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Finger weg von unseren Daten! Unbemerkt werden uns die intimsten und privatesten Informationen über unsere Persönlichkeit aus der Tasche gezogen. Mit den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Datenverarbeitung im digitalen Zeitalter werden wir nicht nur zum gläsernen Menschen – wir werden ausgebeutet und entmündigt. Jan Philipp Albrecht zeigt in seinem Buch "Finger weg von unseren Daten!", wie die scheinbar technische und unwichtige Frage des Datenschutzes zur bedenklichsten Angelegenheit unserer Zeit wird. Der Autor beleuchtet, wie Überwachung unsere Freiheit bedroht und der Schutz der Privatsphäre im Spannungsfeld zwischen Staat, Internet und informationeller Selbstbestimmung steht. Er plädiert für ein starkes Datenschutzrecht, das unsere Grundrechte auch im digitalen Raum schützt. Dieses Buch ist ein Weckruf und eine Mahnung, die Kontrolle über unsere persönlichen Daten nicht kampflos aufzugeben. Ein hochaktuelles und brisantes Thema, das jeden von uns betrifft.
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Seitenzahl: 180
Jan Philipp Albrecht
Finger weg von unseren Daten!
Wie wir entmündigt und ausgenommen werden
Knaur e-books
Unbemerkt werden sie uns aus der Tasche gezogen: die persönlichsten Informationen über uns selbst. Mit den nahezu unbegrenzten Möglichkeiten der Datenverarbeitung werden wir nicht nur zum gläsernen Menschen – wir werden ausgebeutet und entmündigt. EU-Datenschutzexperte Jan Philipp Albrecht klärt auf über die Missstände beim Datenschutz, welche Politik uns schützen kann und worauf wir achten sollen.
»Jede Person hat das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten.«
Artikel 8(1) Charta der Grundrechte der Europäischen Union
»Mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung wären eine Gesellschaftsordnung und eine diese ermöglichende Rechtsordnung nicht vereinbar, in der Bürger nicht mehr wissen können, wer was wann und bei welcher Gelegenheit über sie weiß.«
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 15.12.1983 (BVerfGE 65, 1)
Noch vor einigen Jahren war es eine gefühlte Seltenheit, dass von uns persönliche Informationen festgehalten wurden. Heute geschieht es praktisch sekündlich, und zwar millionenfach. Waren im Jahr 2000 gerade einmal 400 Millionen Menschen weltweit im Internet, sind es 2014 bereits über 2,7 Milliarden. Fast die Hälfte davon geht mittlerweile mit mobilen Endgeräten online. Der weltweite Datenverkehr umfasst jeden Monat eine Masse von etwa 70 Millionen Terabyte. Abgesehen von einigen Geheimdiensten oder Meldeämtern, hatte sich vor der Digitalisierung unseres Alltagslebens niemand die Mühe machen wollen, umständliche Register mit scheinbar unendlichen und vermeintlich überflüssigen Informationen über unser Leben zu pflegen. Durch die rasante technologische Entwicklung, vor allem von Speicher- und Netzkapazitäten, hat scheinbar über Nacht die komplette Digitalisierung unserer bis dato ziemlich analogen Lebenswelt stattgefunden. Die vielfach von jungen Informatikern im Silicon Valley entwickelte Technik vom Browser über das Online-Spiel bis zum Smartphone konnte nur von sehr wenigen nachvollzogen werden. Es reichte, dass die Digitalisierung da war, und sie machte unser Leben vermeintlich so viel einfacher und schöner. Dass dahinter ein durch US-Regierung und Militär gefördertes Kalkül der stillen Macht- und Marktübernahme stand, war lange Zeit den wenigsten Menschen bewusst. So befinden sich im Portfolio der CIA-Investmentfirma In-Q-Tel über 90 Technologie- und Internetunternehmen, die damit zu einem großen Teil auch den staatlichen Sicherheitsinteressen der USA folgen. Erst mit dem Aufdecken des NSA-Skandals im Sommer 2013 rückte diese Tatsache ins Licht der Öffentlichkeit. Es wird eine Entwicklung sichtbar, die sich über die Jahre verselbständigt hat und nun völlig unkontrollierbar wirkt. Je ausgeklügelter die Programme wurden, desto weniger konnten selbst ihre Erfinder die entwickelte Technik noch durchschauen. Die Algorithmen von Suchmaschinen und Kreditwürdigkeitsauskünften sind heute so gut gehütete Geheimnisse wie die Zugangscodes von Banktresoren. Selbst das Schicksal des globalen Finanzmarktes – und damit von uns allen – liegt in der Hand einiger weniger, die die Entscheidungsregeln intelligenter Handels-Algorithmen noch durchschauen können, durch die der automatisierte Handel von Großinvestoren und Banken zum Teil in Hochfrequenz organisiert ist. Juristen und Politiker rätseln schon seit Jahren, wie sie in dieser Umgebung eigentlich noch die Einhaltung demokratischer Entscheidungen und rechtsstaatlicher Grundsätze garantieren sollen. Allem voran zeigt sich dies an einer einzigen Grundregel, die die schlichte Datenverarbeitung bis heute betrifft: am Recht auf Datenschutz. Es wird zum Schlachtfeld der Superlative zwischen den Menschen, einer regulierten Marktwirtschaft und der Demokratie auf der einen und den Maschinen, global agierenden Konzernen und Regierungen auf der anderen Seite.
Wie ist es dazu gekommen? Wer die Geschichte dieses brennenden Konflikts um den Datenschutz verstehen will, muss sich die letzten 30 Jahre seines Bestehens genauer ansehen. Am 15. Dezember 1983 entwickelte das Bundesverfassungsgericht in seinem Volkszählungsurteil den Begriff der informationellen Selbstbestimmung. Während dieser sich zunächst vom zuvor im anglo-amerikanischen Bereich gebräuchlichen Recht auf Privatheit (»Right to privacy«) absetzt, das in den Jahren zuvor festgelegt wurde, ist der Begriff auch deutlich treffender als der des Datenschutzes, der heute in Deutschland und Europa gebräuchlich ist. Denn die informationelle Selbstbestimmung bezieht sich begrifflich auf den Menschen, wobei der »Datenschutz« die Fehlinterpretation zulässt, es ginge hierbei um den Schutz der Daten. Doch in seiner Geschichte ging es immer um die Würde und Selbstbestimmung der Menschen selbst – etwa durch die Kontrolle über die eigenen Informationen und Daten. Es ist gleichzeitig die Geschichte zweier auf alle Lebensbereiche ausgreifender Entwicklungen: der Globalisierung als gesellschaftlicher Umbruch und der Digitalisierung als technischer Katalysator dieses Umbruchs. Die Globalisierung wird ausgelöst durch den Fall der Grenzen, die systematische Öffnung der Märkte und die ganz reale Vernetzung der Welt. Ihr zentraler Antrieb der Freiheit sorgt nicht nur für den Verlust gewohnter Verhältnisse und Sicherheiten, sondern auch für einen historischen Aufbruch von Menschen und ganzen Bevölkerungen in eine selbstbestimmte Zukunft. Der Fall des Eisernen Vorhangs und die ganz aktuellen Auseinandersetzungen in Osteuropa und in den arabischen Ländern zeigen dies deutlich. Die Digitalisierung entsteht durch die Erfindung von Hochleistungsrechnern, Datenerhebungsschnittstellen und die kommunikationstechnische Vernetzung der Welt. Mit ihr haben die individuellen wie kollektiven Möglichkeiten der Menschen rasant zugenommen, wie die Demokratisierungsbewegungen von heute ebenso zeigen wie die weitgehenden neuen Wege der Selbstorganisation im privaten wie beruflichen Umfeld.
Das erste der beiden Phänomene sorgt für einen bereits seit vielen Jahren durch die globalisierungskritische Bewegung benannten Trend: Die Umgehung bestehender Rechtsordnungen und Standards. Zunächst wird dies im Bereich der Sozial- und Umweltstandards sowie der Steuern sichtbar, da, wo global agierende Konzerne, Banken und Investoren durch Standortpolitik und eine professionell betriebene Suche nach Schlupflöchern jegliche Regulierung in Frage stellen. Die Globalisierung stellt uns als Demokratie(n) vor die Herausforderung, die stille Erosion unserer Rechtssysteme durch Wettbewerbsdruck und die faktische Umgehung souveräner Entscheidungen zu verhindern. Wenn wir Europäer auf die eher schlechten Erfahrungen mit der Wirkung und Wirksamkeit von Abschottung, Protektionismus und Kleinstaaterei blicken, bleibt dabei für uns nur noch die Flucht nach vorn. Sie haben in der Vergangenheit zu wirtschaftlichen wie politischen Verwerfungen geführt, während sie stetig von organisierter Kriminalität und Schlupflöchern unterwandert wurden. Das bedeutet, dass gleichwertige Standards auf europäischer und internationaler Ebene gesetzt werden müssen – mit ungewissem Ausgang. Ob es gelingen wird, einen weitgehend deregulierten Staat wie die USA oder repressiv regierte Staaten wie China von gleichwertigen Standards zum Schutze unserer Rechtsprinzipien zu überzeugen, ist mehr als fraglich. Erst recht ist nicht absehbar, zu welchem Zeitpunkt sie umgesetzt werden könnten. Doch mit jedem Tag ohne gemeinsame Standards werden wir ein Stück dieser gewohnten und hart erkämpften Grundsätze verlieren.
Das zweite der beiden Phänomene, die Digitalisierung, macht die Notwendigkeit dieser gesellschaftlichen Reaktion einer neuartigen Rechtsetzung auf europäischer wie internationaler Ebene nur umso deutlicher. Mit der Loslösung vom Materiellen und der Übersetzung des Analogen ins Digitale werden die Orientierungspunkte unserer bisherigen Staatsorganisation nahezu bedeutungslos: Grenzen, Warenein- und -ausfuhren (und deren Kontrolle oder Beschränkung), Unternehmenssitze oder gar Territorialität an sich. Der Handel mit Produkten wird zum Handel mit Daten. Am Ende womöglich mit der noch kaum vorstellbaren Rematerialisierung des Digitalisierten per 3-D-Drucker, der Vorbote einer Science-Fiction-Welt, in der wir selbst organische Dinge kopieren können. Bislang steckt diese Entwicklung noch in den Kinderschuhen. Doch bereits heute wird deutlich, wie sich die Möglichkeiten bis ins Undenkbare erweitern, wenn im Grunde nur noch die Informationen über eine Sache oder einen Menschen benötigt werden, um eine gleichartige Kopie herzustellen. Schon seit einigen Jahren spielt das Thema Identitätsdiebstahl eine zentrale Rolle. Kreditkarten werden kopiert, Fingerabdrücke oder gar Iris-Scans zur Identifizierung werden einfach geklaut. Unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben verlagert sich von analogen Handlungen zu digitaler Kommunikation, ohne dass wir dabei eine Transformation der klassischen Sicherheiten einer Gesellschaft mitdenken. Das Analoge wird zum Sklaven des Digitalen. Die Daten bestimmen immer mehr, was wann wo passiert. Die Antwort des Silicon Valley auf diese dramatische Umwälzung unserer Gesellschaft lautet: Alles wird gut. Es wird schon nichts passieren, denn die Googles und Facebooks dieser Welt werden schon auf uns achten. We do no harm, sagen sie und entmündigen uns nicht nur als Kundinnen und Kunden ihrer Angebote, sondern auch als Bürgerinnen und Bürger demokratischer, rechtsstaatlicher Gesellschaften. Sie diktieren uns ihre Regeln. Allen voran bei dem, was ihre neue Wirtschaft antreibt und erhält: unseren »personenbezogenen Daten«, die einen Rückschluss auf unsere Wünsche, unsere Leistungsfähigkeit, unseren Lebenswandel und unsere Schwächen geben. Sie sammeln über uns, was sie bekommen können. Ohne uns zu fragen und sogar ohne uns auch nur annähernd darüber ins Bild zu setzen. Die harte Währung des digitalen Zeitalters wird uns quasi aus der Hosentasche gezogen, und wir merken es nicht einmal. Dieser Prozess verlief und verläuft so schleichend und praktisch dereguliert, dass die Unternehmen, die wir bislang als bedeutungslose Internetseiten verbucht haben, heute die größten Konzerne der Welt sind. Handlungsfähiger und einflussreicher als fast alle Unternehmen und Staaten, die es je zuvor gegeben hat. Sollte es dabei bleiben, werden wir in der digitalisierten Welt vollends entmündigt und ausgenommen. Eine totalitäre Kontrollgesellschaft, deren Existenz und Macht durch die Massen an Informationen über uns erst entstehen konnte und täglich gefestigt wird.
Es ist eines der schwersten Versäumnisse der Geschichte, dass die Politik die beschriebene Entwicklung über so viele Jahre ignoriert hat. Zwar hat es in der Geschichte des Datenschutzes und der Regulierung von Informationstechnik immer wieder wichtige Wegmarken des Rechts gegeben, doch die eigentliche Dimension des Problems haben Politik, Justiz, Medien, Wirtschaft und auch der Großteil der Zivilgesellschaft stets verkannt. Trotz der Überwachungsskandale der Vergangenheit und zahlreicher klar erkennbarer Fehlentwicklungen beim Umgang mit personenbezogenen Daten wurde der Datenschutz immer wieder als technische Randmaterie und als politisch nachrangig betrachtet. In einer Umfrage des ZDF im Januar 2014 über die bedeutendsten politischen Herausforderungen landete der Datenschutz mit gerade mal drei Prozent der Nennungen lediglich auf Platz 15. Dabei ist er quasi die einzige zentrale Grundregel im digitalisierten Leben. Die Ausübung von Grundrechten, die Gestaltung der Demokratie, die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und die Durchsetzung bestehender und zukünftiger Regeln wird abhängig davon sein, ob die freiheitlichen, demokratischen Staaten der Welt und allen voran Europa einen effektiven Schutz unserer informationellen Selbstbestimmung – also der Entscheidungsfreiheit und Kontrolle über die eigene Persönlichkeit – auch im globalisierten und digitalisierten Zeitalter garantieren können. Wir müssen wieder unser eigener Herr werden und frei darüber entscheiden können, welche Informationen wir unter welchen Umständen preisgeben möchten. Ich zeige auf, welchen Herausforderungen diese Freiheit gegenübersteht und was geschehen muss, um sie auch in Zukunft gewährleisten zu können. Mit einer Reihe von Beispielen möchte ich Ihnen zeigen, warum der Datenschutz für uns alle eine lebensbestimmende Bedeutung hat und welche Gefahren uns drohen, wenn wir für ihn keine effektiven Regeln finden. Ziel des Buches ist es, aufzuklären und aufzurütteln. Denn ohne einen gesellschaftlichen Aufbruch in eine selbstbestimmte Zukunft im digitalisierten Zeitalter werden wir die großen Herausforderungen für eines unserer wichtigsten Grundrechte und für die ihm zugrunde liegende Würde des Menschen nicht bewältigen.
Viele Menschen fragen mich: Wozu eigentlich Datenschutz? Und nicht wenige sagen mir: Mir ist das mit dem Datenschutz nicht so wichtig, aber ich finde es gut, dass du dich darum kümmerst. Obwohl ich das geschenkte Vertrauen gerne annehme, zucke ich bei solchen Aussagen immer zusammen. Denn in meinen Ohren klingen sie, als würde jemand sagen: Mir ist es eigentlich egal, ob wir selbstbestimmt und mit Menschenwürde durch das Leben gehen. Aber schön, dass du dich um diese unwichtige Frage kümmerst. Was viele überhaupt nicht bemerken, ist, dass es in ihrem eigenen Leben im Grunde jeden Tag um die Grundfrage des Datenschutzes geht: Welche Informationen über meine Person sollen wem unter welchen Umständen zur Verfügung stehen? Wenn ich darüber nicht frei entscheiden kann, verliere ich auch Kontrolle und Einfluss in anderen Fragen. Seit Menschengedenken war es entscheidend für das Überleben und das Fortkommen einer Person, dass sie gewisse Informationen über sich publik machen oder zurückhalten kann. Dies reicht von der steinzeitlichen Notwendigkeit, körperliche Schwächen nicht preiszugeben, über die jahrhundertelang überlebensentscheidende Frage der Religionszugehörigkeit bis zur heute bereits relevanten Information über unsere Kaufkraft. Die Bewerberinnen und Bewerber für eine Arbeitsstelle werden mittlerweile nicht mehr nur auf Herz und Nieren, sondern auf ihr soziales Leben, private Vorlieben und gesellschaftliche Risikofaktoren überprüft. Es soll sogar schon vorgekommen sein, dass potenzielle Arbeitgeber nicht mehr nur die öffentlich verfügbaren Profilinformationen auf sozialen Netzwerken ansehen, sondern von den Bewerberinnen und Bewerbern das Passwort für den eigenen Account anfordern. Eine Chance auf die Stelle hatte nur, wer den Zugang zu den eigenen Nachrichten und teils intimen Informationen gewährte.
Wer – wie bereits viele Millionen Menschen nahezu ausschließlich – im Internet Waren und Dienstleistungen konsumiert, wird heute automatisiert von Versicherungen, Banken und Auskunfteien durchforstet nach Hinweisen auf mögliche Zahlungsausfall-Risiken. Ganz unbemerkt bekommen unterschiedlich zahlungskräftige Kunden auch unterschiedliche Angebote und Zahlungsmöglichkeiten angezeigt. Sogar die Preise können derweil unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wie die zur Verfügung stehenden Informationen bewertet werden. So hatte das Wall Street Journal im Sommer 2012 aufgedeckt, dass beim Online-Reiseportal »Orbitz« den Apple-Nutzern zunächst ein höherer Preis angezeigt wurde als den Windows-Nutzern. Orbitz hatte aufgrund von Nutzeranalysen die Erkenntnis, dass die Nutzer von Apple-Produkten in der Regel bereit sind, mehr auszugeben als die Windows-Nutzer. Durch die steigende Verfügbarkeit personenbezogener Daten und die immer präziser werdenden automatisierten Analyseverfahren wird die Bewertung von uns Menschen zum neuen Unterscheidungsmerkmal unserer Gesellschaft. Während früher die Zugehörigkeit zu Clans, Adel oder gehobenem Bürgertum über unsere Chancen im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben entschieden hat, übernimmt nun die Big-Data-Analyse per Score-Wert (eine Zahl, die aufgrund der Berechnung zum Beispiel die Zahlungskräftigkeit eines Kunden darstellen soll) die Aufgabe dieser Trennung zwischen Spreu und Weizen. Und zwar nicht generell, sondern in jedem einzelnen Lebensschritt, von der Krippe über die Schule und Ausbildung zum Job und den Selbstverwirklichungsmöglichkeiten unserer modernen Welt. Jede einzelne Information über uns kann unser ganzes Leben nachhaltig verändern. Wann hat am Morgen der mit dem Internet verbundene Smartphone-Wecker geklingelt? Welcher Wasserverbrauch und welche Heizungstätigkeit wurde durch das »Smart Metering«-System registriert, mit dem sekundengenau der Energiebedarf einer Wohnung mitgeschrieben und analysiert wird? Welchen Weg haben wir zur Arbeitsstelle und den Tag über mit dem jederzeit in der Nähe von WLAN-Netzen befindlichen Smartphone oder mit unserem GPS-gesteuerten Fahrzeug zurückgelegt? Wie schnell sind wir von der einen Maut-Station zur nächsten gefahren? Mit welchen Menschen haben wir telefoniert oder Nachrichten ausgetauscht? Wie häufig, wann und wie lange surfen wir auf welchen Webseiten? Welche Bücher und Magazine kaufen wir? Allein aus diesen Informationen lässt sich – auch ohne unseren Namen zu wissen – binnen kürzester Zeit ein komplettes Personenprofil erstellen, das unter all den sieben Milliarden Menschen auf der Welt nur auf uns alleine zutreffen kann. Und das mehr über uns sagt, als wir selbst den engsten Freunden so ohne weiteres präsentieren würden. Derjenige, der diese Informationen in die Hände bekommt, könnte dagegen unser Leben von heute auf morgen auf den Kopf stellen. Während es früher nur selten den Aufwand gerechtfertigt hatte, das Leben des Gegenübers auf Unstimmigkeiten und Auffälligkeiten zu durchforsten, wird dies mittlerweile als Dienstleistung für wenige Euros angeboten. Die Nachfrage nach solchen individuellen Kundenanalysen ist enorm. Viele Unternehmen im Versandhandel, Versicherungs- und Bankenwesen nutzen diese Dienste bereits in dem Moment, wo ein Kunde überhaupt Interesse an einem Produkt zeige. In wenigen Sekunden ist das Profil beziehungsweise der Score-Wert des Interessenten verfügbar. Das Wachstumspotenzial für die Datenanalyse sprengt jeden Rahmen. Wer heute Big Data macht, ist morgen Big Business. Und wir sind nicht mehr die Kunden, sondern die Ware.
Vielen Menschen ist nicht bewusst, dass Datenschutz untrennbarer Kernbestandteil der Menschenwürde und aller bürgerlichen Freiheiten ist, die eine freiheitliche und rechtsstaatliche Demokratie zu bieten hat. Kein Grundrecht kann ich effektiv ausüben, wenn die Kontrolle über die eigene Persönlichkeit und die personenbezogenen Informationen verlorengegangen ist. So haben wir beispielsweise die Demonstrationsfreiheit: Wenn ich damit rechnen muss, dass die Informationen über meine Teilnahme an Demonstrationen automatisch festgehalten und für Versicherer, Arbeitgeber oder Behörden aufbereitet zur Verfügung gestellt werden, bin ich dadurch in meiner freien Entscheidung über die Grundrechtsbetätigung deutlich eingeschränkt. Gleichzeitig stellt diese Beschränkung nicht nur eine Beschneidung meiner Freiheiten, sondern eine Bedrohung der Demokratie dar. Es sind ja gerade die Meinungsäußerungen der Andersdenkenden, die eine Demokratie erst lebendig funktionieren lassen. Wenn ich aber sogar in meiner Informationsfreiheit eingeschränkt bin, weil ich Angst haben muss, dass das Eingeben bestimmter Suchbegriffe in Online-Lexika oder das Ausleihen von einschlägigen Büchern – wie real geschehen – zu massiven Konsequenzen wie einer Festnahme oder Abschiebung führen, dann nimmt das Maß einer funktionierenden demokratischen Zivilgesellschaft rapide ab. Die Wahrscheinlichkeit negativer Konsequenzen auf unser Leben nimmt durch die zunehmend lückenlose elektronische Erhebung und Verarbeitung von Informationen dramatisch zu. Etwa wenn die Bewertung meines Krankheitsrisikos daran gemessen wird, dass ich regelmäßig ein ungesundes Maß an Süßigkeiten kaufe, oder wenn der Arbeitgeber eine Kündigung darauf stützt, dass meine private Lebenseinstellung dem Unternehmensbild schade.
Oder nehmen wir das Recht auf Meinungsfreiheit: Wer damit rechnen muss, dass bloße Meinungsäußerungen dazu führen können, dass eine lückenlose Analyse des gesamten Lebens vorgenommen wird oder die Meinungsäußerungen in allen Lebenssituationen automatisch eine Rolle spielen, der wird sich mit Äußerungen zurückhalten. Auch wer damit rechnen muss, dass eine Äußerung im kleineren Kreis stetig auch öffentlich oder den Behörden gegenüber bekannt wird, etwa durch die Möglichkeit, private Gespräche durch das schlichte Anzapfen der anwesenden Smartphone-Mikrophone mitzuhören, der wird sein Verhalten schnell anpassen. Auch Berufs- oder Religionsfreiheit können schnell ihre Grenzen finden, wenn die ständige Beobachtung und Datenerhebung dazu führt, dass aus profanen Daten über mein Leben Rückschlüsse auf mögliche Glaubensrichtungen oder Gewerkschafts- wie Parteiangehörigkeit zu erkennen sind. Die individuelle Entscheidung, bestimmte – vor allem intime – Informationen über die eigene Person zurückzuhalten, wird dann durch die Berechnung der eigenen Person anhand anderer Informationen umgangen. Niemand kann heute noch Geheimnisse oder private Vorlieben haben, ohne dass diese von anderen berechenbar oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit zu vermuten sind. Sei es die private Liebschaft, der Gang zu den Anonymen Alkoholikern, die Rot-Grün-Schwäche oder der Lieblingsplatz im Park – zu all unseren Neigungen und Verhaltensmustern lassen sich mittlerweile sogenannte Metadaten erheben, die eine ziemlich genaue Wahrscheinlichkeitsrechnung zulassen. Wer selbstbestimmt leben möchte und sich Privatsphäre bewahren will, ist gezwungen, die Kontrolle über die Verbreitung solcher Metadaten zurückzugewinnen und Spuren zu verwischen oder zumindest zu anonymisieren.
Es geht beim Datenschutz um den Schutz der Menschen und ihrer Selbstbestimmung. Die Regeln sollen nicht die Daten an sich schützen, sondern die Selbstbestimmung der Menschen. Um diese zu bewahren, braucht es aber mehr als bloß die Absichtserklärung, die Informationen nicht willkürlich oder »missbräuchlich« zu verwenden. Deshalb müssen wir die Kontrolle über unsere Daten haben, was heute allerdings überhaupt nicht mehr der Fall ist. Anders, als die meisten Menschen denken und ihnen von einschlägiger Seite glaubhaft gemacht wird, haben wir die Kontrolle über unsere Daten längst verloren. In den allermeisten Fällen liegt bei der Datenverarbeitung weder Wissen noch Willen bei der betroffenen Person vor. Das liegt vor allem daran, dass es kein Bewusstsein für die einzelnen Datenverarbeitungsprozesse gibt. Die Vorgänge in unseren Computern, Smartphones und Tablets sowie den etlichen mittlerweile vernetzten Geräten sind uns fremd. Wir haben kein Bild davon, wie viele Elektronen und Informationen durch die Schaltkreise wabern und wo sie sich hin verirren oder geleitet werden. Wir sind einer unsichtbaren Welt hochtechnologischer Prozesse ausgeliefert, die von Informatikern und IT-Unternehmern gestaltet wird. Um dies zu ändern und uns wieder ins Führerhaus zu bringen, braucht es Datenverarbeitungsregeln, die als Grundlage für unser aller Zusammenleben gelten.
Das Datenschutzrecht enthält damit die Grundregeln für die Bedingungen unseres eigenen Seins und Tuns als Persönlichkeit. Als Individuum. Ohne die Selbstbestimmung über die Art und Weise der Informationsverarbeitung über uns werden wir zu einem fremdbestimmten Objekt, das nur noch berechnet wird. Bei dem zu annähernd absoluter Sicherheit vorausgesagt werden kann, was als Nächstes kommt. Was wir für Bedürfnisse und Probleme haben. Wie es um unsere Leistungsfähigkeit und Gesundheit steht. Welche Verhaltensmuster wir an den Tag legen. Sobald sich irgendeine Unstimmigkeit in unserem Profil ergibt oder die Daten nicht mehr zueinanderpassen, führt dies heute häufig zu einem Alarmsignal. Eine Gefahr, dass hier etwas nicht stimmt oder dass es nicht mehr in die gängigen – kalkulierbaren – Muster und Berechnungen fällt. Dies wird dann oft auch als Gefahr für den Datensammler und sein System gewertet. Das können ein privates Unternehmen oder gar der Staat und die Gesellschaft sein. Dystopien wie zum Beispiel in George Orwells »1984«, dem Film »Minority Report« oder dem Roman »Corpus Delicti« von Juli Zeh veranschaulichen die Fülle des Machtmissbrauchs, der durch die Verarbeitung personenbezogener Daten möglich gemacht wird. Wissen ist Macht, lautet ein gängiges Sprichwort. Es wird umso mächtiger, wenn es Wissen über andere Personen ist, da es nicht mehr nur um Gestaltungsmacht über die Natur, sondern auch über den Menschen geht – über einzelne Individuen. Und mit der automatischen Digitalisierung unserer Lebensinformationen wird es ein Einfaches, diese umfänglich, zügig und günstig auszuwerten. Das macht den Datenschutz zur entscheidenden Regel des digitalen Zeitalters: Er bestimmt, wer wie viel Informationen über uns zu welchen Bedingungen auswerten darf.
Als das Bundesverfassungsgericht im Jahr 1983 mit seinem wegweisenden Urteil zur Volkszählung das »Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung« aus dem Grundgesetz herausliest, hat es bereits einige Jahrzehnte Auseinandersetzung über den Schutz der Privatsphäre und den sogenannten Datenschutz gegeben. Nachdem in den 60er Jahren in den USA eine Debatte über die Registrierung von US-Bürgern begonnen hatte, war diese auch in das ferne Hessen vorgedrungen, wo zu der Zeit viele US-Soldaten stationiert waren. Eine Diskussion über Datenschutz und Technikfolgenabschätzung sorgte dort für die Verabschiedung des weltweit ersten Datenschutzgesetzes im Jahr 1970. Als wenig später auch in den Vereinigten Staaten eine gesetzliche Grundlage gegen willkürliche – also nicht gesetzlich normierte oder richterlich angeordnete – Eingriffe in die Privatsphäre geschaffen wurde, war bereits erkennbar, dass Europa und Amerika bei dieser Frage auseinanderdriften würden. So sah der Privacy Act von 1974 einen Schutz der Privatsphäre für US