Auf kurze Distanz - Holger Karsten Schmidt - E-Book + Hörbuch

Auf kurze Distanz Hörbuch

Holger Karsten Schmidt

4,8

Beschreibung

Klaus Burck ist Polizist mit Leib und Seele. Als er wegen Unterschlagung von Beweismaterial verhaftet wird, bricht für ihn eine Welt zusammen. In der Zelle dann die Überraschung: Alles war fingiert, er soll verdeckt ermitteln. Im Wettmilieu, wo man den Ausgang von Sportereignissen manipuliert. Das milliardenschwere Geschäft wird von der Mafia kontrolliert. Organisierte Kriminalität - eine Welt mit eigenen Gesetzen. Es klingt ganz einfach: Burck wird in den Goric-Clan eingeschleust, soll das Vertrauen von Luka, dem Neffen des «Paten», gewinnen. Und die Aktivitäten des Clans torpedieren. Doch je tiefer er in diese fremde Welt eintaucht, desto mehr beginnt er zu zweifeln. Kann er die, denen er mittlerweile sein Leben verdankt, verraten?

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Zeit:7 Std. 16 min

Sprecher:Axel Wostry
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Holger Karsten Schmidt

Auf kurze Distanz

Kriminalroman

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Klaus Burck ist Polizist mit Leib und Seele. Als er wegen Unterschlagung von Beweismaterial verhaftet wird, bricht für ihn eine Welt zusammen. In der Zelle dann die Überraschung: Alles war fingiert, er soll verdeckt ermitteln. Im Wettmilieu, wo man den Ausgang von Sportereignissen manipuliert. Das milliardenschwere Geschäft wird von der Mafia kontrolliert. Organisierte Kriminalität - eine Welt mit eigenen Gesetzen.

Es klingt ganz einfach: Burck wird in den Goric-Clan eingeschleust, soll das Vertrauen von Luka, dem Neffen des «Paten», gewinnen. Und die Aktivitäten des Clans torpedieren.

Über Holger Karsten Schmidt

Holger Karsten Schmidt, geboren 1965 in Hamburg, ist ein erfolgreicher Drehbuchautor. Er studierte Germanistik, Politik- und Medienwissenschaften und arbeitete nebenher als Werbetexter. Es folgte ein Studium an der Filmakademie Baden-Württemberg, wo er nach erfolgreichem Abschluss selbst Gastdozent war.

Neben den Büchern für die Kinofilme «14 Tage lebenslänglich» und «Sass» schrieb Holger Karsten Schmidt die Vorlagen zu zahlreichen Fernsehfilmen. Für «Mörder auf Amrum» sowie «Mord in Eberswalde» erhielt er den Grimme-Preis.

Inhaltsübersicht

Widmung1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. KapitelEPILOGDank

«Judas schläft niemals.»

SERBISCHES SPRICHWORT

1.

Am 24. September endete die Identität von Klaus Burck.

Noch am Tag zuvor hatte er an seinem Schreibtisch im ersten Stock der Wasserschutzpolizeidirektion Kiel gesessen.

Von hier aus hatte er freien Blick auf den Eichhof-Friedhof gegenüber. Manchmal, noch vor Dienstbeginn, schaute er dort auf ein paar Minuten bei seinen Eltern vorbei. Sagte hallo und erzählte ihnen all das, was man den Toten eben erzählt, wenn man weiß, dass sie einen nicht mehr hören können, und man sich gleichzeitig eine Hintertür offenhalten will.

Kriminalhauptkommissar Jürgen Gerber, ein beleibter Mittfünfziger, betrat in Begleitung zweier Schutzpolizisten das Großraumbüro und steuerte mit einer Direktheit auf ihn zu, die keinerlei Raum für Missverständnisse ließ. In dem Blick seines Vorgesetzten lag ein trauriger Vorwurf.

«Kommissar Klaus Burck, ich lasse Sie hiermit vorläufig wegen der Unterschlagung von Beweismaterial festnehmen.»

Noch während Klaus ihn verblüfft ansah, traten die beiden Polizisten vor. Einer löste ein Paar Handschellen von seinem Gürtel, fing dann aber Gerbers Blick auf. Der deutete ein Kopfschütteln an. Der Beamte ließ sie wieder zuschnappen und nickte Klaus auffordernd zu. Der stand auf. Er drehte sich nicht um, hörte aber, wie hinter ihm Bewegung ins Großraumbüro kam. Stühlerücken und Getuschel.

«Was denn für Beweismaterial?»

«Später. Kommen Sie jetzt, bitte.»

«Das ist ein Irrtum», hörte er sich sagen und war erstaunt über das leichte Zittern, das in seiner Stimme mitschwang.

«Davon gehen wir auch aus», sagte Gerber.

Klaus kannte ihn gut genug, um herauszuhören, dass er log.

2.

«Auch?»

Der junge Türke, der ihm in der Zelle gegenübersaß, hielt ihm eine Selbstgedrehte hin. Klaus schüttelte den Kopf. Hassan zündete sie sich an.

Klaus hatte keine Ahnung, ob «Hassan» der richtige Name des Mannes war, aber die sechs Buchstaben prangten als dunkelgrüne Tätowierung zwischen rechtem Mundwinkel und Ohr. Ein durchtrainierter Kerl. Fein rasierter Bart, gepflegte Hände. Doch dass Hassan auf sich achtete, nahm Klaus nur beiläufig wahr. Als Kommissar hatte er in der Einschätzung Fremder über die Jahre so viel Routine entwickelt, dass sie beinahe losgekoppelt von seinem Bewusstsein ablief.

Nach seiner Verhaftung hatte man Klaus hierher überstellt, in die Untersuchungshaft. Dem zuständigen Richter blieben jetzt 48 Stunden, um einen Haftbefehl gegen ihn zu erwirken.

Seit seiner Ankunft in der Zelle vor knapp vierzig Minuten zermarterte er sich den Kopf über die Ursache der Vorwürfe. Dass sie haltlos waren, wusste er. Es gab niemanden, der über dem Gesetz stand. Das hatte Klaus Burck schon lange vor seiner Polizeilaufbahn verinnerlicht. Also befolgte er die Regeln.

Wegen der Unterschlagung von Beweismaterial.

Das waren Gerbers Worte gewesen. Doch Klaus hatte sich nie bestechen lassen, sondern im Gegenteil jeden Versuch zur Anzeige gebracht. Wenn bei einer Festnahme oder Razzia Wertsachen sichergestellt wurden, steckte er nichts ein. Keinen Geldschein, keine Goldkette, kein Päckchen Kokain. Es gab Kollegen, die ihr Gehalt mit so was aufbesserten. Klaus gehörte nicht dazu.

Also: Von welchem Beweismaterial hatte Gerber gesprochen?

 

Draußen auf dem Gang kamen Schritte näher, stoppten ab, ein Schließer öffnete die Tür und richtete den Blick auf Hassan.

«Herr Ösker, Besuch für Sie.»

Hassan Ösker drückte die Selbstgedrehte aus, federte geschmeidig von seinem Bett hoch, schenkte Klaus im Vorbeigehen ein Nicken und verschwand dann mit dem Schließer im Flur.

Klaus atmete tief durch und lehnte sich mit dem Rücken an die Zellenwand. Er tröstete sich mit der Überzeugung, dass ihn nichts von dem, womit man ihn in den nächsten Stunden konfrontierte, von den Beinen fegen konnte. Das hatte Julia bereits vor drei Wochen erledigt. Mit der ihr eigenen Gründlichkeit, mit der sie das Bad putzte, Sex mit ihm hatte oder ihre Steuererklärung ausfüllte. Für alles im Leben hatte sie einen Plan. Und wenn das Leben meinte, ihr einen Strich durch die Rechnung machen zu wollen, erlebte es sein blaues Wunder, weil Julia ihm einen Strich durch die Rechnung machte. Für Klaus, der die Dinge nicht ganz so genau nahm, als sie sich kennenlernten, bildete Julia ein Regulativ. Durch sie erhielt sein Leben mit einem Mal Strukturen.

Glück war für Klaus ein poetischer Begriff ohne Substanz, aber wenn sie sich bei Rotwein die Köpfe heißgeredet und sich später in dem vor Lust verzerrten Gesicht des anderen gespiegelt fanden, wenn Julia danach mit diesem seligen Ausdruck um den Mund schlief, er in der Tür zur Terrasse stand und einfach, weil ihm danach war, vor sich hin grinste, ja, dann hatte er eine Ahnung davon. Und er wusste instinktiv, dass man nach dieser Ahnung von Glück niemals greifen durfte – am besten, man rührte sich überhaupt nicht in so einem Moment.

Vor vier Wochen hatte Julias Plan vom Leben ihn als Bremse entlarvt. Klaus hatte ihren Wunsch nach zwei Kindern zwar bejaht, aber er war entschlossen, das Leben zu zweit noch zwei, drei Jahre ausgiebig zu genießen, vielleicht auch vier oder fünf, bevor es im Speckgürtel Kiels für die kommenden zwanzig einzementiert wurde. Wie sich zeigte, war Julia nicht gewillt zu warten – Kinder sind schließlich keine Strafe.

Sie schüttelte den Kopf und teilte ihm mit, dass Hansjörg, der Kollege aus der Nachtschicht, ihr neuer Lebensgefährte sei. Klaus war ehrlich verblüfft. Wenn es um eine Partie Halma ging, um Themen wie deutsche Schlager oder eine sorgsam ausgetüftelte Gartenbewässerung (sein Steckenpferd), war Hansjörg die allererste Wahl, keine Frage. Da konnte ihm keiner so schnell das Wasser abgraben.

Klaus’ Vermutung, diese Affäre laufe schon eine Weile, wies Julia mit einer Vehemenz zurück, die sie entlarvte, statt ihrer Lüge auch nur den Anschein von Aufrichtigkeit zu verleihen. In ihrer Beziehung hatten sie noch nicht allzu viel gemeinsamen Besitz angesammelt. Julia behielt die zur Hälfte abgezahlte Wohnung, Klaus schaffte seine Siebensachen ins Wohnmobil und fuhr die Küste hoch bis nach Dänemark, parkte kurz nach dem Sonnenuntergang in der Bucht von Vemmingbund und betrank sich.

Als der Nieselregen einsetzte, auf den man sich hier immer verlassen konnte, genoss er ihn. Genoss, wie die Tröpfchen, die so wenig Masse besaßen, an seinen Wimpern hängenblieben, ihm das Gesicht streichelten. Nach einer Weile zog er sich ins Mobil zurück, schlüpfte erst aus den nassen Klamotten und anschließend unter die Decke.

Er war oft mit seinen Eltern hier gewesen. Das allzu vertraute Geräusch des Regens, der leise aufs Dach trommelte, trug ihn sanft hinüber in den Schlaf und zurück in seine Kindheit, zurück zu seinen Eltern.

 

Ein paar Augenblicke nachdem Ösker verschwunden war, trat Jürgen Gerber in die Zelle und lehnte sich neben dem Eingang an die Wand. Klaus war überrascht. Der Vorwurf von heute Vormittag war aus Gerbers Blick gewichen. Klaus, der bis jetzt wie Hassan auf seinem Bett gesessen hatte, stand auf.

Jürgen Gerber hatte seine Laufbahn bei der Polizei seit Klaus’ Ausbildung in Eutin mit der wohlwollenden Haltung eines großen Bruders verfolgt. Er hatte ihn nie begünstigt oder dergleichen. Nur ein Auge auf ihn gehabt. Auch jetzt las er in der Miene seines Vorgesetzten diese Zugewandtheit und außerdem … Sorge.

Klaus, der seinem Ärger freien Lauf lassen wollte, stutzte, weil seine Verhaftung vorhin und Gerbers Haltung jetzt nicht zueinander passen wollten.

«Ich hab nichts unterschlagen.»

«Ich weiß.»

In der Pause der Verblüffung, die darauf bei Klaus Burck einsetzte, trat ein weiterer Mann in den Raum, der dem Wärter draußen ein Handzeichen gab, woraufhin der die Zellentür schloss. Den Mann in der Tür schätzte Klaus auf Ende fünfzig. Damit lag er daneben. Frank Dudek war 51 Jahre alt. Er trug eine ausgebeulte Jeans, schwere Schuhe und eines dieser Tweedsakkos, die ältlichen Charme verströmen. Auf seiner Nase ruhte eine Brille aus Stahlgestell, die Haare wurden ihm vorne licht. Er war von allem die Mitte, hatte ein Allerweltsgesicht und einen unauffälligen Körperbau, er war der ideale Kandidat, um von einer Menge verschluckt zu werden. Ein Typ, an den man sich später nicht erinnerte. Ein Niemand mit einem Schnauzer, und Klaus mochte keine Schnauzer. Er sollte erst viel später begreifen, dass er mit seinem intuitiven Niemand Dudeks Kern erfasst, ja den Mann komplett umrissen hatte.

Im Augenblick wirkte Dudek, der ihn unverhohlen musterte, ungeduldig und leicht missgelaunt.

«Kommissar Klaus Burck, und das ist … Herr Dudek. Ich wollte die Verhaftung mit Ihnen absprechen, aber Herr Dudek hier war dagegen.»

Dieser Mann, dessen Name ihm nichts sagte, war seinem Chef gegenüber offenbar weisungsbefugt und für seine Verhaftung verantwortlich.

«Wie kommen Sie dazu, mich vor den Augen meiner Kollegen verhaften zu lassen?»

«Mit Verhaftung ist es glaubwürdiger», sagte Frank Dudek. Die tiefe, markante Stimme passte nicht zur Durchschnittlichkeit seiner Erscheinung.

«Ich will mir in der Angelegenheit keinen Fehler erlauben. Wenn Sie mich nicht unterstützen wollen, bringen wir Sie zurück und stellen Ihren Ruf wieder her.»

«Wer sind Sie?»

«Mein Name ist Frank Dudek. Ich bin vom LKA Hamburg, Abteilung für Verdeckte Ermittlungen. Ich hatte Ihre Bewerbung auf dem Tisch.» Er sagte das wie jemand, auf den die Bewerbung keinen allzu großen Eindruck gemacht hatte.

Klaus erinnerte sich sofort. Seit er auf die freie Planstelle für Wirtschaftsdelikte gerutscht war, fehlte ihm der Geruch der Straße. Er wollte draußen sein, er wollte mit Menschen zu tun haben, er brauchte Bewegung. Stattdessen saß er am Schreibtisch, checkte Bilanzen und ließ – wenn es hochkam – alle sechs Monate ein paar Firmencomputer beschlagnahmen.

Darum bemüht, trotz seiner Vorbehalte gegen diesen Posten präzise und gute Arbeit abzuliefern, empfahl Klaus sich ungewollt immer mehr dafür. Jürgen Gerber half ihm, sich für andere Planstellen zu bewerben. Diejenige, die ihn ansprang und Abenteuerlust in ihm aufkommen ließ, war die des Hamburger Landeskriminalamtes. Man prüfte seine Unterlagen und lehnte seine Bewerbung mit einem Formschreiben ab.

«Das war vor über vier Monaten», stellte Klaus fest.

Dudek nickte und behalf sich keiner Notiz, als er antwortete: «Ja. Das war am 23. Juni.»

«Man hat mir geschrieben, dass ich nicht geeignet bin.»

«Jetzt sind Sie’s.»

3.

Dudek holte ihn am nächsten Tag um halb zwölf am Hamburger Hauptbahnhof ab.

Klaus hatte eine Sporttasche mit den Dingen dabei, die Frank Dudek als notwendig erachtete:

Das, was Sie für ein Wochenende benötigen.

Der Mann vom Hamburger LKA wartete an der Ostseite. Jeden Tag spülte St. Georg die ärmsten Junkies an den Eingang des Bahnhofs. Hier fanden sie ihre Dealer. Die Polizei nahm alle vorläufig fest und ließ sie dann wieder auf freien Fuß. Einmal vormittags, einmal nachmittags.

Ebbe und Flut, wie man das hier nannte.

Dudek hatte seinen schwarzen Volvo Kombi auf dem Behindertenparkplatz abgestellt. Auf dem Armaturenbrett lag ein gültiger Behindertenausweis, der auf den Namen Bernd Peters ausgestellt war. Dudek steckte ihn ein, parkte aus und fuhr los, Klaus auf dem Beifahrersitz.

Es roch nach nassem Hund. Klaus sah sich um. Im Kofferraum thronte ein Schäferhund und erwiderte den Blick.

«Ah – Ihr Hund?»

«Na raten Sie mal.»

Klaus beschloss, diese Aufforderung zu übergehen.

«Wie heißt er denn?»

«Madame. Sie hat ’ne gute Menschenkenntnis.»

«Hallo, Madame.»

Madame knurrte.

Klaus wandte sich ab.

«Gute Reise gehabt?», fragte Dudek.

«Ja.»

«Gut.»

Dudek konzentrierte sich auf den Verkehr. Als er von der Amsinckstraße rechts abbog, um die Elbe zu überqueren, wusste Klaus, dass es nach Wilhelmsburg ging. Dudek zündete sich eine Zigarette an und ließ das Fahrerfenster etwas herunter, sodass der Qualm nach draußen abzog.

«Rauchen Sie?»

«Nein.»

 

Dudek parkte den Volvo am Ende des Stubenplatzes in der Vieringstraße und stellte den Motor ab. Dann warf er Klaus einen kurzen Seitenblick zu und hob ganz leicht die Hand, mit der er auf die gegenüberliegende Straßenseite deutete. So, dass man es von außen nicht sehen konnte.

«Sehen Sie das Geschäft da drüben mit dem lila Schriftzug?»

Klaus sah es. Eingekeilt zwischen dem Dörus Imbiss, dessen blaue Außenmarkise den halben Bürgersteig abdeckte, und einem Kiosk steckte ein Laden, dessen Eingangstür und Fenster mit blickdichtem Material abgeklebt worden waren. Discos oder Nachtclubs sahen so aus. Aber die hatten tagsüber geschlossen. In dem Geschäft da drüben gingen die Leute ein und aus. Über dem Eingang leuchtete die violette Neonreklame auf: Schöckinger. Auf den dunklen Scheiben stand in gelber Schrift Live Wetten. Und Live Sport.

Ein dunkelhaariger, südländisch wirkender Mann Mitte zwanzig stand direkt vor der Tür, sprach in sein Smartphone und rauchte.

«Das Schöckinger war früher eine deutsche Kneipe. Jetzt sitzt da drin ein serbischer Buchmacher und wickelt Wetten ab. Ich will, dass Sie da reingehen und ein paar Wetten für mich abschließen.»

Klaus musterte erst den Laden, dann Dudek.

«Deswegen haben Sie mich aus Kiel hierhergeholt?»

Frank Dudek hielt den Blick unverwandt aufs Schöckinger gerichtet, als er nickte.

Burck schluckte leer. In seinem Bauch breitete sich Wärme aus.

«Gut. Und was passiert dann?»

«Nichts weiter. Sie sollen nur wetten.»

Klaus zählte innerlich bis zehn, aber es half nichts.

«Kommen Sie, Herr Dudek, das ist kein guter Anfang.»

Dudek neigte den Kopf und sah ihm direkt in die Augen.

«Was wollen Sie? Was ist Ihr Problem?»

«Ich will wissen, wozu das gut sein soll.»

«Wozu es gut sein soll, dass Sie da reingehen?»

«Ja.»

«Das geht Sie im Augenblick nichts an.»

Klaus zählte bis drei, dann stieg er aus und holte die Sporttasche von der Rückbank. Die Schäferhündin knurrte erneut.

Dudek seufzte und lehnte sich zurück.

«Was wird das?»

«Ich gehe.»

«Steigen Sie sofort wieder ein.»

«Nur, wenn ich weiß, woran ich bin.»

Ein langer Blickwechsel, dann beugte Dudek sich vor und öffnete die Beifahrertür wieder. Klaus nahm die stumme Einladung an und stieg wieder ein.

«Es geht hier um die Wettmafia.»

Natürlich hatte Klaus Burck schon davon gehört, allerdings nur privat. In der Kieler Polizeidirektion war ihm niemand bekannt, der in einem Fall von manipulierten Wetten ermittelt hätte. Weder früher noch aktuell.

«Sie meinen so wie bei dem Fußballschiedsrichter aus Berlin, der geschmiert worden ist?»

«Robert Hoyzer.»

«Ja, den meine ich.»

Frank Dudek nickte: «Es geht nur in erster Linie um Wettbetrug im großen Stil. Das ist nur die Fassade. Es geht um all die Kapitalverbrechen, die damit zusammenhängen.»

Er zog aus der Innentasche seines Sakkos ein abgegriffenes Kuvert und daraus die Abzüge von Fotos.

Schwarzweiß, Farbe, grobkörnig und gestochen scharf, mal von nahem, mal aus großer Entfernung aufgenommen. Einige waren klassische Observationsfotos. Leute, die ihre Wohnung verließen oder betraten, die sich in einem Café oder auf einem belebten Platz mit jemandem unterhielten. Vor einem Supermarkt, in einer Fußgängerzone, beim Bäcker, auf dem Weg zum Auto.

Dazwischen andere Bilder. Befundfotos aus der Klinik. Leute mit Verletzungen, mit Schnitten, Löchern im Bauch oder Kopf, mit Hämatomen und rausgeschlagenen Zähnen. Einmal ein blutiges Hinterteil. Daneben eine Halbliterbierflasche mit blutigem Hals.

Dann ein paar Tote. Auf einer Straße, mit Schaulustigen im Hintergrund. Eine Leiche merkwürdig verrenkt im Rinnstein, die andere schon abgedeckt neben einem Auto mit Geschosskränzen in den Seitenfenstern. In einer vollen Badewanne eine Tote mit aufgeschlitzter Kehle. Während Dudek die Fotos mit ruhiger Hand eins nach dem anderen auf der Ablage zwischen ihnen platzierte, sprach er, ohne Klaus dabei anzusehen. Sein Blick war auf einen sehr weit entfernten Punkt gerichtet.

«Erpressung, Nötigung, Raub. Schwere Körperverletzung, Totschlag und Mord. Diese Straftaten sind nicht einzeln zu bewerten, das heißt, wir haben es hier mit OK-Delikten zu tun.»

Burck straffte sich unwillkürlich. Das war es. Jede Faser seines Körpers signalisierte ihm das. Hier wollte er hin. Leuten das Handwerk legen, die vor nichts zurückschreckten, nicht davor, Schwächere und Wehrlose krankenhausreif zu prügeln, nicht vor Mord.

OK-Delikte.

Organisierte Kriminalität. Straffe, gewaltbereite Parallel-Hierarchien, die nach dem Prinzip des Faustrechts lebten.

«Im Augenblick», fuhr Dudek sachlich fort, «ist der Wettmarkt in Deutschland ein paar hundert Millionen Euro schwer. Der Kuchen in Süddeutschland ist verteilt. Aber hier im Norden ist noch viel Bewegung drin. Das muss sich erst noch setzen.»

Frank Dudek zeigte auf den Mann auf dem obersten Foto. Ein fülliger, nicht besonders großer Mittfünfziger mit einem offenen Lächeln, der gerade mit einem Teelöffel etwas aus einer Schale aß.

«Ich will den hier. Aco Goric.»

Da war kein Hass, keine Wut, nicht mal Entschlossenheit in Dudeks Stimme. Aber als er auf das Foto von Aco Goric tippte und Klaus dabei ansah, hatte der das Gefühl, in die Augen eines Fisches zu schauen. Sie waren kalt und klar, und nur einmal noch in diesem Leben würde er sie so sehen. So bestimmt und unmissverständlich, dass sich Nachfragen erübrigten.

«Neben Delikten wie Erpressung und Körperverletzung, die Goric bestimmt als Kleinigkeiten bezeichnen würde, hat er zwei Morde in Auftrag gegeben.»

«Was hat das mit den Wetten zu tun, die ich abgeben soll?»

«Wir kommen auf herkömmliche Weise nicht an ihn ran. Es ist davon auszugehen, dass er Kollegen von uns auf seiner Gehaltsliste hat.»

«Das ist nicht Ihr Ernst.»

«Letztes Jahr ist ein Hauptkommissar aus Bramfeld aufgeflogen. Er hatte Spielschulden. Und mit Überwachungsmaßnahmen ist Goric auch nicht zu kriegen. Er macht keine Aussagen am Telefon, tatsächlich telefoniert er überhaupt nicht. Ich kann Aco Goric nur an die Wand nageln, wenn jemand aus seinem engsten Umfeld gegen ihn aussagt. Jemand, dem er vertraut.»

«Und deswegen soll ich wetten?»

Frank Dudek nickte und zündete sich noch eine an. Blies den Rauch durch den Fensterspalt nach draußen.

«Jetzt wollen Sie wissen, warum Sie vor ein paar Monaten dazu nicht geeignet waren und es jetzt sind.»

«Sie können Gedanken lesen.»

Er grinste Dudek an, was der nicht erwiderte.

«So ist es, und es wird Ihnen nicht lange gefallen.»

Klaus gefiel es bereits jetzt nicht mehr.

«Vor vier Monaten waren Sie noch liiert, Herr Burck. Ich arbeite aber ausschließlich mit Alleinstehenden.»

«Weil Sie ungern Witwentröster sind?»

«Jetzt sind wir schon zu zweit.»

«Bei was?»

«Beim Gedankenlesen.»

Dudek sah ihn nun offen an. Er hatte keine übertrieben ernste Miene aufgesetzt. Er strahlte sogar eine Gelassenheit aus, zu der Klaus sich wider Willen hingezogen fühlte. Denn sie versprach Geborgenheit.

«Sie kommen aus Kiel. Ich will nicht annehmen, dass Goric jetzt schon die Mitarbeiter in einer fremden Stadt schmiert. Aber den Ausschlag gibt das hier.»

Ein letztes Foto hatte er in der Hand behalten – so, dass Klaus der Blick darauf verwehrt gewesen war. Jetzt legte Frank Dudek auch dieses Bild zwischen sie. Klaus Burck erstarrte. Das Bild zeigte einen Jungen, der grinsend gegen die Sonne anblinzelte. Ein Junge von vielleicht sechs Jahren in kurzen Hosen. Ein Ehepaar flankierte ihn. Sie mit Rock und Bluse, er in Jeans und Hemd. Die Sonnenbrille lässig in die Haare gesteckt. Das Foto hatte drei glückliche Menschen konserviert.

«Woher haben Sie das?»

Dudek merkte auf. Der Tonfall war scharf, und im Blick des jungen Mannes lag etwas Ungezähmtes. Dudek wusste schon, dass es nicht das richtige Wort war, als es ihm in den Sinn kam. Unverfälscht, sagte er sich später am Abend, als er im Wohnzimmer neben Madame auf der Couch einschlief, umgeben vom weitverzweigten Familienclan der Gorics – auf Oberservationsfotos, die auf seinem Tisch lagen, auf der Couch, am Boden. Eingefroren in der zweiten Dimension. Nachts schlichen sie sich in seinen Schlaf und bevölkerten seine Träume.

Unverfälscht.

Und impulsiv, dachte Dudek.

«Ist das wichtig?», fragte er.

«Mir schon.»

«Ich habe einen Kollegen um Amtshilfe ersucht. Er war in Novi Pazar. Ihre Großtante hat es uns zur Verfügung gestellt. Ich wollte wissen, wie Ihre Eltern ausgesehen haben. Und Sie als Kind.»

«Wozu?»

Frank Dudek zögerte, dann deutete er ein Kopfschütteln an.

«Später. Franjo, das ist Ihr Name. Sie waren Waise, und Burcks haben Sie adoptiert. Und Sie ‹Klaus› genannt. Wenn meine Informationen korrekt sind, verstehen Sie Serbisch, Kroatisch und Bosnisch.»

Klaus schluckte seine nächste Frage herunter und nickte.

«Ich brauche jemanden, der wenigstens versteht, über was die sich unterhalten.»

«Das ist also meine Eignung: Ich bin Single, ich bin in Novi Pazar geboren, und ich wohne in Kiel.»

«Ja, bei Licht betrachtet sind es drei Zufälle», räumte Dudek wenig charmant ein, «aber zufälligerweise bin ich gerade auf diese drei Zufälle angewiesen. Also, Kriminalkommissar Burck, sind Sie bereit, mich als verdeckter Ermittler zu unterstützen, oder soll ich Sie zurück zum Bahnhof bringen?»

Klaus hatte sich die ganze Angelegenheit eine Spur wichtiger vorgestellt – mit etwas mehr Lametta.

Er war lange genug Polizist, um zu wissen, dass ihn kein roter Teppich erwartete. Aber er hatte mit einem Team gerechnet, mit Überwachung und Verkabelung, mit spezieller Bewaffnung, mit Drogengeschäften, mit Respekt und vielleicht auch – wenn er ganz ehrlich in sich hineinhorchte – einer Spur Bewunderung.

Und nicht mit einem Ein-Mann-Team und Kinderfotos und einem Volvo Kombi mit Schäferhündin.

«Was soll ich machen?»

Dudek schnappte sich seine eigene Tasche von der Rückbank, öffnete sie und zog eine Lederjacke hervor, die er Klaus reichte.

«Ziehen Sie die an, bitte. Und dann machen Sie Folgendes …»

4.

Das Schöckinger entpuppte sich als ein spärlich besuchter Schlauch, in dem zu beiden Seiten blinkende Spielautomaten hingen, die ihre immergleichen Melodien dudelten und die Raumwirkung weiter verschlankten. Im vorderen Bereich standen ein paar Tische. An ihnen saßen südeuropäisch aussehende Männer, die Tee oder Cola tranken.

Der Zigarettenrauch schwebte in Form bläulich grauer Nebelschwaden durch den Raum. Als Klaus den Laden betreten hatte, hatten lediglich zwei oder drei Gestalten kurz aufgeblickt, um nach einem sekundenschnellen Mustern wieder ihren Gesprächen nachzugehen oder die Automaten mit Münzen zu füttern. Neue Gesichter waren hier keine Seltenheit, wie es schien.

Klaus orientierte sich kurz.

Der Schlauch endete an einer Art Theke, hinter der ein Riese von gut zwei Metern stand: Borko Pantelic, wie Dudek ihm eingeschärft hatte.

Zu beiden Seiten dieser Theke hingen vier Flachbildschirme, die allesamt verschiedene Sportkanäle live übertrugen. Frauen existierten im Schöckinger nur in Form von Sportlerinnen auf der Mattscheibe.

Die Lederjacke, die Dudek ihm gegeben hatte, brachte gut drei Kilo auf die Waage. Sie vermittelte ihm die beruhigende Illusion einer leichten Panzerung. In der Innentasche trug Klaus sein anderthalbfaches Monatsgehalt in bar mit sich herum.

Frank Dudek hatte die Scheine im Auto abgezählt. Anschließend hatte Klaus ihm den Erhalt der Bargeldsumme quittiert. Für die Rechnungsstelle des Hamburger LKA, von der Frank Dudek die gebrauchten und registrierten Banknoten entsprechend seiner Anfrage per Formular erhalten hatte.

Klaus schlenderte ruhig, aber nicht übermäßig gelassen zu der Theke, hinter der Borko sich gerade Unmengen Zucker in ein Teeglas schüttete und ihm mit einer neutralen Miene entgegenblickte.

«Hallo.»

«Hallo.»

«Ich möchte drei Wetten setzen.»

Borko schnappte sich den Stift, der hinter seinem rechten Ohr klemmte, und einen kleinen Notizblock.

«1000 Euro auf Sieg von Freiburg gegen Bayern München heute Abend.»

«Eins zu fünf», sagte Borko. Er sprach schnell. 1:5 war die Quote, die Borko ihm anbieten konnte. Sollte Freiburg den Gegner aus München besiegen, würde Klaus 5000 Euro gewinnen.

«Gut», antwortete Klaus. Ganz egal, welche Quote Borko ihm bot, so Dudek, er sollte die Wette abschließen.

Borko notierte die Wette und riss die Notiz ab, die er Klaus zuschob. Die Kopie durchbohrte er auf einem Zettelspießer, auf dessen dünner Metallstange sich jede Menge Durchschriften der Wetten stapelten, die hier heute bereits über die Theke gegangen waren.

Klaus warf einen kurzen Blick über die Schulter, aber es schien, als nehme niemand von ihm Notiz. Er empfand auch keinerlei Furcht. Dudek hörte über das Handy in Klaus' Tasche mit. Und selbst wenn es zu Komplikationen kommen sollte, würde Dudek, exakt 15 Minuten nachdem Klaus das Schöckinger betreten hatte, folgen und ihn da rauspauken. So oder so, hatte Dudek gesagt und ihn damit über das Wie im Ungewissen gelassen.

«Dann 2000 darauf, dass die Bayern ihr erstes Tor zwischen der 20. und 30. Minute schießen.»

Borko schüttelte leicht den Kopf.

«Machen wir hier nicht», stellte er ruhig fest.

Klaus setzte ein leicht erstauntes Gesicht auf und sah kurz zu den anderen Gästen hinüber, als wundere er sich, was für langweilige Wetten diese abschlossen. Hier nicht. Das fiel ihm auf. Der Mann hinter der Theke, der nicht mehr sprach als unbedingt nötig, hatte es gesagt. Hier nicht.

«Und wo kann ich darauf wetten?»

«Weiß nicht. Hier nicht. Andere Wette?»

Wieder das Hier nicht.

«Ja. Dann 2000 auf Sieg von Klitschko heute Abend.»

Borko nutzte mit flinken Fingern den Taschenrechner auf seinem Smartphone. Und das mit Handtellern, in denen er das Gerät mühelos hätte verstecken können.

«Kann ich dir 1:1,15 anbieten.»

«Besser als nichts.»

Klaus zog jetzt seinerseits einen Zettel aus der Hosentasche und schaute, was Dudek ihm da notiert hatte.

Und das fällt nicht blöd auf, hatte er gefragt, wennich da wie von einem Spickzettel ablese?

Dudek hatte den Kopf geschüttelt: Es fällt eher auf, wenn Sie so tun, als könnten Sie alles in Ihrem Kopf mit sich rumtragen. Stellen Sie sich einfach vor, es wären Ihre eigenen Notizen.

Der Tipp funktionierte.

«Und noch 2000 Euro auf Sieg von Holstein Kiel in der 2. Halbzeit gegen den SV Wilhelmshaven.»

Borkos Kugelschreibermine jagte über das Papier, das er abriss und Klaus reichte. Der bezahlte ihn im Gegenzug mit den Scheinen, die Dudek ihm mitgegeben hatte.

 

Als er aus dem Schöckinger kam, ging er nach rechts die Vieringstraße hinauf und stoppte an einem Laden, um sich in dessen spiegelnder Scheibe zu vergewissern, dass ihm niemand folgte. Erst dann überquerte er die Straße und setzte sich mit Blick zum Fenster in das Bistro auf dem Stubenplatz. Klaus Burck aß eine Currywurst und trank dazu ein Bier aus der Dose.

Anschließend stieg er in den Bus der Linie dreizehn, fuhr zwei Stationen und ließ sich von dem schwarzen Volvo aufgabeln, der dem Bus in weitem Abstand gefolgt war, wie er beobachtet hatte.

Dudek fuhr weiter, sobald Klaus die Beifahrertür zugeschlagen hatte. Madame sah nur kurz auf, reckte sich und legte sich dann auf die Seite.

«Alle Wetten platziert?»

«Ja.»

«Und, aufgefallen?»

«Glaube ich nicht, nein. Es hat sich niemand besonders für mich interessiert.»

Dudek nickte und wandte sich ihm zu, als ihn eine rote Ampel zum Halten zwang.

«Die haben viel Laufkundschaft. Leute kommen und gehen.»

«Und jetzt?»

«Das müssen Sie mir sagen.»

Klaus sah den Mann fragend an.

«Wie meinen Sie das?»

«Ich brauche jemanden, der alle zwei Tage ins Schöckinger geht und die Wetten abgibt, die ich ihm aufschreibe.»

Hinter ihnen hupte es. Die Ampel war auf Grün umgesprungen. Dudek legte den Gang ein und fuhr weiter.

«Wollen Sie das erledigen oder muss ich mir einen anderen suchen?»

Klaus gab sich keine Mühe, sein Erstaunen zu verbergen.

«Wie genau soll das laufen?»

«Ich fahre Sie in ein Hotel. Da verkriechen Sie sich, da gibt's auch Essen auf dem Zimmer. Sie lassen sich so wenig wie möglich draußen blicken. Ich hol Sie in zwei Tagen ab, Sie wetten, dann fahr ich Sie zurück. In ungefähr einer Woche wissen wir mehr.»

«Weil es dann in einen anderen Laden geht?»

Frank Dudek sah ihn sichtlich überrascht an.

«Wie kommen Sie darauf?», fragte er schroff, beinahe verärgert.

«Bei der zweiten Wette hat Pantelic gesagt, dass er solche Wetten hier nicht macht. Er hat zweimal hier nicht gesagt. Wenn er es komplett hätte ausschließen wollen, hätte er gar nicht gesagt. Hat er aber nicht. Also muss es einen Laden geben, in dem man die Wette setzen kann.»

Dudek machte ein Gesicht wie jemand, der wider Willen beeindruckt war. Auf der anderen Seite entpuppte er sich in dieser Hinsicht als souverän, denn er nickte: «Gut beobachtet.»

«Oh, ein Lob?»

«Nein, eine Feststellung. Sie werden nach den ersten Verlusten, zum Beispiel mit den sinnlosen Wetten von heute, Gewinne machen. Und dann werden Sie viel Geld auf spezielle Wetten setzen wollen, die man im Schöckinger nicht annimmt. Wenn ich mich nicht irre, wird Pantelic Ihnen den Kontakt zu Galaxis-Wetten im Schanzenviertel vermitteln. Das ist, was Sie richtig vermutet haben. Und da will ich Sie haben.»

Dudek fuhr rechts ran und öffnete die Tür. Klaus blickte hinaus – und konnte weit und breit kein Hotel entdecken. Nur den begrünten Deich und dahinter die Elbe, die dem Meer entgegenfloss und eine tiefe Beruhigung in ihm hervorrief.

«Madame ist seit zwei Stunden im Auto», sagte Dudek.

 

Zwei Minuten später gingen die beiden Männer den Deich entlang, während Madame über den Rasen tollte und einen aufdringlichen Jack Russell Terrier verjagte. Der Kriminalhauptkommissar und VE-Führer Dudek schien mit seiner Hündin beinahe symbiotisch verbunden zu sein, so kam es Klaus vor.

Als Madame aus purer Lust an der Bewegung über die Deichkrone schoss, entspannte Dudek sich merklich, ja, fast meinte Burck, ihn lächeln gesehen zu haben. Kurz nur, natürlich. Und auch wenn der Augenblick schnell vorbei war, bewiesen die Weichheit seiner Züge und die Zuneigung in seinen Augen, dass das Lächeln da gewesen sein musste.

Dudek zündete sich eine Zigarette an und inhalierte, bevor er den Faden wiederaufnahm: «Also: Kann ich auf Sie zählen?»

«Was passiert danach? Muss ich herziehen? Meine Wohnung in Kiel aufgeben?»

Frank Dudek atmete einmal tief durch und blieb stehen. Sah ihm durchdringend in die Augen, senkte den Blick und fasste dann offenbar einen Entschluss.

«Das kann ich Ihnen erst nächste Woche sagen.»

Jetzt war es Klaus, der Dudek eindringlich ansah. Er war etwas kleiner als er selbst und wich seinem Blick nicht aus. Irgendwie war dem Mann an ihm gelegen, das spürte Klaus. Außerdem: Es war allemal aufregender, sich als verdeckter Ermittler durch Hamburg zu bewegen, als Bilanzen zu checken. Auch wenn er dabei nur ein paar Wetten zu setzen hatte, fühlte er sich gleich doppelt so lebendig.

«Na schön», sagte er deshalb, «gut.»

 

Das Hotel, in dem Dudek ihn unterbrachte, hieß «Superbude» und lag an der vierspurigen Spaldingstraße – mit Blick auf alle Züge, die Hamburg in östlicher Richtung verließen. Wenn man sie nicht sah, konnte man sie immerhin noch hören. Die Hotelgäste waren alle unter dreißig Jahre alt. Darunter Globetrotter und Backpacker und Gruppen von jungen Frauen oder jungen Männern, die Hamburg am Wochenende heimsuchten, um zu feiern. Sie übernachteten in den günstigen Sechsbettzimmern und glühten mit Alcopops oder Wodka vor, bevor sie loszogen.

Am Montag würden sie an der Uni oder am Arbeitsplatz berichten, wie megageil es in der Hansestadt gewesen war. Und natürlich auf der Reeperbahn. Und wie betrunken sie gewesen waren, dass einer seinen Schal vergessen und ein anderer sich beinahe im Taxi übergeben hatte und dass man am Ende der Nacht auf keinen Fall den Fischmarkt verpassen durfte.

Klaus Burck war der älteste Hotelgast, aber die hohe Bettenzahl wie die hohe Fluktuation ließen ihn trotzdem nicht auffallen.

Sein Zimmer sah exakt so aus, wie der Name «Superbude» vermuten ließ.

Es war auf den Namen Klaus Roth reserviert worden. Dudek hatte ihm bereits beim Spaziergang an der Elbe seinen neuen Personalausweis überreicht. Geburtsdatum und Geburtsort waren ihm geblieben. Das Foto hatte Dudek sich bei der Bundesdruckerei in Berlin auf dem kurzen Dienstweg besorgt. Dass er weiterhin bei seinem regulären Vornamen genannt werden konnte, leuchtete Klaus sofort ein. So musste er nicht jedes Mal unterscheiden, in welcher seiner beiden Identitäten er gerade angesprochen wurde.

«Klaus Burck existiert jetzt nicht mehr», hatte Dudek ihm mitgeteilt, «dieses Leben ist für Sie ab jetzt zu Ende. Zumindest für eine Woche. Wenn Sie in dieser Woche auf Ihre Vergangenheit angesprochen werden, lehnen Sie jede Auskunft darüber ab. Geben Sie sich argwöhnisch und misstrauisch. Lassen Sie höchstens durchblicken, dass Sie auf Bewährung draußen sind. Warum und wieso und wo Sie eingesessen haben, geht niemanden etwas an.»

Klaus begriff sofort das Prinzip, das dieser Tarnung zugrunde lag: so einfach und so effektiv wie möglich. Wenn er bei einer Frage erst nachdenken musste, würde das auffallen.

Frank Dudek nahm alles, was auf «Burck» ausgestellt war, in Verwahrung: Ausweis, Führerschein, EC-Karte, Kreditkarte, ADAC-Karte, Krankenversicherungskarte und Organspenderausweis. Auch das Smartphone mit allen Kontakten musste Klaus abgeben. Im Gegenzug versorgte Dudek ihn mit einem Billighandy und 500 Euro Bargeld. Er erinnerte Klaus in diesem Zusammenhang selbstverständlich an seine Pflicht, mit öffentlichen Geldern sparsam umzugehen.

Als Dudek das Hotelzimmer verlassen wollte, fiel Klaus noch etwas ein.

«Das Foto mit meinen Eltern und mir, das hätte ich gerne.»

Anders, als Klaus Burck erwartete, zog Dudek es aus dem Stapel der anderen Fotos heraus und reichte es ihm.

«Wozu?», fragte Klaus.

«Wozu was? Kinderfotos, meinen Sie das?»

Klaus nickte.

«Weil ich etwas tun muss, worum ich mich nicht reiße, weil es manchmal unschön ist. Aber es gehört zu meinem Beruf: Ich muss in Leute reinkriechen. Und Fotos helfen dabei. Es war am Meer, ja?»

«Ja. Wie kommen Sie darauf?»

«Der Wind in den Haaren Ihrer Eltern. Die Landschaft dahinter ist flach, keine Bergluft. Sie halten einen Comic in der Hand. Ein Geschenk, nicht wahr?»

«Ich weiß nicht mehr.»

«Es war im Urlaub. Sie waren in Italien, mit einer Lupe kann man das Lirezeichen auf der Rückseite sehen. Spaghetti mit Tomatensoße und Gelati, alle Kinder mögen das. So war es doch, oder?»

Klaus Burck nickte widerwillig.

«Wenn ich einem Menschen begegne, sehe ich eine Art Abbild. Wer er ist zu dieser Zeit an diesem Ort. Und habe ich ein Kinderbild oder eines, das ihn als Jugendlichen zeigt, dann habe ich nicht nur ein zweites Abbild, dann entsteht zwischen den beiden Fotografien ein Raum. In diesem Raum ist der Mensch von damals zu dem geworden, dem ich gegenüberstehe. Und wenn ich den von damals atmen höre, wenn ich seinen Geruch einfange, wenn ich sehe, wie er lacht oder auch weint, wie er schläft und isst und Freunde trifft und tanzt, dann sehe ich ihn nackt. Er ist komplett nackt, er kann im Hier und Jetzt dann anziehen, was er will, ich sehe ihn nackt. Er kann sich vor mir nicht mehr verbergen. Natürlich kann er versuchen, mich zu täuschen, aber weil ich erfasst habe, wer er war, kann ich abschätzen, wer er mal sein wird – und daraus intuitiv erfassen, was er vielleicht als Nächstes tut. Das, was für ihn typisch ist. Das, was seinem Charakter entspricht. Das», schloss Dudek, «ist der Grund, weswegen ich mir die Kinderfotos besonders gerne ansehe. Ich hab auch welche von Aco Goric.»

Burck warf ihm einen langen Blick zu.

«Zeigen Sie mir eines von sich?»

«So gut kennen wir uns noch nicht, Herr Roth.»

5.

Klaus Roth.

Der war er jetzt. Und als der ging er am Abend raus auf die Straße.

Klaus fühlte eine neue Wachheit in sich aufsteigen, die sich wie eine Welle in seine Fingerspitzen und Zehen ausbreitete und ein Prickeln auf seiner Haut hinterließ, als sie sich an ihr brach.

Ihm war, als sei er im Besitz eines neuen Sinnes, als sei er in der Lage, eine neue Farbe zu sehen. Oben im Zimmer, nachdem Frank Dudek gegangen war, hatte er sich leer gefühlt. Jetzt wusste er, warum. Die Identität von Klaus Roth hatte er gerade erst frisch betreten. Wie eine nächtliche Straße nach Neuschnee, wenn er als Erster Spuren darin hinterließ. Er war im Wortsinne ein unbeschriebenes Blatt. Und das fühlte sich jetzt gut an.

Klaus musste bei dieser Erkenntnis unwillkürlich lächeln. Er orientierte sich an der untergehenden Sonne und schlug eine südöstliche Richtung ein. Dort würde ihm früher oder später die Elbe den Weg abschneiden.

Er bewegte sich, wie er glaubte, dass Klaus Roth sich bewegen würde. Ohne Altlasten aus einer Vergangenheit. Keine Schuld, die er begangen hatte, kein gebrochenes Mädchenherz, das auf sein Konto ging, keine Prügelei, die er angezettelt hatte. Es gab keine Eltern, an die er mit Wehmut dachte. Keine Geldsorgen bedrückten ihn, im Grunde war sein neues Leben komplett sorgenfrei, denn es gab nichts, was er besaß. Das Einzige, um das er sich sorgen konnte, war seine Gesundheit, und wie es aussah, war Klaus Roth fit. Auch Julia und Hansjörg waren nur mehr Namen ohne Gesicht und ohne Gestalt, Namen aus dem Leben eines anderen.

Die Übersichtlichkeit seiner neuen Existenz gefiel ihm.

 

Nach zwanzig Minuten erreichte er die Norderelbe gegenüber vom Peutehafen. Zur Rechten floss der Verkehr über die Billhorner Brücke, die sich als nahezu schwarze Silhouette vom Abendhimmel abhob. Erste Sterne waren jetzt am dunkler werdenden Blau des Himmels erkennbar.

Klaus setzte sich am Ufer ins Gras und schaute auf die Elbe. Auf der gegenüberliegenden Seite arbeiteten beleuchtete Kräne, und alle paar Minuten schob sich ein Lastkahn mit Containern flussauf- oder -abwärts an ihm vorbei. Nach seiner Kindheit in Serbien war er bei seinen Adoptiveltern am Meer aufgewachsen. Oben an der Kieler Förde ging immer ein Wind, eine «steife Brise», wie man da wie hier sagte, die Alten sprachen das «s-t» hart aus. Wie Helmut Schmidt, wenn er im Fernsehen Reyno rauchend als Elder Statesman überzeugte.

Er ahnte früh, dass das Meer seine große Liebe werden würde, und in einem anderen Leben wäre er zur See gefahren. Als Jungs gingen sie noch im September baden, der Wind pfiff dabei über die Bucht. Sie ließen die Steine übers Wasser ditschen. Die Häufigkeit der Aufsetzer war dabei von drei Faktoren bedingt: der Flachheit des Steines, der Kraft des Wurfes und dem Winkel, in dem der Stein auf die Wasseroberfläche traf. Wer unter zehn Aufsetzern blieb, musste den anderen eine Cola ausgeben. Ein paar Jahre später dann Bier und noch später Schnaps.

Das Meer hatte ihn nie enttäuscht, es umfing ihn immer wieder bedingungslos, wenn er darin eintauchte, und es hatte ihn nie belogen.

 

Nach einer Stunde stand er auf und trat den Heimweg an. Als Klaus Roth. Und der hatte gerade seine Zuneigung zum Wasser entdeckt.

6.

Wie Dudek prophezeit hatte, machte er Verlust – lediglich Klitschko hatte gewonnen. Klaus zeigte sich unbeeindruckt und setzte dieses Mal 6000 Euro. Sieg in der zweiten Halbzeit für St. Pauli. Bei den Handballern die Hälfte des Einsatzes auf den TSV Altenholz gegen SV Beckdorf. Bei den Tennisspielern 1500 auf Ihlein gegen Wippermann. Zur Sicherheit konsultierte er wieder den Spickzettel, den Dudek ihm mitgegeben hatte.

Die Summen, die Klaus einsetzte, weckten die Aufmerksamkeit zweier Gäste. Klaus Roth hatte sie auf dem Schirm, als er das Schöckinger verließ, aber er vermittelte ihnen den Eindruck, sie nicht zu beachten.

 

Danach keine Linie 13 und keine zwei Stationen mit dem Linienbus. Dieses Mal nahm Klaus sich auf Dudeks Weisung hin ein Taxi.

«Ein Taxi? Entspricht das denn dem Gedanken der Wirtschaftlichkeit?»

Sie spazierten am Deich entlang, Madame schnüffelte an einem Busch.

«Natürlich nicht. Aber wenn man Sie niedersticht, werde ich jede Menge Papierkram am Hals haben, und ich mag keine Formulare», sagte Dudek und nahm ihn ins Visier. «Was soll diese Frage? Ihre Sicherheit hat absolute Priorität, Herr Burck. Der ordne ich alles unter. Und natürlich muss ich meine Ausgaben von der Briefmarke bis zur Taxiquittung vor der Rechnungsstelle verantworten wie jede andere Abteilung auch, und nein, Klaus Roth ist nicht auf Rosen gebettet, er muss auf sein Geld achten. So wie Sie auch. Meinen Sie, ich hätte Sie an Ihre Pflicht zur Wirtschaftlichkeit erinnert, wenn Sie einen Millionär verkörpern würden?»

Klaus kam sich dumm vor. Seine Bemerkung erschien ihm kindisch. Von demselben Trotz geprägt, mit dem ein heranwachsender Teenager die Autorität des Vaters in Frage stellte. Aber Dudek war nicht sein Vater, und er war immerhin Kriminalkommissar der Kieler Polizei.

«Kommt nicht wieder vor.»

Die Zerknirschung, die Dudek hinter den Worten wahrnahm, war offenbar echt. Er nickte.

«Gewohnheit führt zu Routine», sagte er ruhig, «und Routine ist berechenbar. In allen Punkten, die wir bestimmen, sollen Sie berechenbar sein. Wann Sie ins Schöckinger kommen, an welchen Tagen und zu welchen Uhrzeiten, welche Summen Sie in etwa setzen. Das dürfen die anderen wissen. Nein, sie sollen es sogar wissen. Aber woher Sie kommen, wohin Sie nach Ihren Wetteinsätzen gehen, das geht niemanden was an. Falls es doch jemand wissen will und Sie immer die Linie 13 nehmen …»

«Muss er sich das nächste Mal nur in den Bus setzen», vollendete Klaus. Dudek nickte.

Klaus zog die Hand aus der Jackentasche und mit ihr eine kleine Metzgertüte.

«Madame.»

Die Schäferhündin kam näher und nahm Witterung auf. Die Ohren gespitzt, die feuchte Schnauze kaum merklich und instinktiv in die Luft gereckt, um Aufschluss über den Inhalt zu erlangen. Klaus zog ein Würstchen hervor und brach es in der Mitte durch.

«Darf ich?»

«Gerne.»

Klaus holte aus und warf der Hündin das Stück zu. Die fing es nicht auf, sondern ließ es zu Boden fallen. Sie sah zu Dudek und hielt den Blick, scheinbar durch keinen Wimpernschlag unterbrochen. Frank Dudek zündete sich eine Zigarette an, bevor er nickte. Daraufhin schnappte Madame sich das Stück Fleisch und trabte ein paar Meter weiter, um es in Ruhe runterzuschlingen. Klaus seufzte lautlos und verstaute die Tüte wieder.

«Irgendwas, was Sie nicht unter Kontrolle haben?»

«Ich will nicht, dass sie einen vergifteten Köder frisst.»

Klaus Burck beschloss, sich seine kleinen Anspielungen fürs Erste zu verkneifen, weil Dudeks Beweggründe sie als kleinlich entlarvten.

Der fuhr ihn nach dem Spaziergang zurück zur Superbude und blieb keine Sekunde länger als nötig.

 

Zwanzig Minuten später klopfte es an seiner Tür.

Klaus spannte sich, leise näherte er sich dem Eingang.

«Dudek», hörte er gedämpft durch die Ritzen.

Er öffnete die Tür einen Spaltbreit und ließ sie ganz aufschwingen, als er den VE-Führer erkannte. Der blieb allerdings an der Türschwelle stehen.

«Stör ich?», fragte er und hielt zwei Bierflaschen hoch.

Burck stutzte kurz, dann begriff er, dass Dudek nicht offiziell hier war. Zumindest glaubte er das.

«Nein.»

«Schön. Ich muss Sie für morgen instruieren. Sie werden sich sicher fragen, warum ich das nicht morgen mache.»

«Nein, eigentlich nicht.»

«Wie auch immer: Ich möchte, dass Sie sich entscheiden können. Morgen wäre das zu spät.»

Frank Dudek atmete kurz durch. Er wirkte erleichtert, nachdem er das ausgesprochen hatte. Er seufzte nicht, aber er war offenbar ohnehin darauf konditioniert, sich nicht in die Karten blicken zu lassen.

«Kommen Sie rein.»

 

Kurz darauf standen sie auf dem kleinen Balkon über der Spaldingstraße und tranken das Flaschenbier, das Dudek mitgebracht hatte. Der VE-Führer rauchte. Gute zehn Meter unter ihnen zog der abendliche Berufsverkehr vorbei und trug die Pendler in die Außenbezirke und Vororte.

Dudek hatte etwas auf dem Herzen. Etwas, das ihn aus seinem Volvo in die Superbude und hier hinaufgetrieben hatte. Ein kleiner Stachel in seinem Plan, der ihn quälte und den er loswerden wollte.

«Sie werden morgen eine Wette setzen, die Borko Pentalic zum Handeln zwingt.»

«Das heißt?»

«Das heißt, er wird Sie in ein anderes Wettbüro begleiten, damit Sie dort Ihre Wette platzieren können.»

«Und wenn er’s nicht tut?»

«Hab ich mich geirrt, und wir fangen woanders von vorne an – Ihr Einverständnis vorausgesetzt.»

Jegliche Unsicherheit Dudeks hatte sich verflüchtigt. Sobald es um den Einsatz ging, wusste Frank Dudek haargenau, was zu tun war.

«Wohin wird er mich bringen?»

«Ich hoffe, ins Galaxis. Das ist ein Laden im Schanzenviertel. Er funktioniert wie das Schöckinger. Mit dem Unterschied, dass im Galaxis die härteren Wetten laufen.»

«Die illegalen», präzisierte Klaus.

Dudek nahm einen tiefen Zug und blies den Rauch durch die Nasenlöcher in den Abendwind.

«Die illegalen», bestätigte er dann.

«Und dann werde ich dort eine Wette setzen.»

«Nein.»

Frank Dudek blickte kurz zu Boden. Klaus meinte zu spüren, wie sie sich dem unangenehmen Teil näherten. Dem, der Dudek hatte umkehren und Bier mitbringen lassen. Unvermittelt zog Dudek eine Fotografie hervor, und Klaus war schon auf den Anblick eines Kindes vorbereitet; stattdessen erblickte er einen jungen Mann. Halblange, gelockte Haare. Ein offener Blick, ein leichtes Lächeln um die Mundwinkel. Er wirkte wie jemand, an dessen Seite man einen abwechslungsreichen Abend verbringen konnte.

«Dort werden Sie den hier treffen: Benny.»

«Gehört er zu Aco Goric?»

«Nein, zu mir.»

Klaus sah verblüfft auf. Dudek steckte das Foto wieder ein.

«Er wird Sie», führte Dudek aus und sah ihm dabei unverwandt in die Augen, «als Polizeispitzel enttarnen und Sie vor die Tür prügeln. Da nehmen Sie die Beine in die Hand, und ich gabel Sie auf. Wie gehabt.»

Die letzten beiden Worte sollten Klaus den Eindruck von Routine vermitteln, aber da Dudek sie leicht verschluckte, nahm er ihnen das offenbar selbst nicht ab. Klaus Burck war lange genug Polizist, um zu erfassen, was das bedeutete. Er fühlte sich benutzt.

Frank Dudek hatte binnen weniger Tage in ihm die Identität von Klaus Roth großgezogen wie ein Mastschwein, um ihn jetzt seiner einzigen Bestimmung zuzuführen – der Schlachtung. Klaus empfand das als persönliche Zurücksetzung, und das Schlimme daran war, dass dieser Mann vor ihm, diese Unscheinbarkeit in Person, das alles von Anfang an gewusst hatte. Bereits zu dem Zeitpunkt, als er Gerber dazu veranlasste, Klaus zu verhaften.

Ganz gewiss würde er Dudek nicht den Gefallen tun, ihm auch nur den kleinsten Hinweis auf den Grad der Kränkung