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Als Vertreterin der tschechoslowakischen Neuen Welle ist Vera Chytilová (1929-2014) die erste und de facto einzige Frau, die in der tschechischen Filmbranche zum Erfolg kam. Ihre rebellischen Filme aus den 1960er Jahren machen nicht bei den Widersprüchen des real existierenden Sozialismus halt, sondern loten die Optionen eines künstlerisch subversiven Zugangs zur Realität aus. Während die Aufbruchstimmung der 1960er Jahre das Kino im Westen wie im Osten erfasste, polarisierten ihre ikonoklastischen Provokationen auf beiden Seiten der Berliner Mauer. Aus der heutigen Perspektive erscheinen Revolte, Suche nach neuen Lebensformen, Widerstand gegen das politische Establishment oder formale Experimente als ein gemeinsamer Nenner der filmischen Neuen Wellen in Europa. Vera Chytilová gehörte zu den Gallionsfiguren dieses Aufbruchs, bezahlte dafür aber im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen einen hohen Preis. Nach der Niederschlagung des Prager Frühlings verschwanden Chytilovás Filme in den Giftschränken der Zensur, sie selbst wurde mit einem Berufsverbot belegt.
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Seitenzahl: 194
FILM-KONZEPTE
Begründet von Thomas Koebner
Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz
Heft 58 · Dezember 2020
Věra Chytilová
Herausgeberin: Margarete Wach
Print ISBN 978-3-96707-087-3 E-ISBN 978-3-96707-089-7
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © National Film Archive Prag
Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2020
Margarete Wach Vorwort
Andreas Rauscher Durch die Decke des Cinéma vérité. Věra Chytilovás frühe Kurzfilme
Nicole Kandioler Vom Anderen zum Eigentlichen. Věra Chytilovás Filme zwischen Experiment, O NĚČEM JINÉM (VON ETWAS ANDEREM, 1963), und Aktivismus, DĚDICTVÍ (DAS ERBE, 1992)
Katěrina Svatoňová Věra Chytilovás Bewusstsein von den Zusammenhängen. Stilisierung als Möglichkeit der Annäherung an die Wahrheit
Margarete Wach Wahrheit(en) und Eigensinn. Věra Chytilová und die Nouvelle Vague
Schamma Schahadat Wohnen in der Vorstadt. Věra Chytilovás PANELSTORY ANEB JAK SE RODÍ SÍDLISTE (GESCHICHTE DER WÄNDE ODER WIE EINE SIEDLUNG ENTSTEHT, 1979)
Margarete Wach Von Forman bis Krumbachová. Drei dokumentarische Künstlerporträts von Věra Chytilová
Biografie
Filmografie
Autor*innen
Margarete Wach
Zwei junge Frauen in bunten Kleidern und Schuhen auf Pfennigabsätzen, platziert in verspielter Pose auf einem Flussboot, das von einer starken Strömung umspült wird. Beide stützen sich mit ihren Ellbogen auf die Lehnen zweier sich gegenüberliegender Holzbänke, eine mit einer frisch gepflückten Möhre in der Hand, die andere in Rückenansicht. Ein symmetrisch aufgebautes Bild mit einem offenen Blickfeld in die Weite der Flussströmung, das aus SEDMIKRÁSKY (TAUSENDSCHÖNCHEN, 1966) stammt, dem bekanntesten und wohl wichtigsten Spielfilm von Věra Chytilová. Ein ikonisch unverbrauchtes Motiv, das die ausgelassen anarchische Stimmung dieses Vorzeigewerks eines subversiven Kunstkinos ebenso transportiert wie auf jene Komponenten verweist, die das Œuvre der tschechischen Regisseurin auszeichnen: konzipierte Farbspiele, Verzicht auf die herkömmliche Narration, typisierte bis skurrile Figuren, hier von Laiendarsteller*innen performt, experimentierfreudige Form, die auf Alinearität und Brecht’sche Verfremdungstechniken setzt, künstlerisch radikaler Zugang zur Realität, zu dessen Modi Improvisation, Grenzüberschreitung und Tabulosigkeit gehörten.
Jacques Rivettes Filmfantasie CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU (CELINE UND JULIE FAHREN BOOT, 1974), eine Art Remake von TAUSENDSCHÖNCHEN, mit dem er Chytilovás Vorläufer Reverenz erwies, endet mit einer Bootsfahrt, die den beiden Protagonistinnen hilft, ein erlösendes Exerzitium zu absolvieren. Das in beiden Filmen vorkommende Bootsmotiv könnte als Referenz für einen transkulturellen Austausch dienen, der sich zwischen der Nova vlná, der tschechoslowakischen Neuen Welle, zu deren Galionsfiguren Chytilová gerechnet wird, und der französischen Nouvelle Vague vollzog. Die starken Verbindungen Věra Chytilovás zum französischen Kino sind unübersehbar. Beginnend mit ihrem Frühwerk, das der Inspiration durch das Cinéma vérité entscheidende Impulse verdankt, deren Spuren Andreas Rauscher in seinem Aufsatz »Durch die Decke des Cinéma vérité. Věra Chytilovás frühe Kurzfilme« folgt. In ihren beiden frühen Kurzfilmen, STROP (DIE DECKE, 1961) und PYTEL BLECH (EIN SACK VOLLER FLÖHE, 1962), spielen die neuen Impulse des zeitgenössischen Dokumentarfilms, die auf das experimentelle Porträt der französischen Gesellschaft in CHRONIQUE D’UN ÉTÉ (CHRONIK EINES SOMMERS, 1961) des Soziologen Edgar Morin und des Ethnologen und Filmemachers Jean Rouch zurückzuführen sind, eine zentrale Rolle. Technische Innovationen wie leichte Handkameras mit einer synchronen Tonaufnahme des On-Location-Sounds ermöglichten nicht nur einen völlig neuen, »unmittelbaren« Blick auf die Wirklichkeit in Abgrenzung zum dozierend-pädagogischen Dokumentarfilm vergangener Dekaden, dessen Off-Kommentare der Direktton verdrängt hat. Die so erreichte Spontanität der Außenaufnahmen sollte auch die »Authentizität des Gelebten« vermitteln, wie Morin es in seinem Manifest »Pour un nouveau cinéma-vérité« formulierte. Der daraus resultierende radikale Bruch mit den sterilen Konventionen des verstaubt wirkenden Studiofilms lieferte wesentliche Anregungen für die Nouvelle Vague, die gegen die Tradition des sogenannten Cinéma de qualité, also gegen kostspielige Literaturadaptionen mit geringem Bezug zum realen Leben der jüngeren Generation, aufbegehrte. Wie weit der Einfluss von Jean Rouch, dem Erfinder des Cinéma vérité und Vorläufer der Nouvelle Vague, ging, kann man an seinem Dokudrama MOI, UN NOIR (ICH, EIN SCHWARZER, 1958) ablesen, in dem er die Schnitttechnik des jump cut und den Einsatz nicht professioneller Schauspieler etabliert hat, zwei Praktiken, die Jean-Luc Godard später verwenden sollte, um seinen Film À BOUT DE SOUFFLE (AUSSER ATEM, 1960) zu gestalten, und die sein Markenzeichen wurden.
Zu dem Diskurs des Cinéma vérité gehören unzertrennlich die Begriffe Wahrheit und Authentizität, die auch in Chytilovás Werk eine zentrale Rolle spielen und Godard1 zu der enthusiastischen Einschätzung brachten, MOI, UN NOIR würde beispiellose Wahrheitsniveaus erreichen, die im Film festgehalten wurden. Für Rouch war das Cinéma vérité aber keine Wundertechnik, sondern eine Methode, kein Mittel, eine Wahrheit zu enthüllen (gesetzt, sie existiere überhaupt), sondern eine künstlerische Praxis, die auf einer wahrhaftigen Haltung gegenüber der Wirklichkeit basiert. Zwei weitere Texte in dem vorliegenden Film-Konzepte-Heft beschäftigen sich mit der konstituierenden Bedeutung der Begriffe Wahrheit und Authentizität für das Werk der als Moralistin verschrienen Filmemacherin. Nicole Kandioler analysiert in »Vom Anderen zum Eigentlichen. Věra Chytilovás Filme zwischen Experiment, O NĚČEM JINÉM (VON ETWAS ANDEREM, 1963), und Aktivismus, DĚDICTVÍ (DAS ERBE, 1992)« zwei Filme aus unterschiedlichen Schaffensperioden (Frühwerk und Spätwerk), von denen der erste, Chytilovás Debüt VON ETWAS ANDEREM, mit dokumentarischen und fiktionalen Erzählstrategien im Geiste des Cinéma vérité experimentiert. Das Dokumentarische wird hier nicht lediglich als Effekt einer filmästhetischen Strategie eingesetzt, sondern als Methode, die dem Ziel dient, Unmittelbarkeit herzustellen, zum Eigentlichen vorzudringen, das auf eine Wahrheit verweist, die nicht vermittelbar sei. Die ironische Farce DAS ERBE, die um die unlauteren Privatisierungspraktiken der Nachwendezeit und die Konsumträume der einfachen Leute kreist, verbindet mit VON ETWAS ANDEREM der Einsatz von Laiendarsteller*innen und das soziologische Interesse der Regisseurin an der tschechischen Gesellschaft. Dokumentarische Unmittelbarkeit der Aufzeichnung und die gesellschaftliche Diagnostik der Fiktion zeigen sich als zwei Strategien im Zugang zu einem realen Leben.
Mit dem breiten Spektrum der Erzählstrategien im Werk von Chytilová korrespondiert die schier überbordende Vielfalt ihrer ästhetisch-visuellen Verfahren und stilistischen Mittel. Den auf den ersten Blick widersprüchlichen Zusammenhang zwischen der zum Teil extremen Stilisierung ihrer Filme und der diskursiven Suche darin nach einer Wahrheit, aus der Chytilová auch die Legitimation für ihre formalen Zumutungen und Herausforderungen gegenüber den Zuschauern ableitete, beleuchtet Kateřina Svatoňová in ihrem Essay »Věra Chytilovás Bewusstsein von den Zusammenhängen. Stilisierung als Möglichkeit der Annäherung an die Wahrheit«. Dabei konzentriert sich die Autorin auf zwei Hauptwerke aus der Periode der Neuen Welle, TAUSENDSCHÖNCHEN und OVOCE STROMŮ RAJSKÝCH JÍME (FRÜCHTE DES PARADIESES, 1969), an deren konzeptionell-ästhetischer Ausgestaltung der Kamera- und Ehemann von Chytilová, Jaroslav Kučera, einen erheblichen Anteil hatte. Auf sein Konto gehen die gewagten visuellen Kompositionen und der experimentelle Umgang mit Farbe und Lichtstärke in diesen exzeptionellen Werken, die die Entdeckung der Wahrheit mittels des Bildes befördern sollen. Beide Filme nehmen sich wie eine Leistungsschau modellhafter Darstellungspraktiken, Bilder, Schnittfolgen aus, die Chytilová auch in ihrem späteren Werk nicht aufgab – eine Art »Katalog« ihrer visuellen Rhetorik, die von beunruhigenden und hochsensitiven Bildkompositionen bestimmt wird und für die Svatoňová die griffige und nur vordergründig paradoxe Formel eines authentischen Formalismus gefunden hat.
Dem augenfälligen Verhältnis von Chytilová und zwei führenden Vertretern der französischen Nouvelle Vague, Jacques Rivette und Jean-Luc Godard, gehe ich in meinem Beitrag »Wahrheit(en) und Eigensinn. Věra Chytilová und die Nouvelle Vague« nach. Diese Relationen hatten jeweils einen Doppelcharakter. Zum einen auf der Rezeptionsebene, in den öffentlichen Polemiken und Attacken Godards gegen Chytilovás Solitär TAUSENDSCHÖNCHEN sowie in der filmkritischen Begleitung ihrer Arbeit durch Rivette in Cahiers du cinéma. Zum anderen auf der Produktionsebene, hatte Godard doch in seinem Essayfilm PRAVDA (DIE WAHRHEIT, 1969) sogar unmittelbar Bezug auf Chytilová genommen und sie diffamierend abqualifiziert, während Rivette ihr mit CÉLINE ET JULIE VONT EN BATEAU Tribut zollte. Spannend erscheint aber auch, wie viele Schnittstellen und sogar Analogien sich zwischen den Arbeiten Chytilovás und jenen der beiden Franzosen finden bzw. ziehen lassen, eingedenk der Tatsache, dass Godards innovative Montagekünste für die Tschechin richtungsweisenden Vorbildcharakter hatten und ihr ebenso unkalkulierbarer wie unverwüstlicher Eigensinn sich ähnlich wie bei Godard nicht selten in Provokationen entlud.
Im zeitgeschichtlichen Kontext lässt sich das Werk Chytilovás in drei Perioden einteilen, die jeweils mit einschneidenden politischen Ereignissen und deren Folgen zu Ende gingen: das Frühwerk, bestehend aus ersten Kurzfilmen und Schlüsselwerken der Neuen Welle, bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und Chytilovás Berufsverbot 1969; ab 1976 bis zur Samtenen Revolution 1989 das Schaffen in der Ära der »Normalisierung«, das abermals von Verboten ihrer gesellschaftskritischen Filme begleitet war; und zuletzt das nach der Wende entstandene Spätwerk, das ihr den Vorwurf des Verrats an eigenen Prinzipien oder der Abkehr von ästhetischen Experimenten eingebracht hat. Mit einem der verbotenen gesellschaftskritischen Filme der zweiten Periode beschäftigt sich Schamma Schahadat in ihrem Aufsatz »Wohnen in der Vorstadt. Věra Chytilovás PANELSTORY ANEB JAK SE RODÍ SÍDLISTE (GESCHICHTE DER WÄNDE ODER WIE EINE SIEDLUNG ENTSTEHT, 1979)«. GESCHICHTE DER WÄNDE zeigt die Entstehung einer Plattenbausiedlung in der Prager Südstadt und ist als eine kritische Auseinandersetzung mit der spätsozialistischen Stadtplanung angelegt. Trotz der – im Vergleich zu TAUSENDSCHÖNCHEN – konventionelleren Ästhetik behält Chytilová hier ihre grundlegenden formalen Muster bei: die Dissonanz zwischen Bild und Ton, schwankende Bilder, »nervöse« Aufnahmen mit der Handkamera, kontrapunktische Musik als eigenständige dramaturgische Instanz, offensichtliche Brüche in der Montage oder Durchbrechen eines kohärenten Narrativs. Die Neubausiedlung erscheint als unkontrollierbarer, unfertiger und lebensunfreundlicher Raum voller Widerstände und Kontingenzen. Schahadat zeigt, dass der architektonische und der filmische Raum hier gleichermaßen soziologisch präzise und archetypisch behandelt werden, wodurch Chytilovás Ethnografie des Plattenbaus eine anthropologische Dimension erlangt.
Im Kontext der gesellschaftlichen Transformation und der dadurch veränderten Arbeitsbedingungen für Filmemacher*innen wandte sich Chytilová nach der Wende wieder zunehmend dem Dokumentarfilm zu. Mein zweiter Beitrag »Von Forman bis Krumbachová. Drei dokumentarische Künstlerporträts von Věra Chytilová« beschäftigt sich mit Dokumentarfilmen, die seit Anfang der 1980er Jahre bzw. in der Spätphase ihrer Arbeit markant für Chytilovás Rückkehr zum Dokumentarischen waren. In CHYTILOVÁ VERSUS FORMAN (Belgien 1981) begibt sich Chytilová in einen direkten und offenen Disput über Film mit Miloš Forman, in VZLETY A PÁDY (AUFSTIEG UND FALL, 2000) widmet sie sich in komplexen Porträts drei Fotografen, die maßgeblich die tschechische Fotogeschichte im 20. Jahrhundert mitgeprägt haben, und in PÁTRÁNÍ PO ESTER (ESTER, 2005) startet sie eine posthume Recherche, in der sie die Schauplätze aus dem Leben ihrer Freundin und Mitarbeiterin Ester Krumbachová erkundet, die als Ideengeberin, Co-Autorin, Kostümbildnerin und Komplizin einen entscheidenden Anteil an der Entstehung ihrer beiden Schlüsselwerke TAUSENDSCHÖNCHEN und FRÜCHTE DES PARADIESES hatte.
Überblickt man die Literatur zu Věra Chytilová, fällt auf, dass ein wichtiger Aspekt ihres Werks an dieser Stelle nicht explizit behandelt wurde – die Gender- und Feminismus-Thematik, der sie selbst ambivalent gegenüberstand, die aber seit den 1970er Jahren das Gros vor allem der englischsprachigen Publikationen ausmacht. Demgegenüber ist die weiterführende Forschung recht überschaubar, im deutschsprachigen Raum gar defizitär, beschränkt sie sich doch auf wenige Aufsätze und essayistische Porträts, von denen die meisten als Begleitliteratur im Rahmen von Festival-Retrospektiven und Filmreihen zu ihrem Werk oder den Filmen der tschechoslowakischen Neuen Welle entstanden sind. Außer den ihr gewidmeten Kapiteln in den Publikationen von Peter Hames zum Phänomen der Neuen Welle liegt auch im angelsächsischen Sprachraum bis heute keine Monografie über Věra Chytilová vor. Erst 2018 erschienen zwei ihr gewidmete monografische Hefte der Studies in Eastern European Cinema mit Aufsätzen neueren Datums vorwiegend tschechischer Autor*innen. Ebenfalls 2018 kam die erste deutsche Monografie über die Tschechoslowakische Neue Welle. Das Filmwunder der Sechziger heraus, der jetzt das monografische Heft zu Věra Chytilová der Film-Konzepte folgt. Filme von Chytilová stellen mit ihren innovativen Praktiken und stilistischen Besonderheiten, die den filmischen Konventionen zuwiderlaufen, sehr hohe Anforderungen an die Zuschauer. Ihre Unbeirrtheit, in ihren eigenen Neue-Welle-Filmen radikale Herausforderungen anzugehen, weist sie aber gerade neben den Vertreter*innen der Nouvelle Vague als eine der führenden, wenn auch manchmal unterschätzten oder übersehenen Figuren der Erneuerung im Kino der 1960er Jahre aus.
Margarete Wach, Oktober 2020
1 Vgl. seine Kritik unter »Etonnant«, in: Arts, Nr. 713, 11. März 1959, nachgedruckt unter »Projections du 4 juin«, in: CIP-IDF.org (letzter Zugriff am 6.10.2020). Darin heißt es u. a.: »Le metteur en scène (…) ne traque pas la vérité parce qu’elle est scandaleuse mais parce qu’elle est amusante, tragique, gracieuse, loufoque, peu importe. L’important c’est que la vérité est là«.
Andreas Rauscher
Věra Chytilovás frühe Kurzfilme
In der 1989 entstandenen Dokumentation THE KIDS FROM FAMU erklärt Miloš Forman kurz nach der Samtenen Revolution das Verhältnis der Tschechoslowakischen Neuen Welle der 1960er Jahre retrospektiv zum Cinéma vérité. Sowohl in seiner Dokumentation KONKURS (WETT-BEWERB, 1964) als auch in den beiden frühen Kurzfilmen seiner Kollegin Věra Chytilová, STROP (DIE DECKE, 1961) und PYTEL BLECH (EIN SACK VOLLER FLÖHE, 1962), spielen die neuen Impulse des französischen Dokumentarfilms, die Edgar Morin und Jean Rouch mit CHRONIQUE D’UN ÉTÉ (CHRONIK EINES SOMMERS, 1961) aussandten, eine zentrale Rolle. Technische Innovationen wie Handkameras mit einer Vorrichtung zur Aufnahme des On-Location-Sounds ermöglichten nicht nur einen neuen Blick auf die Wirklichkeit in Abgrenzung zum allwissenden erklärenden Dokumentarfilm vergangener Jahrzehnte. Sie lieferten in ihrer Spontaneität und im Bruch mit den Konventionen des wohltemperierten Studiofilms auch wesentliche Impulse für die Nouvelle Vague, die gegen die sterilen Konventionen der sogenannten tradition de qualité, also gegen aufwändige Literaturverfilmungen mit geringem Bezug zum wahren Leben der jüngeren Generation, aufbegehrten.
Für die späteren Protagonist*innen der beginnenden Nová Vlna1, die Anfang der 1960er Jahre mit KŘIK (DER SCHREI, 1964) von Jaromil Jireš, ČERNÝ PETR (DER SCHWARZE PETER, 1963) von Miloš Forman und O NĚČEM JINÉM (VON ETWAS ANDEREM, 1963) von Věra Chytilová ihren Durchbruch auf den internationalen Filmfestivals feierte, ging es jedoch nicht nur um eine neue Art des dokumentarischen Blicks zwischen spontanen Impressionen und einer Ethnografie des Alltags. Wie Forman nachdrücklich betont, ging es bei den Wahlverwandtschaften mit den internationalen Neuen Wellen zuallererst um ein Aufbegehren gegen die Platitüden und das verzerrte Weltbild des sozialistischen Realismus mit dessen Stereotypen des heldenhaften Arbeiters. Das an der Prager Filmhochschule FAMU erworbene Wissen um die Filmgeschichte und deren Nuancen diente der Nová Vlna zur bewussten Abgrenzung gegenüber den pauschal glorifizierten Heldenfiguren aus der Arbeiterklasse und dem staatlich verordneten Fortschrittsglauben, die ästhetisch nicht einmal das Niveau der biederen französischen Qualitätsfilme erreichten. Cinéma vérité bedeutet für Forman, Chytilová und ihren Kreis daher nicht nur die Vorgehensweisen des neuen Dokumentarfilms aufzugreifen, sondern vielmehr dessen Formen bis an die Grenze zur Fiktion auszuloten.
Persönliche filmische Handschrift und performativ-dokumentarisches Experiment ergänzen sich in den frühen Kurzfilmen der FAMU-Absolvent*innen unmittelbar. Während Miloš Forman und Ivan Passer mit der anarchischen Spielfreude ihrer »dokumentarischen Komödie«2 die Stereotypen des weltfremden sozialistischen Realismus unterwandern, nutzt Věra Chytilová in DIE DECKE und EIN SACK VOLLER FLÖHE die Ansätze des Cinéma vérité, um über diese gleichsam mit den Techniken der internationalen filmischen Avantgarde hinaus zu gelangen. Indirekt skizziert sie damit bereits das innovative Feld für ihr in SEDMIKRÁSKY (TAUSENDSCHÖNCHEN, 1966) realisiertes »Spiel des Verderbens«, in dem sie die sonst häufig distanzierte Haltung des Dokumentarischen in ein Spannungsfeld zwischen künstlerischer Abstraktion und performativer Teilhabe befördert.
Chytilovás Inszenierung lässt Freiraum für Improvisationen, besteht aber dennoch auf der Bedeutung der filmischen Form. Rückblickend erklärt sie in einem Porträt der Serie ZLATÁ ŠEDESÁTÁ (GOLDENE SECHZIGER, 2009), dass es ihr um einen Standpunkt und nicht um die Erzählung gegangen sei. Durch ihre Lust am Experiment und durch die bewusste Konfrontation der traditionellen narrativen Muster des Dokumentarischen mit dem Unvorhergesehenen umschiffen sowohl DIE DECKE als auch EIN SACK VOLLER FLÖHE als Beispiele künstlerisch-soziologischer Recherche die Fallgruben des traditionellen Cinéma vérité.
Im Sinne des ethnografischen Ansatzes von Morin und Rouch, die in CHRONIK EINES SOMMERS einen Sommer lang unterschiedliche Personen in Paris begleitet und befragt haben, versucht das Cinéma vérité die Porträtierten durch konkrete Interaktion in ihrem Alltag authentisch abzulichten. Das von Regisseur*innen wie D. A. Pennebaker, Chris Hegedus und Albert und David Maysles geprägte, stilistisch verwandte Direct Cinema verfolgt hingegen die Idee, hinter den Kulissen von politischen Wahlkampfauftritten und Rock-Konzerten mit der Kamera als Fly-onthe-Wall Beobachtungen außerhalb der Fassaden der öffentlichen Inszenierung einzufangen.
Thorolf Lipp schreibt in seiner Einführung zu Spielarten des Dokumentarischen: »Die filmische Form des Direct Cinema soll beim Zuschauer die Illusion erzeugen, er sei direkt vor Ort. Die ›entfesselt‹ beobachtende, meist auf der Schulter geführte und daher sehr bewegliche Kamera ist ein wichtiges gestalterisches Merkmal dieser filmischen Gattung. Um das Geschehen möglichst unauffällig aufnehmen zu können, muss ein Direct Cinema Filmteam seine störende Anwesenheit auf ein Minimum reduzieren.«3
Die vermeintlich unsichtbare Kamera, die in DON’T LOOK BACK (1967) Bob Dylan auf einer England-Tour und in GIMME SHELTER (1969) die Rolling Stones auf einer Reise durch die USA bis hin zur Katastrophe des Altamont-Festivals begleitet, definiert nicht nur die bis heute gültigen Standards der Rockumentaries. Sie kokettiert auch mit dem Versprechen, die Stars ungeschminkt und privat einzufangen, während sie, wie etwa Madonnas durchgehend selbstbewusst in Szene gesetzte Dokumentation IN BED WITH MADONNA – TRUTH OR DARE (1991) anschaulich belegt, in den meisten Fällen jedoch in erster Linie neue performative Räume kreiert, derer sich die Prominenten durchaus bewusst sind.
Die scheinbar neutrale Beobachterposition des Direct Cinema erweist sich auf längere Sicht ebenso wie die vermeintliche Intimität der selbstreflexiven Gesprächsrunden des Cinéma vérité als Illusion und dankbare Zielscheibe für das Format der Mockumentaries, Fake-Dokumentationen, in denen die zum Klischee geronnenen Manierismen eines allzu unmittelbaren Dokumentarfilms vergnüglich dekonstruiert werden.
Die Arbeiten der Nová Vlna geraten erst gar nicht in die Gefahr, dem naiven Blick des allzu unmittelbaren Dokumentarischen zu erliegen, denn sie machen sich, vielleicht aufgrund der Erfahrung der stalinistisch geprägten 1950er Jahre, von Anfang an keine Illusionen über das schwierige Verhältnis zum Abgebildeten. Stets beziehen sie inszenatorische Rahmensetzungen ein, die unterschiedliche Modalitäten des Dokumentarischen bis an die Grenze zum Essay-Film auf der einen und zum improvisierten Spielfilm auf der anderen Seite ausloten. Im Unterschied zur ironischen Satire der Mockumentaries fokussieren sie sich nicht auf die Demontage vermeintlicher Authentizitätssignale und deren Rhetorik, sondern erproben sich an einer bis heute ungewöhnlichen Kombination filmischer Inszenierungsstrategien im Grenzgebiet zwischen künstlerisch geformtem Realismus und einem performativ aufgebrochenen Formalismus.
Wie der Filmhistoriker Peter Hames treffend über den tschechischen Realismus in den frühen Filmen der Nová Vlna anmerkt: »Die Amerikanische Schule, die sich auf den Bereich des Dokumentarischen beschränkt, nimmt die Position eines Beobachters ein, während die Französische Schule eine interaktive und partizipatorische Funktion des Filmemachens bevorzugt. Im tschechischen Kino lassen sich beide Varianten als Teil einer einzigen schöpferischen Vision finden, die zugleich auch verschiedene andere Elemente wie die späte neorealistische Tradition und im Fall von Forman auch klassische Elemente einer Filmkomödie enthält.«4
Die besondere Leistung Chytilovás und der Nová Vlna in ihren Variationen des Dokumentarischen besteht darin, dass sie Alternativen zu einer allzu starren Auslegung des Cinéma vérité und auch des Direct Cinema ersonnen und überlegt zur Anwendung gebracht haben. Die klassischen, von Paul Ward in Anlehnung an Bill Nichols als »expository, observational, interactive und reflexive modes«5 benannten Modalitäten des Dokumentarfilms weichen in DIE DECKE und EIN SACK VOLLER FLÖHE neuen Perspektiven, die sowohl Elemente des Cinéma vérité als auch des Direct Cinema einbeziehen. Zugleich werden diese Bezüge jedoch durch weitere Rahmungen in einem umfassenderen Geflecht filmischer Formen aufgelöst.
Mit ihrem Abschlussfilm DIE DECKE realisiert Věra Chytilová 1962 eine Kombination aus episodischem Spielfilm, Essay-Film, Momentaufnahmen im Stil des Direct Cinema und avantgardistischen Stadt-Impressionen. Im Mittelpunkt der Handlung steht die junge Marta (Marta Kanovská), die zugunsten einer Karriere als Model ihr Medizin-Studium aufgegeben hat. Der Plot des Films verarbeitet autobiografische Erfahrungen: Chytilová hatte die Studiengänge Chemie, Philosophie und Architektur begonnen, bevor sie als einzige weibliche Absolventin neben Jiří Menzel und anderen zukünftigen Vertretern der Nová Vlna in die Regieklasse des FAMU-Mitbegründers Otokar Vávra aufgenommen wurde. Zeitweise hatte sie wie die Protagonistin auch als Model gearbeitet.
Es gehört jedoch zu den besonderen Finessen der Inszenierung Chytilovás, dass sie sich weder auf einen autobiografischen Spielfilm noch auf eine Dokumentation der Arbeit eines Models beschränkt. Stattdessen werden beide Ansätze systematisch ineinander verschachtelt, wie sie es später auch in ihrem Langfilm-Debüt VON ETWAS ANDEREM realisiert, der einen dokumentarischen Handlungsstrang über die Turnerin Eva Bosáková mit einer inszenierten, aber durchaus semi-dokumentarischen, soziokulturellen Perspektive der Beobachtung des Alltags der Hausfrau Vera (Vera Uzelacová) verknüpft. Durch die gezielte Gegenüberstellung treten die dokumentarischen und inszenierten Passagen in einen Dialog miteinander, der die Grenzen des Cinéma vérité und des Direct Cinema sprengt. Die Unmittelbarkeit der beobachtenden Kamera, die in VON ETWAS ANDEREM die intensiven Vorbereitungen der Sportlerin Eva auf den nächsten Wettkampf aufnimmt, erinnert an den Fly-on-the-Wall-Approach Pennebakers. Doch durch die Verknüpfung mit der Spielhandlung um einen Seitensprung der von einer Schauspielerin dargestellten Hausfrau Vera wird der dokumentarische Teil des Films in eine weiter gefasste soziokulturelle Perspektive gerückt. Die einfache Handlung als Ausgangspunkt für eine explorative Erkundung gesellschaftlicher Zustände und Befindlichkeiten erinnert an Jaromil Jireš’ DER SCHREI, der ausgehend von der alltäglichen Situation eines Paares, das auf die Geburt des ersten Kindes wartet, die Frage stellt, in welche Welt der Säugling eigentlich hineingeboren wird.
Auf eine etwas abstraktere und reflektiertere Weise verfährt Chytilová, wenn sie in VON ETWAS ANDEREM den Alltag der beiden Frauen in den Blick nimmt. Das grundlegende Konzept, das ihren ersten Langfilm bestimmt, findet sich als erste Skizze bereits in DIE DECKE angelegt. Die langwierigen Vorbereitungen der Model-Auftritte und der Foto-Aufnahmen werden in klassisch dokumentarischer Weise gezeigt.
DIE DECKE. Aus: Internationale Kurzfilmtage Oberhausen, kurz&klein (2004), S. 104
Die Befragungsrituale des Cinéma vérité erscheinen in DIE DECKE gar nicht erst erforderlich zu sein, denn im Gegensatz zum immer leicht didaktisch anmutenden Gestus Edgar Morins und Jean Rouchs, formuliert Chytilová die Fragen durch die Vorgaben der Handlung und den Rahmen der Inszenierung. Dass der Film am Ende die angedeuteten Fragen zum größten Teil unbeantwortet lässt, verleiht DIE DECKE, nicht zuletzt auch aufgrund von Chytilovás ausgeprägtem Formbewusstsein, die Qualitäten eines Essay-Films. Leichte Verfremdungseffekte betonen diese Komponente zusätzlich. Zu Beginn des Films gibt eine männliche Stimme Martas gelangweilte Gedanken während eines Foto-Shootings wieder, bei dem sie als Stewardess vor einem Flugzeug, als Tennisspielerin auf einem Sportplatz und als Ingenieurin vor einer Maschine posiert. Den Ausstellungscharakter der für die Kamera angenommenen Rollen kommentiert Chytilová ironisch, indem sie zwei Männer wie bei einem Tennis-Match als Zuschauer die Köpfe hin- und herbewegen lässt. Obwohl sie sich anfangs nicht explizit als feministische Regisseurin verstand, erweist sich Chytilová durch die pointierte und bissige Reflexion von Blickkonstellationen und Rollenklischees dennoch als eine der wichtigsten Vordenkerinnen und Impulsgeberinnen des späteren feministischen Films.
Die »Decke« des Titels bezeichnet die Grenze, an die Marta stößt. In DIE DECKE