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Der Frieden trügt in Andernach, dem malerischen Eifelstädtchen. Hauptkommissar Carsten Fink muss nicht nur einen Enkeltrickbetrüger dingfest machen, sondern bekommt es auch mit rivalisierenden Hellseherinnen, hosenlosen Politikern und einem Weihnachtsmann außer Kontrolle zu tun. Mit Herz, Spürsinn und unkonventionellen Methoden gehen er und sein Team auf Verbrecherjagd.
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Seitenzahl: 367
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Gerlinde Dal Molin lebt mit Mann, zwei Kindern und Katzen in Andernach am Rhein. Sie hat bereits mehrere Kurzgeschichten veröffentlicht und arbeitet als Juristin bei einer Bundesbehörde.
Dieses Buch ist ein Roman. Alle Personen, die dieses Buch bevölkern, sind sehr real, allerdings nur in meinem Kopf, und dort führen sie ein munteres Eigenleben. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sowie Übereinstimmungen mit echter Polizeiarbeit sind rein zufällig.
© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: ©mauritius images/ImageBROKER/Thomas Frey Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Jutta Schneider eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-865-6 Eifel Krimi Originalausgabe
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Für Helmut, Rebecca und Alexander
1
»Aber ich versteh doch gar nichts von moderner Kunst«, sagte Hauptkommissar Carsten Fink, während er sich bemühte, aus dem täglichen Kampf mit seiner Krawatte ausnahmsweise einmal als Sieger hervorzugehen.
»Du sollst ja auch keinen Picasso beurteilen, sondern die Zeichnung eines Fünfjährigen.« Evi schnitt ein Käsebrot durch und legte es in eine Brotdose, auf der ein Nachwuchspirat seinen bestiefelten Fuß auf eine Schatztruhe setzte.
»Das ist ja noch schwieriger. Es reicht doch, wenn du dir das Bild ansiehst.«
»Ach komm, Felix hat drei Tage hingebungsvoll daran gearbeitet. Nach so viel schöpferischem Ringen müssen wir den sensiblen Künstler auch würdigen.«
Tatsächlich erinnerte sich Fink, wie Felix mit seinem Freund Ruben vor allem die sensible Frage diskutiert hatte, wie sie die Schleimspur einer dicken Schnecke besonders eklig darstellen konnten. Seinem Sohn hatte der Einsatz von Flüssigkleber vorgeschwebt, Ruben hingegen hatte für Honig plädiert.
»Außerdem hat er’s mir gestern auch schon gezeigt, als ich aus der Buchhandlung kam.« Evi gab ihrer randlosen Brille einen Schubs nach oben. Sie hatte sie erst seit zwei Wochen und noch immer das Gefühl, eine Fliege von ihrer Nase verjagen zu müssen.
Fink fand, dass die Brille den Konturen von Evis Gesicht besonders schmeichelte, aber sie hatte sich noch nicht damit anfreunden können.
»Und, wie ist es?« Er trat einen Schritt aus der Küchentür und rief: »Felix, komm runter, Zeit für den Kindergarten.«
Evi küsste ihn grinsend auf die Wange. »Sagen wir mal so, du wirst keine Probleme haben, es zu identifizieren.«
Und was sollte Fink dem zarten Maiglöckchenduft, der seine Frau umwehte, schon entgegensetzen?
Also folgte der Hauptkommissar wenig später seinem Sohn durch den Flur des Kindergartens zum Raum der Delphingruppe. Es roch nach Knete und Hagebuttentee. Fink fand das irgendwie tröstlich.
Wenn er nach einem Tag mit schwierigen Einsätzen Felix hier abholte, vermittelte ihm dieser Geruch ein Gefühl von Geborgenheit. Denn hier war er an einem Ort, an dem die schlimmsten Ereignisse ein eingestürzter Turm aus Holzklötzchen oder ein verschüttetes Sandförmchen waren. Kleine Unglücke, die sich mit einer Umarmung und einem Becher Kakao schnell wieder heilen ließen.
Auf seinem Weg hielt er wachsam Ausschau nach Rosemarie Nill, der Leiterin, um sich im Notfall mit einem Hechtsprung unter den niedrigen Kleiderhaken hinter Jacken und Mützen in Sicherheit bringen zu können. Auch die bunten Gummistiefel konnten als Deckung dienen.
Wie Evi vermutet hatte, musste ihm Felix erst gar nicht zeigen, welches der Bilder an der Korkwand sein Kunstwerk war. Auf den anderen Blättern tummelten sich Rosen mit ausufernden Blüten und verschnörkelte Tulpen, die fast aus dem Bild quollen, neben ekstatisch rankendem Löwenzahn in einer Farbexplosion aus Warnwestengelb, Sonnenbrandrot und einem phosphoreszierenden Grün der Marke »Ich hätte diese Chemikalien wohl doch nicht zusammenmischen sollen«.
Im Gegensatz dazu hatte sein Sohn seine Blumen mit minimalistischen Bleistiftstrichen und einer geometrischen Formgebung ausgeführt. Sein Schmetterling erinnerte an die Konstruktionszeichnung eines Kleinflugzeugs. Jegliche Art von Farbe fehlte. In Sachen Kunst vertrat sein Sohn wohl eher einen puristischen Stil.
»Oh, hui!« Fink stand ein wenig ratlos davor, genau wie er befürchtet hatte. »Das sieht aus, als ob es in einem berühmten Museum hängen könnte. Die Schnecke ist süß.«
Felix sah ihn vorwurfsvoll an. »Die soll nicht süß sein, die ist voll mega-eklig.«
Fink trat einen Schritt zur Seite. »Du hast recht, von hier aus sieht sie total scheußlich aus. Ich hab noch nie so eine eklige Schnecke gesehn. Und die Schleimspur erst, da schüttelt es mich ja richtig.«
Sein Sohn nickte zufrieden.
»Wenn das Bild fertig ist, sollten ganz viele Leute kommen, um es sich anzusehen«, fuhr Fink fort.
»Das ist doch schon fertig, Papa«, antwortete Felix.
»Aber die Blumen sind noch gar nicht bunt und der Schmetterling auch nicht. Was ist denn mit der Farbe passiert?« Fink strubbelte sich übertrieben nachdenklich die dunkelblonden Haare. »Hat sich da heute Nacht ein Dieb eingeschlichen und hat die Farbe aus dem Bild geklaut?« Er schaute sich mit strenger Miene um. »Kommen Sie raus, ich bin Polizist. Es ist ganz schlimm strafbar, Farbe aus Bildern zu stehlen.«
Felix kicherte.
»Oder ist dein Bild undicht, und die Farbe ist rausgelaufen?« Fink inspizierte den unteren Rand des Papiers und fuhr prüfend mit dem Finger darüber. Dann beugte er sich mit umständlichen Verrenkungen vor, um den Boden in Augenschein zu nehmen– und stieß dabei mit dem Hinterteil gegen Rosemarie Nill.
»Ah, Herr Hauptkommissar, grade mit Ihnen wollte ich sprechen.«
Fink grollte sich selbst. Sich so plump erwischen zu lassen!
Andererseits konnte er sich zugutehalten, dass die Frau praktisch unsichtbar war. In ihren mittelbraunen, mittelgrauen und mittelbeigen Kleidungsstücken, die exakt auf ihre Haar- und Augenfarbe abgestimmt schienen, verschmolz sie praktisch mit jedem Hintergrund und wäre auch in der trostlosesten Einöde nicht aufgefallen. Selbst wenn sie dicht vor jemandem stand, übersah man sie, wie man einen sandfarbenen Stein auf sandfarbenem Sand übersehen hätte. Fink war sich sicher, dass sie eine erstklassige Spionin abgegeben hätte, zumal sie sich in ihren Slippern völlig geräuschlos anschleichen konnte.
»Es geht um die Wahl zum Elternbeirat. Ich hatte Sie ja schon einmal darauf angesprochen.«
Einmal?
»Wir sind noch immer auf der Suche nach motivierten Eltern. Sie möchten doch sicher auch die Kindergartenzeit von Ihrem Sohn kreativ mitgestalten, gell?«
Fink drehte sich vorsichtig ein klein wenig in Richtung Ausgang. Ein geordneter Rückzug wollte geschickt vorbereitet sein. »Das ist bei mir ganz schwierig, Frau Nill.«
Doch Frau Nill redete einfach weiter, so als habe sie seinen Einwand gar nicht gehört. »Und es ist viel weniger Arbeit, als alle meinen. Hier und da mal eine Bastelstunde für Osterkörbchen, Kastanienketten, Muttertagsherzen und Tannenzapfenwichtel, dann ein paar Nachmittage zum Muffinbacken und Eintopfkochen, und einmal im Monat eine Sitzung mit den anderen Eltern.«
Fink sah die Szene genau vor sich. Er mit langen, verknoteten Beinen auf winzigen Kinderstühlchen. Er schluckte. Seine Zehen tasteten sich einige Zentimeter weiter nach rechts. »Meine Dienstzeiten sind ganz unberechenbar. Wenn wir zu einem Einsatz gerufen werden, kann ich den Einbrecher schlecht bitten, am Tatort zu warten, bis ich den Osterwichtel fertig gebastelt habe.« Er lächelte, um das Absurde dieser Vorstellung zu unterstreichen. Und er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein, was ihn der Eingangstür wieder einen Schritt näher brachte.
Rosemarie Nill nickte. Fink meinte, Sand aus ihrem wüstenfarbenen Haar rieseln zu sehen. »Dann organisieren Sie einfach den Kleiderbasar, die Kuchentheke beim Sommerfest und den Ausflug zum Kürbisbauern. Ich könnte Ihnen vielleicht auch das Gummientenrennen bei der Abschlussfeier anvertrauen, aber ich weiß nicht, ob die Frau Möbius das abgeben will.« Während sich ihre Stirn in Dünenfalten legte, gelang es Fink, durch eine geschickte Schrittkombination zwei Meter gutzumachen.
Rosemarie rückte nach. Ihr Gesicht hellte sich auf. »Aber der Krabbelwettbewerb unserer Windelhopsergruppe ist frei geworden. Der Herr Becker kann das wegen der Kopfläuse seiner Zwillinge dieses Jahr nicht übernehmen.« Sie strahlte ihn erwartungsvoll an.
Und da tat Hauptkommissar Carsten Fink etwas, von dem er sich geschworen hatte, dieses feige Mittel niemals einzusetzen. Er setzte ein fröhliches Lächeln auf und hörte sich sagen: »Ich werd mal meine Frau fragen, ob sie das machen möchte. Sie ist in solchen Sachen viel geschickter als ich. Ist das Bild vom Felix nicht klasse? Haben Sie die eklige Schnecke gesehn? Schönen Tag dann noch, Frau Nill.«
Er drückte seinem Sohn schnell einen Kuss auf den Kopf und flüchtete aus dem Gebäude.
2
Hauptkommissar Carsten Fink wurde von seinen Kollegen mit freundlichem Spott »Der Ominator« genannt. Diesen Spitznamen verdankte er seinem Talent, auch der tütteligsten Greisin eine halbwegs sinnvolle Aussage zu entlocken und jeden noch so renitenten und starrsinnigen Rentner versöhnlich zu stimmen. Diese unschätzbare Eigenschaft hatte ihm in seiner Dienststelle die Betreuung sämtlicher Ratsuchenden über fünfundsechzig eingetragen. Im Moment war ihm aber noch nicht ganz klar, welche der beiden Damen auf der anderen Seite seines Schreibtisches denn nun eigentlich polizeiliche Hilfe benötigte.
Die Assoziationen, die sie bei ihm weckten, waren dagegen eindeutig: Karotte und Blumenkohl. Fink schrieb es seinem bohrenden Hunger zu, dass ihn die Frauen so lebhaft an Gemüse erinnerten.
Die Verteilung der belegten Brötchen hatte er schon verpasst, als er bei seiner Dienststelle eintraf. Oberkommissar Peter Emmerlein winkte ihm kauend mit der letzten angebissenen Salamisemmel zu, und es war auch kein Trost für Fink, dass sich von den Krümeln, die sich in Emmerleins Ziegenbärtchen gesammelt hatten, mehrere Spatzenfamilien hätten ernähren können.
Während Fink mit dem Finger am Flügel seiner kleinen, für einen Mann erstaunlich eleganten Nase entlang rieb, versuchte er, die beiden Frauen einzuschätzen: die grimmig dreinblickende jüngere und die ältere, die wirkte, als hätte man ein futuristisches Gerät auf sie angesetzt und damit ihre Persönlichkeit geschrumpft.
Die Tochter hatte es in fünfundfünfzig Lebensjahren nicht nur geschafft, ihre alte Mutter um mehr als einen Kopf zu überragen, sondern auch einen erstaunlich karottenförmigen Körperbau anzunehmen. Von sehr breiten Schultern verjüngte sich der Körper in gerader Linie zu den irgendwie spitz zulaufenden Füßen. Bei der Farbgestaltung hatte sie allerdings die Natur umgekehrt: Sie trug ein grün gemustertes Kleid, und die fedrig nach oben stehenden Haare leuchteten in einem frisch gefärbten Orangerot.
Da Fink zu Hause nicht gefrühstückt hatte, war es kein Wunder, dass die beiden Frauen kulinarische Assoziationen in ihm auslösten. Er spekulierte sogar darüber, ob diese Angelegenheit einen nahrhaften Ursprung haben könnte. Diebstahl von mehlig kochenden Kartoffeln am Marktstand. Zechprellerei mit einer besenften Bratwurst an der Heißen Theke der Metzgerei Ahsenmacher in der Kramgasse. Die verkniffenen Lippen der Jüngeren könnten sogar auf eine Beschwerde wegen zu dunkel gebackener Brötchen hindeuten.
Falschbäckerei war in Andernach, der täuschend idyllischen Kleinstadt am Rhein, schon im Mittelalter mit der »Bäckertaufe« bestraft worden: dem Eintunken des frevlerischen Bäckers in kalte Dreckbrühe unter dem Gejohle der umstehenden Gaffer. Diese Geschichte wurde noch heute beim Bäckerjungenfest nachgespielt. Fink hatte schon einmal einem aufgebrachten Bürger erklären müssen, dass diese Strafe in der aktuellen Fassung des Strafgesetzbuches nicht mehr vorgesehen war.
Sein Magen stimmte knurrend in seinen Groll auf Peter Emmerlein ein. Wer zu spät kommt, den bestraft der gierige Kollege.
Nachdem er die Personalien aufgenommen hatte, schaute Fink erst die Mutter, dann ihre Tochter erwartungsvoll an. »Frau Specht, Frau Schnabel, was kann ich denn für Sie tun?«
»Schnabelspecht«, antwortete die Tochter.
»Wie bitte?« Für gewöhnlich setzte bei Fink erst nach der Hälfte eines Gesprächs eine leichte Verwirrung ein. Dass er diesmal gleich zu Anfang nicht mitkam, war kein gutes Zeichen. Er war wohl hungriger, als er gedacht hatte.
»Meine Mutter heißt Schnabel, ich bin Frau Specht, nicht umgekehrt. Wenn Sie sich das bitte merken würden. Zwei Namen werden Sie doch sicher bewältigen können.«
»Ah, hm, ja, Entschuldigung.« Fink schrieb hinter den Namen Specht: »Grrr«.
Früher hatte er sich bei Befragungen und Verhören oft dermaßen über dumme, sture und bösartige Menschen geärgert, dass er sich auf die Aussagen kaum hatte konzentrieren können. Irgendwann hatte er bei der Vernehmung eines besonders bestrafungsresistenten Falschparkers angefangen, ärgerliche Comicgeräusche aufzuschreiben, und festgestellt, dass er damit viel ausgeglichener wurde.
Er schaute wieder hoch in ihr etwas herbes Gesicht mit den tiefen Falten um den Mund, die vom permanent mürrischen Gesichtsausdruck herrührten. »Worum geht es also?«
»Ich bin beklaut worden«, antwortete Bärbel Specht und warf ihrer Mutter einen wütenden Blick zu.
Fink hob die Augenbrauen und sah von einer Frau zur anderen. Die alte Dame saß so eingesunken auf ihrem Stuhl, dass sie wie ein Teil der Polsterung erschien. Eine Dauerwelle hatte ihre grauen Haare zu eng anliegenden kurzen Löckchen gepresst, die ihrem Kopf etwas Blumenkohlartiges verliehen.(Du musst aufhören, an Essen zu denken, Carsten!)
Dass diese verschüchterte Person sich am Eigentum ihrer Tochter vergriffen haben sollte, kam Fink äußerst fragwürdig vor. Außerdem fand er diese Art von Familienstreit höchst unerquicklich. Die Einblicke, die man dabei ins Privatleben anderer Leute bekam, waren meistens einfach nur erschütternd.
»Das war aber doch so ein freundlicher junger Mann«, sagte Constanze Schnabel und hörte sich an, als würde sich sogar ihre Stimme ducken. »Der hat mir sogar noch geholfen, das Geld in einen Umschlag zu stecken.« Sie wandte sich dem Hauptkommissar zu. »Ich bin zweiundachtzig, und meine Hände sind manchmal ein bisschen zittrig. Da hat der nette Junge die Scheine für mich in den Umschlag geschoben.«
»Herrje, Mutter!« Die Tochter knallte ihre Hände auf die Armlehnen. »Hast du’s denn immer noch nicht begriffen? Der Typ hat dich abgezockt! Wie kann man nur so blöd sein.« Sie wandte sich an Fink. »Vor der Masche warnen sie doch andauernd im Fernsehen. Das müsste doch selbst dieses dumme alte Weib inzwischen mitgekriegt haben.«
Fink biss die Zähne zusammen und schrieb auf sein Blatt: »Hmpf!«. Das entspannte ihn, aber nur ein wenig.
»Frau, äh, Schnabel, erzählen Sie mir bitte mal genau, was Ihnen passiert ist.«
Die alte Frau hob zaghaft den Kopf und zog ihn gleichzeitig ein wenig zur Seite, weg von ihrer Tochter. »Also, der Tommi rief an und sagte, er bräuchte dringend Geld. Wegen seinem Auto. Das könnte er sonst nicht aus der Werkstatt abholen. Ich wusste zuerst gar nicht, wer das ist, aber dann hat er gesagt, ich bin doch dein Enkel, der Tommi, dem du früher immer die Brausebonbons geschenkt hast, und da fiel es mir auch gleich wieder ein. Der liebe, kleine Tommi.«
Bärbel Specht warf neben ihr die Arme theatralisch in die Luft. Ein paar Papiere auf Finks Tisch kamen ins Flattern. »Du hast doch gar keinen Enkel. Du hast zwei Enkeltöchter, wann kapierst du das endlich mal? Tut das eigentlich weh, wenn man so senil ist?«
Fink beugte sich tief über sein Blatt und schrieb: »Umpf!«.
»Aber er kannte doch unsere Familie«, verteidigte sich die Mutter. »Er hat genau gewusst, dass ich seine Oma bin, der liebe Junge.«
»DUBISTNICHTSEINEOMA«, schrie ihre Tochter. Fink zuckte zusammen und konnte hören, wie im Nebenraum Tastaturklappern und Gespräche kurz verstummten.
Frau Specht wandte sich an Fink. »Wussten Sie, dass Kinder in manchen Kulturen ihre alten Eltern ungestraft aussetzen dürfen?«
»Er hat aber doch gesagt, dass ich seine allerliebste Lieblingsoma bin, und er will mir aus dem nächsten Urlaub eine Karte schicken.« Die alte Dame war in einen weinerlichen Trotz verfallen. »Du schickst mir ja nie eine Karte von irgendwo. Ich bin gespannt, wohin der Tommi fährt.«
Die karottenfarbigen Federhaare auf Bärbel Spechts Kopf schwankten wie Palmen im Hurrikan, als die Frau mit beiden Fäusten auf Finks Schreibtisch hämmerte. Sein Kaffeebecher näherte sich hüpfend dem Abgrund.
»Ich wünschte, du wärst tatsächlich die Oma von irgendeinem Tommi, der könnte dich geschenkt haben. Aber: DUHASTKEINENENKEL! Du hast das Geld einem völlig Fremden gegeben, und wenn wir hier fertig sind, gehe ich mit dir zum Vormundschaftsgericht und lasse dich entmündigen.«
Fink überlegte, ob er hinter das Umpf noch ein paar Ausrufezeichen setzen sollte, fand es aber dringend an der Zeit, andere Saiten aufzuziehen. Aus der obersten Schreibtischschublade zog er eine laminierte Karte, die er Bärbel Specht vor das Gesicht hielt. Darauf war zu lesen:
§ 258StGB
STRAFVEREITELUNG
Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren
Noch lieber wäre ihm die Aufschrift »Behinderung der Justiz« gewesen, wie die Leute es aus amerikanischen Krimis kannten, aber das gab es im deutschen Recht nicht.
»Wenn Sie Ihre Mutter nicht endlich ausreden lassen, kann ich die notwendigen Ermittlungen nicht durchführen, und Sie laufen Gefahr, sich deswegen einer Strafvereitelung strafbar zu machen.« Befriedigt registrierte er den Schrecken in Bärbel Spechts Gesicht. Unglaublich, wie viele überflüssige Diskussionen ihm dieses Kärtchen schon erspart hatte. Er sollte es wirklich einmal als Ausbildungsmaterial für Polizeischulen vorschlagen.
Während die Tochter sich mit verschränkten Armen wutköchelnd zurücklehnte, beugte sich Fink freundlich zu ihrer Mutter vor. »So, Frau Schnabel. Jetzt mal ganz in Ruhe. Da rief also ein Mann an und sagte, er wäre Ihr Enkel Tommi und bräuchte Geld.«
»Genau. Vierhundert Euro.« Sie linste zu ihrer Tochter und bekam ein bisschen Oberwasser, als sie merkte, dass von dort einstweilen keine Gefahr drohte. »Er würde das Geld auch bei mir abholen kommen. Und er hat noch gesagt, ich wäre seine liebste Omi auf der ganzen Welt«, fügte sie trotzig mit einem Seitenblick hinzu.
Ihre Tochter knirschte mit den Zähnen.
»Der Tommi hatte ja Glück, dass ich grade eine Stunde vorher meine Rente von der Bank geholt hatte. Und nach dem Anruf ist er auch gleich gekommen. Und hat mir geholfen, die Scheine in einen Briefumschlag zu stecken. So ein höflicher Junge, der Tommi.«
»Und warum haben Sie eben behauptet, Sie wären bestohlen worden?«, fragte er die Jüngere. »Es geht doch offenbar um das Geld Ihrer Mutter.«
Bärbel Specht stampfte mit dem Fuß auf. Die junge Grünlilie auf dem Fensterbrett erzitterte, vermutlich vor Schreck. »Ja, aber das geht doch alles von meinem Erbe ab, was sich dieses benebelte Frauenzimmer abknöpfen lässt!«
Als Fink »Zack! Bumm! Knuff!!!« aufschrieb, drückte sich der Kugelschreiber so tief durch, dass er auch noch die zwei darunter liegenden Blätter beschrieb. Er wunderte sich fast, dass der Stift nicht unten durch die Tischplatte stach. Noch ein weiteres Ausrufezeichen, dann konnte er wieder ruhiger atmen.
»Also, Frau Schnabel, ich muss Ihnen leider sagen, dass Sie da einem Betrüger aufgesessen sind. Was der mit Ihnen gemacht hat, nennt man Enkeltrick. Da stecken meistens junge Leute hinter, die einen alten Menschen anrufen und ihm weismachen, sie wären mit ihm verwandt und bräuchten dringend Geld, weil sie angeblich in einer Notlage sind. Das stimmt aber alles gar nicht. Das sind Fremde, die nur Ihr Geld ergaunern wollen.« Fink schaute die alte Frau mitfühlend an und ignorierte den Na-siehst-du-Blick ihrer Tochter. »Möglicherweise hat er sogar beobachtet, wie Sie mit dem Geld von der Bank weggegangen sind, und ist Ihnen gefolgt. Können Sie mir denn sagen, wie der Mann ausgesehen hat?«
»Ja, groß war er. Also, größer als ich.« Was alle männlichen Wesen über zwölf einschloss. »Und blond. Oder eher so braun. Und so nett. Mit einer kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen. Und das war gar nicht mein Enkel?«
»Nein, das war er nicht. Das war ein Betrüger, tut mir leid. Auf diese Masche sind schon viele reingefallen. Auch jüngere.« Er drehte den Kopf in Bärbel Spechts Richtung.
»Meinen Sie denn, ich bekomme mein Geld zurück?«
»Wir tun natürlich alles, um diesen Mann zu finden, aber selbst dann ist es fraglich, ob er das Geld noch hat.«
Vorsorglich öffnete Fink die untere Schublade, wo er eine Packung extra saugfähiger Taschentücher bereithielt. Er hatte aber grundlos mit Tränen gerechnet.
»Meine Tochter kriegt es also auch nicht?«
»Äh, nein, wenn wir den Täter nicht finden, bekommt Ihre Tochter das Geld auch nicht.«
Constanze Schnabel stand resolut auf. »Dann ist es ja gut. Muss ich noch was unterschreiben?«
»Da könnt ich echt platzen, wenn ich so was höre!« Die gesamten einhundertfünfundsechzig Zentimeter Körpergröße von Kommissarin Carina Bauer verströmten Wut, und das war ihren Kollegen Carsten Fink und Peter Emmerlein immer ein bisschen unheimlich.
»So ein altes, wehrloses Ömmeken auszutricksen ist eine Schweinerei hoch drei. Wollt ihr wissen, was ich mache, wenn ich den Kerl zu fassen kriege?«
Eigentlich wollten die beiden Männer das nicht genau wissen. Carina war eine furchtlose Frau Anfang zwanzig, vor der sich beim Kampfsporttraining alle Gegner zu drücken versuchten. Selbst kleinste Fehler und Unaufmerksamkeiten zogen für ihre Trainingspartner blaue Flecken und andere schmerzhafte Folgen nach sich. Andererseits wollte jeder Kollege in ihrer Nähe sein, wenn es im Einsatz zu brenzligen Situationen kam. Da hatte sie schon manchen rausgehauen.
»Wir hatten schon seit Jahren keinen mehr, der mit dem Enkeltrick unterwegs war.« Fink verstaute seine nützliche Strafvereitelungskarte in der Schublade. »Wir sollten einen Artikel an die Zeitung geben, damit die Leute gewarnt sind.«
Emmerlein legte die verschränkten Hände auf seinen haarlosen Kopf. »Wir nennen den Kerl: ›Der Seniorentrickser‹. Oder noch besser: ›Der Nepperenkel‹.« Er grinste. »Und wir bitten den Redakteur, ein Foto von Carina mit abzudrucken, wenn sie so wild guckt wie jetzt gerade. Das schreckt garantiert jeden Kriminellen ab. Wir schreiben: Jeder, der versucht, in Andernach einen alten Menschen abzuzocken, wird mit dieser Beamtin zehn Minuten ohne Gehörschutz allein gelassen. Ihre Strafpredigten treiben selbst dem Christkind die Tränen in die Augen.«
Carina presste die Lippen aufeinander, musste dann aber selbst schmunzeln und sah sofort nicht mehr wie ein wütender kleiner Igel aus. Fink hätte ihren Kurzhaarschnitt richtig elegant gefunden, wenn ihre dunklen Haare nicht immer stachelig nach allen Seiten abgestanden hätten. Er wusste nie, ob das die Absicht eines ambitionierten Friseurs gewesen war oder Carinas Art, ihr völliges Desinteresse an modischen Details auszudrücken.
Fink lehnte sich zurück. »Nein, warte: Der Kerl muss eine Nacht beim ›Krummen Häns‹ verbringen. Da wird er so schnell weich wie Butter in der Sauna.«
»Wer soll das denn sein, der ›Krumme Häns‹?« Carina runzelte die Stirn. Hatte sie die Einstellung eines neuen Vernehmungsspezialisten verpasst, der sich unter Kriminellen schon einen Namen erworben hatte? He, Kumpel, warum hast du bei der Polizei nicht dicht gehalten? Ich hatte keine andere Wahl, der »Krumme Häns« hat mit der Nase gezuckt, da musste ich einfach auspacken.
Emmerlein kratzte sich mit dem Bleistiftende an der Nase. »Den kennst du nicht?« Er sah einen Kollegen über den Flur gehen. »Na, dann wollen wir doch mal Kemalpedia aufrufen.« Er beugte sich vor. »Kommst du grade mal, Kemal?«
Ein schlanker junger Mann erschien in der Tür und sah sie neugierig an. »Was gibt’s denn?«
Fink deutete auf Carina. »Herr Özgür, können Sie die Frau Bauer über den ›Krummen Häns‹ aufklären?«
Das Gesicht von Polizeiobermeister Kemal Özgür leuchtete auf. Er hatte von seiner deutschen Mutter die dunkelblonden Haare geerbt und von seinem türkischen Vater das leicht entflammbare Temperament sowie ein herzförmiges Muttermal am Hals, das die sehnsüchtigen Phantasien aller Kolleginnen entfachte. Er lehnte sich in den Türrahmen, kam aber gleich wieder in Bewegung.
»Also, früher erzählte man sich von Müllern und Schmieden viele gruselige Geschichten. Die wohnten oft außerhalb der Ortschaften, weil die Mühlen so groß waren und wegen der Feuergefahr. Und weil die Dorfgemeinschaft sie da nicht dauernd im Blick hatte, wusste man nie, was die Typen so trieben. Also unterstellte man den Schmieden und Müllern allerhand finstere Sachen oder sogar schwarze Magie, und deshalb hatten die bei den Leuten gleich mal einen schlechten Ruf. Genauso ein Kerl war auch der ›Krumme Häns‹, der war ein Schmied, so vor zweihundert Jahren.« Er hielt zwei Finger in die Luft.
»Der hatte eine Schmiede zwischen Andernach und Namedy und vermietete auch Pferdekutschen. Und bei dem hatte sich der üble Ruf auch bewahrheitet, der hieß nämlich so, weil er dafür bekannt war, gern mal ein krummes Ding zu drehen. Zum Beispiel beschlug er die Pferde für viel Geld mit minderwertigen Hufeisen. Oder er vermietete den Leuten eine Kutsche, an der kurz darauf ein Rad abknickte. Das hatte er vorher angesägt. Seine Lehrlinge ließ er schwören, die Kutsche wäre tipptopp in Ordnung gewesen, und die Leute hätten sie zu Schrott gefahren und müssten nun Schadensersatz leisten.«
Kemal begleitete seine Erzählung mit anschaulichen Gesten. Er beschlug imaginäre Pferde, schwang eine unsichtbare Säge und formte Hufeisen in der Luft. Fink hörte förmlich den schweren Schmiedehammer auf den Amboss treffen. Emmerlein meinte, die Funken aus dem lodernden Feuer von seinem Arm wischen zu müssen, und Carina fühlte in der Hitze der Schmiede kleine Schweißperlen auf der Stirn.
»Und das haben sich die Leute gefallen lassen?«, fragte sie.
»Nicht so wirklich. Eines Tages stürmten einige betrogene Kunden die Schmiede und stellten etwas Unappetitliches mit heißen Hufeisen und den Füßen vom ›Krummen Häns‹ an.«
Carina sah ihren Kollegen entsetzt an. Fink und Emmerlein, die die Geschichte schon kannten, grinsten.
»Und es heißt«, Kemal beugte sich vor, und sein Raunen wurde immer dunkler, »seitdem spukt der ›Häns‹ in seiner verfallenen Schmiede, und in manchen Nächten hört man seinen Schmiedehammer auf den Amboss schlagen oder seine Geisterpferde… mit den Hufen… stampfen.«
Leises Pferdegetrappel ertönte hinter dem Schreibtisch. Carina schnellte herum und ertappte Peter Emmerlein, der mit den Händen rhythmisch auf seine Hose klopfte.
»Und in diese Ruine sollten wir unseren Seniorennepper für eine Nacht hinschicken«, befand Fink. »Danach ist der zahm wie ein Regenwurm. Ich finde sogar, man sollte das ins Strafgesetzbuch aufnehmen. Spart Zeit und Geld und läutert auch die Hartgesottenen. Willst du’s mal ausprobieren, Carina?«
Drei ausgewachsene Polizisten feixten ihre Kollegin an.
Carina stand auf. »Kann es sein, dass ihr alle drei ein klein bisschen gestört seid? Ich sag jetzt jedenfalls mal dem Ulf Kissmich, er soll durch die Fußgängerzone laufen und ein paar Radler von den Rädern holen und ihnen ein Bußgeld aufbrummen. Da ist es mir jetzt richtig nach.«
»Ach ja, der hat eben angerufen.« Emmerlein erhob sich ebenfalls und streckte seine ein Meter neunundachtzig Muskelmasse. »Er kommt später, weil er mit Friedbert zum Arzt muss. Burn-out, vermutet er.«
»Ist Friedbert sein Vater?«, fragte Fink.
»Sein dschungarischer Zwerghamster.«
Fink riss seine Schublade auf und zog sein laminiertes Kärtchen wieder hervor. »Dem werd ich was erzählen, wenn er wieder da ist.«
»He, Stresserkrankungen bei Nagetieren muss man ernst nehmen.« Peter Emmerlein zog lachend sein Hemd in Form.
»Ach komm, Carsten, ärger dich nicht.« Carina deutete die zusammengepressten Lippen ihres Chefs und seinen bitteren Blick auf die aus Emmerleins Hemd herabrieselnden Brötchenkrümel richtig. Sie zog eine Papiertüte aus ihrer Tasche und legte sie vor Fink auf den Tisch. Fink knisterte sie auf und sah sich einem leicht zerdrückten, aber überirdisch duftendem Croissant gegenüber.
»Du bist gerade an die erste Stelle auf der Beförderungsliste geklettert«, sagte er, bevor er das Backwerk genüsslich seiner Bestimmung zuführte.
3
Als Fink die Haustür seiner Mutter aufschloss, klingelte gerade deren Telefon. Er schlich sich zur halb geöffneten Wohnzimmertür und hörte, wie Margit Fink abhob.
»Ja, hallo, ach wie nett, dass Sie anrufen. Wie war Ihr Name? Und in welchem Callcenter sitzen Sie, mein Lieber? Oh, das ist aber weit weg. Ich war mal mit meinem Exmann in Hamburg, also damals war er noch nicht mein Exmann, und wir haben eine Hafenrundfahrt gemacht, und ich wäre beinahe ins Wasser gefallen, ich bin da manchmal ein bisschen ungeschickt, das hat mein Sohn von mir geerbt, aber es ist trotzdem was aus ihm geworden.«
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