ohne weitere Geräusche zu verursachen, erreichte sie den Durchgang zur Küche und spähte um die Ecke. Niemand saß am Tisch. Vorsichtig trat sie ganz ein.

Ein Kreischen, laut und schrill wie ein Kinderschrei, bohrte sich förmlich in ihr Gehirn. Beinahe wäre ihr Herz stehen geblieben. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass etwas auf sie herunterstürzte. Schützend riss sie die Arme hoch. Die Schere fiel polternd zu Boden. Doch die Geräusche wollten überhaupt nicht zu einem befürchteten Angriff passen. Ein Flattern, aufgeregtes Zwitschern und dann erkannte sie, was auf sie losgegangen war: ein kleiner Vogel, vermutlich ein Spatz, der es trotz vorgezogener Gardinen durch das geöffnete Fenster in die Küche geschafft hatte. Und das klopfende Geräusch, das sie gehört hatte, stammte von der metallenen Gardinenstange, die in der Zugluft an den Fensterrahmen schlug.

Alle Anspannung fiel schlagartig von ihr ab. Ursula hob die Schere auf und legte sie auf den Küchentisch. Dann trat sie ans Fenster, schob die Gardine beiseite und wartete, bis der kleine Vogel den Weg in die Freiheit fand. Als sie die Gardine wieder vorziehen wollte, zog ein Mann auf dem Gehweg vor dem Haus ihre Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte die Kapuze seiner Jacke hochgezogen, die Hände tief in den Taschen vergaben. In diesem Moment wusste Ursula, dass sie ihn kannte. Und als ob er auf sie gewartet hätte, sah er plötzlich hoch zum Fenster und lächelte: Holger.

* * *

Als Treidler die erhöhte Stelle erreichte, heulte und bellte der Schäferhund nicht nur, sondern zerrte an der Leine, als ob er sich losreißen wollte. Nur mit Mühe konnte der Hundeführer das Tier davon abhalten, nach dem zu graben, was es soeben gefunden hatte.

Wie auf einem alten Schwarz-Weiß-Foto, bei dem das Grau bereits ins Bräunliche überging, hatte der Schlamm den Fundort in verschiedenen Brauntönen erstarren lassen. Treidler sah sehr kurze, dunkle Haare, Haut, die wie Leder wirkte und sich über einen seltsam deformierten, aber fraglos menschlichen Schädel spannte. Ein kariertes Stück Stoff reichte vom Kinn über den Oberkörper, der unnatürlich verkrümmt etwa zur Hälfte aus dem Schlamm ragte. Es schien sich um ein Hemd zu handeln, dessen rechter Ärmel flach und leer auf der Brust klebte. Der andere Arm sowie Unterleib und Beine waren nicht zu erkennen. Dennoch brauchte es nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, warum die Fundstelle leicht erhöht lag.

Treidler hörte, wie Melchior mit ihrem Mobiltelefon die KTU anforderte. Er kniete sich neben den Kopf. Keine größeren Verletzungen waren zu sehen, nicht einmal Blut. Lediglich einige Schrammen auf Stirn und Wange, die genauso gut von einer Rangelei stammen konnten.

»Sieht aus wie einer von Henningers Leuten«, sagte da Petzold neben ihm. Mit zusammengekniffenen Augen musterte er die Fundstelle.

»Kennen Sie den Mann?« Melchior hatte inzwischen ihr Telefongespräch beendet.

»Nein. Aber Henninger beschäftigt ein paar Araber.«

Treidler sah genauer hin. In der Tat. Das Gesicht hatte arabische Züge.

»Und wer ist Henninger?«, fragte Melchior weiter.

»Eines der Subunternehmen. Die machen oben einige Abdichtarbeiten.«

Treidler kam wieder hoch und deutete mit dem Kopf zum Toten. »Seinen Namen kennen Sie nicht zufällig?«

Petzold schüttelte den Kopf. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er hier noch arbeitet.«

Treidler zog eine Augenbraue hoch. »Gibt’s jemanden, der den Namen des Mannes kennt?«

»Versuchen Sie’s bei Henninger«, erwiderte Petzold.

»Und wo finden wir diesen Henninger?«

»Vermutlich in seinem Geschäft.«

Treidler seufzte. »Adresse?«

»Die hab ich nicht parat«, sagte Petzold. »Aber ich hab seine Telefonnummer. Soll ich versuchen, ihn zu erreichen?«

»Ja, verdammt«, entfuhr es Treidler lauter als beabsichtigt.

Petzold zog ein Telefon aus seiner Brusttasche und drückte eine Taste.

Treidler wandte sich ab. Am Rand der Baugrube hatte sich eine Gruppe von bestimmt einem Dutzend Arbeitern gebildet, und erst jetzt bemerkte er das Stimmengewirr. Bevor Petzolds Gespräch zustande kam, war es Treidler, als ob aus der Gruppe Helene Fischers »Atemlos durch die Nacht« als krächzender Klingelton erklang.

Einer der Arbeiter, ein schmächtiger Mann mit rotem Bauhelm und Werkzeugtasche über der Schulter, zog ein Telefon aus seiner Hosentasche hervor, hielt es sich ans Ohr und meldete sich. Offenbar hatten sie Henninger gefunden.

Einen winzigen Moment später hörte er schon Petzolds Stimme hinter sich. »Du solltest schnellstens zur Baustelle kommen. Sie haben einen Toten gefunden, der aussieht wie einer von deinen Männern. Die Polizei will mit dir sprechen.«

Der Mann mit dem roten Bauhelm sagte etwas, legte auf und setzte sich in Bewegung.

»Da ist er.« Mit dem Kinn deutete Petzold auf den ungewöhnlich dünnen Mann, der mit schlurfenden Schritten den Schotterweg herunterkam. Die lederne Werkzeugtasche um seine Schulter machte einen derart schweren Eindruck, dass Treidler fürchtete, er würde daran zusammenbrechen.

Als Henninger vor ihm stand, wirkte er noch schmächtiger und kleiner als aus der Ferne. Er sah aus, als ob er seit Wochen nichts mehr zu essen bekommen hätte. Im Schatten des roten Bauhelms wirkten die Augenhöhlen in seinem bleichen Gesicht wie schwarze Löcher. Sein Alter war durch die unzähligen Falten im Gesicht nur schwer zu schätzen, aber viel älter als vierzig schien er nicht zu sein.

»Kennen Sie den Mann?«, fragte Treidler, nachdem er sich und Melchior vorgestellt hatte.

Henninger schielte an ihm vorbei und bewegte den Kopf leicht, was Treidler als Nicken interpretierte.

»Arbeitet er für Sie?«

Erneut deutete Henninger ein Kopfnicken an. Kein Wort kam ihm über seine Lippen.

»Und wie ist sein Name?«

Henninger schob die Hände in die Hosentasche, sagte jedoch weiterhin nichts.

Was bezweckte Henninger damit, auf so einfache Fragen nicht zu antworten? Benötigte er Zeit, sich eine Antwort zurechtzulegen, oder war er einfach nur wortkarg? Jedenfalls würde Treidler ihm dieses Verhalten nicht mehr lange durchgehen lassen. »Was ist? Sind Sie stumm, oder bereitet Ihnen die Frage Kopfzerbrechen?«

Henninger sah ihn für einen Moment an. »Achmed drei«, sagte er schließlich mit einer piepsigen Stimme, die nicht besser zu seinem schwindsüchtigen Körper passen könnte.

»Achmed drei?«

»Achmed drei, ja.« Trotz Henningers knabenhafter Stimmlage konnte Treidler die Unlust heraushören, mit der er geantwortet hatte.

Henningers Gleichgültigkeit brachte Treidler endgültig auf die Palme. »Geht das auch etwas genauer? Und lassen Sie sich nicht jedes verdammte Wort aus der Nase ziehen.« Er schaute auf seine dreckverspritzten Cowboystiefel, dann zum dunklen Himmel. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Henninger seufzte. »Das sind Leiharbeiter. Die Typen kommen und gehen. Ich kann mir ihre Namen nicht merken.«

»Und deswegen haben Sie sie nummeriert?«

»Wir hatten auch schon mal Iwan eins bis sechs.« Um Henningers Mund huschte ein schwaches Lächeln, als er das Naheliegende sagte: »Das waren unsere Russen.«

»Und wer kennt seinen richtigen Namen?« Melchior trat einen Schritt auf ihn zu und legte den Kopf schief.

»Meine Frau macht den Papierkram.« Henningers Stimme schien mit jedem Wort piepsiger zu werden. »Vielleicht weiß sie ja seinen Namen.«

»Vielleicht?« Melchior stemmte die Fäuste in die Hüften und sah herausfordernd zu ihm auf.

»Ja, vielleicht«, gab Henninger zurück und musterte sie wie ein lästiges Insekt.

Melchior hielt seinem Blick stand. »Dann rufen Sie sie an. Sie soll herkommen. Jetzt gleich. Und sie soll die aktuellen Personalunterlagen aus dem Büro mitbringen.«

Ohne Melchior aus den Augen zu lassen, nahm Henninger ein weiteres Mal sein Mobiltelefon zur Hand und drückte auf dem Display herum.

Eine gute halbe Stunde später, Treidler und Melchior hatten mittlerweile ein halbes Dutzend Arbeiter ergebnislos befragt, war von Henningers Frau noch immer nichts zu sehen. Regen und Wind nahmen wieder zu, sodass sie beschlossen, die Befragung vorerst auszusetzen. Bei Bedarf würden sie auf die Liste von Polizeimeister Lukas Meyer zugreifen, der inzwischen die Namen aller Anwesenden zusammengestellt hatte. Weitere Befragungen konnten sie dann auf dem Polizeirevier nachholen.

Unten in der Baugrube spannte sich seit Kurzem ein weißer Zeltpavillon über der Fundstelle. Ein größerer Bereich war mit rot-weißem Flatterband abgesperrt. Treidler und Melchior machten sich auf den Weg. Immerhin wären sie dort im Trockenen.

Als sie unten ankamen, hatten Josef »Sepp« Dorfler, Leiter der KTU Rottweil, und zwei seiner Männer bereits damit begonnen, die Leiche auszugraben und vom Schlamm zu befreien.

Treidler räusperte sich, obwohl er sich kaum traute zu fragen. »Haben Sie schon was für uns?«

Dorfler fuhr herum, trat einen Schritt auf sie zu. »Wir sind gerade mal zehn Minuten hier.«

Treidler hob abwehrend die Hände. »Ich weiß. Sollen wir später wiederkommen?«

»Nein. Das wird wohl kaum einen Unterschied machen.«

»Und warum?« Melchior runzelte die Stirn und schielte zu dem Toten.

»Vergessen Sie’s. Der Körper ist voller Schlamm.« Dorfler deutete auf den Boden. »Und das ist eine verdammte Sauerei. So was hab ich noch nie erlebt.«

Statt darauf zu antworten, beließ Treidler es bei einem anerkennenden Nicken.

»Spuren könnt ihr schon mal komplett vergessen«, fuhr Dorfler fort. »Bei dem Matsch hier ist garantiert nichts mehr zu holen.«

»Aber vielleicht haben Sie trotzdem schon eine Vermutung für uns.« Treidler war sich sicher, dass der KTU-Leiter eine erste Erklärung parat hatte.

Dorfler strich mit der Handfläche über seinen Schnauzbart, der fast die Hälfte des Gesichts einnahm. »Wahrscheinlich ist er da irgendwo runter.« Er deutete in Richtung des Turms.

»Was bringt Sie zu dieser Annahme?«, fragte Melchior.

»Der Körper weist eindeutig Merkmale eines Sturzes auf. Und der arme Kerl wird sich wohl kaum irgendwo anders zu Tode gestürzt und dann hier vergraben haben.« Scheinbar unbeeindruckt fuhr Dorfler fort: »Opfer eines Sturzes aus großer Höhe haben Ähnlichkeit mit denen einer Explosion.« Er blickte zwischen Treidler und Melchior hin und her. »Stellen Sie sich einfach einen kleinen Körper in einem viel zu großen Anzug vor. So etwa wird er aussehen, wenn wir ihn ganz ausgegraben haben.«

Genau das wollte Treidler sich im Moment nicht vorstellen. Er wandte sich ab, schielte unter der Zeltplane hervor. Wie in Bindfäden floss das Wasser vom Zeltdach zu Boden. Oben, am Rand der Baugrube, entdeckte er Henningers roten Bauhelm. Unter einem großen gelben Regenschirm mit Sinalco-Werbung unterhielt er sich mit einer blonden Frau Mitte dreißig, die helle, für eine Baustelle völlig unpassende Kleidung trug. War das Henningers Frau?

Hinter sich hörte Treidler Dorflers tönende Stimme. »Die Grenzgeschwindigkeit für einen bäuchlings fallenden Menschen liegt bei etwa einhundertachtzig bis zweihundert Stundenkilometern.«

Verdammte Grenzgeschwindigkeit, dachte Treidler und trat unter dem Pavillon hervor.

»Aber wenn man mit dem Kopf oder den Beinen voraus fällt, an die fünfhundert«, fuhr Dorfler fort, während Treidler sich auf den Weg hoch zum Rand der Baugrube machte.

Obwohl er wie auf Eiern über den Matsch ging und jeder Pfütze auswich, schienen sich seine Hosenbeine weiter mit Schlamm vollzusaugen. Erst auf dem geschotterten Weg traute Treidler sich, fester aufzutreten. Doch es war schon zu spät. Die Schlammspritzer auf dem hellblauen Jeansstoff reichten bis hoch zu den Knien.

Oben angekommen, trat Treidler vor Henninger und die blonde Frau. Obwohl sie es eigentlich nicht nötig gehabt hätte, war ihr Gesicht stark geschminkt. Die dünnen Brauen über ihren grünen Augen verstärkte ein dick aufgetragener, dunkler Kosmetikstift.

»Frau Henninger?«, fragte Treidler und schob seinen Kopf etwas nach vorne, um ihn unter den Schirm zu halten. Die Haare hatten sich inzwischen derart vollgesogen, dass das Wasser über sein Gesicht den Hals hinunter bis ins Hemd lief.

»Bin ich, ja. Claudia Henninger«, gab sie schnell zurück und formte ihre viel zu roten Lippen zu einem knappen Lächeln. Trotz dieser Vorsichtsmaßnahme zeigten sich an den Mundwinkeln erste Risse im dick aufgetragenen Make-up.

»Mein Name ist Hauptkommissar Wolfgang Treidler. Ihr Mann hat Ihnen sicherlich schon vom Fund des Toten erzählt«, sagte Treidler und bemerkte, dass er wieder im Regen stand. Ihm kam es so vor, als ob Paul Henninger den Schirm absichtlich etwas zurückgezogen hatte.

»Hat er, ja«, erwiderte Claudia Henninger. »Ist das nicht schrecklich? Der arme Mann. Wie’s aussieht, hat er eine Zeit lang für uns gearbeitet.«

»Wie’s aussieht?«

»Eigentlich bin ich mir sicher.« Ihr Lächeln hatte etwas von einer Entschuldigung. »Achmed– so nennt mein Mann alle arabischen Mitarbeiter. Er kann sich ja ausländische Namen überhaupt nicht merken. Nicht einmal, dass seine Lieblingspizza Calabrese heißt. Kennen Sie die? Tomaten, Sardellen, Oliven?«

Treidler fand, dass sich das Ehepaar Henninger gut ergänzte. Während er zu wenig sprach, sprudelte es aus ihr nur so heraus.

»Egal«, beeilte sich Claudia Henninger zu sagen, als er nach einer Weile noch nicht geantwortet hatte. »Jedenfalls arbeiten seit einer Weile drei Araber bei uns, die in der Nachtschicht die Abdichtarbeiten machen sollten.«

»Sollten?«

»Sollten, ja. Am Freitagabend sind zwei nicht zu ihrer Schicht erschienen. Aber das muss nichts heißen.«

»Warum?«

»Es kann sein, dass die Leiharbeitsfirma von einem Tag auf den anderen neue Leute schickt. Die meisten kennen sich nicht mal untereinander. Ich krieg deren Papiere oft erst ein paar Tage später.« Ohne Punkt und Komma fuhr sie fort: »Wissen Sie eigentlich, was passiert ist? Das war doch bestimmt ein Unfall.«

»Dazu können wir derzeit noch nichts sagen.« Treidler sah hinunter zum Zeltpavillon. Melchior unterhielt sich weiter mit Dorfler. Er selbst wandte sich wieder an Claudia Henninger. »Haben Sie für uns die Namen Ihrer Mitarbeiter, die letzte Woche hier am Turm gearbeitet haben?«

»Warten Sie.« Sie kramte in ihrer Handtasche. »Ich hab sie Ihnen aufgeschrieben.«

Treidler machte einen winzigen Schritt nach vorne und versuchte, in die teuer aussehende Handtasche zu schielen. Zwar konnte er vom Inhalt kaum etwas sehen, hatte dafür aber seinen Kopf wieder unter dem Regenschirm.

Claudia Henninger förderte einen gefalteten Zettel aus ihrer Tasche zutage und hielt ihn mit einer bedauernden Miene Treidler hin. »Die beiden, die am Freitag nicht zur Schicht gekommen sind, hab ich angekreuzt. Und mein Mann ist auch oft hier. Der steht allerdings nicht drauf.«

Treidler entfaltete das Papier und zählte fünf Namen, von denen er die meisten vermutlich nicht einmal aussprechen, geschweige denn fehlerfrei schreiben konnte. Hinter zweien befand sich ein kleines Kreuz. Er steckte den Zettel in die Hosentasche. »Danke für die Liste. Aber das wird nicht ganz reichen. Wir brauchen ihre Anschriften sowie Kopien der Pässe oder der Aufenthaltsgenehmigungen.« Er bemerkte, wie sein Nacken plötzlich klatschnass wurde. Paul Henninger hatte den Schirm leicht nach vorne gekippt, sodass das Regenwasser direkt in seinen Kragen lief.

Verfluchter Trottel. Treidler wischte sich das Wasser aus dem Nacken, trat direkt vor Paul Henninger und sah ihm in die Augen. »Finden Sie das lustig?«

Der setzte eine ahnungslose Miene auf. »Was meinen Sie?«

»Noch so eine Nummer, und ich nehme Ihnen diesen Scheiß-Schirm weg.« Treidler zwang sich, ruhig zu bleiben.

Paul Henninger schaute zu Boden. Es war kaum zu übersehen, dass er sich das Lachen verkneifen musste.

»Wo bleiben eigentlich die Personalunterlagen?« Unversehens war Treidlers Tonfall nun doch schärfer geworden.

»Die hab ich vorhin zu mir ins Auto gepackt«, vernahm er Claudia Henningers Stimme.

»Danke.« Er wandte sich wieder an Paul Henninger. »Geben Sie die Unterlagen bitte dem jungen Polizisten dort.« Treidler deutete zu Lukas Meyer, der sich mit Petzold, dem Bauleiter, unterhielt. »Er bringt sie dann zu uns ins Kommissariat.«

Paul Henningers Blick folgte dem Finger. »Was? Jetzt gleich?«, fragte er und sah Treidler an, als wollte er ihn mit seinen Blicken vergiften.

»Natürlich jetzt gleich.« Mit einer schnellen Handbewegung nahm Treidler Paul Henninger den Schirm aus der Hand und hielt ihn über sich und Claudia Henninger. »Wie ich schon sagte, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Paul Henninger brummte etwas vor sich hin, setzte sich dann jedoch in Bewegung.

»Und achten Sie darauf, dass die Unterlagen nicht nass werden. Vielleicht besorgen Sie sich einen Schirm«, rief Treidler ihm nach und verbarg sein Grinsen vor Claudia Henninger.

»Und wann bekomme ich meine Unterlagen wieder zurück?«, fragte sie.

»Ich denke, in ein paar Tagen.«

Bevor Claudia Henninger etwas darauf erwidern konnte, drang ein Pfiff an Treidlers Ohren. Er sah in die Baugrube. Dorfler war unter dem Zeltpavillon hervorgetreten und winkte ihm zu. Offenbar hatten sie etwas gefunden. Und so aufgeregt, wie er mit der Hand wedelte, konnte es sich nur um etwas Wichtiges handeln.

3

»Unser Mann heißt Harun Selmani.« Melchior hielt in ihren blauen Gummihandschuhen ein verschmutztes Stück von etwas hoch, das auf den ersten Blick aussah wie verbrannter Karton. »Jedenfalls steht das im Sozialversicherungsausweis, den wir bei ihm gefunden haben.«

Treidler trat neben sie und warf einen Blick auf den Ausweis. Von dem ursprünglichen Rosa des Papiers war nicht mehr viel zu erkennen. Die Innenseite mit Passbild und Namen hatte Melchior offensichtlich mit etwas Wasser gesäubert. Widerwillig sah Treidler zur Fundstelle. Inzwischen hatten die Männer der KTU die Leiche nahezu ganz ausgegraben. Und es war, wie Dorfler gesagt hatte: Dort auf dem Boden lag ein kleiner Körper im viel zu großen Anzug– unnatürlich verdreht, die Glieder verrenkt. Treidler verstand nicht allzu viel vom Aufbau des menschlichen Skeletts. Aber der armdicke Knochen, der neben der rechten Schulter gut und gerne zehn Zentimeter aus dem Körper ragte, gehörte nicht dorthin. Und dieser Knochen schien auch der Grund zu dafür sein, dass der Arm abgetrennt worden war.

Treidler zwang sich, nur das Gesicht des Toten anzuschauen. Er sah zum Passbild im Ausweis, dann wieder zur Leiche. Trotz Schlamm und Verletzungen hatten sie offensichtlich das Opfer identifiziert: Bei Achmed drei handelte es sich um Harun Selmani.

»Habt ihr sonst noch was gefunden? Handy? Irgendwelche anderen Papiere?« Treidler sah den beiden anderen Männern der KTU zu, wie sie mit winzigen roten Plastikschaufeln vorsichtig den Matsch am und um den Körper entfernten. Erst auf den zweiten Blick erkannte er, dass es sich tatsächlich um Kinderspielzeug für den Sandkasten handelte.

»In der Brusttasche seiner Jacke steckten ein Feuerzeug und eine angefangene Zigarettenpackung ›Gitanes Maïs‹. Mehr haben wir bisher nicht gefunden. Aber vielleicht liegt noch was unter der Leiche.«

»Gitanes Maïs?« Treidler musste an seine Jugendzeit denken, als die vermeintlich harten Jungs auf seiner Schule diese packpapierartigen Zigaretten geraucht hatten. »Die gibt’s doch in Deutschland überhaupt nicht mehr zu kaufen.«

»Deswegen haben sie wohl auch eine französische Steuermarke.«

»Ungewöhnlich.« Treidler schüttelte es innerlich, als er an den Geruch der brennenden Zigarette dachte, die statt mit normalem Zigarettenpapier mit gelblichem Maispapier umwickelt war. Doch Gitanes Maïs rochen und schmeckten nicht nur wie brennendes Gras. Durch das Maispapier wurde die ohnehin schon starke Wirkung des schwarzen Tabaks weiter verstärkt. Das war wohl auch der Grund, warum die meisten nach nur einer Packung wieder zu Marlboro oder Camel gewechselt hatten.

»Wir machen jetzt noch ein paar Fotos. Dann gebe ich ihn zur Abholung frei.« Dorfler musterte Treidler. »Sofern Sie nichts dagegen haben.«

»Wegen mir kann er weg.« Durch den Schlamm würden sie vermutlich sowieso keine verwertbaren Spuren auf dem Leichnam finden. Treidler sah zu Melchior, die inzwischen den Sozialversicherungsausweis eingetütet hatte. Sie zuckte mit den Schultern. Offenbar hatte auch sie nichts gegen eine Abholung einzuwenden.

Wenig später tauchten Lukas Meyer und in seinem Schlepptau Bauleiter Gerd Petzold unter dem Zeltpavillon auf. »Vielleicht kann Herr Petzold doch noch etwas beitragen«, begann Meyer sogleich.

»Wir sind ganz Ohr«, entgegnete Treidler.

Petzold räusperte sich. »Oben am Kran gibt es eine Kamera, die ununterbrochen filmt. Die Aufnahmen werden ins Internet übertragen und zwei Wochen lang gespeichert, bevor sie überspielt werden.«

»Auch nachts?« Treidler konnte sich nicht vorstellen, dass der Mann bei helllichtem Tag zu Tode gestürzt war. Das wäre gewiss bemerkt worden.

»Bei uns gibt’s kein nachts.« Petzold lächelte überlegen. »Wir arbeiten vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Bei Nacht wird der Rohbau taghell beleuchtet. Da sind Strahler und Reflektoren mit einigen tausend Watt angebracht, ähnlich wie das Flutlicht im Fußballstadion. Oben müssen sie schließlich arbeiten.«

Melchior zog die Gummihandschuhe von ihren Händen. »Und worauf warten wir?«

»Wenn Sie es sich gleich anschauen wollen, sollte ich in etwa wissen, wann das da passiert ist.« Petzold deutete mit dem Kinn zur Fundstelle. »Ansonsten müssen wir uns die Aufnahmen der letzten beiden Wochen anschauen. Und das sind fast fünfhundert Stunden. Oder wollten Sie sich eine Kopie davon mitnehmen?«

Melchior wandte sich an Dorfler. »Haben Sie schon eine Größenordnung für uns?«

Der fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger ein paarmal über seinen Schnauzbart. Für Treidler ein untrügliches Zeichen, dass Dorfler sich tatsächlich schon Gedanken über den Todeszeitpunkt gemacht und offenbar auch eine Antwort parat hatte. Wenn auch eine, die er noch nicht teilen wollte.

»Für eine Schätzung– oder Größenordnung, wie Sie so schön sagen– muss man verschiedene Faktoren berücksichtigen«, begann er, ohne aufzusehen. »Neben dem Verwesungsgrad der Leiche auch die Temperatur und die Bodenbeschaffenheit. Eines steht jedoch zweifelsfrei fest: Der Mann ist seit mindestens zwei Tagen tot. Die Leichenflecke lassen sich auch unter größtem Druck nicht mehr wegdrücken. Dazu passt auch der Verwesungsgrad. Ich würde auf drei bis vier Tage tippen, weil es besonders nachts zuletzt relativ kühl war.«

»Das heißt, mindestens seit Ende letzter Woche?« Diese Aussage schloss lediglich das vergangene Wochenende aus. Treidler sah sich schon die Aufzeichnungen der letzten zwei Wochen anschauen. »Und längstens?«

»Da wird’s schon schwieriger.« Dorfler sah zur Leiche und musterte sie einige Male von oben bis unten. Schließlich wandte er sich wieder um, ohne etwas zu sagen, und strich sich erneut über seinen Schnauzbart.

»Was? Keine Idee?«

»Nehmen wir an, es sind zwei oder drei Tage ergiebigen Regens notwendig, um den Boden hier so aufzuweichen, dass ein Körper bei einem Sturz aus dieser Höhe einsinkt. Davor wäre es zu trocken und damit zu hart. Wenn man nun bedenkt, dass es erst seit Anfang letzter Woche ausreichend regnet, und dann die zwei Tage Regen hinzuzählt, komme ich auf…«

»Mittwoch oder Donnerstag«, vervollständigte Melchior. »Und da wir davon ausgehen müssen, dass es nachts geschehen ist, kommen nur die jeweiligen Nächte in Frage.«

Dorfler nickte. »Bis Freitagmorgen sind das höchstens zehn Stunden Videomaterial, die Sie sich anschauen müssen. Abend- und Morgenstunden sowie den Schichtwechsel können Sie schon mal außer Acht lassen. Da wäre so ein Sturz bemerkt worden.«

Freitagmorgen! Verdammt. Claudia Henningers Liste. Treidler fasste sich an den Kopf. Die hatte er ganz vergessen. Er kramte den Zettel aus der Hosentasche und entfaltete ihn. Der dritte Name darauf lautete tatsächlich »Harun Selmani«. Und es war einer der beiden Namen, die sie mit einem Kreuzchen versehen hatte.

»Was ist das?« Melchior schielte auf das Papier in Treidlers Händen.

»Eine Liste von Henningers Leuten, die hier arbeiten. Da steht der Name Harun Selmani drauf.«

»Und das Kreuzchen dahinter, was bedeutet das?«