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Und mörderisch fließt der Rhein ... Nach einem missglückten Mordanschlag nahe einer historischen Sehenswürdigkeit herrscht Ausnahmezustand im sonst so beschaulichen Andernach. Die Mordkommission Koblenz ermittelt, aber Hauptkommissar Carsten Fink von der örtlichen Polizeidienststelle fühlt sich als Mann vor Ort persönlich herausgefordert und stellt eigene Untersuchungen an. Wenn er geahnt hätte, was noch alles passieren würde, hätte er das sicher nicht getan . . .
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Seitenzahl: 368
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Schon im Lateinunterricht konnte sich Gerlinde Dal Molin am besten solche Vokabeln merken, bei denen es um Verbrechen ging. Ihr Interesse am Kriminellen setzte sich im Jurastudium in Bonn und dem Schreiben von Krimis fort. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Andernach am Rhein und arbeitet für eine Bundesbehörde.
Das reale Andernach ist eine zauberhafte Stadt am Rhein zwischen Koblenz und Bonn. Das Andernach in diesem Buch ist ein ebenso zauberhafter Ort an den wild zerklüfteten Ufern der Phantasie der Autorin. Sämtliche Handlungen und Personen sind frech und hemmungslos erfunden; Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Christian Bäck
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch
Lektorat: Susanne George
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-9604-1299-1
Eifel Krimi
Originalausgabe
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Für meine wunderbaren Eltern
Pffft.
Harry Gräflein senkte die Hände, die er in Erwartung eines mordsmäßigen Knalls über seine Ohren gelegt hatte.
Kein Knall. Nicht mal ein Knällchen. Schon gar keine Rauchschwaden, die das Zeug zum Luftabschneiden gehabt hätten.
Stattdessen löste sich ein mitleiderregendes Wölkchen vom verwitterten Mauerwerk. Der Dunst schwebte einen Moment lang unentschlossen vor sich hin, ehe er sich auflöste.
Harry Gräflein starrte die Stelle an. Eine solche Enttäuschung hatte er nicht mehr erlebt, seit er sich mit sieben Jahren eine vierspurige Autorennbahn zu Weihnachten gewünscht und ihm das Christkind ein Buch über Zündkerzen gebracht hatte.
Trotzdem wandte er sich freundlich an einen älteren Mann in Latzhose, der neben ihm an der Stadtmauer stand und jeglichen Anschein von Ehrgeiz erfolgreich verbarg.
»Ist das jetzt schon alles, mein lieber Herr Münge? Ich hatte mir etwas mehr Dramatik vorgestellt, wissen Sie? Explosion. Funkenregen. Gewaltige Rauchschwaden, die über den Platz ziehen und den Zuschauern die Tränen in die Augen treiben. Dafür wollen wir am Eingang doch extra Taschentücher ausgeben. Sie kennen sicher unseren Werbeslogan ›Andernach – Vergangenheit für alle Sinne!‹. Da brauchen wir schon mehr als so ein niedliches Puffpuff, um die Leute mitzureißen.«
Latzhosenträger Ewald Münge wickelte einen Kaugummi aus und steckte ihn sich ohne Hektik zwischen die Zähne. »Da hab ich auch mitgemacht.«
Harry sah ihn verständnislos an.
»Bei dem Wettbewerb für den besten Werbespruch«, erklärte Ewald kauend. »Ich hab geschrieben: ›Hier bringt Sie Geschichte zum Weinen‹. Wegen der Taschentücher, die Sie verteilen wollen. Ist der gut?«
Es zuckte um Harrys Lippen. »Ganz originell, Herr Münge. Und wie ist das mit den Rauchschwaden?«
»Geht schon. Ist aber teurer.« Er betrachtete versonnen den roten Knopf auf dem Kästchen, mit dem er die Zündung der Sprengkapsel ausgelöst hatte.
»Und es wäre schön, wenn es ein bisschen stinken würde. Nach Schwefel und Pulverdampf. Damit sich die Leute richtig in den Angriff hineinversetzt fühlen. ›Andernach – im Herzen der Geschichte‹. Den Zuschauern soll diese Geschichte mit Kawumm um die Ohren fliegen. Die sollen meinen, da käme ihr Uropa mit dem Rammbock angestürmt.«
Latzhose Münge produzierte eine Kaugummiblase, die er erheblich spektakulärer zum Platzen brachte als zuvor die Sprengkapsel. »Geht schon auch. Ist aber teurer.«
Harry Gräflein schob die Hände in die Taschen seiner etwas abgewetzten Edeljeans. »Das sollte kein Problem sein. Ich meine, man hat mich von London hergeholt, um dem Image der Stadt neue Impulse zu geben und den Tourismus noch intensiver zu beleben. Ich hab da schon jede Menge fabelhafter Ideen. Wir müssen bei so einem Projekt anfangen, in anderen Dimensionen zu denken als bei einer Schneewittchen-Aufführung vom Kindergarten.«
»Räuber Hotzenplotz«, bemerkte Ewald und schob den Kaugummi in die andere Backe. Gleichzeitig kratzte er sich an seiner kartoffelknubbeligen Nase. Und da hieß es immer, nur Frauen seien multitaskingfähig.
»Wer?«
»Meine Enkelin hat in der Grundschule den Räuber Hotzenplotz gespielt.«
Harry Gräflein strich sich über seine graubraunen Haare. Meistens half ihm das, sich zu konzentrieren, aber gegen die Gedankengänge von Elektromeister Münge kamen Harrys Haare nur mit Mühe an. »Ja, sie war bestimmt gut, Ihre Enkelin.«
»Die ist von der Bühne gefallen.«
Harry hob den Blick zu einer jungen Möwe, die eine Schleife um den runden Pulverturm zog. Du hast recht, pflichtete er ihr in Gedanken bei. Man muss die Sache von einer höheren Warte aus betrachten.
»Ich wollte damit eigentlich sagen, gewisse Kosten müssen die Verantwortlichen einfach einkalkulieren. Die holen wir durch steigende Besucherzahlen spielend in zehn Jahren wieder rein. Und der künstlerische Wert so einer Aufführung ist überhaupt unbezahlbar. Ich meine unser Historienspiel«, fügte er schnell hinzu, um Missverständnissen zuvorzukommen. Den künstlerischen Wert einer Räuber-Hotzenplotz-Darbietung von Grundschulkindern wollte er im Moment dann doch nicht diskutieren. Obwohl sich mit den geeigneten Mitteln und etwas Phantasie auch daraus etwas machen ließe. Zauberer Zwackelmann, der den Hotzenplotz mit aufwendigen Licht- und Toneffekten in einen Vogel verwandelte, womöglich mittels Hologrammtechnik. Der Räuber, der sich eine wilde Verfolgungsjagd durch die Turnhalle mit dem Wachtmeister Dimpfelmoser lieferte. Ein Sprung vom Klettergerüst mit Abrollen über die Schulter ließe sich mit Drittklässlern sicher in drei oder vier Monaten einüben, er hatte da mal einen Stuntman von der Crew von »Alarm für Cobra 11« kennengelernt …
Harry schüttelte sich den Hotzenplotz aus dem Kopf. »Haben Sie sich schon überlegt, wo Sie die Lautsprecher anbringen?«
»Ach ja, da haben Sie ja auch noch was von gesagt.« Ewald Münge betrachtete nachdenklich die mittelalterliche Mauer. »Wozu brauchen Sie die noch mal?«
»Wegen der Geräuschkulisse«, antwortete Harry mit aufmunterndem Lächeln. Er machte sich klar, dass der Mann mit dem schütteren grauen Haarzopf stramm auf die Rente zuging und damit fast zwanzig Jahre älter war als er selbst. Da durfte man nicht ungeduldig werden. »Damit wir während des Schauspiels dramatische Musik einspielen können, die die Kanonenschläge untermalt. So etwas wie das Thema aus ›Fluch der Karibik‹. Tamtam ta ta tam tam.«
»Ach, Sie wollen was mit Piraten aufführen? Ich hab da einen Schwager mit ’nem Holzbein.«
Harry Gräflein nahm seufzend seine Goldrandbrille ab. In London hatte ihn auch keiner verstanden. Vermutlich war das der Grund für das kleine Missverständnis dort gewesen. Er hatte es auf seine zu geschliffene britische Aussprache zurückgeführt, aber offenbar gab es in seiner Muttersprache ebenfalls Verständigungsprobleme. »Wir sind ja hier im Rheinland, nicht bei den Störtebeker Festspielen an der Ostsee. Obwohl«, sein Blick wanderte mit magischem Aufleuchten in kreative Fernen, »wenn wir eine mittelalterliche Kogge bekämen, könnten wir die Feinde stilecht auf dem Rhein heranschippern lassen. Ich sehe es schon vor mir: Fähnchen wehen um die Masten, Segel blähen sich im Wind, die feindlichen Linzer stimmen auf den Planken ein Angriffsgeheul an.« Flämmchen loderten in Harrys Augen.
»Äh, die haben nicht geheult, die Linzer«, bemerkte Ewald. »Die haben sich in der Nacht angeschlichen. Und dann sind die von den Andernacher Bäckerjungen mit Bienenkörben beworfen worden. Danach werden die Linzer dann schon geheult haben, denk ich mir. Mein Schwager ist mal von ’ner Biene in den großen Zeh gestochen worden, also da, wo er kein Holzbein hat, der hat vielleicht gejault.«
Harry Gräflein kam auf den Boden der historischen Tatsachen zurück. »Es geht ja auch lediglich um eine zackige Musikuntermalung. Während die gegnerischen Truppen die Stadt angreifen und sich die Andernacher heldenhaft zur Wehr setzen, kann ich ja schlecht ›Hänschen klein‹ auf der Blockflöte abspielen. Also, Sie machen mir ein schönes Kabumm zurecht, und dann treffen wir uns wieder. Und denken Sie an den Kostenvoranschlag, damit ich ihn der Kulturbeauftragten vorlegen kann. Sie wird von Ihrem technischen Konzept begeistert sein, mein lieber Herr Münge.« Harry strahlte den Elektriker an und fügte mit bescheidenem Augenniederschlag hinzu: »Und meine Vorschläge finden sicher auch ihren Beifall.«
Anheimelndes Licht strömte durch die Buntglasfenster des Saals auf die Kramgasse. Von solch friedlicher Atmosphäre war die Sitzung des Stadtrates drinnen allerdings weit entfernt.
»Vier Prozent!« Der Kopf von Bäckermeister Heiner Möntgerath erinnerte mit seiner prallen Rundung und dem Anflug von Farbe schon unter günstigen Bedingungen an eine junge Tomate, die unter den ersten Sonnenstrahlen sittsam errötet war. Nun hatte der Farbton die Intensität einer roten Ampel kurz vor dem Durchbrennen angenommen.
»Um vier Prozent ist der Tourismus in Andernach während des vergangenen Jahres zurückgegangen!« Er wedelte mit einem Papier, auf dem eine erschreckende Menge von Zahlen in verschiedenen Größen und Farben an den Umsitzenden vorbeihuschte. »Sind Sie nicht fassungslos? Also ich bin so was von fassungslos!«
Michi Gabriel überlegte, ob sie ihr Handy dabeihatte, um notfalls einen Rettungswagen herbeirufen zu können. Heiner Möntgeraths leicht erregbares Gemüt war legendär. Sie hatten ihn schon zweimal abtransportieren lassen müssen.
»Jetzt übertreibst du aber, Hein.« Ines Pisalski betupfte ihre Nase mit einem Taschentuch. »Das sind doch ganz normale Schwankungen. Die kommen alle paar Jahre vor, wie eine Studie der Universität Uppsala eindeutig belegt.« Eine voluminöse Wolke krausen Haares umwippte ihren Kopf.
»Schwankungen?« Möntgeraths Tomatenkopf schnellte in ihre Richtung. »In Uppsala können sie Schwankungen haben, bis sie grün werden, das ist mir wurscht! Bei uns ist jeder einzelne Monat mit weniger Gästen eine Katastrophe für die Gastronomie! Die ›Burggrabenstube‹ musste schon schließen, und das ›Café Nikolaus‹ hat auch dichtgemacht.«
Michi geriet in Versuchung, den Kopf resigniert auf den Tisch sinken zu lassen, fand dieses Verhalten einer Kulturbeauftragten aber nicht würdig. Das hatte sie jetzt davon, dass sie in grauer Vorzeit einmal Kunstgeschichte studiert hatte. Sie fühlte sich, als sei das im tiefsten Pleistozän gewesen, als Mammuts über die Erde getrottet waren.
»Nun mach mal halblang«, sagte Jo Stein und lehnte sich zurück. Seine sonore Stimme erschien Michi immer wie eine sanfte Nackenmassage. »Die ›Burggrabenstube‹ ist geschlossen worden, weil sich die Erben da gegenseitig das Inventar um die Ohren gehauen haben. Und die Chefin vom ›Café Nikolaus‹ hat ihren Mann dabei erwischt, wie er in der Backstube die rothaarige Bedienung geknetet hat statt den Teig.« Seine weißen Haare schimmerten im Licht der Deckenlampen. »Unter der Wirtschaftskrise in den vergangenen Jahren haben alle gelitten, da geben die Leute eben weniger Geld für Urlaub und Freizeit aus. Die Besucherzahlen beim Geysir sind aber sogar gestiegen.« Er hob den Zeigefinger auf Schulterhöhe steil in die Luft und sah damit aus wie ein predigender Prophet. »Unser Geysir ist der höchste Kaltwassergeysir der Welt!«, verkündete Jo mit stolzer Stimme eine Tatsache, die allen Anwesenden hinreichend bekannt war. »Andernachs geologischer Schatz aus den Tiefen von Erde und Zeit.«
Bäckermeister Möntgerath schnaubte.
»Trotzdem hat Herr Möntgerath recht«, nuschelte Clemens Olm. »Wir merken den Umsatzrückgang alle.«
»Wovon haben Sie denn in Ihrer Apotheke früher mehr verkauft?«, erkundigte sich Ines Pisalski, bevor ihre Nase in einem frischen Taschentuch verschwand.
»Hühneraugenpflaster und Magentabletten gingen bei den Touristen immer sehr gut«, antwortete Olm, der mit seinen eigenen Produkten offenbar nichts gegen seine schwindende Haarpracht ausrichten konnte, voller Ernst. »Auch Mittel gegen Reiseübelkeit und Kater. Und, äh, Kondome.« Seine ohnehin leise Stimme sank in den Flüstergraben. Verhaltenes Kichern lief durch die Reihen, prallte aber an Möntgerath ab.
»Ich bin fassungslos, wie ihr das Problem auf die leichte Schulter nehmt! Die Hälfte von uns hier lebt doch von den Touristen. Der Andenkenladen. Die Hotels am Rhein. Die Cafés. Da muss man doch überlegen, was man ändern kann.« Er griff nach einem Wasserglas, das in seiner großen Hand fast versank, und nahm einen tiefen Schluck. »Wir hätten viel weniger Probleme, wenn ich meine Bakerboys Brezeln nach Holland hätte exportieren dürfen. Dann könnten wir uns vor holländischen Gästen hier gar nicht retten, weil alle die Heimat der legendären BBB besuchen wollen.«
»Wer will mich besuchen?«, flüsterte Franz-Hubert Schwalm Michi zu. Der Oberbürgermeister schaute von einem Buch auf, das er schon den ganzen Abend studierte.
»Keiner. Es geht um die BBB«, flüsterte Michi zurück.
»Ach, die legendäre Bakerboys Brezel.« Schwalm blätterte. »Ich schau mal nach, was ›Brezel‹ auf Hebräisch heißt.«
Ines Pisalski beugte sich vor, einen Ellbogen auf den Tisch gestützt. Der Bäcker zog sich instinktiv vor ihrer bedrohlich vorgestreckten Habichtsnase zurück. »Jetzt halt uns bloß nicht wieder eine Jammerrede über deine bescheuerte Brezel, Hein. Hättest du da nicht eine Oblate mit dem Bild eines Bäckerjungen draufgeklebt, der große Ähnlichkeit mit einem völlig zugedröhnten niederländischen König hat, dann hätten die Holländer die Dinger ja vielleicht genommen. Das hat jedenfalls nichts mit den Schwankungen der Tourismuszahlen zu tun.«
»Ach je, wir hatten im letzten Jahr ein bisschen Pech«, bemerkte Jo Stein. »Ein paar unglückliche Umstände, für die wir ja auch gar nichts konnten.«
Michi hatte nicht geglaubt, dass sich Ampelrot noch steigern ließe, aber sie erlebte es gerade. Während sie überlegte, ob diese Farbe nach ihrem Träger benannt werden könnte – das Möntgerath-Rot –, beugte sich Oberbürgermeister Franz-Hubert Schwalm zu ihr hinüber.
»Brezel kann ich nicht finden. Wissen Sie zufällig, was ›Preisermäßigung‹ auf Hebräisch heißt?« Als er sein Buch mit eingelegtem Finger zuklappte, konnte Michi es anhand des blau-weiß gestreiften Einbands mit dem Davidstern als Sprachführer identifizieren. »Hier gibt’s nicht mal das Wort ›Oberbürgermeister‹«, murmelte er ungehalten. »Ich könnte höchstens sagen: ›Schalom, ich bin der König von Andernach, bekomme ich die Mazzen billiger?‹ Aber, hehe, das ist wohl doch ein bisschen übertrieben.« Er gluckste leise. Offenbar bereitete sich Schwalm gewohnt gründlich auf eine Dienstreise in die israelische Partnerstadt Dimona vor.
Heiner Möntgerath hatte sich derweil in ein Hecheln hineingesteigert. Michi sah es gelassen. Stadtoberhaupt Schwalm kannte sich neuerdings ein bisschen in Erster Hilfe aus, weil er sich vor Kurzem von einem Reporterteam zu einem Tageskurs beim Roten Kreuz hatte begleiten lassen. Er würde den Bäckermeister also notfalls wiederbeleben können.
Michi hauchte in ihre Hände und klinkte sich aus der Sitzung aus. Sie dachte neidvoll an ihren Mann. Sie dachte häufig an ihn, mal liebevoll, mal unanständig und manchmal auch genervt. Im Moment überwog eindeutig der Neid. Wie brachte es ein so schlanker, kleiner Mensch fertig, nie zu frieren? Wahrscheinlich hing es mit seinem Bewegungsdrang zusammen, der kein Kältegefühl in ihm aufkommen ließ. Selbst im tiefsten Winter, wenn sie mit zwei Paar Socken im Bett zitterte, trug er nur Boxershorts. Wo befand sich in diesem Raum eigentlich die Heizung? Für Mitte Mai war es wirklich verboten kalt. Waren das die Eisheiligen oder die Schafskälte? Sie konnte sich das nie merken.
»Also … also«, hechelte Möntgerath.
Wenn sie sich überlegte, dass sie jetzt unter ihrer Schneesterndecke auf dem Sofa sitzen könnte, statt sich zum dritten Mal diese unfruchtbare Diskussion anzuhören! Anfangs war ihr die Aussicht, hin und wieder einen Abend außerhalb der Hörweite ihrer drei bewegungs- und lautstärkeintensiven Söhne zu verbringen, sehr verlockend erschienen. Da hatte sie aber noch nicht gewusst, wie sich solche Abende gestalteten. Wie auch immer, sie musste das Beste daraus machen. Fern von heißem Tee und der dreizehnten Wiederholung von »Columbo« hatte sie das boshafte Bedürfnis, ein bisschen mitzumischen, und sei es nur, um auf Betriebstemperatur zu kommen.
»Jetzt passt mal auf.«
Bewegung kam in die Gruppe. Alle Ratsmitglieder drehten sich zu ihr.
Michi hatte mindestens zwei Gesprächstermine pro Halbjahr beim Schuldirektor ihrer Söhne und Rosemarie Nill, der Leiterin des Kindergartens. Ganz zu schweigen von ihrem Mann, der gern schon mal die anstehenden Taufen und Beerdigungen verwechselte und Trauungen in Bermudashorts abzuhalten versuchte, wenn Michi ihn nicht entsprechend dirigierte. Es gab nichts, das Michi Gabriel so schnell erschüttern konnte.
»Die Probleme habt ihr euch doch selbst gebastelt«, setzte sie ruhig an. »Ein paar von den Aktionen, die hier in den letzten zwei Jahren gelaufen sind, waren zum Mäusemelken.«
Murren. Möntgerath kurz vor dem Kollaps. Michi blieb unbeeindruckt, Oberbürgermeister Schwalm würde Heiner Möntgerath in die stabile Seitenlage bringen können, sobald der umkippte. Allerdings würden sie damit wahrscheinlich warten müssen, bis die Presse informiert war und ein Foto von Schwalm bei der Rettungsaktion schießen konnte.
»Jetzt stellen Sie uns aber wie die Rumpelstilzchen dar, Frau Gabriel«, stellte Ines Pisalski verschnupft fest.
Michi ging auf diese Bemerkung gar nicht erst ein. »Fangen wir mal an mit der begnadeten Aktion ›Nur nackig ist knackig‹.«
»So heißt das gar nicht«, wandte Ines Pisalski gekränkt ein und entfaltete aufwendig ein neues Taschentuch. »Laut der Studie der Universität von Den Haag heißt das Projekt ›Selbstintegration bei gruppendynamischer Interaktion im Gemeinschaftsmittelpunkt‹.« Schnupf. »Und auf dem Papier sah es sehr vielversprechend aus.«
Michi bedachte sie mit einem mitleidigen Blick. »Jedenfalls kampierten am Ende dreißig Mitglieder eines Senioren-Nudistenvereins in Zelten rund um ein großes Planschbecken auf unserem Marktplatz und präsentierten den Gästen der Cafés und Restaurants dort alle Scheußlichkeiten, die die Natur hervorgebracht hat. Vielleicht seid ihr da ja härter im Nehmen, aber ich möchte so was ehrlich nicht sehen, während ich meinen Cappuccino im ›Café Winzig‹ trinke.«
Jo Stein faltete die Hände über seinem Bäuchlein. »Die Kreisverwaltung hatte uns dieses Vorhaben vorgeschlagen. Es sollte bei dieser Studie getestet werden, wie die Bevölkerung auf die Konfrontation mit außergewöhnlichen, aber nicht bedrohlichen Umständen reagiert. Daraus lassen sich wichtige Erkenntnisse auch im Bereich des Tourismus und der zukünftigen Gestaltung städtischer Aktivitäten ableiten.«
Michi zog zwecks Erzeugung von Wärme ihren Schal enger. »Ob ein Haufen alter Nackedeis nicht bedrohlich ist, darüber kann man geteilter Meinung sein. Und dass die munteren Herrschaften anfingen, herumzugehen und von den Gästen eine Freikörperbesichtigungsgebühr zu verlangen, hat sich auch nicht wirklich tourismusfördernd ausgewirkt.«
»Die Kreisverwaltung hat uns als Anreiz für dieses Projekt Investitionsgelder zur Verfügung gestellt, die allen Bürgern zugutekommen.« Oberbürgermeister Schwalm deutete mit seinem Büchlein auf sich. »Die Renovierung meines Amtszimmers war dringend notwendig, um den hohen Repräsentationsstandard aufrechtzuerhalten, den meine Gäste von mir als wichtigstem Amtsträger unseres geliebten Andernach erwarten dürfen.«
»Wenn ich mich recht erinnere, haben Ihre nichtsnutzigen Söhne auch einiges zum Ausbleiben der Gäste beigetragen«, wandte sich Möntgerath mit Häme und einer erholten Gesichtsfarbe an Michi. »Oder war das nicht Ihr Nachwuchs, der herumgelaufen ist und einer frischen Busladung Engländer erzählt hat, der Laacher-See-Vulkan wäre ausgebrochen?« Kichern und Murmeln. »Und dann haben Ihre Jungs denen auch noch Steine verkloppt, die angeblich von diesem Vulkanausbruch stammen sollten und die sie vorher auf dem Spielplatz aufgesammelt und im Toaster angewärmt hatten, zwei Euro pro Stein. Daraufhin haben die Engländer auf dem Absatz kehrtgemacht und sind mit zehn Kilo dampfendem Geröll weitergefahren.«
Um Michi Gabriel zu beeindrucken, musste man aber früher aufstehen. Besonders in Bezug auf Schandtaten ihrer Söhne hatte sie nach außen hin ein dickes Fell und innerwärts ein tiefes Gefühl von Loyalität gegenüber ihrer Familie.
»Soweit ich weiß, hat Mattis gesagt, ein Ausbruch stünde bevor, und das hatte er von seinem Erdkundelehrer. Wären die Engländer nicht gleich wieder in den Bus gestiegen, um sich den Vulkanausbruch in Maria Laach live anzusehen, hätte er ihnen erzählen können, dass damit erst in den nächsten dreißigtausend Jahren zu rechnen ist. Und er hat nie behauptet, die Steine stammten vom Vulkanausbruch, das haben die Engländer sich falsch zusammengereimt. Außerdem haben meine Söhne die Einnahmen der Andernacher Tafel gespendet.«
»Und dann haben die Briten für den Brexit gestimmt, und danach sind aus Verunsicherung erst mal ein paar britische Touristen weggeblieben«, sagte Jo Stein. »Diese Aufregung hat sich ja inzwischen wieder gelegt. Die Gästezahlen in diesem Jahr sehen schon wieder sehr gut aus, und der neue Innovationsmanager, den wir eingestellt haben, geht die Sache tüchtig an und wuselt schon überall in der Stadt herum. Wirkt sehr kompetent. Wie heißt er noch, irgendwas mit Günther?«
»Nein, Harry. Harry Gräflein.« Ines Pisalski nieste. »Er hat vorher sogar vier Monate in London gearbeitet. Wir können froh sein, dass wir ihn gekriegt haben.«
Oberbürgermeister Schwalm steckte seinen Sprachführer in die Anzugtasche. »Frau Gabriel, reden Sie mal mit diesem Harry. Also dem Herrn Gräflein. Der ist ja Ihrem Wirkungsbereich zugeteilt. Lassen Sie sich erzählen, ob er sich schon ein Bild von der Situation gemacht hat und uns seine Ideen vorstellen kann. – So, Herrschaften, ich denke, wir haben uns jetzt eine kleine Stärkung verdient. Ich schließe also die Sitzung mit einem fröhlichen ›Guten Abend und Schalom‹.«
Michi knöpfte ihre Jacke zu. Der Wunsch nach ihrem warmen Wohnzimmer und einer Fußmassage durch die sehr beweglichen Finger ihres Mannes wurde nun doch übermächtig.
Als sie aus dem Sitzungssaal ins Foyer des Alten Rathauses traten, schlurfte Clemens Olm mit hängenden Schultern und hängendem Gemüt vor Michi her. Die Stadtbücherei hinter den Fenstern auf der anderen Seite der Halle lag im Dunkeln. Der Apotheker blieb vor einer der Stellwände stehen, an der die Foto-AG der Volkshochschule ihre Werke ausstellte. Eine der Aufnahmen zeigte eine unglaublich deprimierende graue Felslandschaft, in der ein einzelner schwarzer Baum seine knorrigen Äste anklagend in den grau gewolkten Himmel reckte.
Michi zögerte. Ein Glas Wein, ein Haus voller schlafender Kinder und die Zuwendungen ihres Mannes waren zum Greifen nah, während auf Clemens Olm nur seine Frau Ursula mit einem Nadelkissen voller boshafter Sticheleien wartete.
»Herr Olm, ich hab mir die Skulpturen angesehen, die Sie in Ihrer Apotheke stehen haben. Die sind sehr ausdrucksstark. Und die haben Sie alle selbst gemacht?«
Olm blinzelte sie an, vermutlich unsicher, ob sie sich über ihn lustig machen wollte. »Ja, die sind von mir. Sie gefallen Ihnen?«
»Die sind ganz außergewöhnlich«, antwortete Michi mit tiefster Überzeugung. Das jedenfalls konnte sie uneingeschränkt zugeben. Wenn sie ihn mit einer glatten Lüge über die Schönheit seiner Werke hätte glücklich machen können, hätte Michi auch damit kein Problem gehabt. Für sie ging der aufbauende Zuspruch für einen Menschen, der ihn nötig hatte, vor Prinzipientreue.
Olms Selbstvertrauen schien sich vor ihren Augen zu stabilisieren. »Welche hat Ihnen denn besonders gefallen?«
Hier kam ein glücklicher Zufall Michi zu Hilfe. Sie hatte erst am Vortag in der Apotheke Flohpulver für ihre Katze gekauft. »Die mit dem Stein, der an einem Draht hängt.«
Olm sah sie traurig an. »Sie heißt ›Kopf in der Schlinge‹.«
»Tatsächlich.« Michi biss sich auf die Lippe. Der Mann machte es einem aber auch schwer. Neuer Anlauf. »Was für eine gute Idee, Ihre Kunstwerke öffentlich in der Apotheke auszustellen.«
»Meine Frau wollte sie nicht im Haus haben«, murmelte Olm. »Sie meinte, nach ihren Schülern und mir bräuchte sie nicht noch mehr Zeug, das sie runterzieht.«
Michi atmete tief durch. Sie hatte Ursula Olms Bekanntschaft schon in der Schule ihrer Söhne gemacht, und sie hatte eine sehr eindeutige, nicht in der Nächstenliebe verhaftete Meinung über sie.
Hinter ihnen rasselte Sigurd Feis, städtischer Hausmeister und Fünfter im Wettbewerb »Der prächtigste Schnurrbart Deutschlands«, mit einem Schlüsselbund. »So, jetzt alle raus hier, ich will abschließen.«
Sie nahm Olm am Arm und führte ihn hinaus. Der Mond schien, und ein paar Wolken zogen ohne Hast über den Himmel. »Ich denke, Ihre Skulpturen sollten einem breiteren Publikum bekannt gemacht werden. Ich rufe morgen bei der Rhein-Zeitung an, die können einen Artikel darüber bringen.«
Sein Gesicht begann zu leuchten, ein kleines Echo auf den Mond über ihnen. »Wirklich?«
»Klar. ›Kopf in der Schlinge‹ verdient eine angemessene Wertschätzung. Gute Nacht, Herr Olm.«
Jetzt hatte sie sich aber wirklich Wein, Mann und Massage verdient.
Hauptkommissar Carsten Fink schaukelte gähnend in seiner Küche auf den Absätzen hin und her und studierte den Kalender neben dem Kühlschrank. Dabei bemerkte er einen Eintrag in der Spalte »Carsten« für einen Dienstag in vier Wochen. Er beugte sich vor, konnte aus Evis Gekritzel aber nur »Schltü« entziffern.
»Schatz, was hab ich denn hier für einen Termin am 20. Juni?«
Evi trug ein freches rot geringeltes Shirt mit vielen kleinen Booten und der Aufschrift »Baby an Bord« und versenkte gerade einen Teebeutel in ihrem Becher. »Da werden im Kindergarten die Schultüten gebastelt. Felix freut sich schon drauf. Mayday, Mayday, wir fliegen durch eine Nebelbank.« Sie nahm die Brille ab, weil die Gläser vom Dampf des Tees beschlagen waren. »Er kann sich aber noch nicht entscheiden, ob er eine Star-Wars-Tüte mit eingebauten Lichteffekten haben will oder eine Tüte mit Kätzchen drauf, deren Schwänze aus Pfeifenreinigern bestehen, der ultimativen Allzweckwaffe des Bastelprofis.«
Fink schaute sie an. Die Hälfte ihrer Informationen war an ihm vorbeigerauscht, ohne Verbindung zu seinem Gehirn aufzunehmen. »Das ist doch wieder so eine Veranstaltung, wo die Eltern ihren Kindern beim Basteln nur helfen sollen, und am Schluss sitzen die Erwachsenen da auf den Pygmäenstühlchen mit Glitzerstaub an der Nase und verklebten Fingern, und die Kinder spielen im Hof.« Er hatte gar nicht gewusst, dass er um diese Zeit und nach einer schlaflosen Nacht schon zu einem so langen Satz mit so vielen zusammenhängenden Wörtern fähig war. »Und da muss man sich auch noch mit den anderen Eltern unterhalten. Warum gehst du nicht mit ihm hin? Du bist viel geschickter in so was.«
Sie lächelte ihn boshaft an. »Schade, schade, da hab ich leider Schwangerschaftsgymnastik. Du wirst das ganz toll machen. Zieh die Uniform an, da stehen die anderen Mütter drauf. Und durch ein bisschen Glitzer wird die enorm aufgewertet.«
Zwei Köpfe hoben sich, als Carsten Fink ins Büro schlurfte, sich mit glasigen Augen einen Becher vom Regal nahm und ihn gähnend in einen grünen Käfig stellte. Ein winziger grauer Hamster kam aus seinem kleinen Holzhaus getrippelt und schnupperte an dem Becher. Dann stellte er sich auf die Hinterbeine und starrte Fink mit seinen schwarzen Äuglein neugierig an.
Fink starrte zurück. »Hamster«, stellte er fest.
»Das ist Friedbert«, erklärte Kommissarin Carina Bauer von ihrem Schreibtisch aus. »Der Dsungarische Zwerghamster vom Ulf Kissmich.«
»Wo ist die Kaffeemaschine geblieben?«, wollte Fink wissen und zog den Becher aus dem Käfig. Friedbert beobachtete das Aufwärtsschweben des Bechers und erkannte mit dem geübten Auge des Ausbrecherkönigs die geöffnete Käfigtür als einmalige Fluchtgelegenheit. Flink kletterte er an einer Holzwand mit Miniatursprossen hoch und stemmte sich schon durch die Öffnung, als der Hauptkommissar ihn abfing und den Fluchtversuch mit sanftem Griff vereitelte.
»Der Tierpsychologe meinte, gegen Friedberts Burn-out würde ihm eine Änderung der Umgebung guttun. Neue Eindrücke, andere Gesichter und so. Ulf sagt, er wäre sehr kontaktfreudig.«
»Der Psychologe?« Fink hatte die Kaffeemaschine auf einer Aktenablage entdeckt und befüllte den Becher.
»Der Hamster. Äh, ich nehme hier gerade eine Aussage auf. Vielleicht willst du dir das mal anhören.« Carina zog beide Augenbrauen dramatisch in die Höhe und deutete auf die ältere Frau, die vor dem Schreibtisch saß und deren graue Haare ebenso wirr waren wie der Blick, mit dem sie zwischen Fink und dem Nagetier hin- und herschaute.
Erst jetzt registrierte er die Besucherin. Mehr noch, nach einem tiefen Schluck Kaffee erkannte er sie sogar.
»Ja, Frau Nose, guten Morgen. Weswegen sollen wir Sie denn heute festnehmen? Lassen Sie mich raten: Sie haben die Glocken vom Andernacher Mariendom abmontiert oder unseren Oberbürgermeister Schwalm bei ›Deutschland sucht den Superstar‹ angemeldet.« Er setzte sich auf den freien Stuhl neben ihr und lächelte gutmütig.
Lydia Nose beschäftigte die Beamten der Polizeiinspektion Andernach schon seit Jahren mit abstrusen Straftaten, die sie begangen haben wollte. Sie hatte schon unter Tränen gestanden, die »Mona Lisa« im Louvre durch eine Kopie ersetzt zu haben, die sie in ihrer Küche selbst gemalt hatte, mit Farben, die sie aus Petersilie und Heidelbeeren hergestellt hatte. Für die womöglich gemauschelte Vergabe der Fußballweltmeisterschaft hatte sie von der FIFA offenbar mehrere Millionen kassiert, und bei der letzten Tour de France hatte sie einigen Teilnehmern persönlich das Dopingmittel in Form von roten Gummibärchen verabreicht.
Jetzt leuchteten ihre Augen auf. »Wäre das strafbar? Den Schwalm da im Fernsehen anzumelden?«
»Man müsste befürchten, dass er die Gelegenheit ergreift und tatsächlich singt, und das wäre in jedem Fall Körperverletzung«, antwortete Fink.
Carina kicherte.
Lydia Nose schob die Ärmel ihrer bunten Strickjacke zurück und beugte sich eifrig zu Fink hinüber. »Aber diesmal hab ich gar nichts gemacht. Ich bin hier, um Ihnen zu sagen, dass ich ihn gestern gesehen habe.«
Fink warf seiner Kollegin einen Blick zu.
Carina grinste.
»Wen haben Sie denn gesehen?«, fragte er.
Lydia errötete bezaubernd. »Arnie«, wisperte sie und schaffte es, den Namen gleichzeitig liebevoll und bewunderungsstarr in eine amerikanische Aussprache zu tauchen.
»Arnie?« Fink stellte seinen Becher auf den Tisch. »Sie meinen Arnold Schwarzenegger? Hier in Andernach?«
Ihr Nicken brachte die drahtigen grauen Haare in Bewegung. »Er ging die Hochstraße entlang und dann ins ›Casablanca‹.«
Das wunderte Fink gleich in mehrerer Hinsicht. Zum einen hatte Lydia Nose offenbar inzwischen ihre Vorliebe für nicht verübte Straftaten gegen die fiktive Begegnung mit Prominenten getauscht. Zum anderen hätte er bei der Erwähnung des »Casablanca« eher die Sichtung von Humphrey Bogart oder Ingrid Bergman vermutet, die als Fotografien in dem beliebten Bistro alle Wände schmückten und den Besuchern beim Verspeisen von überbackenen Burritos und würzigen Tacos über die Schulter schauten.
»Also, ich wüsste nicht, dass Arnold Schwarzenegger persönliche Beziehungen zu Andernach hat«, bemerkte Carina.
Diesen Einwand schob Lydia mit einer Erklärung beiseite. »Er kommt doch aus Österreich, und die Andernacher Partnerstadt Stockerau liegt auch in Österreich, und die haben ihn als Kulturbotschafter hergeschickt. Oder vielleicht dreht er hier einen Film.« Ihre Augen leuchteten, und nicht einmal eine hochwertige Schönheitsoperation hätte dieses jugendliche Strahlen in ihrem Gesicht zustande gebracht. »Und jetzt ist er auf der Suche nach einer Filmpartnerin aus Andernach. Eine mit schönen altblonden Haaren, die mit ihm leidenschaftliche Liebesszenen am Burggraben bei der Schlossruine spielt.« Sie knetete an ihrer grauen Krausfrisur herum. »Wie damals, als wir zusammen ›Conan der Barbar‹ gedreht haben.«
Niemand konnte Lydia Nose mangelnde Einbildungskraft unterstellen. »Sie haben mit Schwarzenegger gefilmt?«
»Aber sicher. Ich war die große Vollbusige, die ihn verführt hat.«
Fink hatte größte Mühe, nicht auf die papierflache Oberweite der kleinen Frau zu starren.
Lydia straffte sich trotzig. »Ich bin eine sehr gute Schauspielerin, ich kann ganz hervorragend große Vollbusige spielen.«
Fink hüstelte und schaute zu Friedbert hinüber. Der Hamster putzte sich mit seinen kleinen Vorderpfoten die Schnurrhaare und gab vor, sich nicht für das Gespräch zu interessieren.
Carina spielte mit einem Kugelschreiber und bemühte sich vergeblich um die Kontrolle ihrer zuckenden Mundwinkel. »Haben Sie denn auch im ›Terminator‹ mitgespielt?«
Lydias Blick pendelte zwischen Fink und Carina hin und her. Offenbar kamen ihr Zweifel, dass man sie ernst nahm. »Da hab ich nur das Drehbuch geschrieben und Regie geführt. Ich kann es Ihnen auch beweisen.« Sie kniff die Augen zusammen und knurrte mit tiefergelegter Stimme: »Hasta la vista, baby. I’ll be back.« Auf verblüffende Weise schien sie in diesem Moment die kantigen Gesichtszüge Arnies anzunehmen.
»Und jetzt ist er also in Andernach, um hier einen Film zu drehen?«, erkundigte sich Fink.
»Warten Sie, jetzt weiß ich es!« Lydia wurde ganz aufgeregt. »Er könnte ja bei unserer schönen mittelalterlichen Bäckerjungensage mitmachen, die soll doch dieses Jahr ganz groß aufgeführt werden. Er bewirft die Schurken mit Bienenkörben!«
Fink schmunzelte. »Ich denke nicht, dass Bienenkörbe in Arnies Filmen zu seinem bevorzugten Waffenarsenal gehören, Frau Nose.«
»Dann ballert er eben mit einem Maschinengewehr vom Bäckerjungentor und wirft Handgranaten auf die feindlichen Schiffe.« Jetzt schoss das Feuer ungezügelter Filmleidenschaft aus ihren Augen. »Die Geschichte gehört sowieso mal modernisiert.«
»Sie sind ein echter Fan, was, Frau Nose?« Carina lehnte sich zurück.
»Der eine schwärmt für Arnold, beim anderen ist es Leonardo DiCaprio.« Den kleinen Seitenhieb konnte sich Fink nicht verkneifen, denn mehr Hingabe als von Carina würde Leo sich weder vorstellen noch aushalten können. »Also, Frau Nose, wenn Schwarzenegger in Andernach wäre, dann hätten ihn ganz viele Leute erkannt, und wir hätten sicher schon davon gehört.«
Lydias graue Brauen stemmten sich in einem Akt der Verzweiflung nach oben. »Er ist sicher inkognito hier. Er wollte in Ruhe ein paar Croissants zum Frühstück essen.«
Fink erkannte seine Chance. Er beugte sich verschwörerisch zu ihr hin. »Dann sollten wir dafür sorgen, dass sein Inkognito gewahrt bleibt. Wenn Sie dichthalten, tun wir es auch.« Er zwinkerte ihr zu.
Lydia schaute zu Carina. Die hob einen Daumen. »Arnie und Sie sind ein Geheimteam, Frau Nose. Er verlässt sich auf Sie.«
Lydia schwebte von ihrem Stuhl empor. »Das kann er auch, voll und ganz. Arnie und ich«, flüsterte sie verklärt. »Ich und Arnie.«
Nachdem Lydia Nose gegangen war, gähnte Fink noch einmal herzhaft.
»Hattest du eine harte Nacht?«, fragte Carina mitfühlend. Seit vor Kurzem der sanftmütige Philosophiestudent Florian ihr Herz erobert hatte, waren nicht nur Carinas igelig kurze dunkle Haare ein Stück gewachsen und ließen ihr Gesicht weicher erscheinen. Auch ihr Sanftmut-Akku hatte sich deutlich aufgeladen.
Fink stand auf und streckte sich. »Schwangerschaft ist toll, Wadenkrämpfe in der Nacht sind Mist«, antwortete er. »Als Evi mit Felix schwanger war, hatte sie das nicht.«
Sophia Birre erschien in der Tür. Ihre Berufe als Polizistin und Mutter dreier ordnungsferner Teenager ergänzten sich auf erstaunliche Weise, besonders was den geschickt dosierten Einsatz von Autorität und Einfühlungsvermögen anging. »Warten Sie ab, bis sie nachts Sodbrennen kriegt, dann habt ihr echt gelitten.« Ihre überkrause Dauerwelle war fast herausgewachsen und hatte dem malträtierten blonden Haar einen Genesungsurlaub gegönnt. »Das Kopfteil des Bettes ist wegen dem Sodbrennen hochgestellt und das Fußteil wegen der Wadenkrämpfe, und Ihre Frau liegt da gekrümmt wie eine schwangere Banane. Und lassen Sie mich erst gar nicht von den geschwollenen Füßen anfangen.« Sophia bückte sich, um ein heruntergefallenes Centstück aufzuheben. »Manche Männer bekommen während der Schwangerschaft ihrer Frau einen Sympathiebauch. Als ich mit den Zwillingen schwanger war, hat meiner aus lauter Anteilnahme Schwellfüße gekriegt.«
»Sei froh, dass du noch in deinem Bett schlafen darfst«, sagte Carina. »Meine Freundin konnte ihren Mann während der Schwangerschaft nicht mehr im Schlafzimmer ertragen, und er musste fast die ganzen neun Monate auf dem Sofa kampieren.«
Carsten Fink warf einen Blick zum Hamsterkäfig. Friedbert hatte sich in Anbetracht heikler Schwangerschaftsthemen diskret zurückgezogen. »Wenn Evi mich noch öfter aus dem Bett kickt, wäre das vielleicht das kleinere Übel.«
»Da hilft Magnesium«, wusste Sophia. Ihr Blick verklärte sich leicht. »Hach, da kriegt man beinahe Lust, noch mal schwanger zu werden.« Was sich angesichts der besprochenen Übel nicht wirklich rational erklären ließ.
Mattis legte sein Rad neben das seines Bruders und huschte zu ihm in das Gebüsch.
»Ist Rodrigez auf seinem Posten?«, flüsterte Mattis.
Sie hockten neben dem Alten Krahn am Rheinufer und schauten zu dem weiß getünchten runden Gebäude, das massiv und kompakt auf einem Basaltsockel am Ufer der Rheinbiegung stand.
In den Bogen des kunstvollen Steinfrieses saßen ein paar schimpfende Spatzen, und aus dem Kegeldach ragte der große hölzerne Kranausleger, mit dessen Hilfe jahrhundertelang Schiffe beladen worden waren, hoch in die Luft. Ein Haken an einer Metallkette schwang an der Spitze des Auslegers sacht und leise quietschend im Wind. Über der schweren Holztür mit der Basalteinfassung prangte das steinerne Stadtwappen, und aus den vier löwen- und krokodilköpfigen Wasserspeiern tropften hin und wieder die Reste des Nieselregens.
Johannes deutete zur Tür, wo neben einigen Sträuchern ein paar alte steinerne Mühlsteine lehnten. »Ist in Position.« Er schaute auf das Display seines Laptops, über das verschiedenfarbige Linien unaufgeregt von links nach rechts wanderten. Hin und wieder hüpften sie ein Stückchen nach oben oder unten, als hätten sie Schluckauf.
Mattis schob einen Zweig vor seiner Stirn zur Seite und warf einen Blick über die Schulter seines älteren Bruders. »Glaubst du, Rodrigez kriegt das hin?«
»Der ist ein Profi«, antwortete Jojo.
Sie befanden sich in der Nähe der offenen Tür, sodass sie die Stimmen im Inneren hören konnten. Der Raum wirkte zudem wie ein Verstärker und trug den Schall von Gesprächen und Lachen nach draußen. »Achtung, ich stelle jetzt Kontakt her.« Jojo drückte eine Taste.
Sofort gerieten die bunten Linien auf dem Display in Bewegung und begannen, in roten Zacken, grünen Wellen und gelben Kurven durcheinanderzuwuseln.
»Krass!«, flüsterte Mattis.
Sie lauschten eine Weile. »Guck mal«, raunte Jojo. »Das ist Berthold der Quäler.« Er deutete auf die roten Zacken, die die anderen Linien gerade aggressiv überlagerten.
Berthold der Quäler, Physiklehrer am Bertha-von-Suttner-Gymnasium, dozierte gerade über die Funktion des alten Bauwerks. »Hier wurden die Mühlsteine aus Basalt aus dem Mayener Raum auf Schiffe verladen, ebenso Tuffsteine und Weinfässer«, tönte er mit seiner autoritären Stimme. »Die beiden Treträder, neben denen wir hier stehen, haben einen Durchmesser von über vier Metern. Da drin liefen aber keine Esel oder Pferde, wie oft fälschlich vermutet wird, sondern jeweils zwei Männer, die so die Verladekette auf- und abrollten.« Er nieste, und die Linie vollführte einen kleinen Hüpfer. »Die Männer mussten zweihundertfünfzig Meter in den Rädern laufen, um einen Gegenstand vom Ufer auf das Schiff zu bringen.«
Jojo legte den Kopf schief, um die Zahl abzulesen, die neben den roten Zacken aufleuchtete. »Siebenundsiebzig Punkt neun.« Er überflog eine Zahlenliste auf dem Blatt Papier, das er auf einen spitzen Zweig gespießt hatte. »Wir haben eine Übereinstimmung, das ist eindeutig Berthold.«
Mattis grinste. »Das ist irre!«
Dann ertönte eine weibliche Stimme. »So was könnte ich für meinen Mann gebrauchen«, erfuhren sie von Ursula Olm, Englisch und Katholische Religion. »Damit er endlich mal seinen Allerwertesten bewegt. Die Medikamente in seiner Apotheke haben mehr Spaß mit ihm als ich.«
Allgemeines Gegacker, aber auch Raunen und leise Unmutsäußerungen.
Ihre hohe Stimme schob eine hellviolette Linie mit Spitzen wie ein Bergmassiv in den Vordergrund. »Hundertsiebzehn Punkt elf«, las Jojo, glich den Wert mit seinem Blatt ab und nickte. »Stimmt, das ist die Olm.«
»Und wann hat dein Mann das letzte Mal Spaß mit dir gehabt, Olm?« Grüne Wellen mit dem Wert tausenddrei Punkt eins legten sich über die violette Linie.
»Und das ist die Benner«, flüsterte Mattis. »Die ist echt unbezahlbar. Los, Benner, gib’s der Olm!«
»Der Kran wurde 1561 in Dienst gestellt und war bis 1911 in Betrieb«, fuhr Berthold fort, ohne auf den weiblichen Giftaustausch zu achten. Wie üblich konnte er sich nicht vorstellen, dass es Menschen gab, die sich für seine Ausführungen nicht interessierten. »Pro Woche wurden drei bis vier Schiffe beladen; dafür war eine Kranmannschaft von ungefähr zwanzig Leuten notwendig. Von ursprünglich hundert Tretradkränen an deutschen Flüssen sind noch fünf original erhalten.«
»Hast du ein Problem, Barbara?«, fragte Ursula Olm schnippisch. »Willst du in deinem Zoo mit geretteten Viechern auch noch meinen Mann aufnehmen? Du kannst ihm ruhig dieses harte Trockenfutter hinstellen, er hat noch gute Zähne.«
Mattis und sein Bruder beobachteten fasziniert, wie sich die grüne und die violette Linie gegenseitig aus der Mitte des Displays zu schubsen versuchten.
»So ein mieses Stück!«, raunte Jojo. »So was sagt man nicht über seinen Mann! Die ist echt fies, die Olm.« In diesem Moment sah er seiner Mutter Michi noch ähnlicher als sonst.
»He, Olm, willst du mal an einem Experiment teilnehmen? Wir hängen dich in deiner Jacke draußen an den Kran und probieren, ob er noch funktioniert. Ich renn auch extra schnell in diesem Laufrad rum, damit du richtig Schwung kriegst.« Barbara Benners Stimme klang höher als sonst. Die Wellen schwangen sich in grüner Dynamik auf.
Ursula Olm keuchte.
»Dort drüben sehen wir einen offenen Kamin zum Heizen und Bereiten von warmen Speisen«, überging Berthold die Störung. »Die Windenfahrer in den Rädern bekamen von der Stadt spezielle Laufschuhe für ihre Arbeit gestiftet. Die hier verladenen Mühlsteine aus der Eifel waren ein Exportschlager und wurden bis nach Südengland verschifft.«
»Der Berthold nimmt mit der Videokamera auf, wie du draußen rumwirbelst, und zeigt es anschließend als Lehrfilm seinen Schülern«, fuhr Barbara Benner fort. »Angewandte Physik und so.«
»Wenn wir noch ein bisschen warten, murksen die sich da drinnen gegenseitig ab«, frohlockte Mattis.
»Besser nicht, das würde die Aussagekraft unserer Studie negativ beeinflussen«, sagte Johannes. Er streckte sich, so weit die Äste es zuließen. »Verdammter blöder Mist, meine Beine sind eingeschlafen. Boah, wie das kribbelt!«
Mattis lachte leise. »Keiner kann so schön zwischen kariertem Gelaber und saftigem Fluchen hin- und herschalten wie du.«
Johannes klappte seinen Laptop zu. »Ich will ja schließlich auch von so einfach gestrickten Typen wie dir verstanden werden.«
Sein Bruder knuffte ihn freundschaftlich. »Hauptsache, du gibst mir von der Nobelpreis-Kohle was ab, die du für das Projekt hier kriegst. Komm, wir sammeln Rodrigez ein und machen uns vom Acker.«
Heute war Grünzeugtag.
Deshalb stand Kai Fechter an diesem Vormittag neben einem Pflanzkübel in der Fußgängerzone der Andernacher Hochstraße und sah zu, wie die zwei Gäste aus Hannover Blättchen von Minze zwischen den Fingern zerrieben.
»Das ist echt verrückt. Ich hab noch nie gehört, dass es Minze gibt, die nach Erdbeere riecht.« Der Mann neben ihm, der sich als »der Anton« vorgestellt hatte, steckte das Blatt in den Mund. »Und schmeckt.« Er hatte seinen freundlichen Hängebauch in eine Art schwarze Bikerkluft gezwängt.
»Und hier gibt’s noch andere Sorten.« Kai deutete mit seinem langen, schlanken Klavierspielerfinger auf die Schildchen vor den Pflanzen. »Apfelminze, Mentha suaveolens«, las er vor. »Und hier: Bananenminze.« Er bückte sich und schnupperte. »Riechen Sie mal. Und haben Sie die Zitronenminze gesehen? Es gibt zwanzig bis dreißig Arten von Minze, die meisten auf der Nordhalbkugel. Die Minze mag einen feuchten Standort.« Kai tätschelte eines der grünen Pflänzchen liebevoll.
Eigentlich führte er in seiner Freizeit Touristen zum berühmten Andernacher Geysir. Er fuhr mit ihnen auf dem Boot zur Halbinsel Namedyer Werth und erzählte allerhand Wissenswertes und ein paar Anekdoten über den höchsten Kaltwassergeysir der Welt. Dort angekommen, drehte er ein Ventil auf und löste damit die beeindruckende Fontäne aus. Nachdem aber jemand herausgefunden hatte, dass Kai als Student der Biologie über umfassende Kenntnisse der Pflanzenwelt verfügte, war er zudem beauftragt worden, interessierte Gäste über die »Essbare Stadt« zu informieren.
Dieses Projekt erfreute sich allseits großer Beliebtheit und reger Berichterstattung auch in überregionalen Fernsehsendungen und Zeitungsberichten. In ganz Andernach waren in Beeten und Kübeln viele verschiedene Obstsorten, Blumen und Gemüsearten angepflanzt worden. Die Bürger durften kostenlos Johannisbeeren und Möhren an der Stadtmauer ernten und sich bei Zucchini und Kopfsalat rund um die Burgruine bedienen. Das Pflücken von Blumen, um aus den Samen neue Pflanzen zu ziehen, war ausdrücklich erwünscht. Hin und wieder musste die Polizei eingreifen, um besonders Erntewillige davon abzuhalten, in Mannschaftsstärke und mit einem Arsenal von Körben über die Anpflanzungen herzufallen.
»Ich musste aber auch schon mit Leuten schimpfen, die unreife Weintrauben pflücken wollten.« Kai zupfte ein Blättchen Basilikum aus dem benachbarten Holzkübel ab und steckte es in den Mund. »Inzwischen gibt es aber Anzeigetafeln, die auf Grün gestellt werden, wenn die Sachen reif sind.«
»Wie lange gibt es diese Aktion denn schon?«, fragte die kleine dünne Frau mit der Nickelbrille, die neben Anton stand.
»2010 hat alles mit hundert Tomatenpflanzen an der Stadtmauer angefangen«, antwortete Kai. Er machte drei Jugendlichen Platz, die am Fenster der Eisdiele nebenan etwas bestellen wollten. »Jedes Jahr gibt es ein Schwerpunktthema. Dieses Jahr ist es Getreide. Sie finden hier überall Roggen, Hafer und Weizen angepflanzt. Wir haben viele Besucher aus anderen Städten, so wie Sie, die sich informieren wollen, um das Projekt vielleicht zu übernehmen. Die meisten sind ganz erstaunt, dass man die ›Essbare Stadt‹ mit nur ganz wenigen Leuten bewirtschaften kann. Dafür haben wir nur vier bis sechs Mitarbeiter. Schauen Sie mal, hier wachsen Bachminze, Mentha aquatica, und Korsische Minze, Mentha requienii. Und da drüben Rosmarin und Bohnenkraut.«
Sie setzten sich in Bewegung, denn es gab noch viele andere Stellen in der Stadt mit Pflanzen aller Art vorzustellen.
Kai liebte die Grünzeugtage.
Harry Gräflein betrachtete die liebevoll restaurierte Fassade des Stadtmuseums. Vier ionische Säulen mit ihren wie alte Pergamente gerollten Kapitellen flankierten den Rundbogen des imposanten Holztores. Harry bewunderte vor allem die vier bunt bemalten Büsten, die den himmelstragenden Titan Atlas aus der griechischen Mythologie darstellten. Schon seit mehr als vierhundert Jahren trugen sie mit vor Anstrengung angespannten Halssehnen die Säulen, die den Erker über dem Tor mit korinthischem Blumenschmuck und goldenen Bändern umrahmten. Die strengen, teils bärtigen Männergesichter schauten aus der reich verzierten Fassade über die Hochstraße, die bewegten Zeiten der Stadt immer im Blick.
Michi Gabriel hatte Harry erzählt, dass dieser Bau, das »Haus von der Leyen«, das Lieblingsgebäude von Oberbürgermeister Franz-Hubert Schwalm war. Was allerdings weniger an der architektonischen Schönheit des Renaissancebaus mit seinen Wappen, Fabelwesen und dem geschmückten Giebel lag als vielmehr an der Tatsache, dass der Bauherr Georg von der Leyen kurkölnischer Oberamtmann gewesen war, als er das Haus 1594 als Wohn- und Stadtpalais hatte errichten lassen. Für Schwalm war das ein schönes Symbol dafür, wie weit man es als Kommunalpolitiker bringen konnte.
Harry Gräflein seufzte und gestand sich ein, dass er versuchte, vor seinem Gespräch mit Michi Gabriel Zeit zu schinden. Er mochte sie. Sie war klug, witzig und hielt politische Korrektheit für überbewertet. Aber da sie ein Chaos aus drei halbwüchsigen Söhnen, einem Harrys Meinung nach leicht durchgeknallten Pfarrer-Ehemann und diversen anderen, mehr oder weniger zum Haushalt gehörenden Personen organisierte, war sie es gewohnt, klaren Worten kompromisslose Entscheidungen folgen zu lassen. Und das machte Harry ein bisschen Angst. Zumal sein Selbstvertrauen nach dem kleinen Missgeschick in London noch immer ein wenig angeschlagen war. Er sah den Blick der blassblauen Augen noch genau vor sich, erst nur verwirrt, dann zunehmend verärgert. Er errötete selbst heute vor Scham, wenn er nur daran dachte.
Er schaute noch einmal zu den Atlasköpfen hoch. Der zweite von rechts trug zur Milderung seiner Last ein gelbes Kissen auf dem Haupt. Mit der geraden Nase, dem nach oben gebogenen Schnurr- und dem Kinnbart und dem festen Blick weckte er in Harry ein Gefühl der Entschlossenheit. Also los, Harry, sei keine Memme. Du bist Atlas, auf dessen Schultern das touristische Wohl dieser liebenswerten Stadt liegt!
Harry straffte die titanischen Schultern und betrat das Gebäude.