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Obwohl Alain Resnais (1922–2014) zu den bekanntesten "Autorenfilmern" seiner Generation zählt, scheint er doch einer autorenzentrierten Annäherung an sein Werk zu trotzen. So unterschiedlich sind seine Filme über einen Zeitraum von fast sieben Jahrzehnten hinweg. Alain Resnais selbst bezeichnet Film als eine Form der "bricolage", eine Bastelei, die verschiedenste Dinge und vorgefundene Materialien miteinander vermischt und etwas Neues daraus entstehen lässt. Auch wenn er sich in den letzten Jahren seines Filmschaffens dem Boulevardtheater und der Operette zugewandt hat, bleibt sein Name mit einer Reihe von tief in der traumatischen Geschichte des 20. Jahrhunderts verwurzelten Filmen wie "Nuit et brouillard" (1955) oder "Hiroshima mon amour" (1959) verbunden. Ab den 1980er Jahren beginnt er mit einem festen Ensemble von Schauspielern zu arbeiten, deren Gesichter zu Markenzeichen der dem Boulevardtheater verpflichteten "Comédie Resnais" geworden sind. Was jedoch alle seine Filme prägt, ist die nonchalante Ununterscheidbarkeit, wenn es um Hochkultur und Populärkultur geht. Resnais schert sich nicht um Genrekonventionen, daher vermögen seine Filme das Publikum gleichzeitig zu unterhalten und zu irritieren.
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Seitenzahl: 172
FILM-KONZEPTE
Begründet von Thomas Koebner
Herausgegeben von Kristina Köhler, Fabienne Liptay und Jörg Schweinitz
Heft 63 · Oktober 2021
Alain Resnais
Herausgeberin: Sophie Rudolph
Print ISBN 978-3-96707-576-2 E-ISBN 978-3-96707-578-6
Umschlaggestaltung: Thomas Scheer
Umschlagabbildung: © Alain Resnais: »La vie est un roman« (1983) / mk2 éditions
Soweit nicht anders angegeben, handelt es sich bei den Abbildungen aus den Filmen um Screenshots.
E-Book-Umsetzung: Datagroup int. SRL, Timisoara
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© edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag GmbH & Co KG, München 2021
Sophie Rudolph »Das Leben ist (k)ein Roman« – Filmische Reflexionen zwischen Realem und Imaginärem. Ein Vorwort
Alain Resnais im Gespräch mit Suzanne Liandrat-Guigues und Jean-Louis Leutrat »Des reproches pleins les poches« – »Ein Haufen Vorwürfe«
Thomas Weber Erinnern als filmischer Diskurs. Die frühen Filme von Alain Resnais
Beate Ochsner Filmische Teilhabe oder: Das Werden des Filmes
Mirjam Schaub »Innige Kälte« – L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD
Anna Magdalena Elsner Erinnerungen an MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR
Kristina Köhler Voir et revoir. Eine Wiederbegegnung mit JE T’AIME, JE T’AIME
Petr Mareš »One of you must speak English«. Über Mehrsprachigkeit in den Filmen von Alain Resnais
Jörg Schweinitz ON CONNAÎT LA CHANSON als Spiel ästhetischer Koketterie. Persönliche Reflexion und theoretischer Horizont
Stefanie Diekmann Ritornell. Über Alain Resnais’ Vous N’AVEZ ENCORE RIEN VU
Biografie
Filmografie
Autor*innen
Sophie Rudolph
Ein Vorwort
»Bienvenu au colloque sur l’imagination de l’éducation … pardon … l’éducation de l’imagination« [Willkommen beim Kolloquium zur Fantasie der Erziehung … Entschuldigung… Erziehung der Fantasie«]. Mit diesen Worten begrüßt in LA VIE EST UN ROMAN (DAS LEBEN IST EIN ROMAN, 1983) der Leiter des fiktiven Instituts »Holberg« die motivierte Lehrerin Elisabeth (Sabine Azéma).
Warum dieses Zitat und warum auch das Titelbild dieses Hefts der »Film-Konzepte«, das Alain Resnais gewidmet ist, aus diesem Film? Mir scheint hier ein Schlüssel zu liegen, der direkt in das Thema hineinführt, das sich bei aller Unterschiedlichkeit der filmischen Formen wie ein roter Faden durch das sich über Jahrzehnte hinweg entfaltete Werk von Alain Resnais zieht: das Verhältnis zwischen Realem und Imaginärem und die letztliche Ununterscheidbarkeit beider Pole. Die Vermischung realer Welt und imaginärer »Spielwelt« ist in LA VIE EST UN ROMAN auf vielfältige Weise ins Bild gesetzt worden, und schon der Filmtitel beruht auf der Aussage: »Alain, la vie n’est pas un roman!«, die der Regisseur als Kind von seinem Vater zu hören bekam.1 Was also bietet sich besser für eine (Wieder-)Entdeckung von Resnais an als dieser Film, der chronologisch in etwa die Mitte seines Werkes markiert, einen biografischen Bezug aufweist und die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, Realem und Imaginärem auf verschiedenen Ebenen reflektiert.
Resnais’ Filme sind oft formalistisch, sie wirken artifiziell und manchmal verkopft; sie sind immer auf eine zunächst unbestimmte Weise »merk-würdig«. Bereits vor einigen Jahren habe ich eine Monografie vorgelegt,2 die dem Gedanken folgte, durch die Erkundung der Beziehung der Filme von Resnais zu anderen Kunstformen wie Fotografie, Malerei, Literatur und Theater eine Brücke zwischen verschiedenen Phasen seines Filmschaffens zu schlagen. Im Sinne einer eigenen Aussage von ihm: »Ce que j’aime bien au cinéma, c’est que c’est un art impur qui mélange de tas de choses« [Was ich am Kino liebe, ist, dass es eine unreine Kunst ist, die so viele Dinge miteinander vermischt],3 habe ich auf den Spuren von André Bazin den verschiedenen Inspirationsquellen eines sogenannten cinéma impur, einem »unreinen Kino«,4 nachgespürt, das trotz oder gerade wegen der Anleihen bei anderen Kunstformen seine Eigenständigkeit behauptet. Auch diesmal lässt sich schon das Titelbild als eine Anspielung auf die Arbeit des Filmemachers betrachten: Wie das Kind, das aus dem Sperrmüll der Erwachsenen etwas Neues bastelt, fügt auch Resnais vielfach vorhandenes Material neu zusammen.
Was motiviert heute, sich mit den Filmen von Alain Resnais zu beschäftigen? Was macht sie aus aktueller Sicht interessant oder relevant? Resnais fragt selbst in dem hier abgedruckten Interview: »Warum haben wir dieses Gehirn und warum schaffen wir so nutzlose Dinge wie Gemälde und Filme? Niemand hat mir eine Antwort geben können«. Ganz ähnlich fragen die Texte dieses Bandes: Warum schauen wir Resnais’ Filme an und wie wirken sie auf uns? Die »nutzlosen« Filme erweisen sich dabei als alles andere als wirkungslos.
Der Film NUIT ET BROUILLARD (NACHT UND NEBEL, 1955) wurde von der Bundeszentrale für politische Bildung in den 1950er Jahren bundesweit in westdeutschen Schulen aufgeführt. Im Publikum saß auch die spätere RAF-Terroristin Gudrun Ensslin als Teenagerin. Deren Lebensgeschichte wurde später von Margarethe von Trotta in dem Spielfilm DIE BLEIERNE ZEIT (1981) inszeniert – und darin wird die Vorführung der Dokumentation durch den Vater Ensslins an der Schule seiner Töchter als kritisches Momentum in der Radikalisierung des Gedankenguts einer Pfarrerstochter aus gutem Hause inszeniert. Das junge Mädchen rennt aus dem Kino, um sich auf der Toilette zu übergeben. Ins Gedächtnis brennen sich nicht allein die Leichenberge aus den alliierten Archiven ein, sondern auch der mahnende Kommentar von Jean Cayrol in der Übersetzung Paul Celans, der die Frage »wer ist schuld?« im Raum stehen lässt mit der Anklage, dass alle schuld seien, die glauben, so etwas wäre nur in einem einzigen Land zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt möglich. Bis heute bleibt die Dokumentation ein eindrückliches Zeugnis der Auseinandersetzung mit systemischer Gewalt, die das unmoralische Verhalten einzelner bürokratisch rechtfertigt und alle zu Tätern macht.
Der Industriefilm LE CHANT DU STYRÈNE (1958) folgt in konsequent umgekehrter Reihenfolge dem industriellen Fertigungsprozess der den Alltag der 1950er Jahre verzaubernden knallbunten Plastikgegenstände zurück zum Rohstoff Erdöl. Von heute aus gesehen erscheint eine Welt geradezu nostalgisch, in der die Klimakrise noch kein Thema war und Plastikprodukte im Zeichen des Fortschritts einer modernen Konsumkultur die Haushalte eroberten. An der Produktion dieses im Auftrag des französischen Industriekonzern Péchiney entstandenen 13-minütigen Werbefilms hat Resnais länger gearbeitet als an den Aufnahmen zu seinem ersten Spielfilm HIROSHIMA MON AMOUR (1959). Der oft vernachlässigte kurze Film schafft eine bemerkenswerte dramaturgische Spannung, die auch heute noch inspirierend für eine kreative Form des Klima- und Umweltjournalismus wirken könnte. Das Beispiel LE CHANT DU STYRÈNE zeigt, wie das konsequente Verfolgen eines Stoffes im Ökosystem einer Geschichte eine organische Dramaturgie geben kann, die sich »wie von selbst« ergibt und das komplexe Zusammenspiel industrieller Infrastrukturen sichtbar macht.
LE CHANT DU STYRÈNE
Und obwohl es sich bei den Raffinerien Péchiney um einen sehr realen Schauplatz handelt, ist LE CHANT DU STYRÈNE alles andere als eine Reportage. Der Film bildet nicht die Realität des Produktionsprozesses ab, sondern unterstreicht die surreale Wirklichkeit von Plastik als Kunststoff, der die natürliche Welt nachformt. Plastik als Material steht hier auch metaphorisch für den Film selbst, Abbilder der Realität werden mittels eines technischen Verfahrens auf einen chemisch hergestellten Zelluloid-Streifen gebannt und können mithilfe eines Projektors immer wiedergegeben werden. Auch wenn die Apparaturen sich geändert haben, was wir sehen, ist immer eine Momentaufnahme, ein Ausschnitt, niemals ist ein filmisches Bild »real«, jedoch ebenso wenig vollständig »imaginär«. So erscheint denn der Übergang vom dokumentarischen zum fiktionalen Filmschaffen bei Resnais als ein fließender, eine Entwicklung, die sich längst angekündigt hat und keinen markanten Bruch darstellt – von Systemen, in denen Menschen als »automatisch« handelnd dargestellt werden (der Aufseher im Konzentrationslager, der wegen des französischen képi herausgeschnitten werden musste, bevor die Zensurbehörde den Film genehmigte, der Angestellte mit Schirmmütze in den Raffinerien – halb Mensch, halb Roboter machen sie einfach ihren Job) wird der Fokus auf die Menschen selbst und ihre seelischen Traumata gerichtet, die untrennbar mit den historischen Katastrophen ihrer Zeit verknüpft sind.
Naomi Greene hat die (frühen) Filme von Resnais als »Ghosts of History«5 bezeichnet. Tatsächlich liegt ein Schwerpunkt der Betrachtung der frühen Filme meist auf ihrer Aufarbeitung der Themen Holocaust, Atombombe, zweiter Weltkrieg und Algerienkrieg. Als ›ahistorisch‹ sticht einzig L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (LETZTES JAHR IN MARIENBAD, 1961) heraus, der jedoch in seiner zeitlichen Situiertheit und im Zusammenhang mit den anderen Filmen als ein Dokument der unzuverlässigen Erinnerung vermischt mit Teilnahmslosigkeit am politischen Geschehen außerhalb des eigenen psychischen Erlebens gesehen werden kann. Auch lässt er die beteiligten Figuren nicht weniger roboterhaft erscheinen als die ihnen vorangegangenen gesichts- und namenlosen Menschen in den Dokumentationen. Als der Film 1961 in die Kinos kam, widmete die französische Tageszeitung Le Monde an zwei aufeinanderfolgenden Tagen jeweils eine ganze Seite den Ergebnissen einer Leser-Umfrage zu dem formal ungewöhnlichen Film. Auf die Frage »A propos d’un film difficile. Que pensez-vous de L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD?« reagierten viele regelrecht angeekelt oder geradezu euphorisch. In der Ausgabe vom 3. Januar 1962 kamen zunächst die Gegner, »ceux qui sont contre«, zu Wort.6 Der verantwortliche Redakteur Jean de Baroncelli zitiert in seiner Zusammenfassung der Umfrage zunächst die wenig schmeichelhaften Etikettierungen, die er in den Zuschriften empörter Zuschauer zu lesen bekam. Immerhin haben die passionierten Gegner des Films sich blumige Formulierungen einfallen lassen. Der Film sei »une eau noire et croupie dans une bouteille de champagne« [schwarzes, verfaultes Wasser in einer Champagnerflasche] oder »un macaroni lugubre et sans goût dans la vaisselle style baroque« [eine geschmacklose, labbrige Makkaroni in einer Barockschüssel], ein »magma d’images«, ein »monument d’ennui« [Denkmal der Langeweile] und schließlich sogar »la négation du cinéma« [die Negation des Kinos]. Ein anonymer Korrespondent war besonders radikal: »Une escroquerie … Il est impossible de se moquer davantage du public. Je m’étonne que les auteurs n’aient pas encore reçu sur la figure quelques bonnes paires de claques de leurs victimes. … Une ordure … [Eine Hochstapelei … es ist unmöglich, das Publikum derart zum Narren zu halten … Mich wundert, dass die Autoren noch nicht ein paar schallende Ohrfeigen von ihren Opfern erhalten haben … ein Miststück].7
Am Tag darauf, in der Ausgabe vom 4. Januar 1962, erschien der zweite Teil, »ceux qui sont pour«.8 Der heftigen Ablehnung der einen steht ein schier grenzenloser Enthusiasmus der anderen gegenüber. Für diese »Fanatiker« ist der Film »une oeuvre bouleversante qui marque un renouvellement total de l’écriture et de la pensée cinématographique« [ein aufrüttelndes Werk, das eine totale Erneuerung des filmischen Schreibens und Denkens markiert]; »une création totale, le chef-d’oeuvre faisant suite à Hiroshima, celui-ci étant au coeur ce que l’autre est à l’esprit« [eine absolute Schöpfung, das auf Hiroshima folgende Meisterwerk, das eine ist für das Herz, was das andere für den Geist ist] oder sogar »une véritable oeuvre d’art, troublante de beauté et pièce unique … un des plus beaux cadeaux à l’art cinématographique, à l’art universel« [ein wahres Kunstwerk, von verstörender Schönheit und einzigartig … eins der schönsten Geschenke an die Filmkunst, an die Kunst allgemein]. Und eine andere Stimme: »Ce film m’a appris au moins une chose; qu’il fallait oublier tous – je dis bien tous – les films que j’avais pu voir précédemment … MARIENBAD est une révolution dans sa philosophie, dans sa vue du monde« [Dieser Film hat mich zumindest eins gelehrt; nämlich dass es alle – ich sage wirklich alle – Filme, die ich zuvor gesehen habe, zu vergessen gilt … MARIENBAD ist in seiner Philosophie, seiner Weltsicht eine Revolution].9 Hier zeigt sich besonders deutlich, dass die Filme von Alain Resnais, und vor allem dieser selbst, durchaus zu polarisieren vermögen.
L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD – Im Schatten
Die Kunsthalle Bremen widmete 2015/16 dem Film eine ganze Ausstellung: Marienbad – Ein Film als Kunstwerk. Er gilt in der bildenden Kunst als avantgardistisches Pionierwerk, das mit einer künstlerischen Sprache spielt und ein Kunstverständnis definierte, das bis heute aktuell und relevant ist. Der »MARIENBAD-Look« findet sich unter anderem in künstlerischen Arbeiten von Gerhard Richter, Howard Kanovitz, Cindy Sherman, Jeff Koons, Vanessa Beecroft, aber auch in Modeschauen von Chanel.10
Resnais’ formalistische Experimentierfreude mag die einen erfreuen, die anderen verstören. Immer aber bleibt ein eigentümliches Gefühl der von André Bazin einmal so schön benannten »gêne exquise« zurück, was man als »angenehmes Unbehagen« übersetzen könnte, ein scheinbarer Widerspruch. Die Filme von Alain Resnais sind also keinesfalls als wirkungslos zu bezeichnen. Dieser eigentümlichen Wirksamkeit haben auch die Autorinnen und Autoren dieses ihm gewidmeten Hefts der »Film-Konzepte« nachgespürt. In den Beiträgen spiegelt sich die Lebendigkeit unterschiedlicher Erfahrungen beim Zuschauen, vielfältiger Erinnerungen und Eindrücke, die die Filme von Alain Resnais ausgelöst und hinterlassen haben.
Den Beiträgen voran geht ein längeres Interview, das Suzanne Liandrat-Guigues und Jean-Louis Leutrat über ein Jahr hinweg, von 2005 bis 2006, in Paris mit Alain Resnais geführt haben; es wird hier erstmals in Auszügen, ins Deutsche übertragen, abgedruckt. Darin lernen wir Resnais hinter den Kulissen kennen, tauchen ein in seine Sicht auf die Welt und entdecken die Vielfalt der Inspirationsquellen, die in seine Filme eingeflossen sind. Das Interview ist assoziativ und persönlich, entbehrt der Vollständigkeit, steckt aber voller Details und entspricht daher sowohl Resnais’ Filmschaffen als auch der Konzeption dieses Bandes, der einige längere Analysen und mehrere kürzere Text-Miniaturen enthält. Ein Streifzug durch das filmische Werk, der die Leser*innen zum Verweilen einlädt.
Thomas Weber betrachtet anhand des frühen Dokumentarfilmschaffens und der ersten beiden Spielfilme von Alain Resnais Erinnern als filmischen Diskurs. In den Filmen LES STATUES MEURENT AUSSI (AUCH STATUEN STERBEN, 1950–53), NUIT ET BROUILLARD (1955/56), TOUTE LA MÉMOIRE DU MONDE (ALLES GEDÄCHTNIS DER WELT, 1956), HIROSHIMA, MON AMOUR (1958/59) und L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD (1961) wird die filmische Darstellung des Erinnerns von traumatischen historischen Erfahrungen in unterschiedlichen Formen erprobt. Der Aufsatz befasst sich mit dem Diskurs über filmische Darstellung von Erinnerung als Leitthema im Frühwerk von Alain Resnais, charakterisiert seine Arbeitsweise und erläutert die Position, die er als Autorenfilmemacher im französischen Kino seiner Zeit hatte.
Beate Ochsner geht in ihrer kurzen Reflexion der Frage nach, wie die Filme von Alain Resnais und speziell LETZTES JAHR IN MARIENBAD die filmische Teilhabe der Zuschauer*innen ermöglichen. Entlang einer Verschiebung der Perspektive geraten dabei die Übergänge, die Passagen und damit die Prozesse der Filmwerdung und -vergänglichkeit selbst in den Blick. Resnais’ Filme – so Ochsner –›sind‹ nicht, sie ›werden‹ vielmehr im und durch den Schnitt, was Resnais’ Rolle als »monteur« ins rechte Licht rückt. Auf diese Weise wird nicht nur ein anderes Kino, sondern auch ein anderes Publikum erzeugt.
Der Film LETZTES JAHR IN MARIENBAD steht auch im Mittelpunkt des Beitrags von Mirjam Schaub. Sie betrachtet das Spiel, das Resnais und der Drehbuchautor Robbe-Grillet mit den Zuschauer*innen des Films spielen, als zwei unvereinbare Auffassungen von Zeitlichkeit, wobei jede einzelne von ihnen »das Ganze« der Zeit ausmacht und keinerlei Ergänzung durch die andere bedarf. Daher gehe es darum, den Film für zwei einander ausschließende Interpretationen offenzuhalten. Mit Umberto Ecos Das offene Kunstwerk und Gilles Deleuzes Zeit-Bild im Gepäck kommt sie zu überraschenden Einsichten.
In ihrer persönlichen Erinnerung an den Film MURIEL OU LE TEMPS D’UN RETOUR (MURIEL ODER DIE ZEIT DER WIEDERKEHR, 1963) erkundet Anna Magdalena Elsner ebenfalls verschiedene Ebenen der Zeitlichkeit und bringt diese in Verbindung mit ihrer Arbeit zur Trauer bei Marcel Proust. Ihr Essay bewegt sich auf verschiedenen Wahrnehmungsebenen der Figur Muriel als formlose Projektion, die weit über die Handlung des Films hinausgehen und das Filmerlebnis mit eigenen Lebenserfahrungen verknüpfen.
Auch Kristina Köhler reflektiert in ihrem Text das persönliche Filmerleben. Dabei konfrontiert sie die erste Begegnung mit dem Film JE T’AIME JE T’AIME (ICH LIEBE DICH, ICH LIEBE DICH, 1968) in einem Programmkino in Lyon 2003 mit dem Wiedersehen des Films 18 Jahre später auf einer DVD. Dadurch ergibt sich ein lebendiges und vielschichtiges Porträt der individuellen Filmwahrnehmung, das mit viel Liebe zum Detail die Eigenwilligkeit des Films und seiner Rezeption widerspiegelt.
Petr Mareš beleuchtet in seiner Skizze über die Mehrsprachigkeit in den Filmen von Alain Resnais einen bisher wenig erforschten Aspekt in Resnais’ Filmschaffen. Er zeigt anhand der drei Spielfilme HIROSHIMA MON AMOUR (1959), LA GUERRE EST FINIE (DER KRIEG IST VORBEI, 1966) und I WANT TO GO HOME (1989), welche Rolle der Kontakt und die Konfrontation von Sprachen sowie von Figuren, die diese Sprachen verwenden, in Resnais’ Filmen spielt. Die Äußerungen in verschiedenen Sprachen, die zu hören, aber auch in schriftlicher Form zu sehen sind, verbinden sich zugleich eng mit dem Kontakt und der Konfrontation von unterschiedlichen Ethnien und Kulturen.
Jörg Schweinitz widmet sich dem Film ON CONNAÎT LA CHANSON (DAS LEBEN IST EIN CHANSON, 1997) als Spiel ästhetischer Koketterie, wobei persönliche Reflexion und theoretischer Horizont auch hier ineinanderfließen: Die Begeisterung des Theoretikers, der an einer Studie über filmische Stereotype arbeitete, beeinflusste die Wahrnehmung des Films als einen interessanten Fall, der theoretische Gedankengänge inspiriert. Der Essay zeichnet verschiedene Wege der kreativen filmischen Aneignung nach und verortet ON CONNAÎT LA CHANSON in der postmodernen Ästhetik der 1990er Jahre, in der die Filmfiguren als Stereotype in einem ewigen Spiel erscheinen. Er reflektiert facettenreich das Oszillieren gegensätzlicher Wahrnehmungsmodi in der Rezeption und daraus resultierende Effekte, wobei sich interessante Parallelen zu Mirjam Schaubs Lesart von L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD ergeben.
In Stefanie Diekmanns luzider Betrachtung des vorletzten Spielfilms von Alain Resnais VOUS N’AVEZ ENCORE RIEN VU (IHR WERDET EUCH NOCH WUNDERN, 2012) zeichnet sie die vielfältigen Beziehungen zum Theater auf mehreren Ebenen in Resnais’ Oeuvre nach. Exemplarisch veranschaulicht dieser Film im Besonderen die Funktionsweise der Comédie Resnais mit einem vertrauten Ensemble, das die immer wiederkehrenden Themen von Liebe, Lüge und Verrat geisterhaft repetiert. Mit dem wie eine Prophezeiung daherkommenden Titel »Ihr werdet euch noch wundern« erscheint der Film als eine Art Vermächtnis des Regisseurs Resnais, das es letztlich jedoch nicht ist, da er davon erzählt, dass auf der Bühne wie auf der Leinwand nichts geschieht, das sich nicht schon ereignet hat, nicht schon gesehen worden ist. Wie bei den anderen Filmen von Resnais handelt es sich auch hier um eine »Wiederkehr« – oder von Diekmann spielerischer formuliert: ein Ritornell.
VOUS N’AVEZ ENCORE RIEN VU
Während der Corona-Pandemie ist auf diese Weise ein mosaikartiges Panorama, eine Mischung aus längeren und kürzeren Texten, entstanden, die nicht alle Filme abdecken, dafür aber in ihrer Eigenwilligkeit auch viele verschiedene Zugänge zu diesem in sich bereits heterogenen Werk aufzeigen. Alain Resnais wäre am 3. Juni 2022 hundert Jahre alt geworden. Kurz vor seinem Tod am 1. März 2014 hat er noch im Februar seinen letzten Film AIMER, BOIRE ET CHANTER (2014) auf der Berlinale vorgestellt. Dabei war seine sprichwörtliche Bescheidenheit fast schon legendär. Er ist nie müde geworden, zu betonen, welche anderen Leute an seinen Filmen mitgewirkt haben. Er selbst hat sich nie als »Autorenfilmer« verstanden, er wurde als Regisseur von der Öffentlichkeit dazu gemacht. Er war ein aufmerksamer Zeuge des 20. Jahrhunderts, in seinen Filmen spiegelt sich eine eigentümliche Mischung aus kritischer Nachdenklichkeit und spielerischer Erforschung der Welt, sie eröffnen auch aus heutiger Perspektive immer noch einen anderen Blick auf das Leben. Mit den Worten des Schauspielers Pierre Arditi gesprochen, der in vielen seiner Filme mitgewirkt hat: »Il était un divin enfant« [Er war ein göttliches Kind].11 Die gleiche spielerische Freude beim (Wieder-)Sehen der Filme von Alain Resnais wirkt weiter durch die Lebendigkeit des Sprechens und Schreibens darüber. »Ein Film oder ein Theaterstück, Kunst, Fiktion, all das ermöglicht uns schnellere und herzlichere Kontakte«, so sagt Alain Resnais im Gespräch mit Suzanne Liandrat-Guigues und Jean-Louis Leutrat. Das Schreiben über Filme ist und bleibt somit weder nutznoch wirkungslos.
1 Jean Grault (Interview). In: François Thomas: L’Atelier d’Alain Resnais, Paris 1989, S. 63. — 2 Sophie Rudolph, Die Filme von Alain Resnais. Reflexionen auf das Kino als unreine Kunst, München 2012 (zugl. Phil. Diss., Universität Mannheim 2010). — 3 Réal La Rochelle, ›Quand le dialogue devient chant. Entretien avec Alain Resnais‹, in: Positif 437–38 (Juni/August 1997), S. 10–20, hier S. 10. — 4 André Bazin, ›Für ein unreines Kino. Plädoyer für die Literaturverfilmung‹, In: Ders., Was ist Film?, hg. von Robert Fischer, Berlin 2004, S. 110–138. — 5 Naomi Greene, Landscapes of Loss. The National Past in Postwar French Cinema, Princeton 1999, Kapitel II: ›Alain Resnais: The Ghosts of History‹, S. 31–63. — 6 Jean de Baroncelli, »A propos d’un film difficile. Que pensez vous de L’ANNÉE DERNIÈRE Á MARIENBAD? I. Ceux qui sont ›contre‹«, in: Le Monde, 3. Januar 1962, S. 6 (dt., »Anlässlich eines schwierigen Films. Was denken Sie über LETZTES JAHR IN MARIENBAD? I. Die dagegen sind«). — 7 Alle Kommentare, ebd. — 8 Jean de Baroncelli, »A propos d’un film difficile. Que pensez vous de L’ANNÉE DERNIÈRE Á MARIENBAD? II. Ceux qui sont ›pour‹«, in: Le Monde, 4. Januar 1962, S. 11 (dt., »Anlässlich eines schwierigen Films. Was denken Sie über LETZTES JAHR IN MARIENBAD? II. Die dafür sind«). — 9 Alle Kommentare, ebd. — 10 Christoph Grunenberg und Eva Fischer-Hausdorf, Letztes Jahr in Marienbad. Ein Film als Kunstwerk, Bremen 2015. — 11 Anlässlich der Podiumsdiskussion Les Fidèles d’Alain Resnais im Centre Pompidou, Paris, 1. März 2008. URL: https://www.centrepompidou.fr/en/ressources/media/Jhz305E (letzter Zugriff am 3.10.2021).