Finsteres Herz - Holger Karsten Schmidt - E-Book

Finsteres Herz E-Book

Holger Karsten Schmidt

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Beschreibung

Endlich geht es weiter: der zweite Band mit dem beliebten Ermittlerduo Lona Mendt und Frank Elling in Mecklenburg-Vorpommern. Im Zentrum des neuen Falls steht Sarah, ein bulgarisches Waisenmädchen, das Lona Mendt sofort ins Herz schließt. Doch Sarah schwebt genauso in Lebensgefahr wie unsere beiden Kommissare ... In »Finsteres Herz« gehen die Kriminalhauptkommissare Lona Mendt und Frank Elling einem verzwickten Mordfall nach, der sie in ein Netz dunkler Geheimnisse führt. Im Zentrum der Ermittlungen steht die 12-jährige Sarah, ein bulgarisches Waisenmädchen, mit dem sich Lona Mendt sehr verbunden fühlt und das sie mit ihrer eigenen tragischen Vergangenheit konfrontiert. Doch zwei Wochen nach Beginn der Ermittlungen werden Lona und Elling angeschossen und liegen im Koma, während Sarah spurlos verschwindet. Was führte zu dieser tragischen Wendung? Und wer wollte die Beteiligten zum Schweigen bringen? Die Sonderermittler Maja Kaminski und Hagen Dudek übernehmen den rätselhaften Fall. Mit gelöschten Akten und Dudeks eigener verborgener Agenda wird ihre Suche nach der Wahrheit zu einem gefährlichen Spiel und das Mädchen Sarah schwebt in höchster Lebensgefahr. Diese brisante und hoch spannende Geschichte entfaltet sich in zwei parallelen Erzählsträngen. Ein geheimnisvolles Puzzle, das sich zunächst nicht zu einem schlüssigen Bild zusammenfügen lassen will.

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Holger Karsten Schmidt

Finsteres Herz

Ein Fall für Lona Mendt und Frank Elling DIE TOTEN VON MARNOW

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Holger Karsten Schmidt

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Holger Karsten Schmidt

Holger Karsten Schmidt, geboren 1965 in Hamburg, ist dreifacher Grimme-Preisträger und seit vielen Jahren einer der erfolgreichsten Drehbuchautoren Deutschlands. Zuletzt wurde der Mehrteiler »Gladbeck«, für den er das Drehbuch geschrieben hat, mit dem Bayerischen und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. 2011 erschien sein Mittelalterthriller »Isenhart« bei Kiepenheuer & Witsch, ab 2017 folgte unter dem Pseudonym Gil Ribeiro der erste Band der »Lost in Fuseta«-Krimireihe, die in Portugal spielt. Holger Karsten Schmidt lebt und arbeitet bei Stuttgart.

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Über dieses Buch

Endlich geht es weiter: der zweite Band mit dem beliebten Ermittlerduo Lona Mendt und Frank Elling in Mecklenburg-Vorpommern. Im Zentrum des neuen Falls steht Sarah, ein bulgarisches Waisenmädchen, das Lona Mendt sofort ins Herz schließt. Doch Sarah schwebt genauso in Lebensgefahr wie unsere beiden Kommissare …

In »Finsteres Herz« gehen die Kriminalhauptkommissare Lona Mendt und Frank Elling einem verzwickten Mordfall nach, der sie in ein Netz dunkler Geheimnisse führt. Im Zentrum der Ermittlungen steht die 12-jährige Sarah, ein bulgarisches Waisenmädchen, mit dem sich Lona Mendt sehr verbunden fühlt und das sie mit ihrer eigenen tragischen Vergangenheit konfrontiert. Doch zwei Wochen nach Beginn der Ermittlungen werden Lona und Elling angeschossen und liegen im Koma, während Sarah spurlos verschwindet. Was führte zu dieser tragischen Wendung? Und wer wollte die Beteiligten zum Schweigen bringen?

Die Sonderermittler Maja Kaminski und Hagen Dudek übernehmen den rätselhaften Fall. Mit gelöschten Akten und Dudeks eigener verborgener Agenda wird ihre Suche nach der Wahrheit zu einem gefährlichen Spiel und das Mädchen Sarah schwebt in höchster Lebensgefahr. Diese brisante und hoch spannende Geschichte entfaltet sich in zwei parallelen Erzählsträngen. Ein geheimnisvolles Puzzle, das sich zunächst nicht zu einem schlüssigen Bild zusammenfügen lassen will.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

37. Kapitel

38. Kapitel

39. Kapitel

40. Kapitel

41. Kapitel

42. Kapitel

43. Kapitel

44. Kapitel

45. Kapitel

46. Kapitel

47. Kapitel

48. Kapitel

49. Kapitel

50. Kapitel

51. Kapitel

52. Kapitel

53. Kapitel

54. Kapitel

55. Kapitel

56. Kapitel

57. Kapitel

Epilog

1

31. Dezember 2006, Hohen Sprenz

Das kleine weiße Ferienhaus mit dem Reetdach lag in der Schneelandschaft am Hohensprenzer See, als könne es kein Wässerchen trüben.

Der Blick des Mädchens im Bibliothekszimmer klebte aufmerksam auf einer Seite des Bildbands, der auf seinem Schoß lag. Unterwasserfotos von Orcas und Grauwalen. Kurz schaute es auf, um die Augen von Lona Mendt auf sich gerichtet zu finden und sich trotzdem unbeobachtet zu fühlen. Und um zu merken, dass die blonde Frau sie mit keinem geringeren Interesse betrachtete als Sarah die Aufnahmen der Wale. Sie saßen nebeneinander auf der Couch des kleinen Zimmers, das an zwei Seiten mit deckenhohen Holzregalen bestückt war, in denen unzählige Bücher darauf warteten, gelesen zu werden. Lona schenkte Sarah ein Lächeln.

»Warst du mal in Neuseeland?«

»Ja«, antwortete Lona Mendt, und eine unbestimmte Traurigkeit schwang darin mit. Eine, das spürte das Mädchen, die sie hinter sich zurückgelassen geglaubt hatte.

»Ist das weit von hier?«

»Man braucht 24 Stunden mit dem Flugzeug.«

Sarah blätterte weiter. Eine Strähne löste sich dabei aus ihrem Haar, das sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, und fiel ihr in die Stirn. Lona schob sie sanft zurück, ohne dass das Mädchen stutzte. Und schaute dann hinaus.

Das Zimmer des Ferienhauses war komplett vertäfelt, und im angrenzenden Nebenraum loderte das Feuer in einem dunkelroten Schwedenofen. Es knackste und zischte und brummte wie ein lebendiges Wesen und verströmte den angenehmen Geruch verbrannten Holzes.

Durch das breite Fernster und die verglaste Terrassentür hatte Lona einen freien Blick auf das rückwärtige Gelände, das unter einer feinen Schneedecke lag. Ein Pärchen, dick eingepackt wegen der winterlichen Temperaturen, spazierte mit seinem Husky vorbei und verschwand im angrenzenden Wald. Leichtes Schneetreiben hatte wieder eingesetzt. Zwei Jogger, die vom benachbarten Rundweg um den Hohensprenzer See kamen und Kurs zurück auf den Ort nahmen, stemmten sich dagegen.

»Hast du da Wale gesehen?«

Sarahs Frage holte Lona aus der Beobachtung der winterlichen Umgebung zurück.

»Ja. In Kaikoura.«

»Kaiku…«

»Kaikoura.«

»Kaikoura«, wiederholte Sarah, um sich den Namen einzuprägen.

»Wenn du da mit einem Boot rausfährst, ins Wasser springst und den Kopf unter Wasser hältst, kannst du manchmal etwas hören, was ganz besonders ist.«

Das Mädchen sah sie gespannt an, und Lona musste lächeln. Wie wenig es brauchte, um seine ganze Aufmerksamkeit zu gewinnen.

»Da kann man hören, wie Wale singen«, beantwortete Lona die unausgesprochene Frage und steigerte Sarahs Interesse.

»Wale singen?«

»Nun ja, für unser Gehör erinnert das an Gesang, an Lieder. Aber tatsächlich sind wir noch nicht in der Lage zu verstehen, wie sie miteinander kommunizieren.«

Lona konnte regelrecht sehen, wie es in Sarahs Kopf zu arbeiten begann.

»Das heißt, es ist ihre Art zu sprechen.«

»Ja.«

Lonas Blick fiel kurz auf den Roman, den Elling gerade las und den er auf dem kleinen Beistelltisch abgelegt hatte: Owen Meany von John Irving. Elling und Lesen. Mit Sicherheit lag das daran, dass im ganzen Haus kein Fernseher aufzutreiben gewesen war. Und die Bandbreite für den Empfang per Computer hatte sich als zu miserabel erwiesen.

Aus der Küche drang das Geräusch von Metall auf Metall zu ihnen, von Kochtopf auf Gasherd.

Wieder ließ Lona den Blick nach draußen über die Landschaft schweifen. Keine Menschenseele. Nur eine Gruppe von Enten, die über den zugefrorenen See watschelte.

 

Die nahm auch Elling kurz wahr, während er in der Küche, die hinter dem Ofen vom Wohnzimmer abzweigte, den Rotwein entkorkte. Er gab dabei darauf acht, sich nicht über den Kochtopf zu beugen, weil der Dampf sonst wieder seine Brille beschlagen ließ.

Die Küche war überwiegend in massivem Holz gehalten, passend zum Boden. Von hier aus hatte man einen Teilblick auf den See, vor allem aber auf die enge Zufahrt, die von dem Gewässer zum Haus führte.

Zu Ellings Linken schnitt Dinko Karotten, und die Art, wie er das tat, verriet, dass er selten in der Küche aushalf.

»Noch mehr?«, fragte er Elling, der ihm, Gabriela und sich einen kleinen Schluck von dem Wein eingoss.

»Da kann noch eine rein«, befand Gabriela, der es besser als Dinko gelang, den osteuropäischen Akzent zu verbergen. Sie war eine kleine, vollschlanke Person mit kurzen dunklen Haaren und 42 Jahre alt. Und zupfte, worauf die beiden Männer keine gesteigerte Lust verspürten: Thymian.

Dinko sah aus wie Mitte vierzig, aber er war 38, wie Elling wusste. In zwei Wochen würde der dürre Kettenraucher Geburtstag haben.

»Das stimmt«, pflichtete Frank Elling ihr bei und löschte die Rindfleischstücke, die er gerade scharf anbriet, mit einem Glas Rotwein ab. Es zischte, und sofort lag der Duft des Weines schwer in der Luft.

»Eins für das Gulasch, eins für uns«, befand Elling und reichte ihnen die Gläser.

Seit über einer Woche wechselten sie sich jetzt mit dem Essen ab. Es hatte Rouladen gegeben und eine Zwiebelsuppe, einmal Käsefondue und dann eine bulgarische Bohnensuppe (Bob Tschorba, Elling kannte den Namen noch aus seiner Jugend in Rostock). Reihum bekochten sie einander und unterhielten sich oder spielten Karten oder zogen sich in den Lesesessel oder ins eigene Zimmer zurück. Nicht die schlechteste Art, über die Weihnachtstage zu kommen, wie er fand.

Elling stieß mit den beiden an: »Prost.«

Die grinsten etwas und entgegneten: »Na zdrave!«

Elling nickte. Prost hieß auf Bulgarisch so viel wie Dummkopf, aber Gabriela und Dinko sahen es ihm nach. Seine Bulgarischkenntnisse waren nach dem Fall der Mauer vor 17 Jahren nach und nach versiegt, ohne dass sie jemand vermisst hätte. Er am wenigsten.

Last Christmas nahm im Radio auf der Anrichte seinen Anfang. Elling drehte den Frequenzregler geistesgegenwärtig zum nächsten Sender. Nachrichten. Saddam Hussein war gestern hingerichtet worden. Und Steve Jobs kündigte für die Macworld in San Francisco in sieben Tagen ein eigenes Handy an. Ein iPhone.

»Komischer Name für ein Handy«, befand Dinko. Gabriela und Elling nickten.

In dem Augenblick kam Mertens mit seinem hellblauen Oberhemd vom Flur herein. Der besaß das magische Talent, immer dann wichtige Gespräche führen zu müssen, wenn der Abwasch anstand. Denn die Geschirrspüle im Haus war defekt und irgendeine boshafte Sachbearbeiterin in den Untiefen des Innenministeriums in Schwerin weigerte sich, die auf Formblatt 2/409 beantragte Reparatur oder deren Neuanschaffung zu bewilligen.

Mertens würde nächstes Jahr in Rente gehen. Er hatte sein Leben lang eifrig gespart, damit es seiner Frau und ihm im Rentenalter gut erging. Bisher hatten sie nur Urlaube im Umland gemacht. Mecklenburgische Seenplatte. Fahrradausflüge, Wandern, abends Malefiz spielen. Jetzt, so hatte er Elling anvertraut, wollten sie das erste Mal per Schiff verreisen. Nach Irland.

Mertens hatte große Pläne für diesen letzten Lebensabschnitt. Und diese handschriftlich auf einer Liste festgehalten. Eine Ballonfahrt. Einmal zum Roten Meer. Auf den Eiffelturm steigen.

Einen Hummer essen. Mit Delfinen schwimmen. Mit Ramona ausgehen (einer Escort-Dame, aber das hatte er sicherheitshalber nicht notiert) und so weiter und so fort.

»Essen fällt aus. Einvernahme um 17:30 Uhr in Rostock. Die Abholung ist unterwegs, on the way«, sagte er und stellte den Herd aus, »zehn Minuten.«

»Heute?«, fragte Elling, der nicht weniger überrascht war als Gabriela und Dinko.

»Ja.«

»Es ist Silvester.«

»Eben. Damit rechnet niemand«, antwortete er Elling und wandte sich an die beiden Bulgaren, »ziehen Sie sich an, bitte. Hier sind Ihre Ausweise.«

Mertens reichte sie ihnen, bevor er die Küche verließ und im Vorbeigehen seine Daunenjacke vom Haken nahm. Frank Elling seufzte und öffnete eine Schublade hinten in der Ecke mit einem Sicherheitsschlüssel. Darin hatten sie die geladenen Ersatzmagazine für die Sig Sauer deponiert, die sich für jeden zugänglich hinter den Konserven in der Vorratskammer befand.

Er bemerkte die eingefrorenen Gesichtsausdrücke von Gabriela und Dinko. Ihre Bewegungen wurden ungelenker, es war, als hätte ihre Muskulatur mit Mertens’ Nachricht ihre Elastizität eingebüßt.

 

Lona Mendt las die Neuigkeit in Mertens’ Gesicht, bevor er sie ihr und Sarah gegenüber verkündete.

»Hallo, Sarah.«

»Hallo, Herr Mertens.«

»Tja, also es ist so, dass Frau Schicketanz gerne heute mit dir sprechen möchte. Und auch mit Gabriela und Dinko.«

Heute, wollte Lona fragen, schluckte ihre Bemerkung aber herunter, denn natürlich hatte die Richterin exakt diesen Tag gewählt, um das Restrisiko für die drei Zeugen noch weiter zu minimieren. Niemand wäre heute in den Büros der Staatsanwaltschaft in Rostock. Niemand würde sie bemerken, sehen und an jemanden berichten können. Die mündliche Einvernahme würde äußerst diskret stattfinden. Kluger Schachzug.

Wie neuerdings üblich bei Dingen, die Sarah nicht einzuschätzen wusste, richtete sie ihren Blick auf Lona.

Die konzentrierte sich und schob mit einer Willensanstrengung die Nervosität beiseite, die von ihr Besitz ergriffen hatte. Denn das Mädchen wusste sehr genau in Gesichtern zu lesen. Und es war Lonas Absicht, dass es sich entspannte.

»Komm, Sarah, wir holen deine Jacke. Du fährst nach Rostock und beantwortest Fragen. Das ist ganz harmlos, du musst keine Angst haben.«

Lona sah die Irritation in ihrem Blick.

»Du kommst nicht mit?«

Die Sorge war unüberhörbar.

»Ich darf nicht, das …«

Wie sollte man einer 12-Jährigen erklären, dass höhere Stellen Vorkehrungen trafen, um auch einen Verrat aus nächster Nähe auszuschließen?

 

»Das geht aus Sicherheitsgründen nicht«, half Mertens aus, der Mendts Zögern bemerkte. Lona war ihm dankbar dafür.

»Danach kommst du hierher zurück. Zu uns. Geh, hol deine Jacke, bitte!«

Sarah nickte, stand auf und verschwand im Nebenraum, wo sich die Betten befanden, in denen Lona und sie schliefen.

Mendt erhob sich ebenfalls: »Und deinen Schal.«

Sie wollte dem Mädchen folgen, aber Mertens hob kaum merklich die Hand, und sie stoppte ab.

»Wir drei räumen hier auf und nehmen ein Taxi zum Flughafen.«

Der Regionalflughafen Rostock-Laage befand sich nur einen Kilometer entfernt.

»Wir verpflanzen die Zeugen noch mal?«

Mertens nickte: »Wir gehen mit einem Hubschrauber von der Bundespolizei nach Nykøbing.«

»Lolland.«

Mertens überspielte seine Überraschung über Mendts geografische Kenntnisse mit einem wissenden Nicken: »Ja. Die Dänen gewähren Amtshilfe. Dänen lügen nicht.«

»Der ist sehr witzig.«

»Schon gut. Packen Sie Sarahs Sachen, bitte, sobald das Kind aus dem Haus ist.«

Lona nickte.

»Da sind sie schon«, sagte Mertens und deutete mit dem Kopf über das Sichtfenster der Eingangstür hinaus. Zwei dunkle, unauffällige Familienkombis schoben sich über die vereiste Auffahrt und hielten aufs Haus zu.

»Ich hol meine Dienstwaffe – machen Sie den Kollegen auf?«

Lona nickte, und Mertens verschwand aus dem Lesezimmer durch die Spezialtür, die in der oberen Hälfte mit Panzerglas ausgestattet war, das einem Beschuss mit einem Schnellfeuergewehr standhielt.

Lona Mendt warf einen Blick ins angrenzende Zimmer, in dem Sarah sich eine Daunenjacke angezogen hatte und mit dem Reißverschluss kämpfte.

»Was ist?«

»Der klemmt.«

Es klingelte an der Haustür.

Lona sah einen attraktiven Enddreißiger, schwarze Haare, Schnauzer, Anzug. Hinter ihm näherte sich ein kleinerer Kollege. Beiden verwirbelte der Winterwind die Krawatten.

»Ich bin gleich zurück«, vertröstete Lona das Mädchen und trat in den Flur. Dort half Elling Gabriela gerade in einen Mantel, und Dinko verstaute die Zigaretten in seiner Brusttasche.

Lona öffnete die Tür. Ein kalter Windhauch blies Schneeflocken hinein.

»Frau Mendt?«, fragte der Attraktive.

Lona deutete ein Nicken an. Der kleinere Kollege schloss auf. Die Kombis standen im Hof, die Fahrer ließen die Motoren laufen.

Der Mann vor ihr reichte ihr seinen Ausweis.

»Moin. Rossi, Bundespolizei. Wir stellen den gesicherten Fahrdienst für drei Zeugen in Ihrer Obhut. Ich hoffe, wir sind angekündigt worden.«

»Sind Sie. Kurzfristig.«

»So soll’s sein. Mein Kollege Bennat.«

Bennat schenkte ihr ein Nicken als Begrüßung und übergab ihr ebenfalls seinen Ausweis, den Lona kurz checkte. Beide waren einwandfrei. Lona schaute an den Kollegen vorbei zu den Kombis. Sie zählte weitere vier Beamte und gab den beiden ihre Ausweise zurück.

»Großes Besteck, hm?«

»Hat der Schichtdienstleiter so angeordnet«, erklärte Rossi und zog wegen der winterlichen Temperaturen den Kopf etwas ein.

»Kommen Sie«, sagte Lona, trat zurück und führte die beiden ins Haus. Bennat schloss die Tür, Rossi folgte ihr dichtauf. Er rieb die Handinnenflächen aneinander.

»Kaffee?«

»Puh – eigentlich gerne, aber wir müssen ja los.«

Lona schenkte ihm ein verständnisvolles Nicken.

 

Sarah, die immer noch mit dem Reißverschluss der Jacke kämpfte, war aus dem Schlafzimmer in den Raum getreten, in dem sie mit Lona Mendt gesessen hatte. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung wahr und hob den Blick: das Paar mit dem Hund war zurück aus dem Wald. Die Frau warf ein orangefarbenes Frisbee, das aufs Haus zuflog. Der Husky jagte hinterher.

Hinter ihr erreichte Lona Mendt mit den frisch eingetroffenen Kollegen den Flur, in dem sie auf Elling und die beiden anderen Zeugen trafen. Mertens reichte Gabriela gerade ihre Pudelmütze.

»Die Kollegen Mertens und Elling, die Zeugen.«

»Guten Tag.«

»Hallo.«

»Zwei Zeugen?«, fragte Rossi, »wir haben die Beförderungsanfrage für drei Personen bekommen.«

»Das ist korrekt«, versicherte Mertens.

»Sarah, kommst du?«, fragte Lona.

Das Mädchen ließ von dem Reißverschluss ab und kam mit offener Jacke in den Flur. Etwas verunsichert wegen der beiden Männer, die sie nicht kannte. Und der mündlichen Einvernahme, die auf sie in Rostock wartete und von der sie keinerlei Vorstellung hatte.

»Du bist Sarah«, stellte Rossi freundlich fest.

Das Mädchen nickte.

»Wir teilen Sie in zwei Fahrzeuge auf«, informierte sie Rossi, »der Herr zu meinem Kollegen. Die Dame und das Mädchen zu mir.«

»Oh, ich hab meinen Schal vergessen«, sagte Dinko und wollte umkehren, aber Mertens hob die Hand.

»Hol ich Ihnen.«

Und schon hatte er kehrtgemacht und steuerte das letzte Zimmer an, das vom Flur abzweigte, bevor der Gang im rechten Winkel weiterführte.

Draußen stieg der Fahrer des ersten Kombis aus, um sich eine Zigarette anzuzünden, wie Sarah durch das Fenster im Flur sehen konnte. Er wölbte die freie Hand über das Feuerzeug, um die Flamme vor dem Wind zu schützen.

Lona schaute zu Sarah und folgte ihrem Blick.

»Na dann«, sagte Rossi, »gehen wir.«

Er machte sich auf den Weg zur Haustür. Gabriela folgte. Elling ließ eine Lücke entstehen, damit Sarah sich einreihen konnte.

Die blickte immer noch zu dem Mann, der sich jetzt mit dem Rücken zum Wind gedreht hatte, um die Flamme besser zu schützen. Als er das kleine Rädchen des Zippos drehte und die Funken vom Feuerstein aufstoben, erhellten sie für einen kurzen Augenblick sein Gesicht, das in der bläulichen Abendstimmung warm aufleuchtete. Zwei tätowierte Streifen wanden sich unter seinem Hemdkragen am Nacken hervor und endeten unter dem linken Ohr.

Lona spürte das Erstarren Sarahs direkt neben sich. Als wäre das Mädchen binnen eines Wimpernschlags erfroren. Selbst seine Gesichtsmuskeln wirkten versteinert.

Lona sah, wie sich ein dunkler Fleck im Schritt der kleinen Zeugin bildete, der sich ausbreitete. Genau der Moment, in dem Bennat von Elling zu Sarah schaute und es ebenfalls bemerkte.

Lona trug die Dienstwaffe mit dem Knauf nach vorne rechts am Gürtelholster, damit sie mit links schneller zugreifen konnte.

Und genau das tat sie jetzt und stellte sich gleichzeitig vor ihre Schutzbefohlene. Diese zusätzliche Bewegung genügte Bennat, von dem jegliche Freundlichkeit abgefallen war, um einen kurzläufigen Revolver aus dem Nichts zu zaubern, dessen Mündung er ihr auf den Oberarm presste und sofort abdrückte.

Die Kugel zerfetzte ihren rechten Trizeps, und die Wucht des Treffers schleuderte Mendt zu Boden.

2

Simon Rost stand neben seinem Dienstwagen, den er auf dem Hof des Zeugenhauses abgestellt hatte. Es war nachts, halb elf. Wegen der Kälte trug er eine Daunenjacke über dem Anzug, den er vor zwei Jahren in einem Kaufhaus von der Stange gekauft hatte. Die Schiebermütze schützte sein schütteres Haar – er war erst 35 Jahre alt – vor den Schneeflocken, die durch die grellen Lichtkegel der drei Scheinwerfer schwebten, die die Rostocker Spurensicherung ums Haus herum aufgestellt hatte.

Nur zehn Meter weiter standen die Besatzungen der vier Rettungswagen neben ihren Fahrzeugen und rauchten oder telefonierten. Aus der Ferne waren explodierende Böller zu hören, und dann und wann jagte eine Feuerwerksrakete hinauf und barst an ihrem Scheitelpunkt, um bunte Muster in den schwarzen Nachthimmel zu malen. Wenn es nach Simon Rost gegangen wäre, hätte man die Böllerei gleich morgen verboten.

 

Die Spurensicherung war mit gut zehn Mitarbeitern vor Ort. Sie liefen Astronauten gleichend in weißen Anzügen herum, als befände sich das Haus auf dem Mond. Unweit des Eingangs, zwischen zwei Kombis, lagen drei mit blickdichter Folie abgedeckte Leichen.

Eine Frau kniete neben der Nummer zwei und sicherte die Habseligkeiten des Toten in einem transparenten Beutel.

Das Dröhnen von Rotoren näherte sich, kurz streifte der Suchscheinwerfer des Polizeihubschraubers den Hof, um dann den Hohensprenzer See und dessen Ufer abzutasten. Dabei stieg der Hubschrauber weiter auf. Ein zweiter hatte Position über dem Waldstück hinter dem Haus bezogen. Wie angenagelt stand er in der Luft. Er benutzte keinen Suchscheinwerfer. Aber Rost erkannte und identifizierte die Vorrichtung auf den Kufen unter der Pilotenkanzel als eine Wärmebildkamera.

Kurz nacheinander bogen zwei Autos in die Zufahrt und stoppten vorne an der Straße ab, wo die Insassen kontrolliert wurden, bevor sie ihren Weg fortsetzen durften, wie Rost bemerkte.

Das Gegenteil. Das war er. Der Gegenentwurf seines Vaters.

Eines alkoholkranken Mannes, der es bis zum Chef des örtlichen Polizeireviers geschafft hatte und Rostock-Südstadt zu seinem erweiterten Wohnzimmer zählte, in dem er das Sagen hatte.

Der wollte, dass sein einziger Sohn, der in seinen Augen etwas zu klein und feingliedrig geraten war, Mittelstürmer wurde oder wenigstens Rechtsaußen. Stattdessen spielte er lieber Badminton. In den Augen des Vaters etwa so herzeigbar wie Synchronschwimmen.

Warum seine Mutter den Vater nie verließ, dem auch mal die Hand ausrutschte, ihnen gegenüber und auch im Viertel, das würde für Simon ein lebenslanges Rätsel bleiben.

Sein Vater riet ihm, die Mittlere Reife zu machen und dann in den Polizeidienst zu wechseln.

Simon machte Abitur und studierte Jura.

Willst du so ein Anzugträger werden?

Am nächsten Tag kaufte er sich seinen ersten Anzug.

Er hatte seine Leidenschaft für das Schachspiel entdeckt, während der Vater lieber Skat spielte und Doppelkopf.

Bei den Landesmeisterschaften wurde er Vierter beim Schach und blieb der Passion treu. Die Logik, sein Vermögen, mögliche Züge im Voraus zu berücksichtigen, die Fähigkeit, kurzfristige Niederlagen in Kauf zu nehmen, um sich den Gesamtsieg zu sichern, niemals aufzugeben, bis die Niederlage unausweichlich war und danach aus ihr zu lernen – all diese Fähigkeiten und Prinzipien übertrug er auf seinen Job als frischgebackener Staatsanwalt der Stadt Rostock. Der Jüngste, der hier je in den Dienst gestellt worden war.

 

Schach.

Dorthin kehrte er immer wieder zurück. Strategie, Weitsicht, Kombinatorik.

Mit einem Blick auf das Zeugenhaus und die Leichen war Simon Rost klar, dass er hier nahezu vor einem Schachmatt stand. Aber eben nur fast.

Die beiden Autos, die durchgewunken worden waren, stoppten kurz hintereinander links und rechts auf dem Hof.

Rost wusste, wer drinsaß: seine beiden Springer.

Aus dem rechts abgestellten Auto stieg ein Mann, der ihn um anderthalb Köpfe überragte und der in einem italienischen Anzug steckte, zum Teil durch einen Mantel verdeckt. Blondes, kurzes Haar, sauber gescheitelt, Mitte dreißig, rasiert: Hagen Dudek.

Selbst die grauen Pupillen des Mannes passten zu seiner Gesamterscheinung, als habe er sie extra farblich darauf abgestimmt. Schmales Gesicht und sinnlicher Mund.

Dudek bewegte sich zügig und geschmeidig. Rost sah ihm den Freizeitsport förmlich an. Von links, begleitet von einem Türklappen, kam eine Frau gleichen Alters auf sie zu. Das braune Haar im praktischen Bob-Schnitt. Grüne Armeejacke, Jeans, schwarze Boots: Maja Kaminski.

»Frau Kaminski, nehme ich an?«

Sie nickte und kam näher.

»Herr Dudek?«

»Genau.«

Die beiden gingen auf den Staatsanwalt zu und nahmen mit wachen Blicken wahr, mit welchem Aufwand die Spurensicherung hier am Werk war.

Kaminski machte in ihrer Jacke einen kompakten Eindruck, ihr Outfit strahlte Pragmatismus und Bodenständigkeit aus. Eine Frau, die einem beim Sprechen direkt in die Augen schaute – und nicht lange um den heißen Brei herumredete: »Wird jemand vermisst?«, fragte Maja mit Blick auf die Helikopter.

»Ja«, bestätigte Rost, »danke, dass Sie beide trotz Silvester so schnell hergekommen sind.«

»Kein Problem«, sagte Dudek.

»Frau Kaminski von der Bundespolizei«, stellte Rost die beiden einander vor, »Herr Dudek vom Landeskriminalamt Mecklenburg-Vorpommern.«

»Sehr erfreut«, sagte Dudek und reichte ihr die Hand, die Maja Kaminski schüttelte: »Guten Abend.«

Kurz bemaßen sie einander mit offenen Blicken, in denen der Wunsch lag, auf dem richtigen Fuß anzufangen.

»Kommen Sie bitte mit«, forderte Rost sie auf und wartete eine Reaktion nicht ab, sondern ging auf das Haus zu. Dudek ließ der Kollegin von der Bundespolizei den Vortritt. Zu dritt passierten sie die Mitarbeiter der Spurensicherung und die Leichen. Der Schnee knarzte unter ihren Schuhsohlen.

 

Nachdem sie das Haus durch die offen stehende Eingangstür betreten hatten, verwandelte sich das Knarzen in ein Knirschen – überall lagen Glassplitter auf dem Holzboden.

Dudek nahm Fleischaroma wahr. Fleisch und etwas Süßliches. Zwiebeln? Paprika? Außerdem der satte Geruch von verbranntem Kaminholz. Und er bemerkte den Blick der Kollegin vor ihm zur Tür. Der Zarge. Dem Schließmechanismus.

Als er sie selbst passierte, erkannte sein geübtes Auge sofort die schwere Metallplatte unter dem Holz. Die gut zehn Zentimeter langen Stahlbolzen, die sich aus der Tür in der Wand versenkten, wenn man sie von innen abschloss.

Das Haus war gut gegen Eindringlinge gesichert, wie es schien, und Maja Kaminski war offenbar ebenso aufmerksam wie er selbst. Irgendwo draußen jaulte ein Feuerwerkskörper durch die Luft und endete abrupt mit einem trockenen Knall.

Neben den Glassplittern und dem Putz, der aus den Einschusslöchern in den Wänden herabgeregnet war, standen die kleinen Kärtchen der Kriminaltechnischen Untersuchung, der KTU, neben den vielen Patronenhülsen der Projektile, die hier abgefeuert worden waren.

Im Flur lag gleich im Eingangsbereich eine Leiche. Auch sie war abgedeckt worden, und nacheinander stiegen sie über den toten Körper.

Staatsanwalt Rost führte seine beiden Begleiter zu der Stelle, wo der Flur nach links abzweigte und sich rechts das erste Zimmer befand. Drinnen lagen ein Mann und eine Frau, beide in Daunenjacken, beide tot. Sie mit einem Treffer im Hals, er vermutlich mit einer Schusswunde in der Brust – genau war das nicht zu erkennen, denn der Mann lag auf dem Bauch, aber unter ihm hatte sich eine große Blutlache gebildet, die noch relativ frisch wirkte. Das Blut hatte angefangen zu gerinnen, aber es hatte seinen Wandel ins Schwärzliche noch nicht begonnen.

Neben dem Toten lag eine Maschinenpistole von Heckler & Koch, wie Kaminski und Dudek stumm feststellten.

Dahinter eine zerschossene Fensterscheibe und zwei Regale voller Bücher. Ein Roman von Irving auf dem Beistelltisch. Eine kalte Böe blies Schneeflocken ins Innere.

Die Tür zum Zimmer war oberhalb der Klinke verglast. Das Glas wies, wie Maja Kaminski bemerkte, zwei Geschosskränze auf – aber die Kugeln hatten das Fenster nicht durchschlagen.

Panzerglas.

Die beiden Toten wurden gerade erkennungsdienstlich behandelt. Überall waren die »Astronauten« zugange. Sie pinselten Türen und Griffe ab und Wände, sie vermaßen Schusswinkel und arbeiteten mit Luminol, um Blutspritzer weiter oben und an der Decke für das menschliche Auge sichtbar zu machen. All das, um den Schusswechsel später möglichst genau rekonstruieren zu können. Die Chronologie der Tat.

Immer wieder gleißten Blitzlichter auf. Bei so einem großen, verzweigten Tatort wurde nicht nur eine Leiche fotografiert, sondern der Ort penibel kartografiert.

Hinter dem Staatsanwalt erstreckte sich ein lang gezogener Flur, an dessen Ende ebenfalls ein Mann auf dem Bauch lag. Sein hellblaues Hemd war über den gesamten Rücken blutdurchtränkt. Er war, von hier aus betrachtet, mit Sicherheit von drei Geschossen getroffen worden, wie Dudek vermutete – wenn nicht von mehr. Der Tote trug einen Schulterholster, den die Rostocker Kripo ihren Polizeibeamten stellte. Neben und halb unter ihm eine orangefarbene Winterjacke.

Während Dudek sich darauf keinen weiteren Reim machte, erkannte Maja die ungefähre Kleidergröße der Jacke.

»Heftig«, entfuhr es Dudek leise, fast andächtig.

Kaminski nickte unwillkürlich. So ein … ja, wie sollte man es nennen? So ein Massaker hatte sie noch nie mit eigenen Augen gesehen. Und ein dezenter Seitenblick auf den Kollegen vom LKA, der jetzt mehrmals hintereinander schluckte, verriet ihr, dass es ihm nicht anders erging.

»Alles, was ich Ihnen jetzt sage«, ergriff Simon Rost ebenso leise wie bestimmt das Wort, »unterliegt strengster Geheimhaltung. Sie beide, ich – mehr Personen sind aus Sicherheitsgründen nicht involviert.«

Er legte eine kurze Pause ein, um seinen Worten jenen Nachdruck zu verleihen, den er für die Mission, die nun vor ihnen lag, als angemessen erachtete.

»Was war das hier? Eine Zeugenschutzmission?«

Rost schenkte ihm ein anerkennendes Nicken.

»Ja. Die ist aufgeflogen – und Sie beide sollen rausfinden, wieso.«

3

Als Lona Mendt hart auf dem Flur aufprallte und ihre Dienstwaffe den Flur entlangschlitterte, geschahen mehrere Dinge gleichzeitig.

Rossi zog seine Waffe ebenso wie Elling, der Dinko hinter sich zu schieben versuchte, um ihn zumindest mit seinem Körper zu schützen – und einfach, weil Gabriela viel zu weit weg stand. Bennat, der zu Recht annahm, Mendt sei für einen Augenblick kampfunfähig, und der sah, wie Gabriela sich umdrehen wollte, richtete seine Pistole auf sie.

Sarah schrie bei dem Anblick von Lona auf. Hell, laut, voller Schmerz.

So klar und nackt, dass sie alle ausnahmslos für einen Sekundenbruchteil in jene Erstarrung verfielen, die das Kind als Erstes abschüttelte, als Lona ihr das eine Wort zurief: »Lauf!«

 

Und Sarah lief, rannte den Gang entlang, um schnell die Biegung zu erreichen, die hinter das Lesezimmer führte. Trotz ihres kindlichen Alters war ihr intuitiv bewusst, dass niemand um eine Ecke schießen konnte.

Lona streckte sich nach der Pistole, die sie verloren hatte. Der Schmerz im rechten Oberarm sorgte für einen Würgereiz, gegen den sie anschluckte.

Da das Mädchen das Ende des Flurs noch nicht erreicht hatte, schoss Bennat zuerst Gabriela über deren Ohrmuschel in die Pudelmütze und den Kopf, was die Zeugin umgehend tötete.

Elling stand günstig zu Rossi, der ihn aber bereits anvisierte. So blieb ihm nur, ungezielt, aber schnell aus der Hüfte zu feuern in der Hoffnung, eine der Kugeln würde den Mann treffen, was sie nicht taten, aber Rossi zwangen, in einer Nische bei der Garderobe Deckung zu suchen.

Bennat schoss in schneller Folge auf das Kind. Das Holz aus der Zarge links neben Sarah splitterte, dann jagte der Putz knapp neben ihrem Kopf aus der Wand.

Noch fünf Meter. Da war Mertens wie aus dem Nichts heraus aus der Küche, packte sie und bot ihr mit seinem kräftigen Rücken Schutz. Er lief mit ihr in den Armen weiter auf die Biegung zu.

Bennat feuerte sein restliches Magazin auf ihn. Ein Treffer, zwei, drei. Mertens strauchelte, stolperte, seine Beine gehorchten ihm nicht mehr, und er fiel vornüber und begrub das zierliche Mädchen unter sich.

 

Lona hatte ihre Waffe erreicht und drehte sich auf den verwundeten Arm, sie stöhnte auf. Bennat schob ein Ersatzmagazin nach, aber sie traf ihn im Liegen erst in den Unterleib, und die zweite Kugel durchschlug von unten seinen Kiefer.

Er plumpste zu Boden wie eine Marionette, der man mit einem Schlag alle Fäden gekappt hatte.

Dinko tauchte hinter Elling weg, um über das Lesezimmer zu flüchten. Rossi kam aus seiner Deckung, und Elling und er schossen gleichzeitig. Der Mann im Anzug wurde ins Herz getroffen, und er sah Elling ebenso überrascht wie ruhig an. Als fügten sich jetzt Dinge in seinem Kopf, die er sein Leben lang nicht hatte in Einklang bringen können. Er stützte sich an der Wand ab, weil ihm die Beine nachgaben, und dann rutschte er sanft, fast gemächlich an ihr herunter.

 

Mit einem Keuchen kam Lona auf die Beine und ging so schnell sie konnte auf Mertens und Sarah zu. Das Mädchen kämpfte sich bereits unter dem massigen Gewicht des Erwachsenen hervor – und da es ihr in ihrem Entsetzen und ihrer Panik nicht auf Anhieb gelang, weil ihre Jacke eingeklemmt oder verhakt war, schlüpfte sie aus ihr heraus und ließ sie unter Rainer Mertens zurück.

Hinter dem Haus war das trockene Tak-tak-tak einer automatischen Waffe zu hören. Ein unterdrückter Schrei. Lona sah aus den Augenwinkeln, wie die anderen Männer aus den beiden Kombis vor dem Haus Schnellfeuergewehre aus dem Kofferraum des einen Wagens rissen, sich verteilten und die Waffen durchluden.

Schon deckte die erste Garbe die Front des Hauses ein und ließ zwei Fensterscheiben splittern, für die das Ministerium die Kosten für das sündhaft teure Sicherheitsglas nicht bewilligt hatte. Die Splitter stoben nach innen und purzelten zu Boden.

Dann war Lona heran und legte den Schussarm schützend um das Mädchen, das sich an sie klammerte wie an ein rettendes Stück Holz im weiten Meer.

Lona genügte ein Blick, um zu sehen, dass ihr Vorgesetzter Mertens nicht mehr am Leben war. Und obwohl dafür überhaupt nicht die Zeit war, leistete sie ihm Abbitte. Abbitte dafür, schlechter von ihm gedacht zu haben. Von einem Mann, der nur seinen Ruhestand im Blick hatte, seine Frau und sich und sonst nichts. Und der jetzt, in seinen letzten Momenten, ohne zu zögern und zu ihrer Überraschung alles riskiert hatte, um das Kind zu schützen. Alles riskiert und alles verloren. Sarah begann zu schluchzen.

»Ich kenn den Mann.«

»Ich weiß. Bleib dicht bei mir.«

Frank Elling gesellte sich zu ihnen.

»Bist du verletzt?«, fragte er Sarah.

Statt ihrer schüttelte Lona den Kopf: »Wo ist Dinko?«

»Weg. Nach hinten raus.«

»Wir müssen hier weg, Elling.«

Der nickte und fuhr sich mit der flachen Hand über die Geheimratsecken, während er nun ebenfalls einen flüchtigen Blick auf Mertens warf.

»Scheiße.«

Lona nickte. Ihr rechter Arm baumelte wie ein überflüssiges, hinderliches Gewicht an ihr. Sie konnte die Finger ihrer rechten Hand nicht bewegen. Irgendwelche Sehnen oder Nerven waren zerstört. Der Arm schwang bei jeder Bewegung unkontrolliert mit.

»Also, ich geh voran.«

»Die sind bestimmt auch hinten, Lona.«

»Ich weiß.«

»Und dein Arm?«

»Ist nicht der Schussarm«, gab sie gepresst zurück.

Scheiben splitterten.

»Das Lesezimmer.«

Elling lief die paar Meter zurück und linste in den Raum mit den Büchern. Dort stiegen gerade der Mann und die Frau, die den Husky ausgeführt hatten, ins Zimmer. Sie hatten die äußere Scheibe zerschossen. Der Mann trug eine Maschinenpistole.

»Zwei. Sie sind drinnen, Lona.«

»Aber sie kommen nicht durch die Sicherheitstür mit dem Panzerglas.«

»Aber sie können uns hinten den Weg abschneiden.«

In dem Augenblick bemerkte der Mann mit der Daunenjacke Elling am Sichtfenster und verfeuerte sofort eine Garbe aus der Maschinenpistole. Zwei Kugeln hinterließen Geschosskränze im Glas.

»Hilf mir, den Schrank umzukippen«, befahl Lona dem Kind und stemmte sich gegen ein Bücherregal im Flur. Sarah kam ihr zu Hilfe.

Elling hob seine Dienstwaffe und öffnete die Tür einen Spaltbreit. Er schoss zweimal hinein.

Der Mann mit der Maschinenpistole klappte mit einem Bauchschuss vornüber zusammen.

Die Frau, die ihn begleitete, visierte Elling an.

Da krachte es rechts von ihr, sie wandte den Kopf zum Geräusch: Lona und Sarah war es gelungen, das Regal in den Gang zu kippen, in dem sich jetzt die Bücher ergossen.

Hinter dem Regal verbarg sich eine Tür, die verschlossen war und ebenfalls zum Lesezimmer führte.

Lona legte links oben an und schoss fünfmal sehr schnell in einer Diagonale durch die Tür.

Und Elling wurde Zeuge davon, wie die Frau am Hals tödlich getroffen wurde.

Kurz war es still.

 

Lona trat um die Ecke. Elling stand dort nahezu ruhig. Die Augen auf etwas geheftet, was sie nicht sehen konnte. Sie ging auf ihn zu, Sarah folgte ihr.

Owen Meany. Der Roman lag unbeschadet auf dem Beistelltisch.

Mit einem Mal ergab das alles Sinn für Frank Elling. Doktor Kirchners Worte. Irvings Roman. Owens hohe Stimme. Sein kleiner Wuchs. Und Owen Meanys Talent beim Basketball.

Jetzt war Elling alles klar. Alles war durchscheinend. Das hier, sein Leben, alles wurde in diesem Augenblick für ihn eins. Alles fügte sich nun wie in einer Vorsehung. Er verstand. Und bevor Lona etwas sagen konnte, kam er ihr zuvor: »Du mit Sarah hinten raus.«

»Elling, die sind vorne mindestens zu dritt.«

»Lauft in den Wald, zur Autobahn.«

Elling bückte sich und hob Rossis Waffe auf, um doppelt bewaffnet zu sein.

Er schenkte ihr ein tröstliches Lächeln: »Wir haben die beste Chance, wenn wir vorne und hinten gleichzeitig rausgehen.«

Und natürlich hatte er recht.

 

Mit Sarahs Hilfe entfernte Lona die drei Sicherungsstreben an der hölzernen Hintertür und drückte sie ein klein wenig auf. Ein, zwei Zentimeter.

Sie hatte Sarah die Winterjacke von Rainer Mertens über die Schultern gelegt. Der untere Saum baumelte dem Mädchen in den Kniekehlen.

Lona lugte hinaus.

Der Garten hinter dem Haus. Der Wald war rund 70 Meter entfernt. Vielleicht 80. Das war machbar. Das konnten sie schaffen. Der Wald würde sie verschlucken. Und dahinter lag die A 19.

Sofort würde jemand anhalten und eine verletzte Frau und ein Kind mitnehmen.

Aber … sie konnte nicht.

Nicht ohne Elling.

Also schloss sie die Tür wieder.

Sarah schaute sie fragend an: »Was ist?«

Da wohnten zwei Seelen in der Brust dieses Mädchens, wie Lona wieder verblüfft feststellte. Das sanfte, verschreckte Wesen. Und eines mit Augen, die viel zu alt waren für eine Zwölfjährige, die Dinge gesehen und erfasst hatten, die nicht für ihr Alter bestimmt waren.

»Ich kann nicht«, flüsterte Lona. Und wusste doch, dass sie musste. Dass das Leben des Mädchens Vorrang hatte vor dem Ellings, der sich aus freien Stücken und im kühlen Abwägen dafür entschieden hatte, vorne die Konfrontation zu wählen, um ihnen den freien Abzug zu ermöglichen.

Die ersten Schüsse ertönten vor dem Haus. Schüsse, die erwidert wurden.

Wenn Ellings Opfer zu etwas gut sein sollte, dann jetzt.

Sie warf die Tür auf, packte Sarah am Unterarm und lief mit ihr hinaus.

Hinter dem Ferienhaus erstreckte sich ein kurzer Garten. Übersichtlich mit ein paar Tannen an der Grundstücksgrenze.

»Lauf … lauf mit mir.«

Sie ließ Sarah los, weil sie beide ohne Körperkontakt schneller waren.

Die Tannen würden sie verschlucken. Keine zehn Meter mehr …

Lona Mendt hörte und fühlte den Schuss gleichzeitig. Noch im Sturz, noch während es sie in die Brust traf und ihr hinten etwas am Rücken wegriss, begriff sie, dass es eins war.

Die Kälte des Schnees, der die Wucht ihres Falls abfederte, umfing sie angenehm.

Sarah stand irritiert und unendlich einsam über ihr. Ratlos, entsetzt und noch schlimmer: entwurzelt.

»Lauf«, hauchte Lona, »lauf.«

Es brach ihr das Herz.

4

»War ein Kind unter den Zeugen?«

Rost sah sie mit einer Spur Verblüffung an, die er zu überspielen versuchte, und nickte: »Ja, und wir suchen es mit maximalem Aufwand. Nachbarn haben zu Protokoll gegeben, dass es nach dem Schusswechsel in den Wald hinter dem Haus gerannt ist. Der Name des Kindes ist Sarah, sie ist 12 Jahre alt und schwebt in Lebensgefahr. Wenn die Gegenseite sie eher findet als Sie beide …«

Er ließ den Satz unvollendet, weil ihm die passenden Worte nicht einfallen wollten.

»Sie müssen schneller sein«, befand er stattdessen.

»Sind wir die Einzigen, die das Kind suchen?«, wollte Dudek wissen.

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf und warf einen Blick auf seine Armbanduhr, bevor er antwortete: »Eine Hundertschaft Bereitschaftspolizisten sucht Stand jetzt seit knapp anderthalb Stunden das gesamte Gelände ab.«

»Hat sie sich vielleicht irgendwo gemeldet?«

»Nein. Zumindest … ist mir das nicht bekannt.«

Kaminski blickte wieder zu der Jacke.

»Sarah also. Und weiter?«

»Ich weiß es nicht.«

Dudek und Maja tauschten einen irritierten Blick.

»Sie … kennen den Nachnamen des Mädchens nicht?«

»Nein. Nur Vorname und Alter: Sarah, 12 Jahre. Dass ich nicht mehr weiß, ist zum Schutz des Mädchens geschehen.«

Hagen Dudek senkte den Kopf und griff mit der Rechten an seine Stirn, er konzentrierte sich.

»Moment. Wie viele Zeugen haben wir hier?«

»Drei. Das verschwundene Mädchen. Die Frau dort im Mantel. Gabriela.«

»Auch kein Nachname?«

»Nein. Der dritte Zeuge liegt hinter dem Haus: Dinko.«

»Dinko … Gabriela«, sagte Kaminski halblaut, »Gabriela könnte auch italienischer Herkunft sein, aber Dinko – Osteuropa?«

»Vermutlich«, entgegnete Rost.

Dudek seufzte vernehmlich: »Gegen wen sollten die aussagen?«

»Es tut mir leid«, antwortete Simon Rost und empfand das Bedauern tatsächlich, »das weiß ich nicht. Aber wie es aussieht, dürfte es gegen jemanden oder eine Gruppe im Bereich der Organisierten Kriminalität gewesen sein. Sie sehen ja, was hier aufgefahren worden ist.«

»Ist was bekannt über die Täter?«

»Noch nicht. Die Leiterin der KTU sagt, dass keiner der Angreifer Papiere bei sich gehabt hat oder Kreditkarten oder etwas anderes, über das auf deren tatsächliche Identität geschlossen werden könnte. Nichts – nichts außer falsche Dienstausweise. Ein Abgleich der Fingerabdrücke mit der Straftäter-Datenbank läuft im Augenblick. Bisher ergebnislos.«

»Draußen haben Sturmgewehre neben zwei Leichen gelegen«, merkte Kaminski an.

»Heißt also«, so Dudek, »die Täuschung war ziemlich rund. Rund genug für die Kollegen von der Kripo, welche von denen hier reinzulassen. Denn die Tür vorne ist ja unbeschädigt. Das heißt, die haben die Täter hier selbst reingelassen. Und die Sache ist erst hier drinnen eskaliert.«

»Das, ähm, dürfte so gewesen sein«, bestätigte Staatsanwalt Rost, während Hagen Dudek sich eine Zigarette anzündete und ihnen die geöffnete Schachtel hinhielt. Rost winkte ab, aber Maja griff zu.

»Danke.«

Er gab ihr Feuer. Dudek hatte schmale, lange Finger. Gepflegt. Und trotz der Temperaturen angenehm warm.

»Gibt es ein Foto von ihr? Von Sarah?«

»Nein.«

»Was ist denn überhaupt bekannt, Herr Rost?«

Rost nickte: Die Ungeduld der beiden stand fast greifbar im Raum.

»Also: vier Mitarbeiter der Kripo Rostock haben sich auf Dienstanweisung von Herrn Mertens am 22. Dezember eigenständig in den Zeugenschutz begeben. Herr Mertens hat dieses Haus ausgewählt und eine Einvernahme der drei Zeugen bei der Richterin Frau Schicketanz in Rostock beantragt. Die hat heute kurzfristig einen vierköpfigen Fahrdienst aus Bereitschaftspolizisten aktiviert.«

»Wie läuft das?«, fragte Kaminski. »Die Zeugen werden von einem separaten Fahrdienst abgeholt und zur Staatsanwaltschaft verbracht. Die machen ihre Aussage, danach werden sie wieder abgeliefert – jedenfalls ist das der Vorgang bei der Bundespolizei. Hier auch?«

»Bei uns im Landeskriminalamt auch«, bestätigte Dudek.

»Ja«, schloss Rost sich an, »das wird bundesländerübergreifend einheitlich gehandhabt. Die Zeugen wären nach der Einvernahme wieder hierhergebracht worden.«

»Vermutlich, um erneut versetzt zu werden.«

Die beiden Männer merkten auf. Rost, weil Kaminski die gedankliche Agilität an den Tag legte, die er sich von ihr erhofft hatte. Und Dudek, weil er nicht folgen konnte.

»Das ist korrekt. Ich habe einen Anruf aus Dänemark bekommen, weil die Ankunft von Frau Mendt, Herrn Elling und der Zeugen für heute Abend angekündigt war. Die Flugbereitschaft hatte in Rostock-Laage einen Helikopter zur Verfügung gestellt. Abflugzeit wäre 22 Uhr gewesen. Vor«, Blick auf die Uhr, »vor anderthalb Stunden.«

»Wozu die Versetzung?«, fragte Dudek.

»Weil dem Fahrdienst die Position des Zeugenhauses bekannt gewesen wäre«, antwortete Kaminski.

Dudek begriff: falls es jemanden in der Truppe gab, der sich hätte bestechen lassen, hätte er die Adresse des Hauses verraten können – und zwar noch während die Zeugen in Rostock von der Richterin angehört wurden.

»Aber die Männer da draußen und im Flur waren nicht vom Fahrdienst.«

»Nein, der ist auf der A 19 in einen Stau verwickelt worden. Die beiden Autos, die den Stau ausgelöst haben sollen, haben sich aus dem Staub gemacht. Nach denen wird noch gefahndet.«

»Die halten die Fahrbereitschaft auf und kreuzen hier mit eigenen Leuten auf«, überlegte Kaminski laut, »also mussten sie dem Fahrdienst nicht hierher folgen, um die Zeugen zu finden. Die wussten schon vorher, wohin sie müssen.«

»Hinter dem Zugriff hier steckt eine ziemliche Logistik«, stellte Hagen Dudek fest, »wer wusste denn, dass die Zeugen sich hier am See befinden?«

»Vier Personen: Erster Polizeihauptkommissar Rainer Mertens, KHK Lona Mendt, KHK Frank Elling und Kommissaranwärterin Azra Ösker. Frau Ösker hat den Überfall ebenso wenig überlebt wie Herr Mertens. Und Frau Mendt und Herr Elling werden gerade notoperiert. Ich warte jede Minute auf Neuigkeiten. Diese vier Beamten jedenfalls haben die Adresse hier natürlich gekannt.«

»Und Sie«, sagte Kaminski trocken. Rost blinzelte kurz und nickte dann aber: »Natürlich, ja. Und ich. Fünf Personen.«

Dudek musste unwillkürlich schmunzeln wegen der unverblümten Art der Kollegin.

»Die Frau Ösker, wo ist die? Haben wir die übersehen, im Haus?«

»Nein. Die ist hier draußen in ihrem Auto unter Feuer geraten. Mit dem hat sie es noch zwei Kilometer geschafft, dann ist sie verblutet. Frau Ösker wird schon … sie ist in der Rechtsmedizin.«

Kurz herrschte Stille. Nur die Schritte der Spurensicherer auf den Scherben, das Schaben und Kratzen in den Wänden nach Projektilen und von draußen in immer kürzeren Abständen das Knallen von Böllern und Raketen.

»Die Frau Ösker, die Anwärterin«, brach Maja Kaminski die Ruhe, »wie alt war die?«

»26, glaube ich.«

Dudek las das Bedauern in dem flachen Gesicht der Kollegin von der Bundespolizei. Um ein Haar hätte er ihr die Hand gedrückt.

»Seh ich das richtig, dass die Kollegen Mendt und Elling diejenigen waren, die die Zeugen aufgetan haben?«

»Ja.«

»Und die haben ja wohl in irgendeiner Sache ermittelt«, schob Hagen Dudek nach, »und die werden nur jemanden zur Einvernahme anmelden, wenn der auch wiederum jemanden belasten kann.«

»Davon gehe ich aus«, bestätigte der kleine Staatsanwalt, »aber im Augenblick können die nicht sprechen. Möglicherweise gar nicht mehr.«

»Haben Sie Polizeischutz für die Kollegen beantragt?«

»Sicher. Die sind schon in der Klinik.«

»Wir müssen in deren Büro«, sagte Dudek.

»Dafür gebe ich Ihnen gerne die Schlüssel. Aber da ist nichts«, entgegnete Rost, »die haben tabula rasa gemacht. Berichte, Notizen. Aussagen … sie haben alles gelöscht, bevor sie hier untergetaucht sind.«

Dudek und Kaminski wechselten einen Blick und lasen ihren eigenen Schluss aus dieser Information in den Augen des jeweils anderen. Und waren ein wenig überrascht davon. Nicht von der Tatsache, dass Mendt und Elling offenbar auf etwas so Heißes gestoßen waren, dass sie lieber alle Spuren hinter sich verwischt hatten. Sondern von ihrem stummen Einvernehmen.

5

31. Dezember 2006, Hohen Sprenz und Rostock

Lauf.

Genau das hatte sie getan. Sie war gerannt, durch das Schneegestöber, das in der Silvesternacht über das Land hereinbrach, und durch das Unterholz des Waldes, dessen Nadelbäume so dicht standen, dass der Boden darunter schneefreie Inseln bildete.

Einmal glaubte Sarah, der Lichtstrahl einer Taschenlampe habe sie erfasst. Aber es war nur das Fernlicht eines Autos, das auf der Autobahn entlangjagte. Bis zur Autobahn, hatte Lona Mendt ihr gesagt, müssen wir es schaffen. Frau Mendt hatte es nicht geschafft.

Sarah erreichte einen mannshohen Zaun, an dem sie nach links entlanglief in der Hoffnung, er möge ihr irgendwo einen Durchgang bieten oder zumindest ein Schlupfloch zur Autobahn, auf der der Verkehr jetzt weniger war als vor einigen Tagen, als sie alle gemeinsam einen Spaziergang unternommen hatten.

Sie fühlte noch den toten, schweren Mann auf sich, auf ihrem Rücken, wie sein Atem an ihrem Ohr erstarb. Die Vorstellung daran ließ sie erschauern. Seine Jacke, die sie trug, roch nach ihm. Roch nach einem fremden Erwachsenen. Aber sie brauchte sie wegen der Kälte.

Schließlich donnerte ein Helikopter knapp über die Baumwipfel hinweg. Mit einem roten Kreuz an der Seite. Ein Rettungshubschrauber! Ein Rettungshubschrauber, der in die Richtung flog, aus der sie gekommen war. Vielleicht lebte Frau Mendt noch …

Und bei diesem Gedanken schoss die Kraft zurück in ihre müden Beine, und sie lief den Weg, den sie gekommen war, zurück. Eine Lichtung und ein Hochsitz waren zwei Wegmarken, die sie sich auf dem Herweg eingeprägt hatte.

Als Sarah das Haus erreichte, sah sie, wie Frau Mendt auf einer Trage in den Helikopter gehoben wurde. Neben Herrn Elling, der dort bereits lag und die Augen ebenso geschlossen hatte wie sie. Frau Mendt war schrecklich blass.

Der Hubschrauber entfachte beim Start einen unglaublich starken Wind, der alle Schneeflocken zwischen dem Haus und dem Wald zum Tanzen brachte.

Wohin? brüllte jemand, den Sarah nicht sehen konnte.

Klinikum Südstadt!

Klinikum Südstadt.

 

»Mädchen, Mädchen«, sagte der Fernfahrer zu ihr, der sie auf dem Standstreifen der A 19 aufgelesen hatte, »was machst du hier bloß?«

»Ich muss zum Klinikum Südstadt.«

»In Rostock?«

»Ja«, riet sie.

»Mädchen, Mädchen«, sagte der Mann und beschleunigte, um seinen tonnenschweren Sattelzug wieder vom Standstreifen zurück auf die rechte Spur der Autobahn zu manövrieren, »was machst du hier ganz alleine auf der Autobahn, hm?«

»Ich muss ins Klinikum.«

»Aha.«

Er musterte sie für ein paar Augenblicke, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder der Fahrbahn widmete.

»Du hast Blut am Hals. Bist du verletzt?«

Sarah fühlte sich ertappt. Das Blut an ihrem Hals hatte sie noch gar nicht bemerkt.

Sie schüttelte den Kopf und zog den Kragen der Jacke höher: »Meinem Bruder ist ein Böller in der Hand losgegangen.«

»Oha. Ist er im Krankenhaus?«

»Genau.«

»Hm.«

Sie merkte, wie er ihr nicht auf den Leim ging. Aber sie spürte ebenso, dass der Mann ihr auch nicht wehtun würde.

»Gut, Mädchen«, sagte er und schaltete das Radio ein, damit sie den Jahreswechsel nicht verpassten.

 

Er fuhr sie mit seinem riesigen Lkw tatsächlich bis zur Klinik, einem breiten weißbraunen Bau aus den Sechzigern, der über die Jahre immer wieder Erweiterungen und Neuerungen erfahren hatte. Nachdem der Mann Sarah abgesetzt hatte, wartete er, bis sie das hell erleuchtete Foyer betreten hatte. Erst danach warf der Trucker seine Zugmaschine wieder an und verschwand in der Nacht.

 

Drinnen war einiges los. Ein junger Mann, dem Blut aus der verrußten Hand tropfte und ein Betrunkener, der brüllte und um sich schlug und Sanitätern hinterherspuckte. Sarah wusch sich das Blut in der Damentoilette vom Hals ab. Sorgfältig. Und dann wurde sie von einer großen Ratlosigkeit erfasst. Wie sollte sie in dem riesigen Komplex Lona Mendt finden?

Sie schloss die Augen und fragte die magische Frage: Raya, was würdest du jetzt tun?

Geh zur Rezeption und frag, wo sie ist. Alle Patienten werden registriert, Sa.

Aber die suchen mich.

Ach, so ein Quatsch, die hocken hier und würden lieber mit Freunden Silvester feiern, Kleine. Die haben keinen blassen Schimmer.

 

»Mendt, Lona?«

»Ja.«

»Hm«, sagte der Mann hinter dem kleinen ovalen Fenster, das er geöffnet hatte, damit man ihn besser hörte. Er sah auf seinem Monitor nach, einem wuchtigen Kubus und bersteinfarbener Schrift auf dem Bildschirm.

»Nein, tut mir leid. Wir haben hier keine Frau Mendt.«

»Mit d-t.«

»So hab ich’s eingegeben.«

Der Mann drehte den Monitor, um ihr den Blick aufs Display zu ermöglichen.

»Aber das hier ist doch das Klinikum Süd?«

»Das stimmt.«

Sarah überlegte.

»Sie ist mit einem Hubschrauber angekommen.«

Der Mann drehte den Monitor wieder zu sich, die Finger jagten über die Tastatur.

»Ah ja, hier … Namen noch nicht eingetragen, eine Frau, ein Mann … Neuzugänge. Schockraum. Die sind«, er warf ihr einen kurzen Blick zu und wählte seine Worte dann mit Bedacht, »die werden gerade noch behandelt. Und bleiben danach auch beide auf der Ebene«.

»Welcher?«

»2. Aber vielleicht gehst du besser nach Hause und kommst morgen wieder?«

»Ja, danke.«

Damit wandte Sarah sich ab und wartete, bis der nächste Besucher hinter ihr sich nach jemandem erkundigte, bevor sie unbemerkt in einen der Fahrstühle stieg.

 

Im Flur der zweiten Ebene roch es durchdringend nach Desinfektionsmitteln. Sarah passierte ein Wartezimmer mit blau bezogenen Sitzpolstern und einem Tisch mit einem bunten Stapel Zeitschriften darauf. Etwas weiter endete der Flur bereits in Höhe eines Schwesternzimmers an einer gläsernen Durchgangstür. Durchgang verboten, stand dort in dicken Lettern.

Gut zehn Meter weiter saß eine Frau in Polizeiuniform auf einem Stuhl neben einem Zimmer. Die Haare kurz, grüne Uniformjacke und beigefarbene Hose. Unter der Jacke trug sie etwas Schwarzes.

Und jetzt?

Gegenüber im Schwesternzimmer saß eine Krankenschwester vor einem Monitor und unterhielt sich mit einer älteren Kollegin, die gerade eine Mullbinde aufrollte.

Sarah kehrte um und setzte sich in das Wartezimmer.

Immerhin war es hier drinnen angenehm warm, sodass sie Mertens’ Jacke auszog und neben sich ablegte. Dabei bemerkte das Mädchen einen Gegenstand in der Innentasche. Als Sarah nachsah, bestätigte sich ihre Vermutung: seine Brieftasche.

Kurz blickte sie sicherheitshalber auf, bevor sie die näher inspizierte. Immerhin hatte er 46 Euro dabei. Eine Sparkassenkarte. Ausweis. Herr Mertens war Jahrgang 1942. Er war in Boltoft geboren, wo auch immer das sein mochte.

Jetzt ging ein Mann über den Flur. Sarah konnte das an der Art hören, wie er ging. Männer gingen anders als Frauen.

Sie lugte vorsichtig hinaus: ein Polizist. Schulterlange Haare, die gleiche Uniform wie die Frau im abgesperrten Bereich. Sarah begriff, was das Schwarze war, das auch er trug: eine schusssichere Weste mit der weißen Aufschrift Polizei darauf.

Er balancierte zwei Kaffeebecher, aus denen es dampfte, auf einem gelben Plastiktablett.

»Könnten Sie aufmachen, bitte?«

Die Frau an den Monitoren betätigte irgendetwas, und die Tür im Flur schwang geräuschlos auf. Sarah beobachtete, wie der Polizist seiner Kollegin einen Kaffee brachte und sich dann neben sie setzte.

Kaum war das geschehen, wurden erst Frank Elling und dann Lona Mendt aus einem Zimmer auf Betten über den Gang gerollt. Der Polizist mit den Kaffeebechern öffnete die Tür des Raumes, vor dem er mit seiner Kollegin wartete.

Lonas Blässe hatte sich intensiviert, soweit Sarah das feststellen konnte. Ihre Augen wie auch die von Herrn Elling waren geschlossen, vermutlich waren sie nicht bei Bewusstsein. Unter den wachsamen Blicken des Personenschutzes wurden die beiden in das erste Zimmer der Intensivstation verlegt, wie Sarah beobachtete.

Jetzt war nur noch die Frage, wann sie wieder aufwachen würde. Und wann sie mit ihr sprechen könnte und fragen, was jetzt zu tun war. Wohin sie gehen sollte. Wo sie warten sollte. Wer so lange auf sie aufpasste.

Prost Neujahr!

Die Frauen im Schwesternzimmer gossen Sekt in unauffällige Pappbecher und verließen den Raum dann gut gelaunt. Sarah beobachtete, wie sie in den Fahrstuhl stiegen, der in die 4. Etage fuhr und dort stoppte, wie sie an der Anzeige darüber ablesen konnte.

Da sich die beiden Polizisten am anderen Ende des Ganges gerade umarmten und mit Kaffee auf das neue Jahr anstießen, gelang es Sarah, unbemerkt ins Schwesternzimmer zu huschen.

Auf den Monitoren waren mehrere Zimmer in Grautönen zu sehen, und in einem davon befanden sich Frau Mendt und Herr Elling. Sowie eine Frau in einem weißen Kittel und Haaren, die sie zu einem Dutt gebunden hatte. Sie hantierte an den Maschinen herum, deren Schläuche unter den Bettdecken verschwanden.

Sarah empfand diesen Anblick als beklemmend. Vor allem, weil sie nicht sehen konnte, was diese Schläuche da wohl im Verborgenen mit den Körpern taten.

»Hier, bitte.«

Sarah war so in das Bild auf der Mattscheibe vertieft gewesen, dass sie die Schritte dieses Mal nicht frühzeitig wahrgenommen hatte, die das Schwesternzimmer schon fast erreicht hatten. Schnell duckte sie sich hinter einem Arzneischrank.

»Sie sind beide vom Landeskriminalamt?«

»Nein, Frau Kaminski ist von der Bundespolizei.«

»Ah ja.«

Eine Frau mit kurzen Haaren und einer grünen Armeejacke war in Begleitung eines hageren Mannes im Mantel und mit blonden Haaren sowie eines Angestellten des Klinikums. Sarah erkannte das an seiner weißen Hose und dem weißen Shirt. Und außerdem daran, dass er die Tür zu dem gesperrten Bereich mit einer Art Kreditkarte öffnete, die er durch den Schlitz eines Lesegeräts zog. Ein Summen, dann stieß er die Tür auf und ließ den beiden den Vortritt. Er hielt die Tür geöffnet, weil sich jetzt noch ein kleiner, jungenhaft wirkender Mann im Anzug und mit Schiebermütze anschloss, der das Handy am Ohr hatte.

6

1. Januar 2007, Rostock

»Frohes neues Jahr! Kaminski, Bundespolizei.«

»Klabitz, Schutzpolizei. Ihnen auch«, erwiderte die Polizistin ruhig. Ihr Kollege war mit einer Maschinenpistole bewaffnet.

»Dann einmal die Dienstausweise, bitte.«

»Dudek, LKA. Wir sind angemeldet.«

»Macht nüscht.«

»Rost, Staatsanwaltschaft II, Rostock. Ich habe Sie angefordert.«

»Dann Ihren Ausweis auch, der Herr.«

Dudek blies ein wenig die Wangen auf.

»Ordnung muss sein«, sagte Rost und zückte seinen Personalausweis, und sowohl Kaminski als auch Dudek hatten unabhängig voneinander den Eindruck, diese drei Worte könnten vielleicht auch eingerahmt in Rosts Büro hängen. Über säuberlich geordneten und mit identischer Schrift versehenen Rücken von Aktenordnern, die beim Zuklappen mit den Hacken knallten.

Also gaben sie der Reihe nach, wonach die Kollegin von der Schutzpolizei verlangt hatte.

Die verglich kurz ihre Gesichter mit den Konterfeis auf den Ausweisen, dann schenkte sie ihnen ein Nicken.

»Alles gut von meiner Seite. Die Frau Doktor ist drinnen.«

 

Simon Rost schob sich an Kaminski vorbei und klopfte dezent an der Tür, die nur einen kurzen Augenblick später von einer Frau um die 40 geöffnet wurde, die ihre Haare zu einem Dutt zusammengebunden hatte.

»Rost, Staatsanwaltschaft. Frau Kaminski, Herr Dudek.«

»Bargholz. Kommen Sie rein, bitte«, sagte die Frau und ließ sie ins Zimmer. Drinnen brannte bis auf die Instrumentenlämpchen an den lebenserhaltenden Maschinen und den Kurven auf den Monitoren kein Licht.

Maja Kaminski war, als betrete sie eine Gruft, deren Zugang Bargholz hinter ihnen wieder verschloss. Ihr genügte ein kurzer Blick auf die fahlen Gesichter der fremden Kollegen, deren dunkle Augenringe und wächserne, schwitzende Haut selbst in diesem Halbdunkel von den Schmerzen erzählten, die sie erlitten hatten. Und von der darauffolgenden Schwere der Operation, die die letzten Reserven ihrer Körper aufgebraucht hatte. Ihre Gesichter wirkten eingefallen, die Nasen spitz.

Obwohl die Vorhänge geöffnet waren und Hunderte von explodierenden Raketen bunte Muster in den Himmel über der Hansestadt zeichneten, war es hier drinnen still. Als ob sich eine Kuppel der Stille über einen senkte, sobald man den Raum betrat, dachte Maja. Unauffällig warf sie einen Blick zu ihren beiden Begleitern.

Rost hatte beide Hände vor sich verschränkt und den Kopf leicht gesenkt, als stünde er bereits am Grab der beiden Kollegen. Vielleicht war es ein wenig vorschnell, aber Maja Kaminski hatte das Gefühl, als sei der Blick des Staatsanwalts von Sachlichkeit beherrscht. Die Angelegenheit ließ ihn nicht kalt – wen ließ sie das schon –, aber er war bemüht, die Contenance zu wahren. Was ihm wiederum nicht allzu viel abzuverlangen schien.

Dudek dagegen war regelrecht erstarrt. Sie sah, wie sein Adamsapfel sich zweimal hob und wieder senkte – der Anblick ließ ihn schlucken, was sie für ihn einnahm.

 

Anders als die patent wirkende Kollegin von der Bundespolizei nahm Hagen Dudek die anderen mit dem Betreten des Raumes nicht mehr wahr, denn alles in ihm fokussierte sich auf die beiden Gestalten in den Betten. Er hatte gehofft, dass die Frau oder ihr Kollege noch heute Nacht oder vielleicht in ein oder zwei Tagen ansprechbar wären. Beim Anblick der beiden war ihm klar, dass er diese Hoffnung wortwörtlich begraben konnte.

Endlich hob Simon Rost den Kopf und sah zu Dr. Bargholz.

»Schaffen Sie es?«

Bargholz trat von der Tür zwischen sie. Die Art, mit der sie sprach, ließ die hundertfache Erfahrung durchschimmern, die sie mit solchen Gesprächen hatte.

»Nun, meine beiden Patienten sind jetzt in einer Zwischenwelt«, antwortete sie mit leiser, aber klarer Stimme, »aber sie haben sehr gute Chancen, wenn sie jetzt kämpfen.«

Es tröstete Maja Kaminski, dass in jeder Silbe der Ärztin leises Mitgefühl mitschwang.

»Kommen Sie, gönnen wir ihnen Ruhe.«

 

Draußen auf dem Flur atmete Maja Kaminski hörbar tief ein. Bargholz führte sie zurück durch die Glastür.

»Das heißt, einer der beiden kann vielleicht bald Fragen beantworten?«, fragte Dudek, und Rost musterte ihn dabei aus den Augenwinkeln, ohne den Kopf zu bewegen.

Doktor Bargholz schüttelte den Kopf – sie standen jetzt direkt vor dem Schwesternzimmer, das offenbar gerade unbesetzt war.

»Nein. Die sind beide in der Mitte des Styx, das meinte ich mit der Zwischenwelt. »Frau Mendt und Herrn Elling mussten wir wegen ihres extrem hohen Blutverlusts ins künstliche Koma versetzen. Die Verletzungen waren bei beiden zwar massiv, aber nicht letal. Noch nicht. Entweder sie verbluten innerlich – danach sieht es unter uns gesagt aus – oder nicht.«

»Aber eben in dem Zimmer …«, begann Dudek die Irritation in Worte zu fassen, die sie alle drei empfanden.

»Ich weiß, Herr Dudek«, unterbrach Bargholz ruhig, »lassen Sie mich das bitte kurz aufklären: Komatöser Zustand bedeutet nicht zwangsläufig, dass Patienten keine Wahrnehmung ihrer Umgebung mehr haben. Bewusst oder unbewusst. Es gibt zahlreiche Aussagen von Betroffenen, die alles gehört haben, was von Angehörigen an ihren Betten geäußert worden ist. Obwohl sie nicht in der Lage waren, das etwa mit dem Öffnen der Augen oder der Bewegung eines Fingers oder auf andere Art zu signalisieren.«

»Also haben Sie im Zimmer eben nicht zu uns, sondern zu den beiden gesprochen«, schloss Simon Rost. Die Ärztin nickte: »Sie müssen wissen, dass sie eine Chance haben. Sie müssen nicht wissen, dass die Schlacht für sie praktisch bereits verloren ist. Frau Mendt wird sterben.«

In Majas Wahrnehmung befand sich der Anblick der beiden Kollegen mit der Aussage der Ärztin jetzt in Deckung.

»Danke«, sagte Dudek.

7

1. Januar 2007, Sildemow

Von der Klinik nach Sildemow war es ein Katzensprung, den sie als Mini-Kolonne vollzogen, jeder in seinem Auto. Dudek fuhr – obwohl Maja ihn von seinem Auftreten her in einem Cabrio oder Sportwagen verortet hätte – in einem großen Van. Sie selbst bildete das Schlusslicht ihres einsamen, kleinen Konvois.

Im Radio lief Private Investigations von den Dire Straits. Sie mochte den Song, und er verwandelte die Fahrt durch die Nacht für sie in eine Filmsequenz.

Hier und da flogen ihnen Böller nach, einmal auch eine Leuchtkugel aus einer Gruppe Jugendlicher, die mit einer Schreckschusspistole schossen. Die Musik sorgte dafür, dass Maja sich unbeteiligt fühlte, ganz so, als schaue sie sich selbst zu. Vielleicht war das auch so, wenn man starb.

Die Luft in den Laternenkegeln war vom Qualm und Staub zum Schneiden dick. Außer ihnen waren nur vereinzelte Fahrzeuge unterwegs. Überwiegend Taxis und ein Rettungswagen.

Südlich von Rostock – oder waren es noch die Stadtausläufer – bog Rost im vordersten Fahrzeug nach links ab.

Sildemow, las Kaminski im Vorbeifahren. Kleine Einfamilienhäuser mit Satteldächern. Mit Kinderschaukeln und Geräteschuppen und Ligusterhecken und Auffahrten mit Carports.

Der Ort war ein ländliches Einsprengsel. Drumherum nur flaches Land. Äcker und Wiesen und eben das, was ihrer aller Scheinwerfer im Vorbeifahren streifte: ein kleiner See, doppelt eingerahmt von laublosen Bäumen und mannshohem Schilf, das sich wie ein Schutzgürtel fast lückenlos um das gesamte Ufer gelegt hatte.

Rosts Wagen folgend rumpelten sie über einen kurzen Feldweg. Da, wo er einen Knick zum Ufer hin beschrieb, stand unter einer mächtigen Eiche ein Wohnmobil. Und dort stoppte Rosts Auto, und der Staatsanwalt stieg bei eingeschaltetem Standlicht aus. Erst als sie im Halbdunkel zu ihm traten, erkannten Dudek wie Kaminski den schwarzen Volvo Kombi neben dem Wohnmobil.

»Das ist das Auto von Frau Mendt«, erklärte Simon, während die Kälte lautlos übers Wasser strich und sich um ihre Beine wand, »und das ihr Wohnmobil. Sie lebt darin.«

Dudek stutzte: »Sie hat … keine feste Meldeadresse?«