Filme drehen - Hagen Myller - E-Book

Filme drehen E-Book

Hagen Myller

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Beschreibung

Mit Film Geschichten erzählen und Emotionen wecken. Wie Filme fesselnde Geschichten erzählen, zeigt Hagen Myller. Das Lehrbuch beschreibt maßgebliche Arbeitsschritte: von der Konzeption der Handlung über die Montage bis hin zur Regie. Der Fokus liegt auf einem zentralen Aspekt, der in der filmwissenschaftlichen Literatur oft unberücksichtigt bleibt – der Montage, durch die Film erst Film wird. Durch die Montage wird aus Handlung Erzählung und aus Bildern eine Geschichte. Das Lehrbuch vermittelt Schlüsselkompetenzen im Filmemachen, die für eine Vielzahl an medien- und kulturwissenschaftlichen Studiengängen relevant sind.

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Hagen Myller

Filme drehen

Geschichten, Montage, Regie

UVK Verlag · München

Hagen Myller studierte Theater und Film. Er ist Autor, Regisseur sowie Produzent und ist als freier Dozent tätig.

 

Umschlagabbildung: © ipopba · iStockphoto

Autorenfoto: © Volker Langhoff

 

DOI: https://doi.org/10.36198/9783838560076

 

© UVK Verlag 2023— ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetztes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr. 6007

ISBN 978-3-8252-6007-1 (Print)

ISBN 978-3-8463-6007-1 (ePub)

Inhalt

Intro1 Handlung1.1 Handlung ist Text1.2 Cadrage2 Geschichten2.1 Geschichten und Logik2.2 Geschichten und Psychologie2.3 Das Blatt2.4 Struktur2.4.1 Die Argumentationsstruktur2.4.2 Andere Aktschemata2.5 Momentum2.5.1 Evaluation (Bewertung)2.5.2 Emotion2.5.3 Antizipation2.5.4 Resolution2.5.5 Identifikation2.5.6 Moral2.6 Motive2.6.1 Storytypes und Themes2.6.2 Mythen2.6.3 Konflikte2.7 Szenarien2.8 Charaktere2.8.1 Charaktertypen2.8.2 Figurenkonzeption2.8.3 Relationale Dramaturgie2.8.4 Person und Persona2.8.5 Protagonist und Antagonist2.9 Dialog2.9.1 Vier Seiten des Dialogs2.9.2 Turns und Moves2.9.3 Information2.9.4 Sprache im Dialog – die vier Regeln2.9.5 Ping-Pong und Tick-Trick-Track-Dialoge2.10 Komödien2.10.1 Komödientheorie2.10.2 Komödienhandwerk2.11 Wie entwickelt man eine Geschichte?3 Montage3.1 Tropen3.2 Continuity Editing3.3 9 Cuts3.4 Coverage System3.5 Pictorial Continuity3.6 Pictorial Contiguity3.7 Perspektiven3.7.1 Planting und Pay-off3.7.2 Surprise, Tension und Suspense3.7.3 Reine Montage3.7.4 Kamera4 Regie4.1 Haltung, Handschrift, Handwerk4.2 Production Design4.3 Blueprints4.3.1 Production Paintings4.3.2 Storyboards4.3.3 Photomatics4.3.4 Animatics4.4 Dialogszenen4.5 Blocking und Staging4.5.1 Positionen4.5.2 Gänge4.5.3 Auftritte und Abgänge4.5.4 Mise en Scène4.6 Stil4.7 Spiel4.7.1 Real Action4.7.2 Mimik und Gesten4.7.3 Techniken4.7.4 Acting, not Posing4.7.5 Am SetOutroLiteraturRegister

Meiner Mutter

Intro

Dieses Buch nimmt seinen Ausgang von einer einfachen Überlegung. Gefragt, was den Film gegenüber anderen Formen der Kunst auszeichnet, würden die meisten Leute, die sich mit Kunst befassen, sagen, die Montage. Erstaunlicherweise gibt es in der dramaturgischen Literatur, also in der Literatur, die sich mit der Wirkungsweise von Filmen beschäftigt, kein Kapitel über Montage. Es gibt ein älteres, nichtsdestoweniger in weiten Teilen noch immer gültiges Buch über Filmschnitt, das sich mit Montage und ihrer dramaturgischen Wirkung befasst, Karel Reisz’ und Gavin Millars „The Technique Of Film Editing“, aber umgekehrt gibt es kein Buch über Filmdramaturgie, das sich mit der Wirkung von Montage beschäftigt. Das ist ungefähr so, als wollte man das Universum beschreiben, ohne Kenntnis der Gravitation und ihren Einfluss auf die Zeit.

Grundlegend für meine Überlegungen zur Dramaturgie des Films ist also die Montage. Nun kann aber nur montiert werden, was zuvor abgebildet wurde, und die Frage, die sich hier stellt, ist, wie das Abgebildete beschrieben werden kann. Die Frage ist letztlich, ob es so etwas wie ein Bit, eine kleinste Einheit der Information im Film gibt und tatsächlich, ohne die Analogie überstrapazieren zu wollen, gibt es das. Die Frage der Dramaturgie im Film ist also, was das Einzelne ist, wie sich das Ganze aus dem Einzelnen zusammensetzt und wie es als Ganzes geordnet ist.

Ich beginne deshalb meine Überlegungen mit der Beschreibung einer Handlung, ausgehend von einer Bewegung, wobei die Wichtigkeit der Cadrage als Voraussetzung für die Montage deutlich wird, gehe über in die Betrachtung von Handlungen und ihren Bedeutungen für Geschichten und wie sie sich für die Wirkung auf die Zuschauer zusammensetzen, fahre fort mit der Betrachtung, wie diese Wirkungen durch die Montage erzeugt werden, und schließe mit Überlegungen über das, was das alles zusammen für die Inszenierung eines Films, also für die Regie, bedeutet. Kurz gesagt, ich beschreibe, wie man eine Filmgeschichte erzählt oder, besser gesagt, wodurch sie sich erzählt.

Downloads zum Buch

Im Buch sind zahlreiche Video- und einige Lesetipps enthalten. Diese können Sie – ebenso wie Abbildung 3, 5 und 7 – herunterladen unter

▶ https://files.narr.digital/9783825260071/Zusatzmaterial.zip

Dies erleichtert das Aufrufen der einzelnen Websites.

1Handlung

Bei allem, was wir sehen, fragen wir uns, was es bedeutet.

 

Unter einer Aktion versteht man in der Dramaturgie eine HandlungHandlung, die auf eine Veränderung abzielt, wobei nicht sicher ist, ob sie gelingt, im Unterschied zu einer Aktivität, deren Gelingen vorausgesetzt werden kann. Tennisspielen wäre eine Aktivität (wie gut es gelingt, ist in diesem Fall nicht wichtig). Ein Matchball, der über Sieg und Niederlage entscheidet, wäre eine Aktion.

Aber es gibt noch eine Kategorie, die sich unterhalb der Aktion und der Aktivität befindet: die reine Bewegung. Film ist das Medium, das Bewegungen aufzeichnet. Keine Bewegung, kein Film. Jede dramaturgische Überlegung muss von diesem Umstand ausgehen.

Unsere Wahrnehmung ist darauf ausgelegt, die Bedeutung von Bewegungen zu verstehen. So koordinieren sich Menschen in ihrem sozialen Alltag. Dies geschieht ganz automatisch und unwillkürlich.

Abbildung 1:

Der Mann mit der Tasche

Quelle: © vgajic (iStock), eigene Ergänzungen

Schauen wir uns einmal den jungen Mann an, der mit seiner Tasche auf sein Handy blickend eine Straße auf dem Zebrastreifen überquert (→ Abbildung 1). Unwillkürlich fragen wir uns, wo geht er hin, oder, anders gesagt, was ist sein Ziel? Wir sehen es nicht. Der Bildausschnitt gibt keinen Hinweis darauf. Allerdings ist die Tatsache, dass es ein Ausschnitt ist, erzählerisch von Bedeutung, denn er gibt dem Betrachter zu verstehen, dass ihm etwas gezeigt wird (dass es technisch nicht möglich ist, ein Bild anders als in einem Ausschnitt zu zeigen, ist hierfür nicht von Belang). Das Bild zeigt also einen jungen Mann, der über die Straße geht, aber es zeigt nicht, wohin er geht. Die Tasche kann ein Indiz sein, dass er geschäftlich unterwegs ist, die Umgebung ist ein Hinweis, dass er sich im innerstädtischen Bereich bewegt. Die Vermutung liegt nahe, dass er ins Büro geht. Aber genauso gut könnte er aus einem Büro kommen. Wir sehen es nicht. Aber wir stellen Vermutungen darüber an. Wir machen uns Gedanken über sein Ziel.

Sobald wir erkennen, was sein Ziel ist – nehmen wir an, der junge Mann ginge zu einem Bürohaus –, stellen wir Vermutungen über seine AbsichtAbsicht an. Naheliegend ist dann, dass er zur Arbeit geht. Sobald wir sein Ziel kennen, schließen wir auf seine Absicht. Ziel und Absicht, Goal und Intention, sind nach Eugene Vale die Grundprinzipien der dramatischen Erzählung.

Aber es passiert noch mehr. Sobald Ziel und Absicht bekannt sind, findet beim Betrachter eine BewertungBewertung der Handlung statt. Diese Bewertung ist moralisch begründet. Und sie löst Emotionen aus. Im Fall eines Gangs ins Büro zum Zweck der Arbeit ist die Moral irrelevant und die Bewertung neutral, solange der Betrachter nichts anderes erfährt, oder durch Vorangegangenes schon weiß. Es wäre sozusagen reine Information. Aber stellen Sie sich vor, der junge Mann begegnete auf dem Zebrastreifen einer alten Dame und würde sie ungehemmt anrempeln, weil er auf sein Handy schaut. Sofort wäre er als rücksichtsloser, vielleicht sogar egoistischer Charakter markiert. Moral darf man in diesem Zusammenhang allerdings nicht als eine Menge bestimmter Werte verstehen, sondern ganz allgemein als eine Verhaltenserwartung in einer bestimmten Situation. Dazu später mehr. Entscheidend ist deshalb nicht, welche Bewertung stattfindet, sondern dass eine Bewertung durch den Betrachter stattfindet. Dieses Dreieck aus ZielZiel, AbsichtAbsicht und BewertungBewertung einer Handlung ist die Basiseinheit, das Bit der Information im Film.

1.1Handlung ist Text

Ich hatte weiter oben erwähnt, dass unsere Wahrnehmung darauf ausgelegt ist, die Bedeutung von Bewegungen, also von Handlungen, zu erkennen. Die Grundlage dafür bilden Handlungsmuster, die wir gelernt haben, und die in der Sozialpsychologie Social ScriptsSocial Scripts genannt werden. Social Scripts beschreiben den Ablauf einer Aktion oder Interaktion, wie wir sie kennen und erwarten. Die begriffliche Nähe zu einem Skript, einem Drehbuch, ist offensichtlich. Der französische Philosoph Paul Ricœur hat aus der Tatsache, dass wir Handlungen so verstehen, geschlossen, dass wir sie betrachten können wie Text: HandlungenHandlungen werden verstanden, oder können gelesen werden, wie TextText. Das gilt natürlich nicht nur für das Leben, sondern erst recht für den Film, der Handlungen nicht nur aufzeichnet, sondern, wie oben schon erwähnt, sie zeigt, auf sie durch die Cadrage verweist, wodurch eine Erzählung entsteht. Schauen wir uns das einmal an einem Beispiel an.

Stellen Sie sich drei einfache Einstellungen vor. In der ersten sehen Sie, wie ein Mann in den Berliner Hauptbahnhof geht. In der nächsten sehen Sie, wie er ein Ticket an einem Fahrkartenautomaten löst. Und schließlich sehen Sie in der dritten Einstellung, wie der Mann einen Zug besteigt, über dem auf der Anzeigetafel steht: Frankfurt a. M. Die Aussage dieser drei Einstellungen ist: Ein Mann fährt mit dem Zug von Berlin nach Frankfurt. Handlung wird verstanden wie Text. Dabei ist es nicht notwendig zu zeigen, dass er mit dem Zug fährt. Wir schließen das aus den gesehenen Handlungen.

Zu berücksichtigen ist dabei auch, wie sich eine Handlung aus TeilhandlungenTeilhandlungen und BasishandlungenBasishandlungen zusammensetzt, wie es Teun van Dijk in seinem Buch „Textwissenschaft“ beschreibt. Teilhandlungen können entweder Basishandlungen einer zusammengesetzten Handlung und damit notwendig für das Gelingen der Handlung sein oder Teil einer HandlungsreiheHandlungsreihe. Teilhandlungen einer Handlungsreihe oder HandlungssequenzHandlungssequenz werden als selbständig wahrgenommen. Basishandlungen werden nur als Teil einer Handlung wahrgenommen.

Handlungen, die aufeinander bezogen sind, sind InteraktionenInteraktionen und bestehen aus Handlungssequenzen mindestens zweier Handelnden, also der eigentliche Gegenstand eines Dramas. Aber auch dazu später mehr.

In unserem Beispiel der Zugfahrt zeigen die drei Einstellungen die notwendigen Teilhandlungen. Eine Basishandlung wäre die Eingabe des Fahrtziels am Ticketautomaten, die vielleicht mit Schwierigkeiten verbunden sein könnte. Wichtig ist, worauf der erzählerische Fokus liegt: Hier also, wie ein Mann den Zug von Berlin nach Frankfurt nimmt (warum auch immer), nicht, dass es Schwierigkeiten beim Lösen einer Fahrkarte gibt.

Natürlich müssen die drei Teilhandlungen nicht in drei Einstellungen aufgelöst werden. Man könnte sie durch einen langen Schwenk oder eine lange Fahrt verbinden. Man muss auch nicht von außen zeigen, dass der Mann den Bahnhof betritt. Man könnte das genauso gut von innen tun und mit einem Schwenk auf den Fahrkartenautomaten verbinden, um dann auf den Bahnsteig zu schneiden, wenn einem eine den Mann begleitende Kamerafahrt zu lange, zu nichtssagend oder zu aufwendig erscheint (vielleicht will man aber auch zeigen, wie er sich durch die Menge kämpft, um seinen Zug noch rechtzeitig zu erreichen). Es gibt viele Möglichkeiten und sie hängen alle davon ab, was man erzählen und auf was man die Betonung legen möchte.

Wir sehen jetzt schon, wie Handlung die Erzählung des Films strukturiert und wie unsere Vermutungen über Ziel und Absicht und ihre Bewertung uns an den gezeigten Handlungen teilhaben lässt.

1.2CadrageCadrage

Ich hatte schon erwähnt, dass die Cadrage die Voraussetzung für die Montage ist. Schauen wir uns noch einmal den jungen Mann an, der über die Straße geht. Man könnte die Dauer seines Ganges dazu nutzen, den erzählerischen Fokus durch eine nähere Einstellung auf den Mann zu legen, noch bevor Ziel und Absicht deutlich werden, um seine entspannte Art oder genau das Gegenteil, seine Anspannung zu zeigen. Man könnte dann auf die Tasche schwenken oder auf sie schneiden. Man könnte auch gleich aus der Totalen auf die Tasche schneiden (wie es vielleicht Hitchcock gemacht hätte), um eine Vermutung, die der Zuschauer bereits hat, etwa dass sich in der Tasche geheime Papiere befinden, zu bestätigen. Sogleich bekommen die Vermutungen über Ziel, Absicht und ihre Bewertung eine ganz andere Bedeutung.

Unter Cadrage wird in der Regel nur die bildkompositorische Umsetzung der Bildinhalte verstanden, also das Wie einer Darstellung. Natürlich ist aber zuallererst das Was einer Einstellung entscheidend als Voraussetzung für die Montage. Da der Bildrahmen nur einen Ausschnitt des Geschehens wiedergibt, besteht die narrative Funktionnarrative Funktion der Cadrage primär darin, dass sie dem Zuschauer etwas zeigt, dass sie ihn auf etwas hinweist.

Wir haben gesehen, wie aus einer Bewegung eine Handlung wird. Schauen wir uns im nächsten Kapitel an, wie aus Handlungen Geschichten entstehen.

2GeschichtenGeschichten

Geschichten sind eine Abfolge einer Reihe von Erzählungen von Ereignissen, die zusammen einen Sinn ergeben.

 

Wenn man über das Geschichtenschreiben für den Film schreibt, sollte man sich zuerst einmal über den Ursprung von Geschichten und ihre Funktion Gedanken machen. Geschichten sind eine Abfolge von Ereignissen. Ob eine Geschichte lediglich aus der Erzählung eines einzelnen Ereignisses bestehen kann oder ob es eine Höchstzahl an Ereignissen und ihrer Erzählung gibt, ist eine theoretische Diskussion, die ich hier nicht führen will. Wenn man an Endlosserien denkt, muss man die Idee einer Höchstzahl von Ereignissen verneinen. Andererseits zeichnen sich diese Serien durch die Variation des Immergleichen aus. Charakteristisch für Geschichten ist aber, dass die Zusammenstellung von Ereignissen einen Sinn ergibt.

Dabei ist allein schon die Wiedergabe des Geschehens realer Personen und Gegebenheiten im Setting und durch die Handlungen der Figuren einer Erzählung eine erzählerische Zusammenfassung. Aber auch diese Diskussion, wie real ein Ereignis tatsächlich erzählt werden kann, ist theoretischer Natur.

Wichtig ist in diesem Zusammenhang nur, dass Geschichten aus der Erzählung von Ereignissen bestehen und nicht aus den Ereignissen selbst, wobei für den Film von Anfang an eine Besonderheit gilt: Obwohl der Film eindeutig ein erzählerisches Medium ist, erscheint er uns in Form seiner bewegten Bilder als real in dem Sinne, dass Bewegungen im Moment der Erzählung tatsächlich stattfinden.

Christian Metz hat diesen Realitätseindruck damit erklärt, dass wir aufgrund unserer Sinne nur zwei Möglichkeiten haben, auf die Realität eines Ereignisses zu schließen: Indem wir seine Objekte berühren oder indem wir sehen, dass sie sich bewegen, da wir daraus schließen, dass sie ‚leben‘ und somit real sein müssen. Ohne diesen Umstand würden Animationsfilme nicht funktionieren.

Aber gehen wir zurück zu der Definition einer Geschichte als Abfolge der Erzählung von Ereignissen und betrachten, wie eine Geschichte aus dem tatsächlichen Leben entsteht. Nehmen wir an, die gestrichelte Linie in → Abbildung 2 repräsentiere die TimelineTimeline des Lebens einer realen Person (in der Grafik bezeichnet E ein Ereignis und N seine Narration).

Abbildung 2:

Timeline

Quelle: eigene Darstellung

Zwischen den Ereignissen passierte nichts Wesentliches oder nichts, was der Person erzählenswert wäre, was auf dasselbe hinausläuft. Die Person berichtete also von einer Reihe von Ereignissen, die für sie zusammengenommen eine Geschichte mit einem bestimmten Sinn ergeben (G1 = N1, N2, N3, N4).

Nehmen wir weiter an, es gäbe noch ein Paar Ereignisse mehr im Leben dieser Person, die sie für erzählenswert hielte, und wir bekämen eine andere Geschichte (G2 = NA, NB, NC, ND).

Aber das ist noch nicht das Ende der Geschichte, denn die einzelnen Ereignisse könnten in einer anderen Zusammenstellung einen neuen Sinn ergeben und damit eine andere Geschichte erzählen (G3 = NA, N3, NB, N4).

Aber auch das ist noch nicht das Ende, denn tatsächlich gibt es ja noch die Möglichkeit, die Ereignisse nicht chronologisch zu erzählen und erst dadurch ihren Sinn zu erkennen (G4 = N1, NC, N3, N2). Ein berühmtes Beispiel ist „Pulp Fiction“ von Quentin Tarantino.

Indem wir uns also von Ereignissen erzählen, versuchen wir uns, über den Sinn dieser Ereignisse klar zu werden. Und wir erzählen sie einem anderen, um seine Meinung dazu zu hören. Erst indem wir einzelne Ereignisse aus dem Kontinuum der Timeline lösen und diese Ereignisse in eine Abfolge bringen, erkennen wir ihre Bedeutung. Das ist Ursprung und Funktion des Geschichtenerzählens.

2.1GeschichtenGeschichten und LogikLogik

Es gibt noch eine andere Form, sich über die Welt, in der wir leben, klar zu werden: Es ist der rationale Diskurs, die logische Argumentation. Im Unterschied zu Geschichten abstrahiert er von den Ereignissen und stellt ihre Kausalität heraus, während sich die Kausalität von Geschichten nur aus der Abfolge der Ereignisse ergibt. Allein das ist schon ein Zeichen dafür, dass Geschichten näher am Leben sind, als es der reine Diskurs ist. Aber es gibt weitere Probleme bezüglich der Überzeugungskraft logischer Argumentation. Sie setzt voraus, dass man die gleichen Prämissen teilt, ansonsten kommt man zwangsläufig zu anderen Schlussfolgerungen. Dabei sind die PrämissenPrämissen in der Logik andere als jene des Films. Im Gegensatz zur Logik sind die Prämissen des Films, ‚Was wäre wenn?‘, keine Bedingung, sondern nur eine Voraussetzung, von der die Erzählung ausgeht.

Darüber hinaus hat die logische Argumentation noch einen rein menschlichen Nachteil: Wenn Sie jemandem logisch beweisen, dass Sie recht haben und er nicht, ist er ihnen nicht dankbar dafür, ihn über seinen Irrtum aufgeklärt zu haben, sondern er ist sauer, dass Sie ihm einen Fehler nachgewiesen haben. Er wird deshalb nichts unversucht lassen, um zu beweisen, dass doch Sie im Unrecht sind. Mit anderen Worten: Mit Logik überzeugen Sie niemanden, der nicht dazu bereit ist, sich überzeugen zu lassen.

Bei Geschichten ist das anders. Dadurch, dass Sie nur von den Ereignissen berichten, zieht der andere die Schlüsse daraus selbst. Es mögen vielleicht Schlüsse sein, die von Ihren eigenen abweichen, was einen professionellen Geschichtenerzähler allerdings irritiert, denn er hat ja die erzählten Ereignisse in bestimmter Weise ausgewählt und arrangiert, um Sie zu den gleichen Schlüssen zu führen, die er selbst gezogen hat. In unserem Alltag, und davon ging ich ja in meiner Betrachtung von Geschichten aus, ist dieser Unterschied in den Schlussfolgerungen aber nicht gravierend. Im Gegenteil. Wie ich schon sagte, erzählt man sich Geschichten, auch um die Meinung eines anderen dazu zu hören. Für das professionelle Erzählen ist das allerdings fatal und die DramaturgieDramaturgie beschäftigt sich damit, wie man Geschichten ‚richtig‘ erzählt.

Es gibt noch einen weiteren Vorteil von Geschichten gegenüber rationaler Argumentation. Der Zuhörer, oder Zuschauer, vergleicht ständig das Erzählte mit seinen eigenen Erfahrungen. Decken sie sich, ist er geneigt, Ihnen in Ihren Schlüssen zu folgen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Geschichte im Hier und Jetzt spielt, zu anderen Zeiten oder in fernen Welten. Denn auch da geht es nur um menschliche Verhältnisse und der veränderte Rahmen von Zeit und Ort dient nur dazu, etwas deutlich zu machen, was sonst nicht deutlich gemacht werden könnte.

Ich habe die Logik, eigentlich gegen meine Neigung, etwas schlechter gemacht, als sie ist, denn ich wünschte, sie wäre populärer. Dann wären vielleicht auch die Widerstände gegen sie nicht so groß. In amerikanischen Fernsehserien kann man seit langem immer wieder sehen, wie logische Sachverhalte diskutiert werden. Das überrascht eigentlich, weil man dem durchschnittlichen Amerikaner nicht gerade ein besonderes Verhältnis zur Wissenschaft nachsagt. Ein beliebtes Thema ist der falsche Umkehrschluss. Ein einfaches Beispiel dafür ist die Aussage: „Wenn es regnet, ist die Straße nass“, was wohl jeder von uns unterschreiben würde. Der scheinbare Umkehrschluss ist: „Wenn es nicht geregnet hat, ist die Straße trocken.“ Leider ist dieser Schluss, so plausibel er ist, logisch falsch, denn es gibt andere Gründe, weshalb eine Straße nass sein kann (z. B. ein Wasserrohrbruch, der Nachbar wäscht verbotenerweise sein Auto auf der Straße, ein städtischer Sprengwagen ist durch die Straße gefahren etc.). Richtig ist folgender Umkehrschluss: „Wenn die Straße trocken ist, hat es nicht geregnet.“ Das ist logisch zwingend. Dass es andere Gründe für eine nasse Straße gibt, die ebenfalls nicht eingetreten sind, ist dabei nicht relevant (Logisch formuliert sieht das so aus: Wenn A, dann B; logisch falsch: Wenn nicht A, dann nicht B; logisch richtig: Wenn nicht B, dann nicht A.)

Natürlich ist der falsche Umkehrschluss die plausible Antwort, denn alle anderen Begründungen sind eher Ausnahmen. Wenn man bei einer Geschichte also von HandlungslogikHandlungslogik spricht, meint man deshalb die Plausibilität der Erzählung und nicht die tatsächliche Logik der Handlungen, die zu den Schlussfolgerungen der Geschichte führen.

Was man mit Logik fassen kann und was nicht, darüber hat Ludwig Wittgenstein seinen berühmten „Tractatus logico-​philosophicus“ geschrieben. Übrigens wurde er zu seinem „Tractatus“ durch eine Gerichtsverhandlung über einen Verkehrsunfall inspiriert, bei der zur klareren Darstellung des Sachverhalts der Unfall an einer Tafel modellhaft, also bildlich, nachgestellt wurde. Nicht umsonst sagt Wittgenstein anfangs: „Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.“ Und er endet mit seinem berühmten Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“ Aber man kann es zeigen!

Denn was den Film betrifft, ist der Umstand, dass Zuschauer Schlüsse aus den dargestellten Ereignissen ziehen, von besonderer Bedeutung. Im Film wird nicht nur von Ereignissen berichtet, sie werden tatsächlich gezeigt. Das macht die Überzeugungskraft von Filmen aus. Man hat es selbst gesehen!

2.2GeschichtenGeschichten und PsychologiePsychologie

In den 1970er- und 1980er-​Jahren war die Psychologie, besonders Methoden der Psychoanalyse, so etwas wie der Heilige Gral der Interpretation von Filmen. Slavoj Žižek hat das noch 2006 in seiner sehr sehenswerten Dokumentation „The Pervert’s Guide to Cinema“ gemacht. Ich habe selbst meine Magisterarbeit über dieses Thema verfasst, „Traumdeutung und Filmanalyse am Beispiel von Hitchcocks Film ‚Vertigo‘“, und bei Klaus Holzkamp, dem Begründer der kritischen Psychologie, meine Prüfung abgelegt. Neugierig geworden, zu welchem Ergebnis ich in meiner Arbeit gekommen war, fragte er: „Was denken Sie, taugt die Psychologie zur Filmanalyse oder nicht?“ So eine Frage wollen Sie in einer Prüfung nicht gestellt bekommen, denn es ist eine Entscheidungsfrage und wenn Sie mit Ihrer Antwort falsch liegen, können Sie den Rest der Prüfung versuchen zurückzurudern. Ich überlegte also: Sollte ich ihm antworten, was damals dem Zeitgeist entsprach, oder sollte ich sagen, was ich dachte und zu welchem Schluss ich gekommen war? Ich entschied mich für Letzteres und antwortete: „Nein, die Psychologie taugt nicht zur Analyse von Filmen!“ Holzkamp, der, während ich überlegte, ungeduldig auf seinem Stuhl wippte, ließ sich nach vorne fallen, hob den Arm und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, sodass die Teetasse seines Assistenten einen Zentimeter nach oben sprang und rief: „Vollkommen richtig! Die Psychologie sollte ihre schmierigen Finger aus der Filmanalyse lassen!“ Die schmierigen Finger bezogen sich auf die methodologische Unschärfe seines Faches, wogegen er mit seiner kritischen Psychologie anschrieb.

Auch wenn die Psychoanalyse nicht zur Interpretation von Filmen taugt – vielleicht von Teilen, aber nicht von ganzen Filmen, denn sie wurde zur Therapie von Kranken entwickelt, nicht zur Analyse von Kunst, obwohl Sigmund Freud sie selbst darauf angewendet hat –, so sind dennoch menschliche Wahrnehmungen und Empfindungen bei der Betrachtung von Filmen natürlich mit Hilfe der Psychologie zu beschreiben.

Eine der wesentlichsten Entdeckungen der Biopsychologie für das Verständnis menschlichen Mitgefühls war 1992 die Entdeckung der SpiegelneuronenSpiegelneuronen durch Giacomo Rizzolatti und seinem Team, erst bei Rhesusaffen, um einiges später dann auch beim Menschen. Egal, ob Sie selbst eine Handlung ausführen oder ob Sie diese nur bei einem anderen beobachten, in Ihrem Gehirn feuern die gleichen Neuronen. Das legt den Schluss nahe, dass Sie dadurch nicht nur verstehen, was der andere macht, sondern auch die gleichen Empfindungen teilen wie er. Diesem Vorgang entsprechen in der Dramaturgie die Begriffe IdentifikationIdentifikation und EmpathieEmpathie. Auch wenn dieser Zusammenhang noch kontrovers diskutiert wird, scheint die Analogie evident. Rizzolatti selbst hat über Empathie und Spiegelneuronen geschrieben. Dennoch brauchte es einige Zeit, bis seine Forschung in der Filmszene Beachtung fand. Wesentlich für den Film ist, dass durch die Beobachtung einer Handlung die Handlung und ihre Motive vom Zuschauer verstanden und nach- und mitempfunden werden können. Allein durch Beobachtung.

Eine andere wesentliche Erkenntnis für das Verstehen von Filmgeschichten liefert die Forschung des Psychologen Daniel Kahnemann zu Erinnerungen. „Nur zwei Dinge sind entscheidend: Was waren die Höhepunkte, also die schlimmsten oder, je nachdem, die großartigsten Momente? Und wie ging es aus, wie war das Ende?“ Wir erinnern also nicht die ganze Episode, sondern nur das Wesentliche. Höhepunkte und Ende entsprechen in der Dramaturgie die Begriffe WendepunkteWendepunkte und ClimaxClimax. Auch die Dramaturgie der Erzählung einer Geschichte scheint bereits in der Psychologie unserer Wahrnehmung vorgezeichnet zu sein. Den einzelnen Episoden unseres Lebens wird also von vornherein eine Struktur aufgeprägt.

2.3Das Blatt

Für meine Studenten der Filmschulen, an denen ich unterrichtet habe, habe ich die gängigen dramaturgischen Konzepte und Begriffe sowie einige meiner eigenen Überlegungen auf einer Seite zusammengefasst, die ich kurz „Das Blatt“ nenne. Sie können „Das BlattBlatt“ (→ Abbildung 3) als Roadmap der Dramaturgie nutzen.

Abbildung 3:

Das Blatt | → Download!

Quelle: eigene Darstellung

Das Blatt besteht im Wesentlichen aus zwei Komponenten: dem Rahmen mit Pfeilen und Kästen sowie den vier Blöcken innerhalb des Rahmens.

Im obersten Block stehen die Begriffe der klassischen Filmdramaturgie ausgehend vom Drei-​Akt-​ParadigmaDrei-​Akt-​Paradigma, auf die ich im Laufe des Buches Schritt für Schritt eingehen werde. Zwei Anmerkungen dazu vorweg: Sie beziehen sich auf das Verhältnis von PlotPlot und SubplotsSubplots sowie auf die acht Sequenzen8 Sequenzen. Die AkteAkte des Drei-​Akt-​Paradigmas unterteilen eine Geschichte grob in Anfang, Mitte und Ende. Die acht Sequenzen sind Unterabschnitte dieser Akte, die auf das erzählerische Ziel der Akte hin ausgerichtet sind. Im Hinblick auf die Funktion von Geschichten, also dass wir nach den Bedeutungen von Ereignissen suchen, die einen Sinn ergeben sollten, drückt die Haupthandlung die Idee des Autors aus, klassisch verkörpert durch den ProtagonistenProtagonisten. Die erzählte Handlung dient dem Autor als Mittel zum Zweck, durch die er seine Haltung zum Leben darstellt. Das Gleiche gilt für die Nebenhandlungen, allerdings in Bezug auf die Haltung, die durch die Haupthandlung zum Ausdruck gebracht wird. Nebenhandlungen können dazu ergänzend, bestätigend, widersprechend, relativierend, kontrapunktisch, komplementär, kontrastierend oder komplett konträr sein. Nebenhandlungen können dabei auch eine eigene, ausgeprägte Storyline entwickeln, für die die gleichen Strukturmerkmale gelten wie für die Haupthandlung, aber letztlich immer im Hinblick auf die Haupthandlung. Oft genug sind Nebenhandlungen allerdings beiläufig und beliebig und dienen nur dazu, ‚etwas Butter bei die Fische‘ zu geben. Sie haben dann eine atmosphärische Funktion. Manchmal sind sie auch notwendig, um Storyinformationen zu vergeben oder eine Szene vor- oder nachzubereiten. Dagegen ist nichts einzuwenden, wenn sie ergänzend oder auf einer assoziativen Ebene funktionieren. Sie sollten zwar Sinn machen, aber nicht alles in einem Film muss unter der Prämisse des Themas stehen. Manchmal reicht es auch, dass es nur Spaß macht oder dass es nur schön ist.

Der zweite Block betrifft die FigurendramaturgieDramaturgieFigurendramaturgie, auf die ich in → Abschnitt 2.8 „Charaktere“ noch zu sprechen komme, sodass ich hier nur kurz auf die Begriffe eingehe, die nach klassischer Auffassung grundlegend für die Entwicklung einer Handlung sind. Die beiden Begriffe, um die es wesentlich geht, sind WantWant und NeedNeed. Als Want bezeichnet man das Ziel, das der Protagonist im Laufe der Geschichte verfolgt und zu erreichen versucht. Als Need seinen inneren Antrieb, seine innere Motivation, die nicht identisch sein muss mit seinem Ziel, sondern, im Gegenteil, diesem sogar widersprechen kann. Während das Want mit der sogenannten dramatischen Fragedramatische Frage verbunden ist, also der Frage auf der Handlungsebene, ob der Protagonist sein Ziel erreicht und wie oder ob nicht, ist das Need mit der zentralen Fragezentrale Frage verbunden, also mit dem Thema, von dem die Geschichte handelt und das sich im Charakter des Protagonisten spiegelt. Das würde dann aber bedeuten, dass das Thema an den Charakter gebunden ist, was nicht notwendigerweise der Fall sein muss. Es gibt genügend gute Geschichten, die ohne ein Need des Protagonisten auskommen. Problematischer ist allerdings, dass mit der Erwähnung der zentralen Frage in der dramaturgischen Literatur das Problem erledigt zu sein scheint und weiter keine große Beachtung findet. Dabei ist die zentrale Frage der Grund, warum man überhaupt eine Geschichte erzählt.

In den beiden folgenden Blöcken, SpannungsdramaturgieSpannungsdramaturgie und Dramaturgie der Moral und der EmotionenDramaturgie der Moral und der Emotionen, erwähne ich drei BasisszenarienBasisszenarien, auf die ich am Ende dieses Kapitels ausführlich eingehen werde. Erläuterungen zu den anderen Begriffen, finden Sie in den folgenden Abschnitten, sofern ich sie nicht hier beschreibe.

Zu den klassischen dramaturgischen Begriffen gehört die FallhöheFallhöhe (What’s at stake?). Je mehr der Held zu verlieren hat, desto mehr fiebern wir mit ihm mit, IdentifikationIdentifikation natürlich vorausgesetzt. Das Foreshadowing (Telegraphing bei Frank Daniel) deutet ein zukünftiges Ereignis an, auf dessen Eintreffen der Zuschauer wartet, diesen also in die Geschichte einbindet, ebenso wie eine EnthüllungEnthüllung, die dem Zuschauer eine Information gibt, die der Held nicht hat. Allerdings muss dem Helden diese Information in Form einer EntdeckungEntdeckung später gegeben werden, was zu einem starken emotionalen Moment beim Zuschauer führt. Eine Entdeckung kann auch unabhängig von einer vorherigen Enthüllung erfolgen. Andeuten und AusführenAndeuten und Ausführen (Planting/Set-​up und Pay-​off) bezeichnet eine Information, die zunächst beiläufig gegeben wird und dann später in anderem Zusammenhang eine neue Bedeutung erhält. Am stärksten funktioniert das, wenn die Andeutung durch ein starkes Bild erfolgt, da sich der Zuschauer leichter an ein Bild als an einen Dialog erinnert. Eine Andeutung kann notwendig sein, um einen Gag einzuführen. Die Pointe ist in diesem Fall die Ausführung.

Die Wirkungsebene der zuletzt genannten dramaturgischen Mittel entspricht der Strukturebene eines Stoffes. Allerdings handelt die klassische Dramaturgie sie auf der Handlungsebene ab. Wie ich später zeigen werde, können diese Wirkungen, ebenso wie TensionTension, SurpriseSurprise, MysteryMystery und SuspenseSuspense auch allein durch Montage erzeugt werden. Es müssen dafür nicht extra Szenen gebaut werden.

Darüber hinaus erwähne ich auf dem Blatt noch ein ABACA-​ModellABACA-​Modell und weiter unten ein ABC-​Modell. Der Ausdruck ABACA-​Modell bezieht sich auf Aristoteles’ Forderung, eine interessante Geschichte müsse wider Erwarten, aber folgerichtig verlaufen. Das scheint zunächst widersprüchlich, erklärt sich aber, wenn wir den Blick nicht auf die Handlung, sondern auf den Zuschauer lenken. Überraschende Wendungen können entstehen durch äußere Einflüsse (Umstände, Parallelhandlungen, Vorgänge im Off, Backstory), innere Einflüsse (komplexe Charaktere) oder durch das Auftauchen neuer Informationen, die bisher Gezeigtes in einem neuen Licht erscheinen lassen. Entscheidend dabei ist die Erwartung des Zuschauers, seine sogenannte AntizipationAntizipation über den Fortgang der Handlung. Diese Erwartung leitet sich einerseits natürlich aus dem bereits Erzählten her, also der inneren Logik der erzählten Handlung, die der Zuschauer für sich fortschreibt, bevor sie eintrifft. Andererseits leitet sie sich aus ErzählkonventionenErzählkonventionen ab. Das lässt sich formalisiert leicht darstellen, wenn man eine Handlungsfolge in ihre Handlungsschritte oder Teilhandlungen auflöst. So folgt auf eine Handlung A zwangsläufig eine Handlung B. Danach könnte die Erzählung mit der Handlung C fortgesetzt werden, die eine neue Information liefert. Sie könnte aber auch zu Handlung A zurückkehren und das Gezeigte relativieren, abhängig von den erwähnten äußeren und inneren Einflüssen, um dann zu C überzugehen oder gleich auf C zu springen. Das bringt formalisiert das ABACA-​Modell zum Ausdruck, eine Abfolge von Handlungsschritten, die nicht dem alphabetischen Muster folgen. Wichtig dabei ist, dass die Überraschung also nicht nur in dem liegt, was gezeigt wird, sondern auch in der Erwartung seiner Abfolge, was für die Montage eines Films entscheidend ist.

Beim ABC-​ModellABC-​Modell handelt es sich dagegen um ein Handlungsmodell des Verhaltenspsychologen Albert Ellis, das ich auf die Wahrnehmung von Filmhandlungen angewendet habe. Dazu gleich mehr.

Nun zu den Kästen und Pfeilen auf dem Blatt. Der erste Block ist eingerahmt von den beiden Pfeilen zentrale FrageFrage, zentrale und dramatische FrageFrage, dramaturgische, die senkrecht aufeinander stehen und nach der klassischen Auffassung die beiden Dimensionen einer Geschichte, ihr Rückgrat, SpineSpine, bilden. Dagegen ist nichts einzuwenden, nur dass dieses Verhältnis der beiden Dimensionen zueinander nie wirklich untersucht wurde.

Ganz unten auf der Seite finden Sie den Kasten AktionAktion. Ich unterscheide hier nicht zwischen Aktion, Aktivität und Bewegung, sondern bezeichne damit alles, was in irgendeiner Form Handlung ist oder zu ihr führt.

Demgegenüber steht im oberen Kasten IdeeIdee. Man kann sie auch als Controlling IdeaControlling Idea, ThemaThema, AussageAussage oder Through LineThrough Line bezeichnen, ich bevorzuge ConclusioConclusio oder eben Idee. Die Idee eines Films spiegelt sich in seiner Story wider, weshalb sie auch in diesem Kasten genannt ist. Die Pfeile links und rechts führen zu dieser Idee hin, ausgehend von einer Aktion. Grundsätzlich entsteht jede Idee in einem Film aus irgendeiner Form von Handlung, die auch ein Sprechakt eines Dialogs sein kann. Und für die Idee gilt, was Fritz Lang sagt: „Jeder Film muss eine Idee klar zum Ausdruck bringen!“

Der Weg von der Aktion zur Idee geht über die Pfeile links und rechts. Auf der rechten Innenseite ist der Pfeil TextText. Er bedeutet, was wir in → Kapitel 1 gesehen haben, nämlich dass wir Handlung verstehen wie Text.

Der nächste Pfeil, Drama, bezieht sich auf die in den Blöcken beschriebenen dramaturgischen Mittel der Handlungsdarstellung.

Der äußere Pfeil, PlotPlot, zeigt schließlich wie sich aus dem Aufbau der einzelnen Handlungsschritte aus Basis- und Teilhandlungen im Rahmen der Handlungslogik der Plot entwickelt. Im Plot kommen Thema und Stoff zur Entfaltung.

Die drei Pfeile Text, Drama und Plot beschreiben also wodurch, mit welchen Mitteln und in welchen Schritten man von der einzelnen Aktion hin zur Idee kommt.

Auf der linken Seite finden Sie einen Pfeil mit einer Reihe von Strukturbegriffen, die aus der Textwissenschaft entlehnt sind:

MikroMikrostruktur-, MakroMakrostruktur-, SuperstrukturSuperstruktur und MythosMythos.

Den Mythos könnte man auch als HyperstrukturHyperstruktur bezeichnen, da er sich nicht nur aus den anderen Strukturen zusammensetzt, sondern sie auch umschließt.

Der Mythos-​Pfeil läuft parallel zum Plot-​Pfeil und reflektiert die Tatsache, dass sich in ihm die hierarchische Struktur von Teilhandlungen widerspiegelt, die letztlich eine Argumentationsstruktur ist, wie ich gleich zeigen werde, wohingegen der Plot-​Pfeil nur auf die Aneinanderreihung der Handlungselemente hinweist.

Es gibt immer wieder Versuche, die Wirkungsweise von Filmen mit Mitteln der RhetorikRhetorik zu erklären, indem man eine Parallelität zwischen Einstellungen und Schnittfolgen und den klassischen Redefiguren sucht. In der Regel werden solche Versuche am Beispiel des russischen Stummfilms unternommen, was einer Selffulfilling Prophecy gleichkommt, da der sowjetische Stummfilm eine explizite Montagetheorie entwickelt hat, die sich an ebensolche Redefiguren anlehnt. Bei genauerer Betrachtung bleibt von solchen Überlegungen wenig übrig, bis auf die EllipseEllipse und die vier TropenAllegorieTropen Allegorie, MetonymieMetonymie, SynekdocheSynekdoche und MetapherMetapher. Diese Redefiguren zeichnen sich, simpel gesagt, dadurch aus, dass etwas für etwas anderes steht, d. h., dass das Gezeigte nicht nur das bedeutet, was es zeigt. Insofern ist Béla Balász’ Feststellung, „Die Möglichkeit und der Sinn der Filmkunst liegen darin, daß jedwedes Wesen so aussieht, wie es ist“, nicht vollständig. Ein Beispiel wäre Orson Welles als verfetteter General in Mike Nichols’ „Catch 22“, der für die Inkompetenz des Militärs steht. Ein anderes Beispiel wäre die oben erwähnte Abstraktion des Generalisierens der Bedeutung verstreut herumliegender Gegenstände als Unordnung. Als Regisseur müssen sie nicht das ganze unaufgeräumte Zimmer zeigen, es reicht, wenn sie Teile davon zeigen, entweder in einer Montagesequenz oder durch eine Figur, die in einer Halbnahen durch das Zimmer führt, wobei an Ausschnitten die Unordnung sichtbar wird. Man nennt das auch Pars pro totoPars pro toto (es ist sowohl eine besondere Form der Metonymie wie der Synekdoche). Von allen Tropen ist das die häufigste im Film.

2.4StrukturStruktur

Im Unterschied zu einem argumentativen Text zeichnet sich eine Geschichte durch die Beschreibung von Handlungen von Personen in Raum und Zeit aus. Natürlich sind auch argumentative Texte nicht rein logisch aufgebaut und nutzen Beispiele und Vergleiche, um ihre Thesen zu stützen. Aber gerade Filmgeschichten haben demgegenüber den Nachteil, dass sie weder die kausale Verknüpfung noch die Verneinung kennen. Wo in einem Text eine kausale Verbindung, ein „Wenn …, dann …“, durch eine entsprechende Konjunktion dargestellt werden kann, gibt es in Filmgeschichten nur ein Nacheinander, also ein „Wann …, dann …“ (die Ähnlichkeit von Wann und Wenn zeigt, woher die Kausalität kommt). Was die Verneinung angeht, ist es noch schlimmer. Eine leere Straße ist im Film eine leere Straße und keine Straße ohne Autos (hier gilt Béla Balász’ Feststellung). Eine Ausnahme bezüglich der Straßen ist die Autobahn. Manche erinnern sich vielleicht noch an Bilder der autofreien Sonntage während der Ölkrise 1973. Mit einer leeren Autobahn assoziierte man sofort, dass dort Autos fehlten (und nicht irgendetwas anderes). Der Grund ist simpel. Autobahnen werden nur für Autos gebaut. Aber das ist eine Ausnahme. Eine Verneinung im Film ist generell visuell nur darstellbar, wenn man vorher etwas zeigt, was hinterher fehlt.

Diese Nachteile des Films gegenüber der Sprache bedeuten aber nicht, dass die erzählten (gezeigten) Handlungen nur eine einfache Aneinanderreihung von Ereignissen ohne innere Struktur sind. Wie wir weiter oben gesehen haben, behält unser Gedächtnis nur einzelne Momente, die Höhepunkte einer Episode, in Erinnerung, schafft also von vornherein schon eine Struktur. Dabei stellt sich die Frage, ob diese Struktur aus den Ereignissen selbst hervor geht, quasi aus ihrer Semantik, oder ob erst in der Verbindung der Ereignisse die Bedeutung entsteht, also durch eine SyntaxSyntax. Es ist die Frage der Kontiguität und wie sie zustande kommt.

Die Problematik, was den Zusammenhang erzeugt, lässt sich an einem Konzept des sowjetischen Regisseurs Lew Wladimirowitsch Kuleschow darstellen, das er in den 1920er-​Jahren entwickelte und das er schöpferische Geografie nannte. Es geht um die Aufnahmen einer Figur an zwei verschiedenen Orten und die Bedeutung für die Erzählung. Konkret: Eine Figur geht vor einem Hintergrund A – Schnitt – die Figur geht vor einem Hintergrund B. Schlussfolgerung für die Erzählung: Die Figur ist von A nach B gegangen. Kuleschow war nun der Ansicht, dass die Montage (das Zusammenfügen der beiden Einstellungen) die Idee erzeugt. Eine andere Ansicht ist, dass die kontinuierliche Bewegung der Figur die beiden Orte miteinander verbindet und dadurch die Idee erzeugt, die Figur wäre von A nach B gegangen. Die Frage ist, ob die Bewegung, der Gang der Figur, als Teil einer Handlung zu betrachten ist, die den Sinn erzeugt, oder ob sie filmischer Natur ist. Ich werde auf diese Frage noch in → Kapitel 3 „Montage“ ausführlich eingehen. Letztlich, Sie ahnen es vielleicht, ist sie akademischer Natur. Für die praktische Arbeit ist nur wichtig, dass diese Verbindung funktioniert.

2.4.1Die ArgumentationsstrukturArgumentationsstruktur

Einer der Ersten, der explizit die Struktur einer Filmgeschichte beschrieb, war Ende der 1970er-​Jahre Syd Field. Sein Paradigma des Drei-​Akt-​Schemas schlug in Deutschland ein wie eine Bombe. Bis dahin dachte man hier, Akte gäbe es nur auf dem Theater, und wenn dann fünf und durch Vorhänge getrennt (die man auch mal weglassen konnte). Dass die durchgängige Erzählung einer Filmgeschichte auch in Akte unterteilt werden konnte, war neu. Aber die Idee setzte sich durch und danach galt sie für lange Zeit als die Conditio sine qua non des Films. In den letzten Jahren ist sie als zu einengend wieder in Verruf geraten. Das sind eben die Moden der Zeit. Mal schwingt das Pendel in die eine Richtung, soll heißen, man sucht nach festen Orientierungspunkten, dann schwingt es wieder in die andere Richtung und man fühlt sich dadurch zu eingeschränkt. Dabei ist das Drei-​Akt-​Paradigma das ganz natürliche Schema jeder Erzählung.

Denn wenn Sie jemandem eine Geschichte erzählen wollen, von handelnden Personen an einem Ort zu einer Zeit, müssen Sie ihm zuallererst einmal klarmachen, um wen es sich handelt und wo und wann die Handlung spielt. Man nennt das ExpositionExposition. Nachdem Sie also die Grundlagen für Ihre Erzählung geschaffen haben, wird etwas Zweites wichtig. Eher früher als später fragt sich Ihr Zuschauer, warum ihm eigentlich diese Geschichte erzählt wird. Anders gesagt: Um was geht es? Das nennt man auch die zentrale Frage. Die Benennung dieser Frage ist für den Zuschauer der Plot Point 1Plot Point 1 und 2! Jetzt weiß der Zuschauer, um was es geht.

Gängige Dramaturgien gehen, wie das Wort schon sagt, von der Handlung aus. In diesem Rahmen ist der Plot Point 1 ein die gesamte Handlung des Films bestimmendes Problem, dem der Protagonist sich stellen muss. Das Problem des Protagonisten ist aber das Thema Ihres Films!

Der legendäre Dozent Frank Daniel hat die drei Akte weiter in acht Sequenzen unterteilt. In jeder Sequenz wird ein Abschnitt im Umgang des Protagonisten mit dem Problem, dem er sich stellen muss, im wahrsten Sinn des Wortes ‚behandelt‘. In den ersten beiden Sequenzen wird die Entstehung des Problems geschildert. In den vier Sequenzen des zweiten Aktes gibt es sich steigernde Komplikationen in der Bewältigung des Problems durch den Protagonisten. Am Ende des zweiten Aktes, markiert durch den Plot Point 2Plot Point 1 und 2, ist der Protagonist mit seinem Latein am Ende. Alle Versuche, mit dem Problem umzugehen, schlugen fehl. Mit anderen Worten: Das Thema Ihres Films ist ausdiskutiert! Alle möglichen Aspekte Ihres Stoffes haben Sie gegeneinander abgewogen. Aber das ist noch nicht die finale Antwort. Übrig bleiben zwei gegensätzliche Standpunkte, klassisch verkörpert durch den Protagonisten und den Antagonisten, oder es bleibt eine Behauptung, die einen Widerspruch in sich trägt. Auf jeden Fall sind Sie mit Ihrer Geschichte jetzt an einem Punkt, an dem eine Entscheidung getroffen werden muss, eine Entscheidung, welche Haltung Sie zu Ihrem Stoff einnehmen, und das muss dem Zuschauer auch deutlich werden. Das ist die dramaturgische Funktion des Plot Point 2. Jetzt fragt sich der Zuschauer, wie es ausgeht.

Im dritten Akt kommt es dann zur finalen Konfrontation zwischen Ihrem Protagonisten und den antagonistischen Kräften oder, thematisch betrachtet, zur Auflösung der Widersprüche, wenn Sie keinen klassischen Protagonisten haben. In dieser Auflösung, die man auch LysisLysis nennt, liegt die Antwort, welche Haltung, Einstellung oder Auffassung obsiegt. Das ist die Aussage Ihres Films, der Sinn Ihrer Geschichte und der Grund, warum Sie sie erzählen.

Sie haben vielleicht bemerkt, dass die Beschreibung oben, allein von der Handlungsebene ausgehend, etwas schwammig war. Da sind im zweiten Akt die sich steigernden Komplikationen, was zwangsläufig zu der Frage führt, was passiert, wenn es keine Steigerung gibt. Ist etwas anderes als eine Steigerung auch möglich? Dann wird der Plot Point 2 gerne als falsches Ende bezeichnet, der fast finalen Niederlage des Protagonisten vor der Wende zum letzten Akt, seiner Wiederauferstehung. Das wirkt zwar alles irgendwie, aber es erklärt nichts. Das Problem dieser Sichtweise ist, dass sie den Zusammenhang einer Geschichte nur auf der Handlungsebene sucht und nicht auf der Ebene ihrer Bedeutung.

Denn das Problem des Protagonisten existiert nur als Problem, von dem Sie ihren Zuschauern erzählen. Handlung ist das Mittel einer dramatischen Erzählung, nicht ihr Gegenstand.

Gehen wir noch einmal zurück zum Plot Point 1, der die Beantwortung der Frage ihres Zuschauers ist, welche Geschichte ihm da eigentlich erzählt wird. Durch den zweiten Akt hindurch behandeln Sie dieses Problem, wägen seine einzelnen Aspekte gegeneinander ab, nicht theoretisierend, sondern durch Handlung als Mittel der Erzählung. Dabei kommt dem AntagonistenAntagonisten, oder den antagonistischen Kräften, die Aufgabe zu, die oppositionelle Haltung, die Gegenargumente zu verkörpern. Der Plot Point 2 markiert dann die Stelle, an der Sie alle Aspekte des Problems, von dem Sie erzählen, behandelt haben. Jetzt gilt es für Sie als Autor, wie gerade eben schon beschrieben, eine Entscheidung zu treffen, entweder für oder gegen die Grundaussage, von der Sie erzählen (Das Leben ist schön – oder auch nicht). Diese Entscheidung lassen Sie den Protagonisten Ihrer Erzählung durch eine entsprechende Handlung ausführen (oder Sie lassen ihn sie erleiden). Sieg oder Niederlage Ihres Protagonisten ist die Folge dieser Entscheidung und gibt Ihre Sicht auf die Welt wieder. Danach ist Ihre Geschichte zu Ende. Und so macht sie Sinn.

Die sonstigen dramaturgischen Strukturbegriffe wie Inciting IncidentInciting Incident, MidpointMidpoint, Pinch PointsPinch Points, CulminationCulmination, ClimaxClimax oder die Frage, ob es bei dem durch einen Midpoint geteilten zweiten Akt nicht um zwei selbständige Akte handelt (Complication und Development), sind Nebenaspekte dieses Prinzips. Die wesentlichen strukturellen Begriffe, um die es geht, sind die Ausgangslage Ihrer Geschichte (Exposition), die Frage um was es in Ihrer Geschichte geht, das Problem, von dem Sie erzählen (Plot Point 1), und welche Lösungsalternativen es zu dem Problem gibt (Plot Point 2). Bei dem Drei-​Akt-​Paradigma handelt es sich tatsächlich also um eine ArgumentationsstrukturArgumentationsstruktur.

Man kann dieses Schema natürlich auch unterlaufen, indem man am Plot Point 1 ein scheinbares Ziel der Erzählung vorgibt, also eigentlich ein falsches Thema setzt, um dann am Plot Point 2 zu zeigen, um was es tatsächlich bisher gegangen ist. So vorzugehen, bietet sich besonders dann an, wenn WantWant und NeedNeed Ihres ProtagonistenProtagonisten konträr sind.

Wenn die drei bis vier Akte und die acht Sequenzen eines Films ungefähr die gleiche Länge haben (unter der Voraussetzung, dass man den zweiten Akt teilt), hat das traditionell kompositorische Gründe. Ihre Geschichte entfaltet sich in der Zeit und so wie ein Maler in der Fläche des Bildes die Elemente, aus denen es sich zusammensetzt, anordnet, so müssen Sie das innerhalb der Zeit tun. Ein geübter Zuschauer merkt sehr schnell, wenn einzelne Aspekte Ihrer Erzählung zu früh oder zu spät kommen. Das muss an sich nichts Schlechtes sein. Erzählkonventionen spielen hier eine Rolle. Aber wenn Sie das Drei-​Akt-​Schema als Argumentationsstruktur begreifen, bietet das Ihnen die Möglichkeit, damit zu spielen. Wie Sie den Zuschauer dennoch bei der Stange halten, zeige ich in den → Abschnitten 2.5 „Momentum“ und 2.7 „Szenarien“.

Jede Geschichte zielt auf einen Sinn, ihre ConclusioConclusio ab. Die Conclusio ist die Resolution, klassisch: die Lysis, das Ende, besser: der Schluss oder die Quintessenz, also der Hauptgedanke einer Geschichte. In der Logik ist die Conclusio die Schlussfolgerung aus den Prämissen und wie in der Logik, so setzt sich auch bei einer Geschichte der Sinn aus ihren einzelnen Teilen zusammen.

Nehmen wir die Geschichte eines Mannes, der seinen Job verliert, von seiner Frau verlassen wird, auf die schiefe Bahn gerät, falsche Freunde kennenlernt, sich auf einen Deal einlässt, bei dem Deal gewinnt, von der Polizei verfolgt und schließlich verhaftet und verurteilt wird. Das ist eine simple Geschichte. Die Conclusio wäre: „Verbrechen lohnt sich nicht!“ oder „Die Macht des Kapitals ist schuld“, je nachdem, welche Schwerpunkte Sie innerhalb der Sequenzen setzen.

Abbildung 4:

Verbrechen lohnt sich nicht!

Quelle: eigene Darstellung

Ich habe die drei Akte der Geschichte in → Abbildung 4 dargestellt und die einzelnen Handlungsschritte nach dem Drei-​Akt-​Schema mit den Plot Points und den acht Sequenzen aufgereiht (S1–S8). Um zu sehen, wie sich die Argumentationsstruktur im Drei-​Akt-​Schema entwickelt, schauen wir uns jetzt die Akte einmal einzeln an.

Da ist zunächst der erste Akt: Der Protagonist (P) verliert seinen Job und wird daraufhin von Frau und Kindern verlassen. Die Umstände sind für unser Beispiel irrelevant. Vielleicht erhielt P eine betriebsbedingte Kündigung, vielleicht hat er sie selbst verschuldet. Vielleicht fängt er an zu trinken, vielleicht sitzt er auch nur zuhause rum, macht nichts mehr und schaut nur noch fern, oder langweilt sich und wird unausstehlich, vielleicht geht ihm ganz einfach das Geld aus. Das können Sie gestalten, wie Sie wollen, es muss nur überzeugend sein. Der Plot Point am Ende des Aktes (PP 1) ist natürlich, wie Frau und Kinder ausziehen. Das stellt für P, ganz klassisch, ein massives Problem dar, mit dem er sich auseinandersetzen muss. Er kann es nicht umgehen (das auslösende Ereignis, das Inciting Incident (II), ist dabei die Kündigung). Betrachtet man den Akt nur für sich, wäre die Conclusio folgende: Wer seinen Job verliert, verliert auch Frau und Kinder (es geht hier nicht darum, ob Sie diese Ansicht teilen oder nicht).

Kommen wir nun zum zweiten Akt und versuchen Sie sich dabei vorzustellen, Sie hätten den ersten Akt nicht gesehen, d. h., der Film beginnt mit einer Aufblende: P im Schnapsladen. Er lässt sich gehen und lernt falsche Freunde kennen. Man bietet ihm an, bei einer ‚Sache‘ mitzumachen (vielleicht verfügt er über spezielle Kenntnisse, die dafür gebraucht werden). Er sagt zu und gerät auf die schiefe Bahn. Das Angebot, bei der ‚Sache‘ mitzumachen, wäre der Midpoint. Es ist kein Wendepunkt, denn die Handlung läuft nach wie vor in die gleiche Richtung (bei P eine Form des Abstiegs mit im Moment noch offenem Ausgang), aber er markiert doch einen Einschnitt. In der letzten Sequenz dieses zweiten Aktes wird der Coup gezeigt und wider Erwarten gelingt er! Eine Regel der klassischen Dramaturgie besagt, dass wenn der Protagonist am Ende des zweiten Aktes einen Höhepunkt erlebt, muss es für ihn am Ende des dritten Aktes schlecht ausgehen und umgekehrt. Dieses Muster folgt der klassischen Tragödie.

Aber wir stecken schon zu sehr in der klassischen, dramaturgischen Terminologie, welche die Vorgänge nur auf der Ebene der Handlung beschreibt und nicht in ihrer Funktion für die Bedeutung der Geschichte. So wie die Sequenzen jetzt beschrieben sind, markieren sie nur den groben Handlungsbogen des Protagonisten. Für eine Erzählung sind sie etwas zu dürftig. Es fehlen Nebenhandlungen. P könnte sich z. B. neben allem anderen weiterhin um Jobs bemühen, die er aber, egal aus welchen Gründen, nicht bekommt. Solche Nebenhandlungen sind nicht beliebig, denn, erinnern Sie sich, im zweiten Akt soll das Thema ‚diskutiert‘ werden, die einzelnen Aspekte Ihres Themas, das Für und Wider gegeneinander abgewogen werden. Der zweite Akt ist das Terrain der antagonistischen Kräfte. Und mit dem Plot Point 2 markieren Sie Ihre Entscheidung als Autor für die Geschichte und deren weiteren Fortgang.

Aber wir wollten den zweiten Akt isoliert betrachten und wenn wir die Conclusio aus diesem Teil der Erzählung ziehen, könnte dort stehen: „Du hast immer eine Chance.“ Das mag moralisch nicht gefallen, wesentlich ist aber, dass es eine ganz andere Aussage ist, um nicht zu sagen eine widersprüchliche Aussage, im Vergleich zu der Conclusio der ganzen Geschichte: „Verbrechen lohnt sich nicht!“

Kommen wir schließlich zum dritten Akt. Auf der Ebene der Handlung ist es die finale Auseinandersetzung des Protagonisten mit den antagonistischen Kräften, die das Für und Wider Ihrer Haltung zu Ihrer Geschichte und Ihrem Thema zeigt. Hier kommen keine neuen Argumente ins Spiel. Alte Argumente werden vielleicht durch neue Aspekte gestützt, aber innerhalb der Argumentationsstruktur geht es nur noch um die Zuspitzung der Positionen, die aufgewertet, abgewertet oder neu bewertet werden – bis zur finalen Conclusio. In unserer kleinen Geschichte besteht die Zuspitzung in der Frage, ob P mit dem Coup davonkommt oder geschnappt wird, also um die alte Frage, ob sich Verbrechen lohnt. Aber lassen Sie uns den dritten Akt in unserem Beispiel noch einmal, wie schon vorhin den zweiten Akt, losgelöst von der Vorgeschichte betrachten. Die beiden Sequenzen zeigen, wie P von der Polizei gesucht, verhaftet und schließlich verurteilt wird. Für sich genommen ist die Conclusio dieser Sequenzen natürlich wieder eine andere als für die gesamte Geschichte. Abstrakt könnte man sagen: „Gerechtigkeit siegt“ oder etwas konkreter und lapidarer „Wer ein Verbrechen begeht, kommt in den Knast“. Aber noch etwas anderes wird an dieser isolierten Betrachtung deutlich.

Aristoteles hat sich in seiner „Poetik“ auch zu strukturellen Aspekten des Dramas geäußert und in diesem Zusammenhang folgende Definition geliefert: „Anfang ist, was nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt. Ende ist, was natürlicherweise auf etwas anderes notwendig oder in der Regel folgt, selbst aber nichts nach sich zieht. Mitte ist, was auf etwas folgt und notwendig etwas nach sich zieht.“ Diese Definition von Anfang, Mitte und Ende ist wasserdicht.

Wenn man diese Definition auf unsere kleine Geschichte anwendet und die einzelnen Akte isoliert betrachtet, wie wir es getan haben, sieht man deutlich, dass die Akte für sich genommen nicht alleine stehen können. Sie ergeben keinen Sinn. Am ehesten geht das noch mit dem ersten Akt. Aber seine Aussage „Wer seinen Job verliert, verliert auch Frau und Kinder“ ist nicht nur banal und ruft Widerspruch hervor, sondern sie stellt auch die Frage, was danach folgt. Noch schlimmer ist es beim zweiten Akt. Nicht nur, dass er im Widerspruch zur Gesamtaussage steht, er lässt die Frage, wie P überhaupt in die Situation gekommen ist, in der er sich befindet, außer Acht. Und wie schon beim ersten Akt, nur noch stärker, stellt sich auch hier die Frage, wie es weitergeht. Der dritte Akt schließlich kann überhaupt nicht für sich alleine stehen, weil sich jeder fragt, weshalb P von der Polizei gesucht wird. Sie sehen, die Geschichte erfüllt die Definition von Aristoteles.