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Liebenau, ein verschlafenes Schwarzwalddorf am Rande des Freiburger Einzugsgebiets. Vor dem Anwesen eines selbsternannten Wahrsagers wird eine Leiche gefunden. Der schrullige Hauptkommissar Fieker ermittelt und zieht Parallelen zu einem früheren Fall: Vor fünfundzwanzig Jahren wurden fünf Jugendliche aus Liebenau, die unter dem Bann okkulter Mächte standen, bestialisch ermordet. Fieker spürt, dass es eine Verbindung des aktuellen Falls zur alten Mordserie gibt. Seltsame Gestalten halten das kleine Dorf in Atem und führen die Ermittlungen zurück in die Vergangenheit und zu einem alten Geheimnis, welches ein Vierteljahrhundert lang im Schwarzwald schlummerte...
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Seitenzahl: 398
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Liebenau, ein verschlafenes Schwarzwalddorf am Rande des Freiburger Einzugsgebiets. Vor dem Anwesen eines selbsternannten Wahrsagers wird eine Leiche gefunden. Der schrullige Hauptkommissar Fieker ermittelt und zieht Parallelen zu einem früheren Fall: Vor fünfundzwanzig Jahren wurden fünf Jugendliche aus Liebenau, die unter dem Bann okkulter Mächte standen, bestialisch ermordet. Fieker spürt, dass es eine Verbindung des aktuellen Falls zur alten Mordserie gibt. Seltsame Gestalten halten das kleine Dorf in Atem und führen die Ermittlungen zurück in die Vergangenheit und zu einem alten Geheimnis, welches ein Vierteljahrhundert lang im Schwarzwald schlummerte…
Jochen Pogrzeba, geb. 1967, lebt und arbeitet in Freiburg und schreibt seit mehreren Jahren Geschichten aus den Bereichen Mystery, Science-Fiction oder Krimi.
„Fieker und der Teufelskreis“ ist sein dritter Roman, jedoch der Erste aus einer geplanten „Fieker-Reihe“.
Baphomet
Fieker
Liebenau
Die Heidelbeer-Morde
Gazellen und Bessoffkis
Wildwechsel
Peter Müller
Die Razzia
Reitstiefel
Zucker
Kalte Spaghetti
Familie Hofmeister
Pizza mit allem
Martin Birnbaum
Diabolos
Maria
Holzbestellung
Polyester und Kerzenständer
Eine Flucht
Georg
Die Kinder von Liebenau
Der Teufelskreis
Berlin
Gebelhoff
Der Teufelsberg
Ein Spaziergang
Implosion
Er blickte auf das Messer in seiner Hand, drehte es hin und her, als spielte er mit dem Blut, welches von der scharfen Klinge auf seinen Handrücken tropfte. Langsam ließ er die Waffe sinken und streichelte fast zärtlich mit der flachen Hand über die Stirn ihres Opfers. Ein verschmierter roter Fleck blieb dort zurück. Das röchelnde, schwerfällige Atmen eines sterbenden Menschen war vor wenigen Minuten verstummt und einer beruhigenden Stille gewichen. Er rieb die blutige Klinge gegen seine nackte Brust und malte einen groben Kreis auf seinen Oberkörper, genauso wie seine Freunde es ihm vorgemacht hatten. Zu seiner Linken saß Baphomet. Dieser war die Ruhe selbst. Kein heftiges Atmen, kein erhitzter Kopf verriet, dass er gerade ein Menschenleben ausgelöscht hatte.
Er blickte auf den toten Körper vor sich. Dieser war nackt, nur zugedeckt vom Blut, welches aus zahlreichen Wunden aus dem Oberkörper gequollen war. Nun, da das Herz aufgehört hatte zu schlagen, waren die Blutungen versiegt. Das Ejakulat auf dem Bauch der Leiche war mittlerweile getrocknet, vermischt mit dem gelben Kerzenwachs, welches Baphomet langsam auf den Körper tropfen ließ.
„Wir brauchen das Herz und die Augen.“
Er war erstaunt, mit welcher Ruhe und Gelassenheit Baphomet diese Worte aussprach. Langsam setzte Samael ein Messer über dem Jochbein an und stieß sanft in das Gewebe unter dem rechten Auge.
„Sie sind der Spiegel der Seele. Wenn du dir die Augen eines Menschen nimmst, dann gehört dir sein Geist.“
Ein runder Schnitt durchtrennte den Sehnerv.
„Das Herz ist das Zentrum des Körpers, hier sitzt alle Energie, die ihn durchfließt. Wir nehmen es uns und werden es ihm bringen. Das wird sein Wohlgefallen finden.“
Baphomet trieb das Messer unterhalb des Sternums in den toten Körper. Mit chirurgischer Genauigkeit schnitt er durch das Zwerchfell, bis der Bereich unter dem Rippenbogen offen vor ihm lag. Das Messer achtlos beiseite werfend krempelte er seinen blutverschmierten Hemdsärmel nach oben. Vorsichtig führte er seine Finger in den breiigen Oberkörper. Während Baphomets Hand bis zum Gelenk im Brustraum verschwand, legte Samael die beiden Augen in eine tönerne Schale.
Er stand auf und ging zu einem Hocker. Zum ersten Mal spürte er, wie die Anspannung von ihm wich und einer diffusen Verwirrung Platz machte. Der Boden schien sich unter ihm zu drehen, und ein heftiges Pfeifen durchströmte seinen Kopf. Er stützte sich mit einer Hand an der kalten Wand ab und tastete nach dem hölzernen Hocker. Er drehte sich noch mal um und blickte in die Mitte des dunklen Raumes, wo Baphomet und Samael neben der Leiche saßen, nur angeleuchtet vom fahlen Schein dutzender kleiner Kerzen. Der Keller war fensterlos, nur von Spinnen und Silberfischchen bewohnt. Die grauen, unverputzten Wände schienen das Licht der Kerzen zu verschlucken, als ob sich das Innere dieses Raumes allen physikalischen Gesetzen entzöge. In seinem Kopf loderte ein Feuer und bevor er sein Bewusstsein verlor, konnte er wie durch einen Schleier sehen, wie Baphomet ein rotes Stück Fleisch aus dem Körper zog.
Wenn man mich fragt, was mein erster Eindruck von Hauptkommissar Bernhard Fieker war, dann entgegne ich immer, dass es keinen wirklich ersten Eindruck gab. Es war vielmehr eine wahre Sintflut von ersten Eindrücken, die über mich hereinbrach, als ich ihn damals im Zusammenhang mit dem Fall des Teufelskreises von Liebenau kennenlernte.
Ich werde den Tag nie vergessen, an dem ich alleine in der Aula der Kriminalpolizeidirektion in Freiburg stand, einen übergroßen Rucksack auf dem Rücken, mit allerlei Utensilien gefüllt, von denen ich annahm, sie für meinen ersten Arbeitstag zu brauchen. Ich hatte am Wochenende zuvor meinen Umzug aus Aalen halbwegs geräuschlos über die Bühne gebracht und hatte nun den Kopf frei für meinen ersten Arbeitstag.
Mit dem verzweifelten Versuch, meine Unsicherheit zu verbergen, lief ich auf die dickliche Empfangsdame zu, die sich hinter einer Glasscheibe verschanzte. Als sie mich kommen sah, stand sie auf und blickte lächelnd durch das großzügige Fenster. Sie grapschte sich eine modern wirkende Hornbrille von der Tischablage und setzte sie umständlich auf. Einer der Bügel war noch eingeklappt, sodass sie die Brille wieder vor das Gesicht zog, ihre Haare zurückwarf und beim zweiten Versuch die Sehhilfe akkurat auf ihre Nase platzierte. „Sie wünschen?“
„Mein Name ist Kommissar Nick Reetmann. Ich habe heute meinen ersten Arbeitstag.“
Ihr Lächeln wich einem breiten Grinsen, und mit einem festen Ruck schob sie die dicke Glasscheibe zur Seite.
Mit einer Geschwindigkeit, die ihr plumper Körper nicht vermuten ließ, schnellte ihre Hand nach vorne. „Na, dann herzlich willkommen, Herr Reetmann. Ich bin Gabriele Ludwig. Sie dürfen aber natürlich Gabi zu mir sagen, das machen hier alle so. Wo müssen Sie denn jetzt hin?“
„Dezernat 11, Kapitaldelikte.“
„Ah ja, Kapitaldelikte. Das sind die ganz schweren Jungs.
Und wer ist Ihr vorgesetzter Kommissar?“
„Ich bin der Ermittlungsgruppe von Kriminalhauptkommissar Fieker zugeteilt.“
Ihr Blick fiel plötzlich nach unten. „Hauptkommissar Fieker sagen Sie?“
„Ja, stimmt was nicht?“
„Doch, doch, schon. Es ist nur so, dass …“ Sie fasste sich an ihre Brille und nahm einen Stapel Papier in die Hand, welchen sie verlegen durchblätterte.
„Ich sollte vielleicht ruhig sein, es ist besser, wenn Sie Ihre eigenen Erfahrungen mit Herrn Fieker machen. Er ist etwas, sagen wir, speziell.“
„Speziell?“
„Nun ja, manche kommen gut mit ihm aus und manche halt auch nicht. Aber Sie werden ihn ja bald kennenlernen.“
„Wo kann ich ihn denn finden?“
„Vierter Stock und dann den Gang nach hinten. Melden Sie sich am besten bei Angelika Leibinger. Sie ist die Aktenführerin und gute Seele der Truppe.“
„Danke. Ich denke, ich werde den Weg finden. Vierter Stock, sagten Sie?“
„Ja, genau. Ach, eins noch, Herr Reetmann.“
Ich trat wieder einen Schritt an die Empfangstheke heran.
Gabi klammerte sich nun an der Glasscheibe fest und beugte sich so weit wie möglich über den Tresen. „Wenn Sie Herrn Fieker ansprechen, achten Sie unbedingt darauf, dass Sie das ie in der Mitte wirklich lange aussprechen, sonst hört sich das an, wie … na, Sie wissen schon …“
„Ich glaube, ich habe verstanden.“
Ich nahm die Treppe in das vierte Obergeschoss und fand mich vor einer Glaswand wieder, die von innen mit gelben Vorhängen verdeckt war. Von einem längeren Gang, wie von Gabi beschrieben, war nichts zu erkennen.
Eine ältere Dame kam um die Ecke. In beiden Händen hielt sie eine hellbraune Aktenmappe, die sie fest an ihre Brust drückte.
„Entschuldigen Sie, ich suche Dezernat 11, Kapitaldelikte. Ermittlungsgruppe Fieker.“
„Oh, da sind Sie ein Stockwerk zu weit gegangen. Das befindet sich unter uns. Hier ist nur das Archiv.“
„Die Dame am Empfang meinte, dass ich in den vierten Stock muss.“
„Müssen Sie auch, aber das hier ist der fünfte Stock.“
„Aber direkt neben der Treppe stand ein Schild, das diese Etage als viertes Obergeschoss auswies.“
Die Frau beugte sich nun leicht nach hinten und fing an zu lachen. „Sie sind nicht von hier, stimmt‘s?“
„Äh, nein.“
„Im Badischen wird das Erdgeschoss als der erste Stock bezeichnet. Wenn man Sie also in den vierten Stock schickt, dann ist damit das dritte Obergeschoss gemeint.
Sie müssen also eins nach unten.“
Kurz darauf stand ich in einem langen Flur, der auf ein raumhohes Fenster zuführte. Ein großer Gummibaum stand davor, der in dem tristen Gang einen grünen Glanzpunkt setzte. Die Zimmer auf beiden Seiten waren durch Glasscheiben einsehbar. Das Gebäude hatte seine besten Zeiten schon hinter sich, die abgegriffenen und verblassten Streben zwischen den stumpfen Fensterscheiben verströmten einen Achtzigerjahre-Charme, der die verblichene Modernität des Bauwerkes noch erahnen ließ. Der Blick in die Büros war nicht durch Gardinen, Jalousien oder Möbelstücke verdeckt, was der Abteilung eine offene Atmosphäre verlieh. An einem der ersten Büros war ein abgegriffenes Türschild befestigt. Mit geklebten Kunststofflettern war der Name „A. Leibinger“ darauf zu lesen. Drinnen konnte ich eine junge Frau erkennen, die lesend auf einen Bildschirm starrte. Ich klopfte an die Tür, wobei ich versuchte, mich weder zu zaghaft noch zu aufdringlich bemerkbar zu machen. Blitzschnell drehte sie ihren Kopf zur Seite, was ich als Einladung verstand. Die Klänge eines Mobiles zerrissen die Stille des Raumes, als ich die Tür nach innen öffnete. Angelika Leibinger, eine hübsche Endzwanzigerin, drehte sich mitsamt ihrem Bürostuhl zu mir und grinste mich an. „Sie müssen Kommissar Reetmann sein, richtig?“
Irgendwie gab mir diese Frau ein Gefühl, willkommen, ja vielleicht sogar angekommen zu sein.
„Ja, der bin ich. Auch wenn ich mich an den Kommissar noch nicht gewöhnt habe. Das ist meine erste Stelle nach der Anwartschaft.“
„Na, dann sind Sie bei uns genau richtig. Ich bin Angelika. Wenn Sie möchten, können wir uns duzen.“
„Gerne, ich heiße Nick.“
„Ich bin die Aktenführerin unserer kleinen Ermittlungsgruppe, aber tatsächlich noch ein bisschen mehr als das. Wenn du irgendwelche Sorgen und Nöte hast, bei denen ich dir helfen kann, wende dich jederzeit an mich. Nur der übliche Bürokram wie Kaffeekochen und Material heraussuchen fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Ich bin nicht eure Sekretärin, auch wenn es dem Chef des Öfteren gelingt, dies zu ignorieren.“
„Hauptkommissar Fieker. Ist er denn zu sprechen?“
„Ja, er ist da. Er lief vor gut einer halben Stunde an meinem Büro vorbei. Lass mich mal schauen, ob seine Tür offen ist.“
Angelika grinste noch immer, als sie von ihrem Stuhl aufsprang und an mir vorbeilief. Sich mit der linken Hand am Türrahmen festhaltend, beugte sie sich nach vorne und blickte den Flur hinunter. Ich folgte ihrem Blick und konnte schräg gegenüber eine offene Tür erkennen.
„Du kannst jetzt zu ihm. Merke dir eins: Wenn die Bürotür geschlossen ist, darfst du niemals eintreten, nicht mal anklopfen. Selbst wenn es brennen würde. Der Chef ist da sehr eigen.“
„Gabi an der Rezeption hat mir schon angekündigt, dass Herr Fieker speziell wäre.“
„So kann man es auch ausdrücken. Man muss ihn halt zu nehmen wissen. Es dauert seine Zeit, bis man gelernt hat, wie man mit ihm umgehen muss. Wir haben das alle durchgemacht, auch wenn es manchmal ein schmerzhafter Prozess war. Aber mach dir keine Sorgen, wenn du mit dem Chef nicht klarkommst, ist das kein Problem, weil du dann schneller weg bist, als du schauen kannst. Das war keine Drohung, einfach nur Erfahrung. Und gib ihm nicht die Hand, er hasst das. Danach kommst du wieder zu mir, dann zeige ich dir deinen Platz. Du wirst bei Oberkommissar Birnbaum sitzen. Er ist das krasse Gegenstück zum Chef, äußerst umgänglich.“
„Da bin ich ja beruhigt.“
„Dann bleibt mir noch, dich hier in unserer Ermittlungsgruppe herzlich willkommen zu heißen. Rechne nicht damit, dass der Chef das tut, deswegen musst du dich mit meinem Willkommensgruß zufriedengeben.“
Ich lief den Flur hinunter, die offene Tür, auf die Angelika gedeutet hatte, stets im Blick. Links war ein leerer Besprechungsraum zu erkennen, rechts zwei großzügige Büros. In einem davon saßen eine junge Frau sowie ein Mann mittleren Alters, das andere war leer. Ich stand nun vor der offenen Tür und blickte in ein karg eingerichtetes Büro. Ein schiefes Regal, in dem die Ordner kreuz und quer verteilt lagen, ein kleiner Besprechungstisch, der unter der Last der darauf gestapelten Akten zu ächzen schien, sowie ein vollbeladener Schreibtisch waren das einzige Interieur. Am Schreibtisch saß ein kleiner, dicklicher Mann mit ungekämmten grauen Haaren, den mein plötzliches Auftauchen anscheinend aus der Konzentration gerissen hatte.
„Herr Hauptkommissar Fieker?“
Ich achtete darauf, das ie in seinem Namen lang und deutlich auszusprechen, ohne es jedoch allzu aufgesetzt wirken zu lassen.
„Herr Reetmann? Ich dachte, Sie kommen erst Mitte September?“
„Heute ist der sechzehnte.“
Fieker begann nun fast hektisch auf seinem Schreibtisch Ordnung zu machen, auch wenn er nur mehrere Stapel von einer Seite zur anderen räumte. Er zeigte auf einen Stuhl, auf dem drei schwere Aktenordner lagen.
„Nehmen Sie doch Platz.“
Ich wartete darauf, dass er aufstand und den Stuhl freimachte, oder mich zumindest aufforderte, die Ordner selbst beiseite zu räumen. Doch nichts dergleichen geschah. Ich ergriff die drei Aktenordner und stand nun bepackt vor dem Schreibtisch. „Wohin damit?“
„Legen Sie sie einfach auf den Boden.“
Ich schob die Akten an die Wand neben einem Stapel Ordner, der der Staubschicht zufolge schon länger dort lag. Dann setzte ich mich auf den frei gewordenen Stuhl.
„Ich muss Frau Leibinger mal auffordern, dass sie ihre Akten wieder wegräumen soll, die nehmen hier nur Platz weg.“
Fieker schaute mich an, als ob er eine Antwort von mir erwartete. Ein dumpfes Gefühl sagte mir, dass ich mich jedoch mit einer Aussage zurückhalten sollte. Für einen Moment herrschte ein unangenehmes Schweigen im Raum. Fieker starrte mich unverhohlen an und für einen Moment konnte ich ein Leuchten in seinen Augen sehen. In seinem Blick lag Neugierde, als würde ihm mein Auftauchen einen merkwürdigen Kitzel bescheren. In völligem Kontrast zu dem Chaos um uns herum konnte ich in ihm eine aufgeräumte Persönlichkeit erkennen, die mir Abgeklärtheit und Selbstsicherheit vermittelte. Ich wusste noch nicht, wie ich ihn zu nehmen hatte, mir blieb nichts anderes übrig, als abzuwarten und ihm den ersten Schritt zu überlassen.
„Sie kommen also aus Aalen, Herr Reetmann?“
„Ja, während meines Studiums in Villingen-Schwenningen habe ich meine Praxisphase im Kriminalkommissariat Aalen abgeleistet, Inspektion für Raub- und Eigentumsdelikte.“
„Das habe ich in Ihren Praktikumsberichten gelesen. Ich konnte dort auch sehen, dass der Henninger mittlerweile leitender Hauptkommissar ist. Ich bin über diese Berichte gestolpert, weil Ihre Zeugnisse sehr schlecht sind. Um direkter zu sein, so miserable Zeugnisse habe ich noch bei keinem Kommissaranwärter gesehen.“
Ich fühlte eine Unsicherheit in mir wachsen, die mir die Worte aus dem Mund schlug. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit, dass Fieker meine Zeugnisse ansprach. Ich hatte das Gefühl, dass alles, was ich zur Verteidigung oder Rechtfertigung vorbringen konnte, vergebens war. Es war schwarz auf weiß festgehalten, was Hauptkommissar Henninger aus Aalen von mir und meiner Arbeit hielt, damit musste ich nun klarkommen.
Fieker saß ganz ruhig und entspannt hinter seinem Schreibtisch, kein geschäftiges Kramen in Papieren oder nervöses Klicken mit Kugelschreibern. „Wissen Sie, Herr Reetmann, ich kenne Kriminalhauptkommissar Henninger nun schon eine ganze Weile. Ich durfte ihn auf diversen Kongressen erleben und hatte in einigen Arbeitsgruppen im Innenministerium mit ihm zu tun. Ich habe in meiner Laufbahn selten einen so unfähigen und inkompetenten Kollegen erlebt. Dazu rechthaberisch und extrem von sich eingenommen. Nach außen hin versteht er es, eine glänzende Fassade aufzubauen, aber wenn es dann an die eigentliche Arbeit geht, seilt er sich ab und lässt andere für sich schaffen. Die einzigen Menschen, mit denen er gut kann, sind Speichellecker oder Kollegen, die noch inkompetenter sind als er selbst. Und dies auch nur, damit sein eigenes Unvermögen nicht auffällt. Sie sehen, Herr Reetmann, ich empfinde es als Auszeichnung, wenn ein junger Kommissaranwärter bei Henninger durchfällt. In meinen Augen adelt es Sie sogar. Ich hatte das Gefühl, dass Sie daher gut zu uns passen.“
„Leider haben das andere Polizeidirektionen nicht so optimistisch beurteilt. Mein Bewerbungsverfahren gestaltete sich durch diese miserablen Praktikumszeugnisse ziemlich schwierig für mich.“
„Weil keiner Ihre Noten in den großen Kontext gesetzt hat. Ein guter Polizist, und besonders, wenn es sich um einen Mordermittler handelt, muss das ganze Bild sehen und auch mal hinter die Fakten schauen. Dazu sind einige Sachbearbeiter in den Polizeidirektionen offensichtlich nicht fähig. Ihren Unterlagen konnte ich auch entnehmen, dass Ihre Bachelorarbeit in der Fakultät für Kriminaltaktik, bei dem von mir sehr geschätzten Professor Lieke mit Sehr gut bewertet wurde. Und so, Herr Reetmann, habe ich dann eins und eins zusammengezählt. Wenn Sie gute Noten bei einem von mir sehr geschätzten Kollegen bekommen haben und miese Noten von einer der größten Pfeifen, die mir bisher begegnet sind, dann heißt das für mich, dass Sie ein interessanter Mann sind. Und deswegen sitzen Sie hier.“
Fieker lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schlug seine Beine übereinander. Erst jetzt konnte ich sehen, dass er seine Schuhe ausgezogen hatte und mit grauen Socken vor mir saß.
„Ich danke Ihnen für das Vertrauen, Herr Kriminalhauptkommissar.“
„Vergessen Sie den Titel. Nennen Sie mich einfach Herr Fieker. Oder von mir aus Chef, wie es die anderen tun.“
„Wann werde ich den anderen vorgestellt?“
„Vorgestellt? Können Sie das nicht selbst tun?“
Ich war etwas konsterniert über diese Absage, aber dank Angelika darauf vorbereitet.
„Gehen Sie einfach in die Büros und sagen Sie Hallo. Wo ist denn das Problem? Dazu brauchen Sie mich doch nicht.“
Wenig später klopfte ich an eine Glastür, die zu einem geräumigen Büro gehörte. Von außen konnte ich zwei große Schreibtische erkennen, an denen zwei Personen saßen. Ich trat ein und ohne einen Gruß abzuwarten, ergriff ich das Wort. „Hallo zusammen, mein Name ist Nick Reetmann. Ich bin neu in Ihrem Team. Herr Fieker meinte, ich solle mich einfach selbst vorstellen.“
Ein älterer Herr, ich schätzte ihn ungefähr auf das gleiche Alter wie Fieker, drehte sich flink zu mir um. Eine Frau, ungefähr um die Dreißig, schaute mich ein wenig erstaunt an, offenbar hatte ich sie aus ihren Gedanken gerissen.
Der Mann stand auf und lief auf mich zu. „Na, das hätte mich auch gewundert, wenn der alte Griesgram Sie höchst selbst durch unsere Gemächer geführt hätte. Das hier ist Melanie Urbanczyk. Kommissarin Urbanczyk und auch noch relativ frisch bei uns.“
„Drei Jahre, Rudi. Drei Jahre bin ich jetzt bei euch. Das ist alles andere als frisch. Manchmal glaube ich, dass ich schon reif für eine Versetzung bin.“
Sie stemmte sich mit ihrem Bürostuhl vom Tisch weg und stand nun ebenfalls auf. Sie überragte ihren Kollegen, den sie Rudi genannt hatte, um mindestens eine Kopflänge. Ihr schlanker durchtrainierter Körper zeigte mir, dass Sie sehr viel Sport trieb. Sie hatte lange dunkelblonde Haare, die ihr locker über die Schulter fielen. Auf mich machte sie den Eindruck, als sei sie gerade zu Hause von ihrem Sofa aufgestanden. Fehlende Schminke und ihre mausgraue Alltagskleidung ließen mich vermuten, dass sie sich wohl nicht allzu viel aus Äußerlichkeiten machte. Melanie Urbanczyk war bestimmt keine Frau, nach der die Männer sich auf der Straße umdrehen, strahlte aber auf ihre Art eine spröde Attraktivität auf mich aus. Als sie mich anlächelte, bewegten sich ihre Wangen nach oben und bildeten kleine rote Hügel unter ihren strahlenden Augen. Mit einer ausladenden Handbewegung legte sie ihren linken Arm um die Schulter ihres Kollegen.
„Und dieser grau melierte Herr hier ist Oberkommissar Rudolf Orlacher. Er ist der einzige in unserem Team, der den Chef einen alten Griesgram nennen darf.“
„Das liegt daran, dass ich ihn schon ewig kenne.“
„Vielleicht aber auch, weil du selbst ein alter Griesgram bist.“
„Ich bitte dich, Melanie. Ich bemühe mich jeden Tag, dir nur meine beste Laune zu präsentieren. Meine Frau ist schon eifersüchtig auf dich. Sie muss meine üble Laune ausbaden, wenn ich zu Hause bin.“
Melanie Urbanczyk streckte mir nun ihre Hand entgegen. „Lassen Sie sich nicht abschrecken, Rudi ist meistens gar nicht so schlimm.“
Auch Rudolf Orlacher hielt mir nun seine Hand entgegen. „Keine Angst, Melanie wird Sie relativ selten nerven können, sie ist nämlich eine gefragte Frau, wenn irgendeine Soko eingerichtet wird. Und dann sind wir sie los, zumindest für ein paar Wochen.“
Melanie versuchte ihm mit dem Ellenbogen in die Seite zu stoßen, doch Rudolf gelang es, ihr geschickt auszuweichen. „Ich schlage vor, dass wir uns duzen. Das machen wir alle so. Außer mit dem Chef natürlich.“
Er streckte mir nochmal seine Hand entgegen, die ich erst vor ungefähr zehn Sekunden geschüttelt hatte.
Wo kommst du denn her, Nick?“
„Aus Aalen. Wenn ich ehrlich bin, wollte ich mich nach Stuttgart versetzen lassen, doch das hat nicht geklappt. So bin ich nun halt in Freiburg gelandet.“
„Ach komm, das ist nicht die schlechteste Wahl. Schöner als in der verbotenen Stadt ist es hier allemal. Du wirst schon sehen.“
Melanie hatte sich nun wieder auf ihren Bürostuhl gesetzt. „Vermutlich wirst du hier gar nicht so viel mit uns zu tun haben. Rudi, Martin und ich werden regelmäßig in Sokos eingesetzt. Martin Birnbaum ist ein vielbeschäftigter Spezialist für Profiling und Fallanalytik. Du teilst dir mit ihm ein Büro, aber sehr oft wirst du auch ihn nicht sehen.“
Rudolf hatte sich wieder hingesetzt. „Ich gehe davon aus, dass du hauptsächlich mit dem Chef zusammenarbeiten wirst. Er hat immer gerne neue Kollegen um sich.“
„Ja? Warum denn das?“
„Er profitiert gerne von der Frische und Unvoreingenommenheit junger Kommissare. Er meint, er braucht dies als Gegenpol zu seiner Erfahrung und Abgeklärtheit. Seine größte Angst ist es, die Aufmerksamkeit für die Details und Seitenpfade zu verlieren.“
„So erging es mir auch“, fügte Melanie hinzu. „Die ersten drei Mordfälle meiner Karriere habe ich Seite an Seite mit ihm zusammengearbeitet. Allesamt Ermittlungserfolge. Ich hätte ihn oft genug an die Wand klatschen können, doch ohne diese Erfahrung wäre ich nicht die Kommissarin, die ich heute bin. Du wirst es selbst erleben, lass dich auf ihn ein. Sei der Lernende und der Zuhörende, doch bringe dich ein, wo auch immer sich eine Lücke auftut. Versuche nicht, Fieker zu ändern, aber ergänze und komplettiere ihn.“
Melanie grinste mich an, offenbar entging ihr mein verdutzter Blick nicht. „Mach dir keinen Kopf. Ich bin auch durch diese Schule gegangen. Wenn man so will, bin ich hier gründlich durchgefiekt worden.“
Rudolf prustete laut los. „Sei bitte vorsichtig, wenn du den Namen des Chefs aussprichst. Er tut zwar immer so, als ob er drüber steht, aber in Wirklichkeit ist er da sehr empfindlich.“
Rudolfs Lachen ging nun in ein leises, fast mädchenhaftes Kichern über.
Kurze Zeit später stand ich wieder bei Angelika Leibinger im Büro.
„Und, warst du beim Chef?“
„Ja, er hatte gerade Zeit.“
Sie beugte sich so weit zu mir vor, dass ich ihren Erdbeer-Kaugummi riechen konnte. „Und?“, flüsterte sie mir entgegen.
„Ich weiß nicht, es ist alles so neu für mich. Ich habe noch keinen richtigen Eindruck vom Chef gewonnen.
Oder vielleicht auch zu viele Eindrücke, ich kann es noch nicht sagen.“
„Na, das wird schon. Ich bin mir sicher, dass ihr bald eng zusammenarbeiten werdet. Der nächste Fall, der hier reinkommt, und ihr beide seid ein Team.“
Der ungewaschene VW Passat stand in einer abgelegenen Ecke des Betriebshofes der Polizeidirektion. Gabi von der Pforte hatte mir den Schlüssel ausgehändigt, zusammen mit den Wagenpapieren. Es war ein älteres Modell, doch da ich mir noch nie etwas aus Autos gemacht habe, war mir das reichlich egal. Das Fahrzeug hatte uns jetzt von hier zu unserem Zielort zu bringen, mehr erwartete ich nicht. Jetzt, das war in diesem Fall ein früher Mittwochmorgen. Uns, das waren Hauptkommissar Fieker und ich. Der Zielort war Liebenau, ein kleines Nest im Schwarzwald, irgendwo am Rande des Freiburger Einzugsgebietes. Ich drückte den Knopf der Fernbedienung, und das devote Klacken der elektronischen Schließanlage festigte meine Herrschaft über das Gefährt.
„Ist Ihnen doch recht, wenn Sie fahren?“
Fieker öffnete die Beifahrertür und stieg ein, ohne eine Antwort abzuwarten.
„Kein Problem, ich bin davon ausgegangen, dass ich fahren werde.“
„Na, dann sind wir uns ja einig.“
„Sie müssen mir nur sagen, wo es lang geht. Ich kenne mich mittlerweile so leidlich in der Stadt aus, aber von den umliegenden Dörfern habe ich keine Ahnung.“
Im Wagen roch es leicht muffig, doch Fieker schien es nicht zu bemerken. Er wirkte auf mich ein wenig angespannt, nicht wirklich nervös, doch von irgendeiner nicht näher deutbaren Ruhelosigkeit befallen. Fast wie ein alter Jagdhund, der sich freut, wieder auf die Jagd gehen zu können.
„Wir müssen uns nur etwas beeilen“, sagte Fieker.
„Wenn die Spurenzerstörung vor uns da ist, schauen wir in die Röhre. Die sind wie eine Horde Termiten, die alles auffrisst, was ihr in die Quere kommt. Und unsereins darf dann vierzehn Tage später die spärlichen Erkenntnisse aus irgendwelchen Akten zusammensuchen.“
„So schlimm?“
„Schlimmer. Ich mache mir lieber selbst ein Bild vom Tatort.“
Wenig später befanden wir uns im morgendlichen Berufsverkehr auf dem Zubringer nach Osten. Auch wenn wir nicht wirklich im Stau standen, kamen wir doch nur mit halber Geschwindigkeit voran. Fieker schwieg, es schien mir, als ob er tief in Gedanken versunken wäre. Nach einer Weile passierten wir das alte E-Werk an der Ochsenbrücke. Das imposante Gebäude saß am Ufer der Dreisam wie ein Fels neben einer Autobahn, deutlich abgehoben von der umliegenden Wohnbebauung. Die leuchtend weiße Farbe bildete einen harten Kontrast zum leicht bedeckten Himmel. Ich musste an das Cover zum Pink Floyd-Album Animals denken, auch wenn der Vergleich zur Battersea Power Plant im Süden Londons doch sehr gewagt war. Das Gebäude würde sich bestens als Kulisse für einen Horrorfilm eignen.
„Liebenau …“
Ich schrak aus meinen Gedanken hoch, als Fieker plötzlich und unerwartet dieses Wort leise in das Wageninnere flüsterte. Ich schaute kurz zu ihm hinüber, um gleich wieder meinen Blick auf den Straßenverkehr zu richten. Ich sagte kein Wort, denn so wie ich Fieker bisher kennengelernt hatte, war ich mir sicher, dass er gleich eine Erklärung hinterherschieben würde.
„Liebenau. Ich hatte gehofft, dass ich diesen Namen nie wieder hören muss.“ Fieker hatte meinen Blick als Aufforderung verstanden, seine Bemerkung fortzusetzen. „Nick, Sie sind nicht von hier. Daher nehme ich mal an, Sie haben noch nichts von den Heidelbeer-Morden von Liebenau gehört?“
Ich registrierte, dass er mich mit meinem Vornamen angesprochen hatte. Auch wenn ich zuerst nicht wusste, was ich davon halten sollte, fühlte es sich doch in Ordnung für mich an. Herr Fieker war nun keine passende Anrede mehr, wollte ich nicht ein Gefälle zwischen uns zementieren.
„Heidelbeer-Morde? Das hört sich für mich nach einem billigen Stück an einem Mundart-Theater an, Chef.“
Ich wählte diese Anrede mit Absicht, kam sie mir doch deutlich vertrauter vor, als ihn mit seinem Nachnamen zu nennen.
„Sie lachen. Das war aber eine schlimme Geschichte damals. Ich glaube, es war Anfang der Neunziger.“
Er ging nicht auf meine Anrede ein und ich fühlte, wie sich eine innere Anspannung in mir löste.
„Ich war ein junger Kommissar und hatte nur kurz damit zu tun. Ich wurde für einige Tage zur Spurenauswertung in die damalige Soko versetzt, danach aber wieder abgezogen. Der Fall füllte lange die Zeitungen in der Region. Mehrere Jugendliche sind damals ermordet worden, alle aus Liebenau oder der Umgebung. Ein Serienmörder trieb sein Unwesen in dem kleinen Dorf. Ich kann mich erinnern, dass er extrem grausam vorgegangen ist, manche Opfer wurden regelrecht ausgeweidet und verstümmelt. Der Täter wurde schließlich gefasst, es war ein verwirrter alter Mann, der die Taten dann auch gestanden hat.“
Mittlerweile hatten wir die Innenstadt hinter uns gelassen und fuhren in den Tunnel, der in das Dreisamtal führte.
„Verwirrt? Wie muss ich mir das vorstellen?“
„Der Täter war ein vorbestrafter Obdachloser. Als man ihn gefasst hatte, haben die Morde genauso schnell wieder aufgehört, wie sie begonnen hatten. Wenn Sie mich fragen, war er wohl geistig behindert. Er ist ein paar Jahre später in der Haft gestorben. Und so kam es, dass dieser Fall in den Archiven verschwand. Die Mordserie lag über dem ganzen Kommissariat wie ein Leichentuch. Heute wünsche ich mir, ich wäre damals stärker an den Ermittlungen beteiligt gewesen, doch es sollte nicht sein. Die Presse und die Politik haben einen enormen Druck auf uns ausgeübt. Unter diesen Umständen war eine saubere Ermittlungsarbeit ziemlich schwierig. Das war auch für mich persönlich keine entspannte Zeit. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, kann ich Ihnen mehr dazu erzählen.“
Wir verließen die Bundesstraße Richtung Stegen und näherten uns langsam den Ausläufern des Hochschwarzwaldes. Die Wälder wirkten hier deutlich dichter und düsterer als auf der Nordalb. Die dunklen Nadelbäume gaben mir das Gefühl, gegen eine Wand aus undurchdringlichem Gehölz zu fahren.
Kurz nachdem wir in Sankt Peter die Straße Richtung Norden genommen hatten, kamen wir in Liebenau an. Das Dorf bestand aus mehreren Gehöften und kleinen Häusern, die sich um einen unscheinbaren Ortskern gruppierten. Wir fuhren langsam weiter, bis uns eine enge Straße den Berg hinauf führte. Mehrere Polizeiautos und ein Notarztwagen erwarteten uns, als wir schließlich am Tatort ankamen.
„Die Spusi ist schon da. Nun ja, wenigstens haben sie noch nicht angefangen, alles wegzuschaffen.“
Fieker riss die Beifahrertür auf. Mit einem Elan, den ich dem Mann nicht zugetraut hätte, sprang er aus dem Auto. Als ich aus dem Wagen stieg, wehte mir ein angenehmer Wind ins Gesicht. Gute zwanzig Meter vor uns stand ein blauer Landrover Discovery quer auf der Straße. Mehrere Kollegen umringten den Wagen, zwei davon in weißer Schutzkleidung. Die Straße war mit rot-weißen Bändern abgesperrt, die, offenbar nicht richtig festgezurrt, im lauen Wind tanzten. Das Heck des Wagens zeigte auf eine Einfahrt, deren gusseisernes Tor offen stand. Ich vermutete daher, dass der Wagen wohl das Grundstück verlassen hatte, bevor er auf der Straße zu stehen kam. Rechts und links des Tores grenzte jeweils eine dicke Mauer aus weißem Stein das Grundstück von der Straße ab. Die Einfahrt gehörte zu einem kleinen Haus, welches sich ungefähr fünfzig Meter den Berg hinauf an den Waldrand schmiegte. Es war deutlich in die Jahre gekommen, das graue, efeuumrankte Mauerwerk des eingiebeligen Hauses zeigte unübersehbare Spuren der Verwahrlosung. Fieker schien das Haus und die umgebende Szenerie nicht wirklich zu kümmern, er hielt direkt auf den dunkelblauen Landrover zu, der in der Auffahrt stand. Ein dicklicher Polizist mit einem hochroten Kopf kam auf uns zu. Fieker blieb ruhig stehen und steckte demonstrativ seine Hände in die Jackentaschen. Der Polizist hob das Absperrband hoch, sodass wir darunter durch laufen konnten. Im Gegensatz zu meinem Chef musste ich meinen Kopf einziehen.
„Guten Morgen, ich bin Polizeiobermeister Diepholzer, Polizeidienststelle Kirchzarten.“ Er spielte leicht verlegen mit seiner rechten Hand, nicht wissend, ob Fieker diese zur Begrüßung annehmen wollte.
„Fieker, Kriminalkommissariat Freiburg. Das ist mein Kollege, Kommissar Reetmann.“
Ich nickte dem runden Mann mit den Hängelidern und dem gepflegten Vollbart wortlos zu.
„Wir wurden heute Morgen gegen 6 Uhr 30 telefonisch benachrichtigt. Eine Anwohnerin meldete, dass hier in Liebenau ein Toter gefunden wurde. Wir waren sofort vor Ort und haben das Kommissariat informiert. Der Tote saß in diesem blauen Fahrzeug, der Motor war aus, aber die Zündung war noch an, vermutlich abgewürgt. Offensichtlich wurde der Mann erschossen.“
Fieker schlenderte nun gemütlich zum blauen Auto. „Wer hat den Toten gefunden?“
„Ein Nachbar, Franz Scherzinger. Seine Frau steht Ihnen für weitere Befragungen zur Verfügung.“
Der Polizist zeigte mit seinen Fingern auf ein altes Haus, dessen graue Schmutzflecken über den Fenstern wie verschmierter Kajal an einer alten, abgetakelten Dame aussahen. Im Erdgeschoss befand sich ein Beauty-Salon, hinter dessen milchigen Schaufensterscheiben vergilbte Werbeplakate für Fußpflegeprodukte hingen.
„Sie sagt, sie hätte auch einen Schuss gehört.“
„Wir werden nachher bei ihr vorbeischauen. Gibt es noch weitere Erkenntnisse?“
„Der Tote ist männlich, ungefähr Mitte Vierzig. Außergewöhnliche Gegenstände hatte er keine bei sich, auch keine Ausweispapiere und nicht mal ein Mobiltelefon. Er heißt Peter Müller, Herkunft unbekannt. Wie gesagt, er wurde offensichtlich erschossen, aber das werden Sie ja gleich selbst sehen.“
„Woher kennen Sie seinen Namen?“, fragte Fieker mit gerunzelter Stirn.
„Von Herrn Junius. Bei ihm war das Opfer gestern zu Gast. Von ihm wissen wir den Namen.“
Der Polizist zeigte auf das alleinstehende Haus, das zu der Einfahrt gehörte. „Das Haus wird hier im Allgemeinen das Gerberhaus genannt. Dort wohnt dieser Junius. Er hält sich für eine Befragung bereit. Aber seien Sie darauf vorbereitet, dass er ein sehr seltsamer Typ ist. Er glaubt an Geister und Chemtrails und so ein Zeug.“
Fieker schaute die Einfahrt hinauf. Seine Stirn legte sich in Falten. „Nick, was halten Sie davon?“
Für einen kurzen Moment fuhr mir ein Schreck durch die Glieder. Ich war mir nicht sicher, ob er mich testen wollte.
„Nun, sieht aus wie ein perfekter Ermittlungsansatz. Zwei Zeugen, einer hat das Opfer entdeckt, der andere hat ihn gestern noch lebend gesehen. Geradezu eine Einladung, um erste Schlüsse abzuleiten.“
„Wir müssen aufpassen, Nick.“
Fieker nahm mich beiseite und ließ den Polizeiobermeister Diepholzer abseits stehen. „Wir müssen darauf achten, dass wir Augen und Ohren offenhalten. Ein Fehler, den man in einem so frühen Ermittlungsstadium macht, ist wie ein Schneeball, der zu einer Lawine wird. Wenn Sie Salz in den Kuchenteig rühren, kann auch der beste Konditor keine wohlschmeckende Torte daraus machen. Doch zuerst schauen wir uns mal den Tatort an. Das heißt, wenn das überhaupt der Tatort ist. Nick, Sie machen sich Notizen?“ Ich fischte mein Smartphone aus der Tasche und startete die Rekorder-App.
„Mittwoch, dritter Oktober, neun Uhr zweiundzwanzig.“
Fieker drehte sich um. „Was war das?“
„Ich habe das heutige Datum auf den Rekorder gesprochen.“
„Das heißt, Sie machen sich keine Notizen?“
„Doch, natürlich.“
„Mit Stift und Notizblock oder mit diesem Ding da?“
„Dieses Ding da ist ein Smartphone und ich werde es benutzen, um meine Notizen als Tonnachricht aufzuzeichnen.“
„Nun gut, das müssen Sie wissen. Hauptsache am Ende des Tages stimmen die Berichte.“
Mittlerweile standen wir vor der Motorhaube des blauen Landrovers. Es war kein neues Modell, machte aber auch keinen wirklich alten Eindruck. Die Beifahrertür stand offen, und einer der beiden Beamten der Spurensicherung hatte seinen Oberkörper im Wageninneren vergraben. Als er uns durch die Windschutzscheibe erkannte, schälte er sich aus dem Auto und zog langsam seine Handschuhe aus. „Hallo, Bernhard. Habt ihr euch also auch schon herbemüht. Bis ihr auftaucht, sind wir mit unserer Arbeit längst fertig.“
„Genau das habe ich befürchtet, Roland.“
„Kommt bloß nicht zu nahe. Ihr kontaminiert hier den ganzen Tatort. Dann können wir unsere DNA-Analysen in den Wind schießen. Es ist offenbar zu viel verlangt, sich einen Schutzanzug anzuziehen, wenn man sich dem Tatort nähert.“
Fieker ging nicht auf die Tirade des Spusi-Ermittlers ein. Ich zog es ebenfalls vor, meinen Mund zu halten.
„Es ist mir klar, dass du unseren Job immer noch nicht zu schätzen weißt“, fuhr er fort. „Doch ich nehme an, du willst trotzdem von mir wissen, was wir bisher zutage gefördert haben.“
„Da die Spuren bereits verwischt sind, bleibt mir ja nichts anderes übrig, als deinen Bericht aus zweiter Hand zu hören.“
Fieker fasste mich an der Schulter und schob mich zwischen sich und den Chef der Spurensicherung. „Das hier ist Nick Reetmann, neu in meinem Team.“
Ich reichte Roland meine Hand, der sie mit einem breiten Grinsen ergriff.
„Willkommen, Nick. Lass dich von dem Alten hier nicht runterziehen. Auch wenn Hauptkommissar Bernhard Fieker der verdammt beste Ermittler der Polizeidirektion ist, kann er einem manchmal ganz schön auf die Eier gehen.“
Fieker verzog keine Miene. Und auch ich war mir nicht sicher, welche Gefühlsregung ich mir in dieser Situation erlauben durfte. So beließ ich es bei einem unverfänglichen Grinsen.
„Also, zurück zum Tatort“, ergriff Roland das Wort. „Das Opfer ist männlich und erwachsen. Die Art der Verletzungen lassen augenscheinlich auf einen Tod durch Erschießen schließen. Und wenn man sich die Sauerei anschaut, vermute ich, dass er hier im Wagen ermordet wurde. Dazu passt auch das zersplitterte Seitenfenster.“
Ich warf einen Blick in den Wagen. Auf dem Fahrersitz hing ein hagerer Mann, den Oberkörper seltsam nach hinten verdreht.
„Nicht so nahe, Nick. Du weißt schon, DNA.“
Ich nickte still und trat wieder einen Schritt zurück.
„Er sitzt hier vor euch, wie wir ihn gefunden haben“, kommentierte Roland.
Der Mann im Wagen war sehr groß, sein Kopf reichte fast bis zur Decke des Wageninneren. Er trug eine dunkle Jacke, deren Kragen leicht hochgeschlagen war. Sein Gesicht wirkte verzerrt, als ob er schlafend in einem Albtraum lag. Ein Kranz aus grauen welligen Haaren zierte seinen Kopf. Ich schätzte ihn auf vielleicht Mitte Fünfzig, auch wenn mir klar war, dass der Eindruck täuschen könnte. Unterhalb seines Halses war seine Kleidung tiefrot eingefärbt. Er hatte nicht allzu viel Blut verloren, der Schuss musste ihn direkt in die Brust getroffen und recht schnell zum Tod geführt haben.
„Was meinen Sie, Nick?“
Fieker stand nun hinter mir. „Nun, ich würde sagen, ein Schuss aus nächster Nähe. Vermutlich eine Büchse oder etwas Ähnliches. Er muss den Täter gesehen haben, das ist vermutlich der Grund, warum er sein Gesicht zum Fenster gewandt hat.“
Roland griff an die Autotür und zog sie noch weiter auf. „Ich unterstütze diese These. Man kann trotz der zerschossenen Glasscheibe erkennen, dass das Fenster einen Spalt breit offen stand. Das Opfer sah wohl den Täter an sein Auto treten und ließ es herunter.“
„Das könnte bedeuten, dass er den Täter kannte“, ergänzte ich. „Oder das Opfer war einfach unbedarft“, sagte Fieker. „Genauso wie wir alle es auch gewesen wären. Sie stehen mit Ihrem Auto an einer Ausfahrt, und ein Mensch kommt auf Sie zu. Wenn Sie nicht allzu argwöhnisch veranlagt sind, dann lassen Sie das Fenster herunter und hören mal, was er oder sie zu sagen hat. Ich könnte mir vorstellen, dass das Opfer einfach nicht damit gerechnet hat, dass sein Gesprächspartner eine Waffe bei sich trägt.“
Roland hob eine große Tasche vom Boden auf und stellte sie unsanft auf die Motorhaube, während Fieker sich in das Wageninnere beugte.
„Bernhard, nicht!“, schrie Roland. „Du versaust uns alle Spuren.“
Fieker ließ sich nicht beirren. Vorsichtig öffnete er den Kragen an der Jacke des Toten.
Roland drehte sich zu mir um und rollte beide Augen nach oben, begleitet von einem resignierenden Kopfschütteln.
Vom Wageninneren drang Fiekers Stimme zu uns. „Es liegt nahe, dass es eine Büchse war, die das Opfer getötet hat, und keine Schrotflinte oder Pistole. Näheres muss aber die Forensik sagen. Ein Jagdgewehr als Tatwaffe macht die Ermittlungen auch nicht einfacher.“
„Wie meinen Sie das, Chef?“
Fieker schob langsam seinen Oberkörper aus dem Wagen heraus und strich sich seine Jacke glatt. „Hier auf dem Land hat noch jeder irgendeine alte Büchse vom Großvater im Keller stehen. Diese Waffen sind in keinem Verzeichnis erfasst. Wenn sich meine Vermutung bestätigt, dass es sich um eine solche Waffe handelt, wird es schwierig, den Besitzer zu ermitteln.“
Fieker lief einmal um das Auto herum. „Der Polizeiobermeister sprach davon, dass der Motor zwar aus, aber die Zündung noch aktiv war, als man ihn heute früh fand. Dies deutet darauf hin, dass er einen Gang eingelegt hatte und dann im Moment des Schusses von der Kupplung rutschte und so mitten auf der Straße den Motor abwürgte. Ich denke, wir können als vorläufige Arbeitshypothese annehmen, dass das Opfer überrascht wurde und nicht mit seinem Mord gerechnet hat.“
„Damit stellt sich die Frage nach dem Warum.“
„Diese Frage stellt sich immer“, antwortete Fieker. „Und sehr oft steckt weniger dahinter, als man zuerst denkt. Opfer und Täter können auch durch einen unglücklichen Zufall zusammengeführt worden sein. Es muss nicht zwangsläufig eine Verbindung geben. Wir sollten hier in alle Richtungen offen sein und nicht zu früh voreilige Schlüsse ziehen.“
Fieker ließ nun seinen Blick über das Anwesen streifen, welches sich oberhalb der Auffahrt an den Waldrand schmiegte. Das alte Gerberhaus wirkte ein wenig deplatziert, es schien nicht so wirklich in das kleine Dorf mit seinem bäuerlichen Charme zu passen. Fieker betrat den Kiesweg, seinen Blick immer auf den Boden gerichtet. Ich hatte den Eindruck, dass er sicher gehen wollte, keine noch so kleine Spur zu übersehen.
„Hier ist schon eine ganze Schwadron Polizeipraktikanten darübermarschiert, man erkennt gar nichts mehr. Diese Amateure. Lassen Sie uns diesen Junius mal besuchen. Aber seien Sie vorsichtig, er ist mit allen Wassern gewaschen.“
„Sie kennen ihn?“
„Ja, leider. Ich hätte nicht gedacht, ihn jemals wieder zu treffen. Ich hoffe inständig, dass er mich nicht mehr erkennt.“
Nach ungefähr einer knappen Minute Fußmarsch standen wir vor der schweren Eingangstür. Adrian Junius, Lebensberatung, stand auf einer kleinen vergoldeten Tafel in einer übertrieben geschwungenen Schriftart. Ein schrilles Läuten klang aus dem Hausinnern zu uns, als ich die Türklingel betätigte. Fast gleichzeitig drang ein Bellen dumpf durch die Tür. Nach einigen Sekunden konnten wir einen Schatten hinter der Milchglasscheibe erkennen und das Klappern eines Schlüsselbundes war zu hören. Dreimal wurde die Tür aufgeschlossen, bevor sie sich langsam öffnete und ein ernstes Gesicht zu uns herausschaute. Es war ein großer Mann, der uns beide um mehr als einen Kopf überragte. Er hatte eine Halbglatze, die von einem fein säuberlich gekämmten grauen Haarkranz umgeben war. Er trug einen ebenfalls ergrauten d'Artagnon-Bart, der in einem faltigen Gesicht saß. Ich schätzte ihn auf Anfang Sechzig. Im Kontrast zu seinen Haaren strahlten seine dunklen Augen eine Jugendlichkeit und Vitalität aus, wie ich sie bisher noch bei keinem Menschen seines Alters erlebt hatte. Die ganze Erscheinung dieses Mannes war seltsam aus der Zeit gefallen. Seine Kleidung unterstrich diesen Eindruck. Er trug ein weinrotes Jackett mit silbernen Bordüren und goldbesetzten Schulterstücken. Er fixierte uns mit einem stechenden Blick und ich spürte eine leichte Unsicherheit in mir wachsen. Fieker ließ sich davon nicht beeindrucken. „Herr Junius?“
Der Mann nickte wortlos.
„Ich bin Hauptkommissar Fieker, dies ist mein Kollege Kommissar Reetmann. Wir untersuchen den Mordfall an Herrn Müller, der, wie wir hörten, gestern noch Ihr Gast war. Wir würden Ihnen gerne einige Fragen dazu stellen.“
„Kommen Sie doch herein.“
Er zog die Tür weiter auf und trat einen Schritt zurück. Hinter ihm tauchte plötzlich eine dunkle Gestalt auf. Ich erkannte einen großen Hund, der aus der Dunkelheit des Hausflures langsam auf uns zu trottete. Er reichte seinem Herrn fast bis zur Hüfte. Ich vermutete, dass es sich um eine Deutsche Dogge handeln musste, auch wenn das tiefschwarze Fell eher ungewöhnlich für diese Rasse war. „Bargest, ruhig!“
Junius legte seine Hand auf den Hinterkopf des riesigen Tieres, das sich sofort unterwürfig an sein Bein schmiegte.
Als wir eintraten, empfing uns schon im Hausflur ein fremdartiger Duft nach unbekannten Kräutern oder Gewürzen. Der Geruch war nicht unangenehm, jedoch auch nicht zu ignorieren. Als wir das Wohnzimmer betraten, wurde ich geradezu von der düsteren wie wuchtigen Innenausstattung erschlagen. Das große Zimmer war sehr dunkel, die Fenster waren alle geschlossen und die Rollläden bis fast zu zwei Dritteln heruntergelassen. Der übrig gebliebene Spalt reichte nicht aus, um das Sonnenlicht des frischen Tages in das seltsame Haus zu lassen. Die großen Tannen am Waldrand nahmen jede Helligkeit vom Grundstück. Zu allem Überfluss war das Zimmer bis zur Decke in einer dunkelblauen Farbe gestrichen. An den Wänden standen Regale, die kreuz und quer mit Büchern vollgestopft waren. An den freien Plätzen hingen seltsame Gemälde, eingerahmt in klobigen, verzierten Bilderrahmen. Eines davon zeigte ein Porträt des Hausbesitzers. Streng blickte er aus dem Bild, gekleidet in eine seltsame Robe, eine Krähe saß auf den Schultern. Seine Haare waren komplett schwarz, offenbar war das Gemälde in jüngeren Jahren angefertigt worden. An einer weiteren Wand hing ein martialisch wirkendes Langschwert, daneben eine mir nicht bekannte rot-schwarze Flagge. Der Boden war mit dicken dunkelroten Teppichen belegt, noch mal überdeckt mit großen Läufern im persischen Stil. Die Teppichschicht gab mir das Gefühl, auf einem wackeligen Luftpolster zu laufen. Eine riesige Couchgarnitur, die eher einem Matratzenlager ähnelte, nahm ein gutes Viertel des Raumes ein. Auf einem massiven kreisrunden Tisch stand eine tönerne Vase, in der ein völlig verwelkter Blumenstrauß steckte. Ich warf einen Blick auf ein hölzernes Bücherregal, welches bis zur Decke reichte und den Raum optisch zu verkleinern schien. Schwere dicke Wälzer mit ledernen Einbänden reihten sich auf den durchhängenden Regalboden aneinander. Ich las die Titel auf den Buchrücken. Das Buch der Lügen von Alaistar Crowley, Die letzten Tage von Sodom von Marquis de Sade, Miltons Paradise Lost und Der Hexenhammer von Henricus Institoris drangen in mein Blickfeld. Sehr spezielle Literatur, die aber irgendwie zu unserem Gastgeber passte. Der Hund, der auf den seltsamen Namen Bargest hörte, hatte sich nun in einen großen Korb in der Ecke des dunklen Zimmers zurückgezogen.
„Ich kann Ihnen leider nicht viel anbieten“, sagte Junius. „Darf es vielleicht ein Mineralwasser sein?“
Fieker winkte ab. „Nein, danke. Wir möchten gerne mit Ihnen über den Toten sprechen.“
Ich war leicht enttäuscht. Ein Schluck Wasser wäre mir sehr recht gewesen, denn ich hatte heute Morgen nur eine halbe Tasse Kaffee zu mir genommen und fühlte mich dehydriert. So schlich ich Fieker hinterher, der auf der riesigen Couch Platz nahm. Junius ließ sich lässig in einem großen Ohrensessel nieder und verschränkte die Finger beider Hände zu einer Raute. Sein Blick hatte etwas Süffisantes, eine unbeschreibliche Arroganz ging von ihm aus. Ich zog mein kleines Tablet heraus, um mir Notizen zum kommenden Gespräch zu machen.
„Ich möchte Sie bitten, das zu unterlassen.“
Junius starrte mich mit einem aggressiven Blick an. „Mein Haus ist energetisch ausgerichtet. Alle Elektrogeräte, die nicht von mir gesegnet sind, stören das empfindliche Gleichgewicht. Bitte schalten Sie das Gerät ab.“
Verunsichert blickte ich zu Fieker, der mir kurz zunickte. Ich schaltete für alle gut sichtbar das Tablet aus und holte einen Block und einen Kugelschreiber aus meiner Tasche. Junius legte wieder sein arrogantes Grinsen auf. Mir blieb nichts anderes übrig, als diesen Zwischenfall als Machtdemonstration zu begreifen, die er für sich entschieden hatte.
„Wie kann ich den Herren behilflich sein?“
Ich beschloss, Fieker das Feld zu überlassen und mich fürs Erste rauszuhalten.
„Unser Kollege teilte uns mit, dass Sie den Ermordeten als Peter Müller identifiziert haben und dieser gestern bei Ihnen zu Gast war. Ist das so richtig?“
„Das ist absolut korrekt.“
„In welchem Verhältnis standen Sie zu Peter Müller?“
„Er war mein Kunde.“
„Kunde? Für welche Art von Dienstleistungen?“
„Ich nenne es ganzheitliche spirituelle Unterstützung.“
Fieker verzog keine Miene. „Was kann man sich darunter vorstellen? Beschäftigen Sie sich mit Esoterik?“
„Wissen Sie, der Begriff Esoterik ist mittlerweile völlig verbrannt. Leute wie Sie nutzen ihn, um Menschen mit besonderen Fähigkeiten, die sie nicht verstehen, als Spinner zu brandmarken. Ich möchte es Ihnen so erklären: Ein Arzt kümmert sich um Ihren Körper, ein Psychiater um Ihre Seele, und ich kümmere mich um den Platz, den Körper und Seele im Kosmos einnehmen.“
„Was habe ich mir konkret darunter vorzustellen?“
„Meine Dienstleistungen sind vielseitig und absolut seriös. Das Universum hat mir Fähigkeiten mitgegeben, die normale Menschen nicht haben. Und ich nutze diese zum Vorteil meiner Kunden.“
„Sie sind ein Wahrsager?“
„Ich bevorzuge die Bezeichnung Seher. Ich sehe in Winkel unserer Seelen, die mir erlauben, deren Verbindungen zu anderen Menschen zu beleuchten und aktiv zu steuern.“
„Nun ja. Kommen wir zurück zu Herrn Müller. Welche Dienstleistung hat er in Anspruch genommen?“
„Einen Liebeszauber. Peter war in eine Kollegin verliebt, und ich habe ihn in dieser Frage beraten.“
Fieker stockte einen Moment. Ich konnte förmlich spüren, wie ihm Fragen durch den Kopf schossen. Er blickte leicht gebeugt auf seine gefalteten Hände. Dann richtete er sich auf, sichtlich bemüht, seine Fassung wiederzuerlangen. „Wie hieß diese Frau?“
„Er nannte sie Monika.“
„Monika. Und weiter?“
„Weitere Details sind mir nicht bekannt.“
„Sie können einen Liebeszauber aussprechen, ohne mehr über diese Frau zu wissen?“
Adrian Junius grinste larmoyant. „Natürlich. Weltliche Details interessieren nicht, wenn wir die Verbindungen aktivieren, die uns die jenseitige Welt bereithält.“
„Ich hoffe, Sie können uns mehr über Peter Müller sagen.
Wo wohnte er?“
„Irgendwo in den neuen Bundesländern, mehr weiß ich nicht. Wie gesagt: Das ist für meine Arbeit nicht wichtig, meine Reputation erstreckt sich über das ganze Bundesgebiet.“
„Wie lange war er bereits Ihr Kunde?“
„Seit diesem Frühjahr. Ich kann sagen, wir hatten ein gutes Verhältnis aufgebaut. Das ist auch nötig, wenn ich einem Kunden wirklich helfen soll.“
„Erzählen Sie uns von gestern Abend.“