Fischland-Rache - Corinna Kastner - E-Book

Fischland-Rache E-Book

Corinna Kastner

3,9

Beschreibung

Pensionswirtin Kassandra Voß dachte eigentlich, auf dem Fischland ginge es im November geruhsam zu. Tatsächlich sorgt zunächst auch nur das neu eröffnete Restaurant einer Star-Köchin für Wirbel - bis eines Nachts auf dem Hohen Ufer ein Mord geschieht. Wie sich sehr schnell herausstellt, hatte halb Wustrow ein Motiv, den Mann ins Jenseits zu befördern. Kassandra beginnt auf eigene Faust zu ermitteln, und bringt Dinge ans Tageslicht, die besser verborgen geblieben wären …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 591

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
3,9 (17 Bewertungen)
7
4
3
3
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Sammlungen



Corinna Kastner ist 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich am wohlsten an der Ostsee. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane (u.a. 2009 den Fischland-Roman »Die verborgene Kammer« und 2012 den Küsten Krimi »Fischland-Mord«).

www.corinnas-fischland.blogspot.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. In diesem Roman tauchen viele Namen auf, die so oder ähnlich auf dem Fischland gebräuchlich sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen wären nicht beabsichtigt und rein zufällig.

Ein Projekt der AVA international GmbH, Autoren- und Verlagagentur, www.ava-international.de

© 2013 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Corinna Kastner Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch eBook-Erstellung: CPI – Clausen & Bosse, LeckISBN 978-3-86358-275-3 Küsten Krimi Originalausgabe

Für Paul

Prolog

17.November 2011

Regen peitschte gegen die Fenster, ab und zu grollte in der Ferne ein Donner. Kriminaloberkommissar Kay Dietrich sah zu, wie die Regentropfen sich zu Rinnsalen sammelten und in Strömen an der Scheibe herunterliefen. Bei dem Unwetter hätte er die kleine Kirche auf der anderen Seite der Friedländer Straße nicht mal erkennen können, wenn es draußen schon hell gewesen wäre. Seit einer Stunde saß er hier, lange vor Beginn seines Dienstes. Er hatte schlecht geschlafen, zu Hause nur noch die Wände angestarrt und beschlossen, doch lieber was Sinnvolles zu tun. Jetzt spürte er allmählich, wie die Müdigkeit durch seinen Körper kroch, wurde jedoch abgelenkt von der Hektik, die sich draußen auf dem Flur ausbreitete. Er wollte schon nachsehen gehen, da klingelte das Diensthandy in seinem Mantel, den er vorhin zum Trocknen an den Schrank gehängt hatte. Unter Schmerzen erhob er sich und unterdrückte ein Stöhnen, obwohl niemand da war, der es hätte hören können.

Humpelnd erreichte er den Schrank und angelte nach dem Handy. Die Nummer ließ ihn kurz innehalten, bevor er das Gespräch entgegennahm. Wenn Geldorf persönlich anrief, musste es was wirklich Wichtiges sein.

»Dietrich«, meldete er sich knapp.

»Geldorf hier. Tut mir leid, wenn ich Sie aus dem Schlaf gerissen habe.« Für ihn ganz untypisch, zögerte der Polizeidirektor der Kriminalpolizeiinspektion Anklam, als wisse er nicht recht, wie er weitersprechen sollte.

»Haben Sie nicht«, fühlte Dietrich sich genötigt zu antworten.

»Gut. Gut …« Wieder zögerte Geldorf. »Sie wissen, dass der Kollege Johannsen noch längere Zeit krank ist, sonst würde ich nicht ausgerechnet Sie schicken. Abgesehen von Johannsen sind Sie sind nun mal der Einzige mit Ortskenntnis – wovon ich mir einen gewissen Vorteil verspreche. Ich würde das nicht von Ihnen verlangen, wenn ich nicht dächte, dass Sie das hinkriegen. Johannsen denkt das übrigens auch. Wir haben telefoniert.«

Dietrich wurde unruhig. Was sollte das Rumgeeiere? Tief in ihm rührte sich ein unangenehmer Verdacht. »Was gibt’s denn?«, fragte er mit leicht ungeduldigem Tonfall.

»Eine Leiche. Ein Jogger hat den Mann heute früh gefunden«, fuhr Geldorf fort. »Erschossen. Auf dem Fischland.«

Dietrich erstarrte für einen Augenblick. »Verstehe«, sagte er dann langsam. Er musste sich auf seinen nächsten Satz konzentrieren. »Weiß man schon, wer der Tote ist?«

Geldorf schien erleichtert, dass Dietrich so sachlich reagierte. »Der Kollege Harms ist auf dem Weg zu Ihnen, um Sie abzuholen, er wird Sie mit allen nötigen Informationen versorgen. Bei Ihrer Rückkehr wartet ein Team auf Sie, das Sie leiten werden.« Kein Zögern schwang mehr in Geldorfs Stimme, als er sich fast eilig verabschiedete.

Dietrich runzelte die Stirn. Er sollte die Mordkommission leiten? Dass man ihm das übertrug, war ungewöhnlich, sein Rang eigentlich nicht hoch genug. Da ging ihm auf, was Geldorf noch gesagt hatte. Tobias Harms war auf dem Weg zu ihm nach Hause. Dietrich wählte seine Nummer und erreichte ihn glücklicherweise rechtzeitig genug. Harms war gerade erst vom Hof gefahren, kehrte um und wartete unten auf ihn.

Dietrich schnappte sich seinen Mantel, holte die Dienstwaffe aus dem Schrank und machte sich humpelnd auf den Weg. Dabei kam er am Besprechungsraum vorbei, in dem schon drei Kollegen saßen. Dietrich fiel ein, dass Geldorf nicht auf seine Frage nach der Identität des Toten geantwortet hatte. Er war davon ausgegangen, dass sie noch unbekannt war, die Anwesenheit der bereits zusammengetrommelten Kollegen sprach jedoch für das Gegenteil. Er überlegte kurz nachzufragen, beschloss dann aber, keine Zeit mehr zu verlieren und sich alles von Harms erklären zu lassen.

Im Fahrstuhl lehnte er sich gegen die Wand und fuhr sich müde mit den Händen übers Gesicht. Er konnte nicht verhindern, dass ihm nun doch ein leises Stöhnen entschlüpfte. Die Schmerzen quälten ihn, als wüsste sein Körper, dass er heute noch mehr als sonst an das erinnert werden würde, was sich im Sommer auf dem Fischland abgespielt hatte.

Zu dem Zeitpunkt war er noch Kriminalkommissar ohne viel Aussicht auf Beförderung gewesen. Zu stur, zu viel eigener Kopf, dazu ein mangelnder Wille, sich unterzuordnen – alles keine karrierefördernden Eigenschaften. Dann war dieser Kunstgutachter in einer Pension in Wustrow ermordet aufgefunden worden, und Dietrich hatte sich dummerweise in die Theorie verbissen, dass die Pensionsbesitzerin Kassandra Voß mit drinhing, was sich bald als fataler Irrtum erwiesen hatte. Im Zuge der Ermittlungen war es zu dem Unfall gekommen, der ihn ein paar Tage ins Koma versetzt und ihm diverse Narben und einen Haufen Schrauben in seinem linken Bein eingebracht hatte. Dabei konnte er von Glück sagen, dass er überhaupt noch lebte. Anfangs hätten die Ärzte nicht darauf gewettet.

Als Folge dieses Ereignisses hatte die Aufklärung des Mordfalls ausgerechnet bei Kassandra Voß und ihren Freunden gelegen, die zwar keine Polizisten, dafür aber mit gesundem Menschenverstand, guter Kombinationsgabe – und leider auch einer großen Portion Leichtsinn gesegnet gewesen waren. Trotzdem war alles gut ausgegangen, und Dietrich bedauerte noch heute, dass er das Finale zwangsweise verpasst hatte.

Sozusagen als Ausgleich für das, was ihm widerfahren war, hatte man ihn schließlich doch noch befördert – jedenfalls konnte er sich keinen anderen Grund vorstellen.

Kriminaloberkommissar mit dreiundvierzig. Reife Leistung. Das und mehr waren die meisten anderen schon sehr viel früher.

Die Fahrstuhltür glitt auf, und Dietrich trat hinaus auf den Gang, auf dem es von irgendwoher zog. Auf der Straße beeilte er sich, durch den Regen zum Wagen zu kommen, aus dem Tobias Harms gerade ausstieg. Harms, der denselben Rang bekleidete wie er, war vor zwei Monaten von Hannover nach Anklam versetzt und vermutlich von den Kollegen recht gut über ihn informiert worden. Er hatte ihn jedoch nie persönlich gelöchert, obwohl dazu in den vergangenen drei Wochen seit Dietrichs Rückkehr in den Dienst genug Zeit gewesen wäre. Sie arbeiteten heute nicht zum ersten Mal zusammen.

»Morgen, Kay«, grüßte Harms und warf ihm den Autoschlüssel zu. »Fährst du?« Die Frage war rhetorisch, er hastete schon zur Beifahrerseite, und auch Dietrich stieg ein, so schnell sein Bein es ihm erlaubte. Er hatte sich nach dem Unfall bei der ersten Gelegenheit wieder hinters Steuer gesetzt, und es hatte ihm erstaunlicherweise nichts ausgemacht.

»Also«, forderte er Harms auf, der zehn Jahre jünger war als er und ungefähr das Doppelte wog, »was ist da los auf dem Fischland?«

Harms bedachte ihn mit einem vorsichtigen Blick, der Dietrich auf die Nerven ging. Er konnte nicht behaupten, allzu wild darauf zu sein, das Fischland wiederzusehen, aber er hasste es, mit Glacéhandschuhen angefasst zu werden.

»Brauchst du eine Extraeinladung, oder erzählst du von selbst, was ich wissen muss?«, fragte er.

»Okay, okay, schon gut. Die Kollegen von der Schutzpolizei, die die Fundstelle gesichert haben, sagen, dass ein verstörter Jogger um halb sechs die Notrufzentrale angerufen hat.« Harms hielt kurz inne. »Werde nie verstehen, wie man freiwillig bei jedem Wetter Sport treiben kann, und das noch vorm Aufstehen. Jedenfalls musste der Typ mal und hat dabei unweit des Steilufers zwischen Wustrow und Ahrenshoop in einem kleinen Waldstück den Toten entdeckt. Offenbar erschossen, zumindest deutet das Loch in seiner Stirn darauf hin, aber natürlich muss noch von der Rechtsmedizin verifiziert werden, ob das de facto die Todesursache war.«

Dietrich nickte und wiederholte die Frage, die er Geldorf schon gestellt hatte: »Wissen wir, wer der Tote ist?«

»Ein Mann namens Freese. Er hatte …«

Dietrich verriss das Steuer, der Wagen geriet ins Schlingern.

»Verdammt, Kay!«, brüllte Harms erschrocken, obwohl sie längst wieder sicher auf der Straße fuhren. Was er sonst noch sagte, hörte Dietrich nicht.

Es war grundsätzlich nicht seine Art, spontan Sympathie für jemanden zu empfinden. Paul Freese war die berühmte Ausnahme von der Regel gewesen, auch wenn er Kassandra Voß bei besagtem Fischland-Fall von Anfang an unterstützt hatte. Letztlich war es Freeses Persönlichkeit und seiner Überzeugungskraft zu verdanken gewesen, dass Dietrich sich entgegen jeder Polizeidienstvorschrift zur Zusammenarbeit mit den beiden entschlossen hatte. Kassandra Voß wiederum hatte sich Freeses Ausstrahlung wohl auch nicht entziehen können. Als die beiden ihn damals im Krankenhaus besuchten – gleich nachdem die Ärzte es erlaubt hatten und ein weiteres Mal kurz vor seiner Entlassung –, hatte er nicht übersehen können, dass sie inzwischen weit mehr als nur Freunde waren. Gewesen waren, korrigierte er sich. Denn jetzt war Paul Freese tot.

Dietrich pappte das Blaulicht aufs Wagendach, drückte das Gaspedal bis zum Anschlag durch und raste in wahnwitziger Geschwindigkeit in Richtung Fischland.

1

Zwei Tage zuvor

Kassandra zog die Haustür zu und warf einen kritischen Blick in den dunklen, wolkenverhangenen Himmel. Ein Windstoß wehte ihr dabei die braunen schulterlangen Haare ins Gesicht. Kurz betrachtete sie im Lichtschein eines vorbeifahrenden Autos zweifelnd die grün-weiße Tür des alten Kapitänshauses, in dem sie im Frühjahr ihre Pension »Woll tau seihn« eröffnet hatte. Sie war sich ziemlich sicher, dass es früher oder später zu regnen beginnen würde, aber wenn sie jetzt wieder reinging und ihren Schirm suchte, würde sie sich noch mehr verspäten. Entschlossen klappte sie ihren Mantelkragen hoch und lief von der Lindenstraße, in der sich Kapitänshäuser wie ihres in den schönsten Variationen wie Perlen an einer Schnur aufreihten, in den Birkenweg, der direkt auf den Platz mit der Alten Eiche mündete. Im Sommer war das ein lauschiges Plätzchen. Um die Eiche stand eine Rundbank, und man konnte von hier aus die alte Feuerwehr mit dem roten Backsteinturm betrachten, in der Hand ein Kuchenstück vom Bäcker an der Ecke. Das einzig Lauschige an diesem Abend war der große erleuchtete Wintergarten des Hauses gegenüber der Eiche, und genau das war ihr Ziel.

Vor einigen Monaten war Inga Lange aufs Fischland gekommen, hatte dieses Haus in Rekordzeit gekauft und umgebaut und daraus die neueste Attraktion Wustrows gemacht, das Restaurant »FischLänder«.

Es wäre übertrieben gewesen zu sagen, dass Ingas häufige Anwesenheit und die Eröffnung des Restaurants Wustrow spalteten. Aber es gab fraglos sowohl energische Befürworter als auch erbitterte Gegner der Tatsache, dass sich auf das beschauliche Fischland eine Star-Köchin verirrt hatte, die jeder, der wenigstens ab und zu mal den Fernseher einschaltete, sofort erkannte. Was natürlich entsprechenden Rummel mit sich brachte, den nicht alle begrüßten.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah Kassandra eine reglose Gestalt zum Restaurant hinüberstarren. Das wäre an jedem anderen Tag nicht weiter ungewöhnlich gewesen, denn es standen häufig Leute hier und warteten darauf, einen Blick auf Inga werfen zu können, wenn im Restaurant kein Platz mehr zu ergattern war. Allerdings harrten die selten bei so ungemütlichem Wetter aus, mittlerweile hatte es nämlich etwas zu stieben begonnen. Kassandra schüttelte den Kopf. Manche übertrieben es eindeutig mit der Star-Verehrung.

Der Weg zur dunkelgrünen Eingangstür des »FischLänder« führte durch einen Vorgarten, der von einer Vielzahl kleiner Lampen beleuchtet wurde, winzige Regentröpfchen tanzten in den Lichtkegeln. Als Kassandra die Tür aufstieß, ließ sie ihren Blick durch den in hellen Farben und geraden Linien eingerichteten Raum schweifen. Der Gegensatz zwischen diesem durchgestylten, aber nicht ungemütlichen Inneren und dem Äußeren des in kräftigem Rot gestrichenen rohrgedeckten Fachwerkhauses faszinierte sie immer wieder aufs Neue. Schließlich entdeckte sie Jonas, Violetta, Mona und Paul an einem der runden Holztische.

Paul musste gespürt haben, dass sie gekommen war. Er sah hoch, direkt in ihre Augen. Unwillkürlich schluckte Kassandra. Sie waren seit vier Monaten zusammen, und sie bekam immer noch weiche Knie, wenn er sie mit diesem warmen Lächeln ansah. Dass sie mit ihren vierunddreißig Jahren zwanzig Jahre jünger war als er, hatte anfangs einige irritiert, nicht zuletzt Paul selbst, aber schon nach kurzer Zeit hatte es keine Rolle mehr gespielt.

Paul stand auf, um mit einem Kuss ihre Wange zu streifen, nahm ihr den Mantel ab und legte ihn über einen freien Stuhl. An solche Höflichkeiten hatte sie sich gewöhnen müssen, aber es gefiel ihr.

»Entschuldigt, dass ich zu spät bin«, sagte sie und klopfte auf den Tisch, um alle zu begrüßen.

»Kein Problem. Sind deine Gäste gut angekommen?«

Kassandra nickte. »Der übliche Stau bei Hamburg hat sie über eine Stunde aufgehalten. Dabei wäre ich gerade heute gern pünktlich gewesen.«

»Ach, Kassandra, so was Besonderes ist das hier ja nun auch wieder nicht. Ist doch bloß ein Buch«, sagte Jonas mit todernster Miene, die er aber nicht lange durchhielt, vor allem, weil Mona ihn in die Seite pikste und kicherte.

Die beiden eines Tages an einem Tisch sitzen zu sehen, hätte Kassandra nicht für möglich gehalten. Ihre langjährige Freundin Mona lebte in Stralsund, war Inhaberin von »Kolbert Colliers«, einer Goldschmiede mit mehreren Filialen in Norddeutschland, und trug auch heute Abend anscheinend alles an sich, was keinen Platz mehr im Nachttresor gefunden hatte. Kassandras Nachbar Jonas, der einen Souvenirshop betrieb und im Sommer auf dem Saaler Bodden, dem flachen Binnengewässer auf der anderen Seite Wustrows, Zeesboot-Touren für Urlauber durchführte, war mehr von der bodenständigen Sorte und hatte nicht viel übrig für Glitzerkram und Mondänes. Aber Mona mochte er erstaunlicherweise.

»Was soll das denn heißen: ›nur ein Buch‹?«, schaltete sich Paul jetzt gespielt empört ein.

»Aber echt, das ist ja wohl unglaublich, wie kannst du so was nur denken, Pauls Roman wird garantiert wieder wochenlang auf sämtlichen Bestsellerlisten stehen, er wird sich vor Lesern kaum retten können, und wenn er endlich mal sein Pseudonym lüften würde, hätte Wustrow ganz offiziell noch eine Berühmtheit!«, bekräftigte Violetta wie gewohnt ohne Punkt und Komma, um anschließend in Monas Kichern einzufallen.

»Lieber nicht, eine reicht vollkommen«, wehrte Paul schmunzelnd ab, bevor er sich an Jonas wandte. »Aber mit dem ersten Teil hat Violetta ganz recht, Jonas, alter Freund. Wenn du nicht bald den gebührenden Respekt an den Tag legst, kannst du deine Rechnung nachher selbst bezahlen. Und das wird nicht billig, wenn ich mir ansehe, was heute als Empfehlung des Tages auf der Karte steht.«

Jonas machte ein erschrockenes Gesicht. »Verzeihung. Selbstverständlich wirst du den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und den Deutschen Buchpreis obendrauf gewinnen. Mindestens. Zahlst du nun meine Rechnung? Sonst muss ich gleich wieder gehen, ich fürchte nämlich, ich kann mir den Island-Heilbutt in … wie heißt diese Soße? Also, ich kann mir das nicht leisten.«

»Weil du’s bist«, sagte Paul und lachte.

»Jetzt zeig schon endlich«, forderte Mona ihn auf.

Zögernd legte Paul ein gebundenes Buch, dessen Cover einen von Nebel verhüllten Strand mit Steilküste zeigte, auf den Tisch und sah dabei einen Moment lang aus, als wünschte er sich sehr weit weg. Kassandra konnte sich vorstellen, warum. Es lag ihm überhaupt nicht, Aufheben um sich und das, was er tat, zu machen. So wussten zwar in Wustrow viele, dass er als Alexander Hardenberg mehrere Romane über Menschen und die See geschrieben hatte, die tatsächlich allesamt auf der Bestsellerliste gelandet waren. Über die Grenzen des Fischlandes hinaus dagegen ahnte kaum ein Leser etwas von der wahren Identität Hardenbergs, und das sollte so bleiben, auch wenn Violetta das bedauern mochte. Pauls neues Buch, »Seegeflüster«, war eine Sammlung von Erzählungen, die er während der letzten Jahre verfasst und nun zwischen zwei Bänden einer Roman-Trilogie veröffentlicht hatte. Die heutige Feier dazu war Monas Idee gewesen, und hätte sie bei dem Vorschlag nicht so erwartungsvoll gestrahlt, hätte er ihn rundweg abgelehnt.

Fast ehrfürchtig begutachtete sie jetzt Pauls neuestes Werk und reichte es dann an Violetta und Jonas weiter.

Im Gegensatz zu den anderen hatte Kassandra das Buch schon in den Händen gehabt und schaute zu Paul. Er hatte sich zurückgelehnt und ließ seinen Blick durch das Restaurant schweifen. Sie sah, wie er plötzlich die Stirn in Falten legte und kurz darauf erstarrte.

»Paul?«, fragte sie. Er reagierte nicht, und Kassandra war nicht sicher, ob das daran lag, dass es zu laut im Raum war und sie zu leise gesprochen hatte, oder ob er mit den Gedanken ganz woanders war. Unvermittelt fuhr er herum, schaute zur Tür, als würde er jemanden suchen. Kassandra folgte seinem Blick, sah jedoch nur noch den Zipfel eines dunklen Mantels, bevor die Tür endgültig zufiel.

»Paul?«, fragte sie erneut und berührte seinen Arm. »Ist alles in Ordnung?«

Sehr langsam wandte er sich ihr zu. »Ja. Sicher.« Der Ausdruck in seinen graublauen Augen strafte seine Worte Lügen. Es lag etwas darin, das Kassandra nie zuvor bei ihm gesehen hatte: eine Mischung aus Unglauben und … Hass? Sie erschrak über die Tiefe des Gefühls, das da in ihm brodelte. Es dauerte nur ein, zwei Sekunden, dann war der Spuk vorbei. »Sicher«, wiederholte Paul und lächelte.

Die nächsten zwei Stunden vergingen wie im Flug. Ab und zu kam jemand an den Tisch, um Paul zu begrüßen. Er kannte eine Menge Leute, und die meisten mochten ihn. Obwohl er gelegentlich etwas abwesend wirkte, deutete an diesem Abend nichts mehr auf das hin, was Kassandra geglaubt hatte zu sehen, sodass sie sich am Ende fragte, ob sie sich nicht vielleicht doch getäuscht hatte. Das Dessert, ein Schicht-Parfait aus Zartbitter-, Vollmilch- und weißer Schokolade, servierte Inga Lange persönlich.

»Viel Glück mit dem Buch muss ich dir ja nicht extra wünschen«, sagte sie mit einem Zwinkern zu Paul. Sie war eine attraktive, jungenhaft schlanke, aber durchtrainierte Frau Anfang dreißig mit einem weißblonden Igelhaarschnitt und einem markanten Schlangentattoo im Nacken, das unter dem Haaransatz endete. Wo es anfing, wusste von den Personen am Tisch nur Mona, denn sie und Inga waren ein Paar. Diese Tatsache hatte Kassandra einigermaßen überrascht. Sie hatte zwar gewusst, dass Mona gelegentlich auch Affären mit Frauen hatte, aber was Ernstes war da nie gewesen. Bis Inga kam. Als Mona zum ersten Mal mit der Star-Köchin bei Kassandra aufgetaucht war, zeigte die sich von Wustrow so begeistert, dass sie postwendend beschloss, in dem zum Verkauf stehenden Haus das »FischLänder« zu eröffnen, zusätzlich zu ihrem Restaurant in Stralsund.

»Kann aber auch nicht schaden, das mit dem Glück«, erwiderte Paul und nahm einen Löffel vom Parfait. »Das ist köstlich. Wie schaffst du es, solche Sachen zu fabrizieren und kein Gramm zuzunehmen?«

Inga lachte und fuhr spielerisch und wie nebenbei mit ihren Fingern durch Monas kupferfarbene Locken. »Berufsgeheimnis«, sagte sie. »Und Muckibude. Guten Appetit weiterhin.« Damit verschwand sie wieder in Richtung Küche.

Eine halbe Stunde später traten Kassandra, Paul, Jonas und Violetta in die Nacht hinaus. Mona war bei Inga geblieben, die über dem Restaurant eine Wohnung hatte. Violetta verabschiedete sich nun ebenfalls, und die anderen machten sich auf den kurzen Weg in die Lindenstraße.

»Kochen kann sie ja«, meinte Jonas. »Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob dieser ganze Zirkus um Frau Lange Wustrow guttut. Dehnerts nebenan hatten neulich den ganzen Vorgarten voller Zigarettenkippen und anderem Müll von Inga-Lange-Pilgern. Diesen Leuten ist doch völlig wurscht, ob sie auf dem Fischland oder auf Mauritius sind. Hauptsache, sie kriegen ihren Star zu Gesicht.«

Kassandra schüttelte aufgebracht den Kopf. »Vielleicht muss man eine Weile warten, bis sich die erste Aufregung wieder legt«, meinte sie trotzdem. »Ich hab gehört, in Stralsund hat sich die Meute halbiert.«

»Klar«, sagte Jonas. »Weil die andere Hälfte jetzt hier rumlungert.«

»Aber das ist nicht Ingas Schuld. Ich mag sie. Außerdem macht sie Mona glücklich. Ein Punkt, der für sie spricht, abgesehen von ihrer Kochkunst.«

»Ich hab ja nichts gegen sie persönlich. Und Mona ist wirklich eine Nette, verzeih, dass ich das mal angezweifelt habe. Übrigens hab ich Inga sagen hören, sie hätte Interesse an den Plänen für ein Café am neuen Leuchtfeuer. Weiß der Himmel, wie sie von diesen ollen Kamellen Wind gekriegt hat. Was meinst du, Paul, Herr Gemeindevertreter?«

Paul schwieg, und Jonas stieß ihn in die Rippen. »Träumst du schon vom Literaturnobelpreis?«

»Hm?«

»Schon gut, träum weiter«, sagte Jonas. »Und du schlaf auch gut«, fügte er an Kassandra gerichtet hinzu, vor deren Haus sie angekommen waren. »Bis die Tage, bin ja ab morgen weg. In Schottland ist das Wetter zwar bestimmt nicht besser, aber da wollte ich eben schon immer mal Urlaub machen. Kümmerst du dich um meine beiden Pflanzen?«

»Wenn du glaubst, dass ich die damit noch retten kann, gern«, sagte Kassandra lächelnd. Sie beugte sich vor, um Jonas kurz zu umarmen. »Viel Spaß.«

»Danke.« Jonas winkte Paul zu, der die Geste erwiderte, und ging die paar Schritte zu seinem eigenen Haus.

»Ist nicht leicht für ihn«, meinte Paul leise. »Ich wollte, wir hätten ihm das nicht antun müssen.«

Kassandra nickte, während sie aufschloss und mit Paul in den Flur trat. »Aber du bist hoffentlich nicht der Ansicht, dass ich statt mit dir lieber mit Jonas zusammen sein sollte, bloß weil er sich das gewünscht hat.« Es sollte leicht klingen, doch offenbar kam es bei Paul nicht so an. Er stand in der nur indirekt beleuchteten Diele und betrachtete sie lange, bis er sie an sich zog und festhielt.

»Nein, Liebes. Bin ich nicht«, murmelte er. Was er noch sagte, war zu undeutlich, als dass Kassandra es richtig verstehen konnte. Es klang wie: »Obwohl es vielleicht besser wäre.« Sie kam nicht dazu nachzufragen, weil Paul sie zu küssen begann.

2

Am nächsten Morgen hatte sich das nasskalte Wetter verzogen, die Sonne kam heraus, sodass sich Kassandra und Paul am frühen Nachmittag für einen Strandspaziergang warm einpackten. Wann immer sie Zeit fanden, waren sie an der See. Paul war hier geboren, er kannte sich aus wie kein anderer. Er war derjenige, den man fragen musste, wenn man irgendwas über das Fischland wissen wollte. Wahrscheinlich gab es nur wenige, die sich so mit dieser Gegend verbunden fühlten wie er, der einmal gesagt hatte, nur der Tod könne ihn von hier vertreiben. Kassandra war erst im Jahr zuvor hergezogen, aber sie hatte Pauls Liebe zum Fischland vom ersten Moment an verstanden.

Von Weitem sahen sie den alten Bruno die Seebrücke entlanggehen. Er blieb kurz stehen und schaute in ihre Richtung. Sie winkten, aber wahrscheinlich waren sie zu weit weg, denn er reagierte nicht.

»Bruno sollte mal zum Augenarzt«, meinte Kassandra belustigt. »Stell dir vor, er kann seine Fische nicht mehr sehen.«

Paul lachte. »Dazu lässt er es nicht kommen.«

Bruno war der vermutlich leidenschaftlichste Angler von ganz Mecklenburg. Bei gutem Angelwetter verging kein Tag, an dem er nicht am Kopf der Seebrücke stand und meist auch ordentlich Ausbeute mit nach Hause brachte.

Was er aus der See holte, waren allerdings nicht notwendigerweise nur Fische. Das einprägsamste Objekt war ein Turnschuh gewesen– einer, in dem noch ein Fuß steckte. Natürlich hatten alle an ein Verbrechen gedacht. Tatsächlich hatte es, wie sich bald herausstellte, an Bord eines Frachters einen tragischen Unfall gegeben, deren Auswirkungen an Wustrows Küste gespült worden waren.

In Erinnerung daran verzog Kassandra das Gesicht und lächelte gleichzeitig. Wer Bruno nicht kannte und sein wettergegerbtes Gesicht sah, wäre nicht auf die Idee gekommen, dass er kein Fischer war, sondern früher einmal Wustrows Schüler unterrichtet hatte. Er war außerdem der beste Freund von Pauls Vater gewesen. Auch Paul hatte sich schon immer gut mit ihm verstanden, und nach dem Tod seines Vaters war die Freundschaft zu Bruno noch enger geworden.

Kassandra und Paul liefen unterhalb des Steilufers, das nur hier und da von kargem Gebüsch bewachsen war, in Richtung Ahrenshoop, vorbei an den in der See liegenden Überresten zweier alter Bunkerruinen. Einer war mit einem recht kunstvollen Graffito besprüht, das eine Fackelträgerin zeigte, auf dem zweiten hatte sich eine Möwe niedergelassen. Kassandra hielt ihre kleine Kamera darauf und machte mehrere Bilder. Vor einiger Zeit hatte sie das Fotografieren für sich entdeckt und fand an der See mehr als genug Motive. Sie und Paul redeten nicht viel, sondern genossen die kalte, klare Luft, blieben öfter stehen, um die hereinrollenden Wellen zu betrachten oder um die Steine nach kleinen Kostbarkeiten zu durchforsten. Am Ende fand Kassandra einen versteinerten Seeigel und einen Hühnergott– einen Feuerstein mit einem Loch. Paul strich mit seinem Finger darüber. »Bringt Glück!«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!