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Pensionswirtin Kassandra Voß hat alle Hände voll zu tun: Aus heiterem Himmel taucht ihr krimineller Exmann auf und bittet um ihre Hilfe. Doch bevor er erklären kann, worum es geht, verschwindet er spurlos – ebenso wie die Tote, die ihr Nachbar auf einem Zeesboot im Hafen entdeckt hat. Auf der Suche nach Antworten stößt Kassandra auf ein siebzig Jahre altes Geheimnis um ein verschollenes Fischländer Kunstwerk. Und auf so manch einen, der dafür über Leichen geht . . . Gefährliche Spurensuche vor unheilvoll-schöner Urlaubskulisse: ein Küsten Krimi mit Flair.
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Seitenzahl: 605
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Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane– unter anderem den Fischland-Roman »Die verborgene Kammer«(2009) sowie die Küsten Krimis »Fischland-Mord«(2012), »Fischland-Rache«
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. In diesem Roman tauchen viele Namen auf, die so oder ähnlich auf dem Fischland gebräuchlich sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig– mit Ausnahme von Karsten Voß, dem ich für sein freundliches Einverständnis danke. Die Figur Cyrus Doyle erscheint in diesem Roman mit freundlicher Genehmigung von Jörg Kastner. Dieser Roman wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur,
©2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: mauritius images/imageBROKER Carsten Leuzinger Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-109-3 Küsten Krimi Originalausgabe
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Für Jörg–den besten und geduldigsten Ehemann von allen
1
»Tag, Kassandra. Hast es ja richtig nett hier.« Der Mann, der vor ihrer Tür stand, lächelte und breitete gleichzeitig seine Arme aus– eine Geste, die das alte Kapitänshaus, den Vorgarten voller weißer Stockrosen, die Lindenstraße, ja sogar ganz Wustrow mit einzuschließen schien.
Kassandra brauchte einen Moment, bis das Unfassbare in ihr Bewusstsein drang, dann tobte in ihr ein Wirbelsturm der Gefühle: Verwirrung, Unglauben, Erschrecken und die Frage, wie sie reagieren sollte. Gerade eben noch hatte sie sich in ihrem Büro bei der leidigen Verwaltungsarbeit für ihre Pension »Woll tau seihn« gelangweilt und sich dafür umso mehr auf den Abend mit Paul gefreut. Nun war von einer Sekunde auf die andere alles auf den Kopf gestellt.
»Hat’s dir die Sprache verschlagen, Kassy, Täubchen?«, fragte ihr Exmann Sven Larsen mit sichtlicher Genugtuung.
Er hatte sich verändert, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Das war im November 2011 gewesen, im Besucherraum der Justizvollzugsanstalt in Stralsund. Während ihrer Ehe, bevor er wegen Wirtschaftskriminalität zu einer fünfjährigen Haftstrafe verurteilt worden war, war Sven ein attraktiver Mann gewesen, groß, mit vollen braunen Haaren und strahlenden blauen Augen. Im Gefängnis war er zu einem Schatten seiner selbst geworden– das Haar schütter, die Augen matt; er hatte kleiner, blass und vor allem resigniert gewirkt. Die Zeit seit seiner Entlassung wiederum hatte ihm gutgetan. Eine leichte Bräune lag auf seinem Gesicht, sein von der Sonne der letzten Monate gebleichtes Haar war wieder kräftiger und passte zu seinem Vollbart, der Kassandra zwar irritierte, ihm aber erstaunlich gut stand. Dennoch. Da war etwas in seinen Augen, was sein spöttisches, selbstsicheres Auftreten Lügen strafte.
Noch immer fühlte sie sich überfordert von der Situation, die sie unwillkürlich an das einige Jahre zurückliegende Zusammentreffen zwischen Paul und seinem Bruder Sascha erinnerte. Es hatte sich ihr unauslöschlich eingebrannt, einschließlich der Vorahnung, die sie auch jetzt wieder beschlich– dass Unheil bevorstand.
»Was willst du?«, brachte Kassandra heraus, ehe ihr bewusst wurde, dass sie sogar dieselben Worte benutzte, die Paul seinem Bruder gegenüber gebraucht hatte. Sascha war kurz darauf erschossen worden.
»Das würde ich ungern auf deiner Türschwelle besprechen«, sagte Sven. »Möchtest du mich nicht reinbitten?« Er sah, dass sie zögerte, und grinste. »Ist bestimmt auch besser für dich, könnte sonst Gerede geben, falls mich jemand erkennt. Ich nehme doch nicht an, dass ich in diesem Kaff mittlerweile beliebter geworden bin.«
Sven Larsen war den Wustrowern in der Tat ein rotes Tuch, seit er vor etlichen Jahren mit seinem angeblichen Bauvorhaben um die damals bereits seit Langem leer stehende Seefahrtschule viele Fischländer um ihr Geld gebracht hatte. Seine Pläne schienen fundiert zu sein, basierten in Wahrheit jedoch auf einem einzigen großen Schwindel, und so hatten viele ihre Investitionen nie wiedergesehen. Dabei war die Enttäuschung, dass aus dem Bauprojekt wieder mal nichts wurde, mindestens ebenso schmerzlich gewesen. Niemandem hatte es leidgetan, als Sven deswegen und wegen einer Menge ähnlicher betrügerischer »Projekte« anderswo schließlich in den Knast wanderte. An der Einstellung hatte sich mit Sicherheit nichts geändert– das Fischländer Gedächtnis funktionierte hervorragend.
Das mögliche Gerede allerdings war nicht der Grund, weshalb Kassandra die Tür nun tatsächlich weiter öffnete und Sven eintreten ließ. Sie hatte das Gefühl, dass das Schicksal seinen Lauf nehmen würde, was immer sie auch tat. Da wollte sie wenigstens wissen, warum er hier war.
»Danke.« Sven schob sich an ihr vorbei in die Diele, wo er stehen blieb und sich umsah. »Hätte früher nie gedacht, dass du mal so heimelig wohnen würdest.« Er zwinkerte ihr zu, und wieder hatte sie den Eindruck, dass seine gute Laune aufgesetzt war.
»Du hast mich eben nicht besonders gut gekannt. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben: Als wir heirateten, kannte ich mich selbst kaum.« Sie ging voran ins Wohnzimmer, wo sie sich wieder zu ihm umdrehte und sich fragte, ob sie ihm einen Platz anbieten sollte.
Sven nahm ihr die Entscheidung ab, indem er sich einfach in einen Sessel setzte. Erneut sah er sich um, sein Blick wanderte durch den gemütlichen Raum mit den hellen Möbeln, einer von Kassandras eigenen Fotografien der Wustrower Seebrücke an der Wand und der Glasvase mit Sonnenblumen darin auf dem Tisch. Durch die offene Terrassentür schaute er in den großzügigen Garten, dessen bunte Blumen im Spätnachmittagslicht besonders schön leuchteten. »Nett.«
»Du wiederholst dich.« Kassandra beschloss, zum Angriff überzugehen, und verbannte die Unsicherheit aus ihrer Stimme. »Also, was führt dich zu mir?«
Sven, der sie bei dieser Frage noch aufmerksam gemustert hatte, sah zur Seite. »Ich… brauche Hilfe.«
Kassandra hätte mit allem gerechnet, damit nicht. Immerhin erklärte es dieses diffuse Etwas in seinen Augen. »Wobei? Ein ehrlicher Mensch zu werden?«
»Sehr witzig.« Die Worte klangen unentschlossen, als würde er nicht wissen, ob er wütend oder belustigt sein sollte. Oder als ob er sich zwingen musste, nicht wütend zu werden.
»Die einzige Alternative, die mir einfällt, ist, dass du mich um Geld bitten willst.« Kassandra war bisher stehen geblieben, jetzt setzte sie sich ihm gegenüber in den anderen Sessel. »Aber das passt nicht zu dir. Abgesehen davon: Du müsstest jetzt schon eine ganze Zeit wieder draußen sein. Bei deinen Talenten wirst du doch sicher einen Job haben.«
Svens Augen verdunkelten sich. »Besten Dank für dein Vertrauen.« Er hatte einigermaßen locker zurückgelehnt dagesessen, jetzt richtete er sich auf und starrte Kassandra provozierend an. »Ich bin hier, um eine Schuld einzutreiben.«
»Schuld?« Als Kassandra ihn im Gefängnis besucht hatte, war das aus einer Not heraus geboren gewesen. Sie hatte gehofft, von ihm Informationen über Sascha zu bekommen, und Sven hatte ihr tatsächlich ein paar Dinge erzählt– von denen ein Teil allerdings schlicht gelogen gewesen war. »Von mir? Wenn ich dich erinnern darf: Du hast mir damals nicht nur Nützliches verraten, sondern auch einen ziemlichen Bären aufgebunden.« Sie unterließ es, ihm zu sagen, dass sie ihn dabei schnell durchschaut hatte. »Nicht zu reden von dem Ärger, den ich bei anderer Gelegenheit mit der Polizei hatte, weil du die über ein winziges Detail mich betreffend angelogen hattest. Ich denke, wir sind quitt.«
»Quitt nennst du das?« Sven hielt es nicht mehr im Sessel. Er baute sich vor Kassandra auf. »Deine Aussage hat dazu beigetragen, dass ich fünf Jahre lang jeden einzelnen Tag durch die Hölle gegangen bin– und glaub mir, im Knast haben die Tage achtundvierzig Stunden, keine läppischen vierundzwanzig. Du bist mir eine Menge schuldig!«
Obwohl Sven ihr wenig Raum ließ, erhob sich Kassandra, damit er nicht länger auf sie heruntersehen konnte. »Ich dachte eigentlich, das Thema hätten wir hinter uns.« Ihre Stimme war ebenso laut wie die von Sven, und es war ihr vollkommen egal, dass die Terrassentür offen stand und man das draußen hörte. »Du bist für nichts verurteilt worden, was ich getan habe, sondern für das, was du getan hast. Als wir uns das letzte Mal sahen, kam es mir eigentlich so vor, als hättest du das endlich eingesehen.«
»Du hast keine Ahnung, was in mir vorgeht!«, donnerte Sven. »Jetzt tu bloß nicht so, als wärst du eine Heilige. Nistest dich in diesem Dorf ein, fast noch mit Blick auf diese verfluchte Seefahrtschule, mit der ich überhaupt erst anfing, den Bach runterzugehen. Fandest du wohl besonders gelungen, was? Aber das ändert alles nichts, du bist mir was schuldig«, wiederholte er, kaum ruhiger als zuvor. »Du und das Fischland, ihr seid mir beide was schuldig. Ihr werdet mir helfen!«
Sven musste übergeschnappt sein, kein Zweifel. Kassandra war fassungslos ob seiner absurden Forderung und spürte zu ihrer Überraschung, dass sich ein Lachen in ihr emporkämpfte. Es gelang ihr nicht, es zu unterdrücken, es platzte aus ihr heraus. »Und was willst du vom Fischland? Wobei sollen die Wustrower dir helfen? Sven, wach auf. Die werden dich zum Teufel jagen, und das zu Recht.«
So laut, wie Svens Stimme eben noch gewesen war, so leise wurde sie jetzt. »Du lachst mich aus?« Ein Schritt genügte, er stand vor dem Tisch, griff nach der Vase und schleuderte sie aufs Parkett. Der Lärm war ohrenbetäubend, das Glas zersplitterte in tausend Teile, Wasser spritzte durch den Raum, die Sonnenblumen landeten in der Lache zwischen den Scherben. »Wag das ja nicht!«, brüllte Sven und kam auf sie zu.
Kassandras Instinkt befahl ihr, ihm auszuweichen, raus in den Garten zu laufen. Sie war nicht schnell genug. Er packte sie an den Schultern und schubste sie in den Sessel zurück, drückte ihre Arme auf die Lehnen und starrte sie an, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt. Die Zeit schien stillzustehen. Kassandra versuchte, in Svens Augen zu lesen, was er dachte, doch sie sah nur, dass er dasselbe bei ihr versuchte. Dann hörte sie ein Geräusch. Sven wurde von ihr fortgerissen, so heftig, dass sie beinah aus dem Sessel gerutscht wäre, weil er sich zuerst an ihr festklammerte.
»Wenn du sie noch ein einziges Mal anfasst, wirst du dich zurück in den Knast wünschen!«
Kassandra spürte mehr, als dass sie sah, wie Sven um sein Gleichgewicht kämpfte. Als er es fand, wollte er sich auf seinen Angreifer stürzen, hielt jedoch mitten in der Bewegung inne. Er war über zwanzig Jahre jünger und hätte ihn unter anderen Umständen wahrscheinlich überwältigen können, aber gegen die sehr scharfe und sehr spitze Heckenschere, die auf ihn gerichtet war, hatte er keine Chance.
Sven atmete durch und fing sich. »Heinz Jung, richtig? Sie wissen ja selbst ziemlich gut, wie es sich anfühlt im Gefängnis. Jedenfalls sahen Sie nicht sonderlich glücklich aus da drin– war sicher für einen ehemaligen Polizisten erst recht keine Freude.«
»Verschwinde«, sagte Kassandras Onkel, ohne auf die Provokation einzugehen, die sich darauf bezog, dass er kurzzeitig in Stralsund in Untersuchungshaft gesessen hatte. »Sofort.«
»Sonst was?«
Heinz machte einen Schritt auf ihn zu. »Sonst könnte ich mich entschließen, die zweckzuentfremden.« Er wog die Heckenschere in seiner Hand.
Kassandra verfolgte das Duell und konnte kaum glauben, was in der letzten Viertelstunde aus diesem beschaulichen Freitag geworden war. Sie hatte keine Angst mehr vor Sven, dafür umso mehr um Heinz– davor, dass er etwas tun könnte, was er später bereute. »Heinz…«, begann sie.
»Willst du, dass er bleibt?«, fragte er in einer Mischung aus Spott und Zorn, wobei er Sven unvermindert taxierte.
»Nein, natürlich nicht. Er…«
»Du hast sie gehört, Larsen«, sagte Heinz, ohne weiter zuzuhören. »Raus. Ich begleite dich gern zur Tür, wenn du den Weg nicht allein findest.«
Sven schaute von ihm zu Kassandra. Die Aggressivität war aus seiner Körperhaltung und seinem Gesicht verschwunden. Er schien etwas sagen zu wollen, doch dann drehte er sich wortlos um und ging.
Kassandra hörte seine Schritte im Flur und kurz darauf, wie die Haustür geöffnet wurde und wieder ins Schloss fiel. Sie stieß die Luft aus, die sie angehalten hatte, und merkte erst jetzt, wie angespannt sie gewesen war. »Danke«, sagte sie. »Wer weiß, was er getan hätte, wenn du nicht gekommen wärst.«
»Dazu sind gute Nachbarn ja da.« Heinz hatte die Schere auf den Tisch gelegt, trat zu ihr und berührte ihren Arm.
Immer noch etwas benommen, schüttelte Kassandra den Kopf. »Ich hab keine Ahnung, was in ihn gefahren ist. Er schien ganz normal, als er kam. Dann hat er sich in völlig irrationale Ideen hineingesteigert, und dann…«
»Setz dich erst mal und komm zur Ruhe. Ich kümmere mich um das da«, er deutete auf den Fußboden, »und danach können wir reden.«
»Ich kann jetzt nicht still auf dem Sofa sitzen. Lass uns das zusammen beseitigen.«
Während sie Hand in Hand arbeiteten, erzählte Kassandra von Anfang an. Heinz runzelte ab und zu die Stirn, blieb aber stumm, bis sie geendet hatte.
»Ich hätte Sven Larsen für alles Mögliche gehalten, aber nicht für dämlich. Er sollte wissen, was die Wustrower von ihm halten und dass hier niemand auch nur den kleinen Finger krümmen würde, um ihm zu helfen.«
Heinz wäre sogar der Allerletzte, der das täte, dachte Kassandra. Sie hatte ihn damals noch nicht gekannt, wusste aber, dass er nahezu sein ganzes Vermögen in Svens »Projekt« gesteckt hatte. Kurz darauf war auch noch seine Frau gestorben, es waren dunkle Zeiten für ihn gewesen.
»Ich möchte wissen, wobei er überhaupt Hilfe wollte«, sagte Kassandra. »Er war so damit beschäftigt, mich zu überzeugen, ich sei ihm etwas schuldig, dass er gar nicht mehr zum Punkt kam.«
»Hm«, machte Heinz. Das gröbste Chaos war beseitigt, die Blumen und die großen Scherben aufgesammelt, die kleineren mit dem Wasser aufgewischt und in einem dicken Scheuertuch ebenfalls im Müll. Er warf einen prüfenden Blick auf das Parkett und die kleinen Zwischenräume, in denen sich noch Glassplitter befanden. »Wir brauchen einen Staubsauger.«
Kassandra holte ihn aus der Küche und fragte sich, wie sie Heinz’ »Hm« interpretieren sollte. Als sie zurückkam, nahm er ihr den Staubsauger ab und arbeitete gründlich mit der Düse, um auch die letzten Splitter zu erwischen. Die ganze Zeit über schwieg er, aber Kassandra ahnte, dass er über Sven nachdachte, und sie unterbrach seine Gedanken nicht.
Nachdem im Wohnzimmer abgesehen vom Fehlen der Vase wieder alles aussah wie vor Svens Besuch, setzte Kassandra Kaffee für Heinz auf. Er hatte nichts übrig für die Kapseln, die sie sonst benutzte, und heute hatte er sich seinen Lieblingskaffee noch mehr verdient als sonst.
Heinz schmunzelte, als sie mit der Kanne auf die Terrasse kam und die Tasse vor ihn hinstellte. »Ah, frisch aufgebrüht. Danke, dass du daran gedacht hast. Steter Tropfen und so weiter…« Er nahm einen Schluck, lehnte sich zurück und betrachtete den Garten, der so ruhig und friedlich dalag, als wäre nichts geschehen. »Dein Ex hat schon immer ganz genau gewusst, was er wollte, und ich glaube nicht, dass sich daran was Wesentliches geändert hat. Also gehe ich davon aus, dass das, was er diesmal will, tatsächlich was mit Wustrow zu tun hat, und er will es so dringend, dass er die Logik über Bord schmeißt und dich dafür sogar bedroht. Falls das Getue echt war.«
»Was sollte er damit bezwecken, mir was vorzuspielen?«
»Keine Ahnung«, gab Heinz zu. »Es ist nur so, dass ich dem Mann keinen Millimeter traue, und ich sagte ja schon, er weiß für gewöhnlich genau, was er will– und wie er es bekommt. Also war sein Auftritt eben vielleicht Berechnung. Wenn das stimmt, kommt er wieder.«
Kassandra verzog das Gesicht. »Ich kann nicht behaupten, wild drauf zu sein.«
»Nein.«
Kassandra musste das alles erst noch verdauen. Seit ihrem letzten Zusammentreffen hatte sie nur wenig an Sven gedacht– und wenn, dann niemals daran, dass sie ihn ausgerechnet hier wiedersehen würde.
Als sie hinter sich, aus dem Wohnzimmer kommend, ein Geräusch hörte, schrak sie zusammen, und auch Heinz war schneller auf den Beinen, als sie gucken konnte.
Ihre Augen hatten zu lange ins Helle geschaut, sie erkannte im Türrahmen nur eine Gestalt mit Heinz’ Heckenschere in der Hand.
»Habt ihr die Gartenarbeit ins Haus…« Paul stockte, als sein Blick auf Heinz’ Angriffsstellung fiel. »Was ist los?«
Heinz sah zu Kassandra, die vor Erleichterung weiche Knie bekommen hatte und sich an der Stuhllehne festhielt.
»Wir dachten, du wärst Sven«, erklärte sie.
Paul brauchte einen Moment, um die Bedeutung dessen zu erfassen, was sie gesagt hatte. Er legte die Heckenschere zur Seite und setzte sich auf den dritten Stuhl, wobei er im Vorbeigehen über Kassandras Hand strich. »Am besten, ihr erzählt der Reihe nach.«
Nachdem er ins Bild gesetzt worden war, blieb er zunächst still. Natürlich wusste er alles über Kassandras Ehe und ihren Exmann, er hatte aber vermutlich nicht damit gerechnet, mal auf diese Art mit ihm konfrontiert zu werden. »Danke«, war das Erste, was er, an Heinz gerichtet, sagte.
»Dafür nicht. Mir liegt viel an deiner Freundin, weißt du.«
Paul lachte, dann wandte er sich an Kassandra. »Geht’s dir gut?« Er wartete ihr Nicken ab. »Es wäre besser, Heinz hätte unrecht und Sven lässt sich hier nicht mehr blicken, aber…« Er sprach nicht weiter.
»Du befürchtest das Gegenteil?«, beendete Heinz den Satz für ihn.
Paul schaute zwischen Heinz und Kassandra hin und her. Sein Gesichtsausdruck sah nach schlechtem Gewissen aus, und es war Kassandra, die seine Gedanken las.
»Aber du wüsstest gern, warum er überhaupt hier war.« Sie selbst fühlte sich zwiegespalten, musste allerdings zugeben, dass ihre Neugier inzwischen die Oberhand gewonnen hatte. »Ich auch.«
Heinz schüttelte in komischer Verzweiflung den Kopf. »Ist euch langweilig? Seid lieber froh, wenn er wegbleibt. Falls ihr unbedingt mal wieder was ermitteln wollt, geht zu Frau Dahm, ihr Hund ist weggelaufen.«
»Benni?« Kassandra fiel auf, dass sie ihre Nachbarin von gegenüber heute noch nicht mit dem schwarzen Labrador gesehen hatte. »Der ist doch so anhänglich, seit sie ihn aus dem Tierheim geholt hat.«
»Ja, eben.« Heinz stand auf und sah auf Kassandra hinunter. »Du bist ja jetzt in guten Händen. Wir sehen uns morgen.« Er nickte Paul zu, dann verschwand er durch die Lücke im Zaun zwischen Kassandras und seinem Garten.
»Merkwürdig«, murmelte Kassandra.
»Gehen wir rüber und fragen Frau Dahm«, schlug Paul vor.
»Im Ernst? Heinz hat das doch nur gesagt, damit wir von Sven abgelenkt werden.«
Pauls Mundwinkel zuckten. »Mag sein. Tun wir ihm den Gefallen.«
Kassandra legte den Kopf schief. »Du glaubst jetzt aber nicht an einen Zusammenhang zwischen Svens Auftauchen und Bennis Verschwinden.«
»Fragen wir Frau Dahm«, wiederholte Paul und zog sie vom Stuhl hoch.
Auch Frau Dahm vermietete Zimmer an Urlauber, an ihrem weiß verputzten Kapitänshaus rankten sich herrlich bunte Stockrosen bis zu den dunkelblauen Fensterrahmen empor. Ihr Gesicht wirkte unnatürlich blass, als sie öffnete. Es stellte sich heraus, dass sie Benni gestern Abend vor dem Zubettgehen in den Garten gelassen hatte, wie sie es gelegentlich tat, wenn er so spät noch mal ein Geschäft zu erledigen hatte. Normalerweise kam er von allein durch eine extra für ihn eingebaute Hundetür wieder ins Haus zurück, legte sich in sein Körbchen und wurde erst frühmorgens wieder munter. Doch als Frau Dahm heute Morgen nach unten gekommen war, um mit Benni einen ausgedehnten Spaziergang zu machen, war sein Körbchen leer und die Wasserschale daneben noch ganz voll gewesen.
»Wenn ich mich nicht irre, hat Ihr Garten einen direkten Zugang zur Straße«, sagte Paul.
»Ja. Das kleine Tor ist sonst immer zu. Ich muss wohl vergessen haben, es zu schließen.« Sie schluckte. »Es ist meine Schuld. Ich hätte besser aufpassen müssen.«
»Kann ich mir das mal ansehen?«, fragte Paul.
Frau Dahm wirkte einen Moment lang irritiert. Dann verstand sie. Zweifellos erinnerte sie sich daran, dass Paul und Kassandra schon einige Vorfälle auf dem Fischland aufgeklärt hatten, die weit weniger harmlos waren als das Verschwinden eines Hundes. »Natürlich. Sie vermuten doch wohl kein Verbrechen?« Einen Moment lang schien sie fast zu lächeln.
»Ich mag’s nicht, wenn zu viele ungewöhnliche Dinge auf einmal passieren.«
»Oh. Was ist denn noch…« Sie stockte mit Blick auf Kassandra, räusperte sich und führte sie wortlos durchs Haus in den Garten.
Kassandra wunderte sich darüber, dass ihr Streit mit Sven anscheinend dermaßen laut gewesen war, dass selbst Frau Dahm ihn gehört hatte. Noch mehr aber war es ihr unangenehm, und sie war dankbar, nicht weiter darauf angesprochen zu werden.
An dem Gartentörchen war nichts Besonderes. Paul ließ es auf- und zuschwingen, was relativ leicht ging. Eine neugierige Hundeschnauze hätte sich zwischen Tor und Zaun quetschen und sie öffnen können.
»Es ist immer noch offen?«
Frau Dahm zuckte niedergeschlagen mit den Schultern. »Für den Fall, dass er zurückkommt.«
»Hat jemand Benni seit gestern Abend gesehen?«
»Nein. Aber es war ja auch schon spät, es werden nicht mehr viele unterwegs gewesen sein, und wenn er aus Wustrow fortgelaufen ist…«
»Falls.« Pauls sparsamer Kommentar verdeutlichte seine Skepsis. »Wir halten unsere Augen offen«, versprach er.
Frau Dahm bedankte sich und entließ sie auf die Straße, wo Paul den Weg in Richtung Parkstraße einschlug.
»Was denkst du?«, fragte Kassandra.
»Dass Hunde durchaus wieder nach Hause finden, wenn sie wollen.« Danach ging Paul schweigend weiter, bis sie an der Ecke Parkstraße/Direktor-Schütz-Weg angekommen waren. Von hier konnte man die Ruine der Seefahrtschule sehen.
Nach Svens angeblichem »Projekt« hatte es weitere, durchaus realistische, aber dennoch nicht realisierte Bauvorhaben gegeben– eine Zeit lang hatte es so ausgesehen, als würde ein Kindererholungs- und Ferienheim des gemeinnützigen Vereins Sonnenseitee.V. entstehen, für das Kassandras Vater Harald Barthel verantwortlich gezeichnet hätte. Die Gemeinde hatte aber leider so lange mit einer Entscheidung gezögert, dass Harald die Geduld verloren hatte. Auch wenn ihm sehr daran gelegen gewesen wäre, gerade hier, wo er selbst lebte, ein Sonnenseite-Heim zu errichten, konnte er nicht bis in alle Ewigkeit warten. Deshalb hatte er zugegriffen, als sich die Gelegenheit ergab, sein Vorhaben in einem ehemaligen Sanatorium im Landesinneren zu realisieren.
Kassandra war immer noch wütend, wenn sie an die verpasste Gelegenheit dachte, und wusste, dass es Paul ebenso ging. Er saß in der Gemeindevertretung und hatte sämtliche Querelen mitbekommen. Seine Versuche, die Beteiligten zu einer Einigung zu bringen, waren vergeblich geblieben. Jetzt staunte Kassandra, dass Pauls Ziel ausgerechnet die Ruine zu sein schien, bis sie begriff.
»Du glaubst, Benni könnte reingelaufen sein und festsitzen?«
»Ich möchte es zumindest ausschließen.«
Vorsichtig betraten Paul und Kassandra die Treppe, die zu einer hinteren Eingangstür führte und zwischen deren baufälligen Stufen bereits Büsche und sogar eine kleine Birke wuchsen, und zwängten sich durch den Türspalt. Ein Hund wie Benni hätte leicht hindurchschlüpfen können. Unwillkürlich erinnerte sich Kassandra an ihr letztes Eindringen in das Gebäude. Es war lange her, doch die Bilder kehrten überdeutlich zurück. Sie wollte nicht wieder einen Verletzten finden, auch keinen verletzten Hund. Paul nahm ihre Hand, als hätte er ihre Gedanken erraten, und gemeinsam machten sie sich auf die Suche durch lange Gänge mit offen stehenden Türen, vorbei an heruntergerissenen Tapeten. Sie stiegen durch Treppenhäuser, in denen leere Flaschen herumlagen, in den Keller, in dem es dunkel und kalt war und in dem man aufpassen musste, nicht in mit Wasser gefüllte Schächte zu fallen. Dann hinauf auf den Turm, in dem es einmal ein Planetarium gegeben hatte und ganz oben einen Raum mit einer kunstvoll bemalten Decke, ebenso kunstvoll wie das Gemälde von Hedwig Holtz-Sommer, das die Mensa schmückte, die, so schien es, nur noch von den hölzernen Säulen zusammengehalten wurde.
»Was hätte Harald hieraus machen können«, sagte Kassandra leise.
Paul schwieg. Für ihn war es noch schwerer, den Verfall mit anzusehen, er war mit der Seefahrtschule aufgewachsen, sein Vater hatte hier gelehrt. Während der letzten halben Stunde hatte Paul überhaupt nichts gesagt, nur immer mal wieder nach Benni gerufen. Vergeblich. Sie kapitulierten und standen bald darauf wieder auf der Wiese hinter dem Gebäude.
»Lass uns zur See gehen.« Kassandra schob ihre Hand in Pauls und zog ihn in Richtung Park. In dem kleinen Wäldchen zwischen dem Deich auf der einen und einigen Häusern auf der anderen Seite war es still, erst als sie auf der Strandstraße ankamen, hatte das Leben sie wieder.
Es war Mitte September und nicht mehr so voll wie in der Hochsaison, aber Urlauber gab es noch genug. Auch Kassandra hatte zwei Zimmer vermietet und war froh, dass ihre Gäste am Nachmittag unterwegs gewesen waren und nichts von ihrem Streit mit Sven mitbekommen hatten. Sie und Paul schlenderten an den Fischimbissbuden und dem Sommerzeltkino vorbei zur Seebrücke. Normalerweise hätten sie einen Stopp bei Bruno eingelegt, der meist mit seiner Angel hier stand. Bruno war allerdings ein paar Wochen zuvor gestürzt und hatte sich das Becken gebrochen. Zum Glück war es ein unkomplizierter Bruch gewesen und Bruno bereits in der Reha, wo sie ihn einige Male besucht hatten und von wo er noch öfter angerufen hatte, weil er sich ohne seine Angel und den Ausblick auf die See langweilte.
Zum ersten Mal, seit sie die Seefahrtschule verlassen hatten, schlich sich ein Lächeln auf Pauls Züge. Er war zu Tode erschrocken gewesen, als das mit Bruno passierte– Bruno war der beste Freund seines Vaters gewesen und nun schon seit Langem Pauls bester Freund, trotz des Altersunterschieds. Ohne Bruno, der ihn in seinem Schreiben bestärkt hatte, wäre Paul wahrscheinlich nie der erfolgreiche Schriftsteller geworden, der er heute war. Mehr noch zählte allerdings, dass Bruno eine kostbare und intensiv gelebte Verbindung zu Pauls Familie darstellte, die letzte, wenn man so wollte. Pauls Mutter war nach dem Tod seines Vaters nach Schwerin gezogen, ihr hatte Sascha immer mehr bedeutet, und das Verhältnis der beiden war daher nicht ohne Liebe, aber distanziert. Kassandra mochte nicht daran denken, dass Bruno eines Tages sterben könnte. Jetzt erwiderte sie Pauls Lächeln.
»Er ist bald zurück, und er lässt sich bestimmt nicht von den Ärzten vorschreiben, seine Angel erst mal im Schrank zu lassen.«
»Nie im Leben.« Paul zog Kassandra zu sich heran. Gemeinsam stiegen sie die Treppe zum Strand hinunter.
Bald hatten sie die Strandkörbe hinter sich gelassen und liefen parallel zur untergehenden Sonne an der See entlang. Die Sonne lag hinter einem Dunstschleier und war als runder Ball kaum zu erkennen. Sie warf ihre warmen Strahlen in sanftem Licht auf Wasser, Buhnen, Möwen und Strand. Bevor sie den Horizont erreichte, verschwand sie ganz hinter der Wand aus Dunst und Wolken. Doch dann tauchte sie noch einmal auf, tiefrot, mit dunklen, fast schwarzen Wolkenstreifen davor.
2
»Hast du sie auch schon gesehen, also, für meinen Geschmack könnte sie ein bisschen mehr auf den Rippen haben, aber heute muss man ja aussehen wie ein Hungerhaken, und wenn er sie toll findet, ist das ja die Hauptsache, und verstecken muss die sich ganz bestimmt nicht, wenn die Kameras klicken und sie womöglich noch neben dem Bundespräsidenten steht, wenn der ihrem Gatten gratuliert, oder vielleicht doch auch einen Schritt hinter ihrem Gatten, wer weiß, oder?« Violetta kicherte. Die Vorstellung schien ihr zu gefallen.
Kassandra hatte die Frau, von der Violetta sprach, zwar noch nicht gesehen, wusste aber, dass Sonia Arndt gemeint war. Zumindest war die Frau von Conrad Arndt die einzige in Frage kommende Kandidatin, die in nächster Zeit Gelegenheit haben würde, in Wustrow neben oder auch nur hinter dem Bundespräsidenten fotografiert zu werden.
»Möchte wissen, wo die ihre Klamotten kauft, das Teil, das sie gestern anhatte, war schon ein Hingucker, ganz bestimmt nicht von der Stange, wahrscheinlich eher von einem italienischen oder französischen Designer, und die Schuhe bis aufs Letzte passend dazu, was glaubst du, wie viel Paar die in ihrem Schrank hat?«, redete Violetta ohne Punkt und Komma weiter.
»Ich habe nicht die leiseste Ahnung«, sagte Kassandra belustigt. Wenn ihr etwas fremd war, das man gemeinhin als »typisch weiblich« bezeichnete, dann war es die Vorliebe für Schuhe. Sie hasste Schuhekaufen, und wenn sie mal welche fand, in denen sie länger als eine halbe Stunde laufen konnte, nahm sie für gewöhnlich gleich zwei Paar davon mit nach Hause. Sie streckte die Füße aus und betrachtete für einen Augenblick ihre flachen Sandalen, dann hob sie den Kopf und hielt ihr Gesicht in die Mittagssonne. Sie saß mit Violetta auf der letzten Bank am Bootssteg ganz vorn am Fischländer Hafen und schaute hinüber nach Barnstorf, von dessen mittelalterlichen Gehöften man jetzt wegen der vielen Bäume nicht so viel sah wie im Frühjahr, wenn die Rohrdächer und das Fachwerk deutlich hindurchschimmerten. Dennoch genoss sie den Blick über das ruhige Gewässer.
Gerade kam ein Zeesboot von einer Fahrt zurück in den Hafen. Das musste die »Tante Mine« sein, das Boot ihres Nachbarn Jonas Zepplin. Seinetwegen war sie hergekommen, Violetta hatte sie zufällig beim Räucherfisch vorn am Hafen getroffen, woraufhin ihre Freundin beschlossen hatte, für einen Schwatz mit ihr gemeinsam zu warten.
»Was hältst du von ihm?«, fragte Violetta.
»Von Jonas?«, entgegnete Kassandra verwundert.
»Quatsch, von Conrad Arndt.«
Nachdem Violetta sich gerade so ausführlich über Sonia Arndt ausgelassen hatte, hätte Kassandra sich natürlich denken können, dass nun deren Ehemann höchstselbst zur Sprache kam. Der sollte nämlich zum Ehrenbürger Wustrows ernannt werden. Als international renommierter Professor für Kunstgeschichte finanzierte er regelmäßig Ausstellungen und Vorträge in Wustrow und Umgebung, überdies trug er das Fischland hinaus in die Welt. Das hatten einst viele Jahrhunderte lang die Fischländer Seefahrer getan, er tat es auf andere Weise durch seinen Beruf– mittels eigener Vorträge, Gastprofessuren im In- und Ausland und zahlreicher Veröffentlichungen. Zur großen Feier in drei Wochen wurde auch der Bundespräsident erwartet, der selbst einen Teil seiner Kindheit in Wustrow verbracht hatte. Kassandra war sich allerdings ziemlich sicher, dass Violetta die frisch Angetraute des zukünftigen Ehrenbürgers interessanter fand als alle Bundes- und sonstigen Präsidenten zusammen.
»Ich weiß nicht, was ich von Conrad Arndt halten soll– ich kenne ihn ja nicht.«
»Aber Paul hat doch bestimmt schon von ihm erzählt.«
»Soweit ich weiß, kennt Paul ihn auch kaum.«
Zwar gab es niemanden, der so viel über das Fischland und die Fischländer wusste wie Paul, und tatsächlich hatte er Conrad Arndts Eltern, die vor acht Jahren bei einem tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, gut gekannt. Arndt selbst jedoch gehörte schon fast einer anderen Generation an als Paul und hatte direkt nach dem Abitur das Fischland verlassen, um in Berlin zu studieren. Er war außer für Besuche und Urlaube nie zurückgekehrt, hatte als Nachfahre einer alteingesessenen Schifferfamilie seine Verbundenheit aber dafür anders unter Beweis gestellt.
»Attraktiver Mann«, sagte Violetta ungewöhnlich sparsam.
Kassandra lachte. »Tja, zu spät. Nun ist er vergeben.«
»Mit der Dame hätte ich sowieso nicht mithalten können, mein kostbares Hüftgold wäre dem bestimmt zu viel gewesen.« Violetta kicherte wieder. Sie hatte in den letzten Jahren einige Kilos zugenommen und fühlte sich zweifellos gut damit. Nur der passende Mann war bisher nicht aufgetaucht, aber auch damit kam sie für gewöhnlich gut klar. »Wo wir gerade von attraktiven Männern reden, dein Ex hat sich auch ziemlich gut gehalten, trotz Knast und allem, obwohl ich den ja fast nicht wiedererkannt hätte mit dem Bart und so, was wollte er eigentlich von dir, ich meine, er war doch bestimmt bei dir, warum hätte er sonst herkommen…« Violettas Stimme erstarb, als sie Kassandras fassungsloses Gesicht sah. »Hab ich was Falsches gesagt?«
»Woher weißt du, dass Sven hier war?«
»Hab ihn vorgestern gesehen, er hat sich zwar Mühe gegeben, sich unauffällig zu verhalten, aber gerade weil er sich nicht wie ein Urlauber benahm, ist er mir aufgefallen, was hat er denn gewollt?«, wiederholte Violetta. Zurückhaltung war noch nie ihr herausragender Charakterzug gewesen.
»Weiß ich nicht.« Kassandra sah Violetta an der Nasenspitze an, dass die Freundin ihr nicht glaubte. »Wirklich nicht. Und ich wäre dir dankbar, wenn du für dich behältst, dass er überhaupt hier war.«
»Na, ich bin bestimmt nicht die Einzige, die ihn gesehen hat.«
Kassandra ging auf, dass auch Frau Dahm ihm begegnet sein musste– das ergab jedenfalls mehr Sinn, als dass sie den Streit gehört hatte. »Trotzdem, ich lege keinen Wert auf Gerede, wenn es sich vermeiden lässt.«
»Alles klar, ich schweige wie ein Grab.«
Beinah hätte Kassandra bei dieser Vorstellung gelacht. Andererseits wusste sie, dass Violetta trotz all ihrer Neugier nichts weitertratschte, was man ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraute.
Mittlerweile war Jonas’ Zeesboot nah herangekommen. Die rotbraunen Segel der »Tante Mine« blähten sich leicht im Wind. Jonas selbst saß an der Ruderpinne, verschmolz fast damit und steuerte das alte Fischerboot sicher und gekonnt in den Hafen. Kassandra wusste, wie viel ihm die »Tante Mine« bedeutete, er hatte zu ihr beinah so etwas wie eine Liebesbeziehung. Seiner Frau Marlene ging das manchmal etwas zu weit, besonders seitdem ihre kleine Tochter Sophie auf der Welt war. Es war nicht Kassandras Angelegenheit, sich in die Ehe des Freundes einzumischen, aber ihr Gefühl sagte ihr, dass Jonas auch deshalb so sehr an seinem Zeesboot hing, weil er wusste, dass es ihm bleiben würde. Immer. Seine Beziehung zu einer anderen Frau vor Marlene und mit ihr seine Verbindung zu dem gemeinsamen Kind hatte sich in der Vergangenheit als extrem unbeständig erwiesen.
Als hätte Jonas Kassandras Gedanken gespürt, sah er zum Steg herüber, erkannte sie und winkte. Kassandra winkte zurück, stand auf und ging langsam mit Violetta zurück zum Hafenbecken.
»Dann mach ich mich mal auf den Weg«, sagte Violetta. »Vielleicht kann ich in der Parkstraße ja noch einen Blick auf Sonia Arndt erhaschen.«
Kassandra hob die Brauen. »Du musst da nicht lang, wenn du nach Hause willst.«
»Nö, aber ich bin durch mit dem Krimi von neulich, der war megaspannend, bin nur so durch die Seiten geflogen, und jetzt brauch ich dringend neuen Lesestoff.«
Krimis waren Violettas große Leidenschaft, und die Regale in der zu einer »Büchertauschkiste« umfunktionierten ehemaligen Telefonzelle am Ende der Parkstraße boten reichlich Auswahl und viel Abwechslung. Trotzdem ahnte Kassandra, dass nicht das der Grund für den riesigen Umweg war, sondern Conrad Arndts Elternhaus. Obwohl er nicht in Wustrow lebte, hatte er das liebevoll hergerichtete alte Kapitänshaus behalten und vermietete es auch nicht, sondern wohnte selbst dort, wenn er auf dem Fischland war.
»Dann viel Erfolg«, wünschte Kassandra. Als sie ihrer Freundin nachschaute, bemerkte sie auf dem Dach der Hafenmeisterei zwei Männer und überlegte, was die dort trieben. Dann wurde sie von der »Tante Mine« abgelenkt, die nun bereit zum Anlegen war.
Einst hatten die traditionsreichen Zeesboote mit den dunklen Segeln den Fischern der Gegend ihren Lebensunterhalt garantiert. Mit den Flügelzeesen, besonderen Schleppnetzen aus Baumwolle, waren sie quer zum Wind gesegelt und hatten dabei das Netz hinter sich hergezogen. Heutzutage waren kaum noch Fischer auf dem Bodden unterwegs, die von diesem Beruf leben konnten. Die Zeesboote hingegen waren geblieben, auch wenn sie nun anders eingesetzt wurden.
Die zehn Meter lange »Tante Mine« war eine Ketsch. Jonas hatte der ahnungslosen Kassandra erst erklären müssen, dass es sich dabei um einen zweimastigen Segler mit einem Großmast und einem frei stehenden Besanmast handelte. Die weiteren Einzelheiten hatte sie wieder vergessen, was sowohl Jonas als auch Paul immer wieder zum Kopfschütteln brachte. Kassandra dagegen war der Meinung, dass sie nichts über Balkensteven und Klüverbäume wissen musste, um die »Tante Mine« wunderschön zu finden.
Gerade stiegen die ersten Fahrgäste aus. Kassandra passte das zweite Paar ab– ihre Pensionsgäste, die ihren Schlüssel liegen gelassen hatten. Ohne den würden sie bis zum Abend nicht ins Haus kommen, weil Kassandra einen Großeinkauf zu erledigen hatte und nicht da sein würde. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Jonas sie beobachtete, während ihre Gäste sich in Dankbarkeitsbezeugungen ergingen.
Als die beiden fort waren, sagte er: »Du bist ja sehr fürsorglich.«
Kassandra lachte. »Alles im Service inbegriffen.« Dann schaute sie genauer hin. »Geht’s dir nicht gut?«
Jonas war Anfang vierzig, hatte aber, seit Kassandra ihn kannte, mit seinen ständig ungekämmten Haaren immer jünger ausgesehen. Heute wirkte er müde, unter seinen blauen Augen lagen Schatten. »Ist momentan ein bisschen schwierig mit dem Durchschlafen.«
Zwar lächelte er dabei, doch das kam Kassandra gequält vor. Etwas sagte ihr, dass seine Schlaflosigkeit nicht nur mit nächtlichem Babyfüttern zu tun hatte. Prüfend musterte sie ihn, was er bemerkte– und daraufhin ihren Blick mied. »Dann hoffe ich, dass Sophie heute Abend gut gesättigt einschläft«, sagte sie.
»Da kenn ich noch jemanden.« Nun sah er sie wieder an. »Grüß Paul.«
Dieser abrupte Abschied war ein recht deutlicher Hinweis, dass alles gesagt worden war, und sie musste das akzeptieren. »Mach ich.«
Kassandra schreckte aus dem Tiefschlaf hoch. An der Tür klingelte es Sturm, Paul saß bereits auf der Bettkante.
»Bleib liegen, ich geh nachsehen«, sagte er.
Nach einem Blick auf die Uhr, der Kassandra verriet, dass es fast halb zwei war, hielt sie nichts mehr im Bett. Wenn jemand um diese Zeit vor der Tür stand, bedeutete das nichts Gutes. Sie hastete hinter Paul den Flur entlang und hatte ihn eingeholt, als er öffnete. Draußen stand eine aufgelöste Frau mit einem halb schlafenden Baby auf dem Arm.
»Marlene? Was…« Weiter kam Paul nicht, sie unterbrach ihn sofort.
»Ist Jonas bei euch?« Panik schwang in ihrer Stimme mit. Sie las Pauls Antwort offenbar schon an seinen Augen ab und fing an zu weinen.
Sanft wollte Paul Marlene ins Haus ziehen. »Komm erst mal rein.«
3
Jonas hatte im Bett gelegen und in die Dunkelheit gestarrt. Außer Marlenes gleichmäßigem Atmen und ab und zu einem leisen Glucksen von Sophie war alles still gewesen. Noch. Er hatte mit einem Klumpen im Magen darauf gewartet, dass Marlene aufwachen würde, was fast jede Nacht geschah. Wenn er nicht ohnehin schon wach war, rüttelte sie ihn gegen halb eins an der Schulter, damit er mit ihr gemeinsam nach Sophie sah.
Warum, fragte er sich, konnte seine Tochter nicht einfach wie die meisten anderen Babys nachts brüllend darauf bestehen, gefüttert zu werden? Aber Sophie war ein zufriedenes, sattes und gut schlafendes Kind. Dafür wurde Marlene von der ständigen Angst verfolgt, Sophie könne aufgehört haben zu atmen, was sogar so weit ging, dass sie sie mitten in der Nacht aufweckte. Anfangs hatte Jonas sie davon abzuhalten versucht, was regelmäßig in einen lauten Streit mündete. Wenn der Sophie nicht weckte, tat es Marlene nach ihrer fruchtlosen Diskussion. Dass Sophie das ganze Getue meist klaglos wegsteckte, erstaunte Jonas immer wieder. Ihn dagegen trieben Marlenes Ruhelosigkeit und regelrechte Panik, gegen die er machtlos war, weil sie sich nicht helfen lassen wollte, langsam in den Wahnsinn.
Leise war er aufgestanden und hinüber zu Sophies Bettchen gegangen. Vor dem Fenster schien ein heller Halbmond, Wolken flogen am Himmel vorbei, die wechselnden Schatten zeichneten sich an den Wänden und auf Sophies Decke ab. Er liebte seine Tochter, sie war das Beste, was ihm je widerfahren war. Beinah hätte er die Hand ausgestreckt, um ihre zarte Wange zu berühren, doch sie schlief so friedlich. Und er hatte nicht mehr da sein wollen, wenn Marlene diesen Frieden störte.
Bemüht, so wenige Geräusche wie möglich zu verursachen, hatte er nach seinen Sachen gegriffen, sich im Flur angezogen, die Jacke vom Haken genommen und das Haus verlassen. Luft. Er brauchte dringend Luft. Nur für fünf oder zehn Minuten.
Zuerst war er zur See gegangen, wo er einfach nur aufs Wasser schaute, sich aber ständig dabei ertappte, dass er an Marlene dachte und daran, dass sie schon während der Schwangerschaft begonnen hatte, sich so zu verändern. Das brachte nicht die ersehnte Ruhe, also machte er kehrt und lief ziellos durch die Straßen.
Er war gerade an der Kirche vorbei, die, unberührt von allen Problemen, auf ihrem Hügel stand und ihm aus ihren dunklen Rosettenfenstern nachzustarren schien, als ihm bewusst wurde, dass er zum Hafen ging. Vielleicht, dachte er, kann ich die Nacht da verbringen. Ihm gehörte der kleine Souvenirladen »Fischländereien«, der ein Hinterzimmer mit einer halbwegs bequemen Couch hatte. Er fasste in seine Jackentasche und stellte fest, dass er die Ladenschlüssel nicht dabeihatte und auch weder Geld noch Handy. Dann würde er eben auf der »Tante Mine« übernachten.
Als Jonas den Hafen betrat, sah er sein Zeesboot vor sich liegen, Besan-, Top-, Groß-, Fock- und Klüversegel ordentlich eingeholt. Das leichte Plätschern des Boddenwassers an die Kaimauer, die »Tante Mine« und die anderen Boote hatten eine beruhigende Wirkung auf ihn. Doch als er näher kam, irritierte ihn etwas. Er blieb stehen und spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten. Langsam ließ er den Blick über das Hafengebiet schweifen, soweit er es erfassen konnte. Wolken und Mond spielten immer noch ihr Licht-und-Schatten-Spiel, mal sah er die Umgebung deutlich, dann wieder nicht. War hier irgendwo jemand? Er wandte den Kopf nach rechts und spähte in den Weg vor der Hafenmeisterei. Wenn man da weiterging, kam man zur »Stinne«, einem dänischen Schoner, der im Februar 1965 vor Wustrow gestrandet war und heute als Hotelschiff am Ufer des Boddens auf dem Trockenen lag. Gerade schob sich der Mond wieder hinter den Wolken hervor– auf dem Weg war niemand zu sehen.
Jonas stieß die unbewusst angehaltene Luft aus. Er litt wohl schon an Verfolgungswahn. Langsam ging er weiter auf die »Tante Mine« zu, doch bereits nach wenigen Schritten hielt er wieder inne. Da lag was auf seinem Boot, etwas ziemlich Großes, das da definitiv nicht hingehörte. Das Zeesboot war in silbernes Mondlicht getaucht, und Jonas stockte der Atem, als er begriff, was dort backbord beim Großmast halb auf der Sitzbank für die Passagiere und halb auf den Deckplanken lag: ein regloser Körper.
Wie in Zeitlupe bewegte er sich vorwärts, betrat vorsichtig das Deck, den Körper immer im Blick. Dann stand er fast über ihr– einer Frau, die mit aufgerissenen Augen in den Himmel starrte wie er vor Kurzem noch an die Decke seines Schlafzimmers. Nur dass sie ganz zweifellos nichts mehr sah. Sie war tot.
Jonas fühlte sich unfähig, etwas anderes zu tun, als die Tote zu betrachten. In der hintersten Ecke seines Kopfes wirbelten die Gedanken– dass er sich eben vielleicht doch nicht getäuscht hatte und hier noch jemand war, kam ihm in den Sinn. Dass er nicht wissen konnte, was derjenige tun würde, wenn Jonas ihm über den Weg lief– mit rein gar nichts zur Gegenwehr. Dass er so schnell wie möglich abhauen und vor allem die Polizei rufen sollte.
Er tat nichts dergleichen.
Der Mond schien unvermindert durch eine größere Wolkenlücke, Jonas konnte sich von dem Anblick der Toten nicht losreißen. Sie mochte Anfang, Mitte dreißig sein, ihre braunen welligen Haare lagen ausgebreitet wie eine Kaskade unter ihrem Kopf. Die leblosen Augen waren hell, blau vielleicht oder grau, als Kontrast hatte sie dunkle Farbe auf ihre vollen Lippen aufgetragen. Sie trug einen körperbetonten Pulli, eine ebenso körperbetonte kurze Jacke darüber und eine schwarze Jeans, die hauteng an ihren Beinen saß. Eine schöne Frau. Eine schöne tote Frau. Auf seinem Boot.
Endlich kam Leben in Jonas. Er fingerte nach seinem Smartphone in der Hosentasche, fasste jedoch ins Leere und fluchte unterdrückt. Mit einem Sprung landete er auf der Kaimauer und sah sich um. Im »Kapitänshaus«, dem Fischrestaurant, in dem es tagsüber stets brummte, war längst kein Licht mehr. Die Hafenmeisterei war natürlich ebenfalls zu und die »Stinne« zu weit weg. Er lief los, auf das Hotel »Deutsches Haus« zu, das genau gegenüber auf der anderen Seite der Hafenstraße stand. Auch dort war alles dunkel, die Rezeption nicht mehr besetzt. Er drückte auf die Klingel, wieder und wieder, bis nach einigen Minuten der Juniorchef Karsten Voß öffnete.
»Jonas? Was…«, hob er noch etwas verschlafen an.
»Ruf die Polizei, schnell!« Noch während er das sagte, wurde Jonas klar, dass für die Frau auf der »Tante Mine« Schnelligkeit keine Rolle mehr spielte.
Die Polizei bat ihn, zu bleiben, wo er war, bis die Beamten eintrafen. Ermattet sank er auf einen der Stühle im Wintergarten des »Deutschen Hauses«. Bei Tageslicht konnte man hier auf den Vorgarten des Hotels, die Hafenanlage mit den Booten, Schiffen und Bäumen und auf den weiten Bodden hinaussehen, bei guter Sicht ganz hinten am Horizont noch die Silhouette von Ribnitz erahnen. Jetzt sah Jonas nur, wie sich die Lampen im Fenster spiegelten. Das war ihm ebenso recht, er wollte gar nicht daran erinnert werden, was auf seinem Zeesboot lag. Wie durch Zauberhand erschien ein Glas Schnaps vor ihm auf dem Tisch, abwesend dankte er und drehte das Glas zwischen den Fingern, ohne einen Schluck zu nehmen.
Vielleicht, dachte er, sollte ich rausgehen und bei der »Tante Mine« auf die Polizei warten.
Es blieb bei dem Gedanken. Nichts trieb ihn wieder dorthin. Was sollte mit der Leiche auch schon groß passieren? Sie würde kaum aufstehen und heimlich verschwinden.
Über zwanzig Minuten vergingen, bis er draußen Blaulicht sah und kurz darauf zwei Streifenpolizisten im Eingang zum Hotel standen. Jonas erhob sich und ging ihnen entgegen.
»Sie sind Jonas Zepplin?«, erkundigte sich einer der beiden.
Jonas nickte. Er hatte den großen schlaksigen Mann schon das eine oder andere Mal gesehen und erinnerte sich, dass sein Name Jens Deichmüller war. Er und sein Kollege kamen aus Ribnitz.
»Würden Sie uns die Tote zeigen?«, bat Deichmüller.
Wieder nickte Jonas. Draußen kam es ihm vor, als wäre die Temperatur um mindestens zehn Grad gesunken, was natürlich nur Einbildung war. Dunkler war es dagegen definitiv geworden. Vom Mond war nichts mehr zu sehen, eine dicke Wolkenschicht hatte sich davorgeschoben. Je näher er der »Tante Mine« kam, Jens Deichmüller neben, den zweiten Beamten hinter sich, desto deutlicher spürte er, dass etwas nicht stimmte, genauso, wie er es vorhin gespürt hatte, kurz bevor er die Tote gefunden hatte. Und dann, als er vor seinem Boot stand, wusste er, was es diesmal war.
Deichmüller räusperte sich. »Wenn ich den Kollegen in der Zentrale richtig verstanden habe, soll die Leiche beim Großmast liegen?«
»Ja«, sagte Jonas.
Zwei Sekunden lang herrschte Stille, dann ergriff Deichmüller wieder das Wort. »Sagen Sie mal, wollen Sie uns verarschen?«
4
Kassandra, Paul und Marlene sahen schon von Weitem den Streifenwagen, der unmittelbar vor dem Hafenzugang stand. Marlene gab einen Schreckenslaut von sich, und auch Kassandra wurde es flau im Magen. Weder sie noch Paul hatten es für eine gute Idee gehalten, mit Marlene und dem Baby mitten in der Nacht nach Jonas zu suchen. Paul hatte sich angeboten, das allein zu tun, während Kassandra sich um Marlene kümmerte, aber Marlene hatte unbedingt mitkommen wollen, also hatte sie Sophie warm eingepackt und sie sich vor den Bauch gebunden. Der Hafen war ihr erster Anlaufpunkt gewesen und, wie es aussah, zu Recht.
Unwillkürlich fielen alle drei in einen schnelleren Schritt. Als sie beim Streifenwagen angekommen waren, kurz bevor sie um die Ecke in den Hafen biegen würden, berührte Paul Marlene am Arm. Sie schüttelte ihn ab. »Nein«, sagte sie erstaunlich fest. »Ich muss wissen, was da los ist.«
Zu Kassandras unendlicher Erleichterung sahen sie drei Männer vor der »Tante Mine« stehen, einer davon Jonas. Die Erleichterung verflüchtigte sich allerdings, als sie beim Näherkommen merkte, dass Jonas den Polizisten gegenüber anscheinend in Erklärungsnot war. Die beiden standen ein bisschen zu dicht bei ihm, und ihre Körperhaltung signalisierte Kassandra, dass es sich um keinen gemütlichen Plausch handelte. Gerade trat Jonas einen Schritt zurück, stand schon fast auf der Kante der Kaimauer. Dabei gestikulierte er, zeigte auf sein Boot und dann in ihre Richtung. Als er sie sah, ließ er den Arm sinken, schaute ihnen verblüfft entgegen und vergaß für einen Moment seine Lage.
»Haben Sie getrunken?«, hörte Kassandra einen der Polizisten fragen, dann stellte er fest, dass Jonas’ Aufmerksamkeit nicht mehr ihm galt, und drehte sich um. Sie erkannte Jens Deichmüller, dessen Namen sie sich seit dem Feuer, das letztes Jahr ganz in der Nähe ausgebrochen war, gemerkt hatte. »Was haben Sie alle denn jetzt hier zu suchen?«, fragte er barsch.
Marlene schenkte ihm keine Beachtung, sondern lief direkt in Jonas’ Arme. »Was ist passiert? Wo warst du die ganze Zeit? Ich hab mir solche Sorgen gemacht!«
Jonas war sichtlich überrumpelt, erwiderte jedoch automatisch Marlenes Umarmung. Sowohl dadurch als auch durch Deichmüllers erneute, diesmal wesentlich lauter gestellte Frage, was vor sich gehe, wachte Sophie auf und fing an zu weinen, sodass Paul die nötigen Antworten gab, während Jonas und Marlene ihre Tochter beruhigten.
Deichmüllers Kollege machte sich Notizen, während Deichmüller Jonas erneut nach seinem Alkoholpegel fragte.
»Ich habe gar nichts getrunken. Die Tote lag da, genau wie ich es gesagt habe, und ich kann nur wiederholen, dass jemand die Leiche entsorgt haben muss, während ich Sie gerufen und auf Sie gewartet habe.«
Sowohl Deichmüller als auch dessen Kollege sahen mehr als skeptisch aus. Während Deichmüller zum Streifenwagen ging, sagte der andere ungeduldig: »Und ich kann nur wiederholen, dass es erstens nicht ganz leicht ist, eine Leiche abzutransportieren, und zweitens derjenige mit Ihrer Rückkehr rechnen musste und sicher nicht bei seiner Arbeit gestört werden wollte.«
»Das stimmt alles, aber…«
»Ich schlage vor, Sie gehen jetzt nach Hause, kümmern sich um Ihre Frau und Ihr Kind«, er nickte in Marlenes Richtung, »und dann hört das von ganz allein auf, dass Sie sich Dinge einbilden, die nicht da sind.«
»Na, hören Sie mal!«, sagte Marlene empört. »Wenn mein Mann sagt, dass da eine Tote lag, dann lag da eine Tote. Sie können das doch nicht einfach ignorieren.«
Kassandra war unbedingt Marlenes Meinung, registrierte aber zugleich, wie überrascht Jonas seine Frau ansah– noch überraschter sogar, als Marlene keine Anstalten machte, Sophie zu beruhigen, obwohl die erneut anfing zu greinen.
»Wir haben das nicht ignoriert, Frau Zepplin, sondern uns selbstverständlich auf dem Boot umgesehen. Da Ihr Mann sagte, die Frau habe keine äußeren Verletzungen aufgewiesen, überrascht es nicht, dass wir kein Blut fanden, aber da war auch sonst nichts Auffälliges, ebenso wenig wie im Hafenbecken, wohin man die Leiche in aller Eile vielleicht befördert haben könnte. Von Strömung kann ja hier keine Rede sein, und das Wasser ist nicht sehr tief.«
»Aber auch nicht gerade kristallklar, erst recht nicht nachts«, sagte Marlene, was etwas unterging, weil Deichmüller inzwischen zurückgekommen war und Jonas ein Gerät hinhielt.
»Bitte pusten Sie da mal rein.«
Jonas zuckte mit den Schultern. »Wenn mich das glaubwürdiger macht.«
Das Ergebnis fand Deichmüller offenbar zufriedenstellend. »Sie sind sicher, dass die Frau tot war?«, vergewisserte er sich. »Haben Sie sich davon überzeugt?«
Zum ersten Mal zögerte Jonas. »Ich hab nicht nach ihrem Puls gefühlt, falls Sie das meinen.«
»Ah«, sagte Deichmüllers Kollege. »Das dürfte die Sache erklären.«
»Das erklärt gar nichts.« Jonas klang jetzt wieder sicherer. »Die Frau starrte mit leerem Blick in den Himmel, ich habe sie weder atmen sehen, noch hat sie einen Ton von sich gegeben. Sie war tot.«
»Sie waren vielleicht zu erschrocken, um zu bemerken, dass sie trotz aller äußeren Anzeichen noch lebte«, meinte Deichmüller.
»Entschuldigung«, mischte Paul sich ein. »Herr Zepplin ist bei der Freiwilligen Feuerwehr und hat schon öfter Tote sehen müssen. Er dürfte erkennen, ob jemand lebt oder nicht.«
Das gab Deichmüller zu denken. Er sah noch einmal auf die Anzeige des Promilletesters, dann glitt sein Blick zum Hafenbecken und zurück zu Marlene, als hätte er ihre Äußerung über das Wasser doch gehört.
»Also schön«, sagte er langsam. »Wir können nicht eindeutig beurteilen, ob und, wenn ja, was an dieser Sache dran ist. Und wir werden das auch nicht entscheiden.« Er wandte sich an Jonas. »Die Frau war Ihnen vermutlich unbekannt, sonst hätten Sie ihren Namen erwähnt.«
»Ich habe sie nie zuvor gesehen, und ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, was sie mitten in der Nacht auf meinem Boot gemacht hat.«
»Wie hat sie denn ausgesehen?«
Jonas beschrieb die Frau und ihre Kleidung, Deichmüller machte sich Notizen.
»Gut«, sagte er abschließend. »Sie gehen jetzt nach Hause, wir veranlassen alles Weitere. Die Kollegen werden sich in der Frühe bei Ihnen melden.«
»Was ist mit der ›Tante Mine‹? Ich habe morgen drei ausgebuchte Fahrten, die erste um zehn.«
»Die werden Sie absagen müssen, falls die Kriminaltechnik sich der Angelegenheit annehmen sollte«, sagte Deichmüller. »Kann dauern, bis die mit allem durch sind. Sie bekommen dann Bescheid.«
Zu viert waren sie schon fast wieder auf der Hafenstraße angelangt, als Paul abrupt stehen blieb. Er stieß Jonas an und deutete auf das Dach der Hafenmeisterei. »Die Webcam. Vielleicht hat außer dir doch noch jemand was gesehen. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass sich irgendwer mitten in der Nacht Bilder vom Hafen ansieht, aber manche Leute haben ausgefallene Freizeitbeschäftigungen.« Er stutzte. »Wo ist das Ding hin?«
Kassandra fielen die Männer wieder ein, die sie am Nachmittag dort oben gesehen hatte, und Jonas sagte: »Da soll morgen– heute– ein ultramodernes neues Teil hin, und die alte wurde schon mal abgebaut, damit die Montage hinterher schneller geht. Die Logik erschließt sich mir zwar nicht, aber ich bin kein Techniker. Außerdem liegt die ›Tante Mine‹ sowieso nicht im Kamerawinkel.«
»Es hätte trotzdem was Wichtiges zu sehen sein können«, sagte Paul. »Vielleicht nicht die Tat an sich, aber möglicherweise, wie die Leiche weggeschafft wurde. Ich frage mich, ob der Täter das mit der Kamera gewusst hat.«
»Also nicht nur einfach Pech für mich und Glück für ihn?«, meinte Jonas. »Wer weiß.«
Auf dem Rückweg zur Lindenstraße erzählte er noch einmal von Beginn an, was genau in der letzten Stunde passiert war, und wiederholte die Beschreibung der Frau. »Hat jemand von euch die schon mal gesehen?«
»Nein«, sagte Paul. »Wenn sie eine von zig Urlauberinnen ist, beneide ich die Polizei nicht um ihre Aufgabe.«
»Wirklich nicht?«, fragte Jonas süffisant. Er sah zu Kassandra. »Du auch nicht?«
Kassandra war erleichtert, dass er seinen Humor wiedergefunden hatte, und lächelte. »Willst du damit was Bestimmtes andeuten?«, fragte sie und ergänzte, ohne seine Antwort abzuwarten: »Dieser arrogante Polizist hatte nicht ganz unrecht. Die Leiche zu transportieren muss schwierig gewesen sein– falls es nur ein Täter war. Wie auch immer: Möglicherweise hatte er keine andere Wahl, als sie verschwinden zu lassen.«
»Bestimmt wollte er sichergehen, dass sie von niemandem erkannt wird«, meinte Paul. »Keine Leiche, keine Identifizierung. Nicht mal ein Mord.«
»Ja, das passt«, murmelte Kassandra.
»Was hab ich gesagt?« Jonas stieß Marlene leicht in die Rippen. Sie nickte abwesend und griff nach seiner Hand, bevor sie sich, mittlerweile vor ihrem Haus angekommen, an Paul und Kassandra wandte.
»Danke für vorhin. Dass ihr mich mitgenommen habt. Und falls es einen Gott gibt«, sie drehte sich zu Jonas um, »danke ich ihm dafür, dass dir nichts passiert ist. Wenn du mal wieder einen nächtlichen Ausflug auf die ›Tante Mine‹ machst, nimm mich bitte mit. Vielleicht hat Kassandra ja Lust, Babysitter zu spielen.«
Jonas starrte Marlene an, ohne etwas zu sagen.
»Nicht dass ich viel Erfahrung mit Babys hätte, aber ich denke doch, dass ich das schaffe«, sagte Kassandra. »Du musst dir keine Horrorszenarien ausmalen.«
»Tu ich nicht«, sagte Jonas, ohne Marlene aus den Augen zu lassen. »Im Gegenteil.«
Kassandra wurde nicht recht schlau daraus, begriff aber, dass sich etwas Bedeutsames zwischen Marlene und Jonas abspielte.
Als sie eine Viertelstunde später wieder im Bett lagen, zog Paul sie an sich. »Sieht so aus, als hätte dieses kleine Schockerlebnis immerhin etwas Gutes gehabt. Hoffentlich hält das an.«
»Weißt du mehr als ich?«
Paul war seit Ewigkeiten mit Jonas befreundet, möglicherweise hatte sich Jonas ihm ja anvertraut.
»Ich hab nur ein bisschen beobachtet.«
Kassandra schob ihre Hand unter der Bettdecke hervor und tippte auf das Grübchen an seinem Kinn. »Und wirst du weiter beobachten? Diesen Fall um die geheimnisvolle Tote, meine ich. Oder halten wir uns diesmal raus?«
Paul ließ sich Zeit mit der Antwort. »Vielleicht sind wir sowieso schon mittendrin.«
»Warum? Du hast vorhin gesagt, dass du niemanden kennst, der so aussieht wie die Tote. Stimmt das nicht?«
»Doch. Aber ich hatte, glaube ich, schon erwähnt, dass ich es nicht mag, wenn zu viele ungewöhnliche Dinge auf einmal passieren. Und da war nur ein Hund verschwunden, keine Leiche.«
Kassandra löste sich aus Pauls Armen, setzte sich auf und umklammerte ihre Knie. »Du denkst, dass das alles was mit Sven zu tun haben könnte.« Sie schüttelte den Kopf. »Mir fallen bei Sven eine Menge Attribute ein, aber er ist nicht gewalttätig. Der bringt niemanden um.«
»Nicht gewalttätig? Da hab ich Heinz’ Schilderung ein bisschen anders in Erinnerung.«
»Das war mein Fehler. Ich hätte ihn nicht auslachen dürfen. Gerade ich nicht. Außerdem hat Heinz selbst in Erwägung gezogen, dass Svens Ausraster bloß gespielt war.«
»Möglich.« Paul klang wenig überzeugt. »Ich habe auch nicht behauptet, dass Sven die Frau getötet hat. Ich finde es nur ein bisschen zu zufällig, dass zuerst Frau Dahms anhänglicher Hund aus unerfindlichen Gründen wegläuft, dann Sven hier auftaucht und zu guter Letzt auf Jonas’ Boot eine Leiche gefunden wird, die gleich wieder verschwindet.«
»Du klingst wie Kay.« Kassandra schmunzelte und ließ sich wieder ins Kissen zurückgleiten.
Kriminaloberkommissar Kay Dietrich, mit dem Kassandra und Paul schon drei Verbrechen aufgeklärt hatten und der mittlerweile zu ihren Freunden zählte, mochte Zufälle ebenso wenig wie Paul.
»Ist ja nicht das Schlechteste«, entgegnete Paul. »Er würde jetzt sicher gern wissen wollen, weswegen Sven hier war. Vielleicht liegt darin schon ein Teil der Lösung.«
»Leider hat er keine Visitenkarte hinterlassen, sonst würde ich ihn anrufen und fragen.«
Paul verzog die Mundwinkel. »Kriegst du fertig.« Nur seine ruhigen Atemzüge waren zu hören, bis er schließlich ergänzte: »Warum eigentlich nicht? Es dürfte kein Ding der Unmöglichkeit sein, Sven aufzuspüren.« Kassandra wollte etwas erwidern, doch Paul ließ sie nicht zu Wort kommen. »Das mach ich natürlich, nicht du. Mir wird schon ein plausibler Grund einfallen, weshalb ich bei ihm auf der Matte stehe, falls er weiß, wer ich bin.«
Kassandra überlegte, ob ihr der Gedanke gefiel. »Die meisten Männer wären froh, den Ex ihrer Freundin höchstens von hinten zu sehen.«
5
Es mochte, wie Paul behauptet hatte, kein Ding der Unmöglichkeit sein, Sven aufzutreiben, aber es gestaltete sich eindeutig schwieriger als angenommen. Obwohl Paul und Kassandra auf unterschiedlichen Wegen und in den unterschiedlichsten Kanälen recherchierten, gelang es ihnen nicht, herauszufinden, wo Sven abgeblieben war, ob er einen Job hatte und, wenn ja, welchen. Er trieb sich nicht in sozialen Netzwerken herum, jedenfalls nicht unter seinem richtigen Namen, und offenbar hatte er auch keinen Kontakt mehr zu früheren Freunden, zumindest nicht zu denen, die Kassandra gewagt hatte, anzurufen. Die meisten hatten sie schnell abgewimmelt, sie wollten nicht daran erinnert werden, Sven überhaupt gekannt zu haben. Unter den wenigen Ausnahmen war einer, der glaubte, ihn von Weitem in Stralsund gesehen zu haben, eine andere hatte vor einigen Monaten drei Worte am Hamburger Hauptbahnhof mit ihm gewechselt. Mehr nicht, er war sehr kurz angebunden gewesen. Alle anderen hatten glaubhaft versichert, dass sie ihn nach seiner Freilassung nicht wiedergesehen hatten und dass er auch keinen Kontakt zu ihnen aufgenommen hatte. Offenbar hatte Sven den Ball von sich aus flach gehalten.
Gegen Abend beschlossen sie, am nächsten Tag eine Melderegisterauskunft zu beantragen.
»Kay könnte bestimmt problemlos und vor allem schneller etwas herausfinden«, sagte Kassandra.
»Wahrscheinlich«, stimmte Paul zu, »und wenn er hier wäre, würde ich ihn anrufen. Aber ihn wegen eines diffusen Verdachts auf Guernsey aufzuscheuchen ist etwas übertrieben.«
Kay nahm an einem Austauschprogramm teil, das deutschen Kriminalbeamten ermöglichte, in die Arbeit der europäischen Kollegen hineinzuschnuppern. Als er ihnen davon erzählt hatte, hatte er gelacht. »Der geschätzte Polizeioberrat Geldorf hat vermutlich ausgerechnet mich ausgewählt, damit er drei Monate lang Ruhe vor mir hat.«
Was durchaus im Bereich des Möglichen lag. Kay eckte gern an und war bekannt dafür, bei Ermittlungen auch mal querzuschießen, wenn er es für erforderlich hielt. Vor einem halben Jahr hatte er den Stralsunder Bauamtsleiter Hacke des Mordes an dessen Schwägerin überführen können, nachdem der schon geglaubt hatte, davonzukommen. Wie Kay das hingekriegt hatte, wussten sie nicht, er hatte es nie so genau erzählt, und Kassandra und Paul hegten den durchaus begründeten Verdacht, dass er sich ein paar ungewöhnlicher Mittel bedient hatte.
Die Kanalinsel Guernsey war ein etwas exotisches Austauschland, aber nach allem, was sie gehört hatten, gefiel es Kay ausgesprochen gut. Er schien dort auf einen Kollegen getroffen zu sein, der sich ähnlich hartnäckig in seine Fälle verbiss wie er.
In Gedanken daran lächelte Kassandra, bevor sie sich wieder dem Problem Sven widmete. »Wir könnten Harald fragen. Svens ›Projekte‹ hatten ja früher viel mit Immobilien- und Baugeschäften zu tun, sie sind sich mal begegnet.«
»Weißt du, wie gut dein Vater ihn kannte?«