Fischland-Falle - Corinna Kastner - E-Book

Fischland-Falle E-Book

Corinna Kastner

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Beschreibung

Auf dem Fischland nimmt ein Krimi-Dinner eine mörderische Wendung . . . und Kassandra und Paul stecken mittendrin. Wustrows Prominenz wird zu einem Krimi-Dinner auf ein beliebtes Hotelschiff eingeladen. Doch der vergnügliche Abend gerät schnell außer Kontrolle, als vor aller Augen ein Gast stirbt und per Videobotschaft verkündet wird, dass weitere Tote folgen, wenn es den Anwesenden nicht gelingt zu entkommen. Fieberhaft suchen Kassandra und Paul einen Weg ins Freie, aber das Schiff ist mit gefährlichen Fallen ausgestattet, und die Gäste beäugen sich gegenseitig misstrauisch – denn der Mörder muss mitten unter ihnen sein.

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Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane und seit 2012 ihre Küsten Krimis, die auf dem Fischland spielen; außerdem seit 2020 die (Schauplatz-)Kalender »Fischland«.

www.corinna-kastner.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. In diesem Roman tauchen viele Namen auf, die so oder ähnlich auf dem Fischland gebräuchlich sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Corinna Kastner

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-145-4

Küsten Krimi

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Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH, Autoren- und Verlagsagentur. www.ava-international.de

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Für Jörg – mein Held in allen Lebenslagen

Prolog

Heinz Jung schreckte hoch. Was hatte ihn geweckt? Er blinzelte in die Dunkelheit seines Schlafzimmers, durch die Gardine schaffte es nur ein kleiner silberner Lichtstreif, der jedoch gleich wieder verschwand, als sich eine Wolke vor den Mond schob. Während er einen flüchtigen Blick auf die Leuchtanzeige seines Weckers warf, lauschte er. Nichts. Natürlich nicht. Was sollte um kurz vor drei mitten in der Nacht schon sein? Einbrecher würden sich an seinem Haus die Zähne ausbeißen, und wenn es doch wider Erwarten einem gelang, hier einzudringen, würde die Alarmanlage losgehen. Und das hätte nicht nur Heinz gehört, sondern die gesamte Nachbarschaft. Zumindest Kassandra stünde längst auf der Matte. Er hatte wohl einfach schlecht geträumt. Langsam ließ er sich zurück in sein Kissen gleiten, schloss die Augen und hoffte, dass er gleich wieder einschlief.

Dingdong!

Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit saß Heinz aufrecht im Bett. Jetzt sprang er alarmiert hoch und nahm sich nicht die Zeit, etwas über seinen Pyjama zu ziehen, bevor er auf den Flur hastete. Um diese Uhrzeit klingelte niemand ohne absoluten Notfall. Wenn bloß Kassandra nicht in Schwierigkeiten steckte! Vielleicht war diese alte Geschichte doch nicht so harmlos, wie sie es alle gern hätten.

Mit fliegenden Fingern entriegelte er die Tür und riss sie auf. »Kass…«

Der Name seiner Nichte erstarb auf Heinz’ Lippen. Vor ihm stand nicht Kassandra. Auch nicht Paul. Überhaupt niemand, den er kannte. Heinz war hager und groß. Der Mann vor ihm war größer. Und massiger. Seine Gestalt war das Einzige, was er von ihm erkennen konnte, und Heinz blieb gerade noch genug Zeit zu registrieren, dass das nicht an mangelnder Straßenbeleuchtung lag. Da stieß ihn der Mann mit der Sturmhaube auch schon kraftvoll zurück in die Diele.

Beinah hätte Heinz das Gleichgewicht verloren, doch er fing sich. Damit hatte der Unbekannte nicht gerechnet, der ihn schon packen wollte und verblüfft innehielt, als seine Hände ins Leere griffen. Diesen Vorteil nutzte Heinz. Er stürzte ins Wohnzimmer, schlug die Tür hinter sich zu und rannte zur Terrasse. Raus! Raus ins Freie, in den Garten, durch die Lücke im Zaun rüber zu Kassandra und … Nein! Er durfte sie nicht gefährden, er musste …

Die Tür knallte gegen die Wand, vier Schritte, dann war der Mann bei ihm. Wieder duckte Heinz sich weg und entwischte ihm. Was auch immer der Fremde von ihm wollte, er war definitiv kein Profi, so viel sagte Heinz seine Erfahrung als ehemaliger Polizeihauptmeister. Dennoch packten ihn zwei Pranken einen Meter vor der rettenden Tür hinaus in den Flur. Heinz wehrte sich mit aller Macht, wandte jeden Griff an, den er mal gelernt hatte und der fast noch saß wie früher. Bei ihrem Kampf ging einiges zu Bruch, es krachte und polterte, doch das nahm er kaum wahr. Er achtete nur auf seinen Angreifer, der langsam, aber sicher die Oberhand gewann. Heinz mochte gut in Form sein, aber er war zweifellos eine ganze Reihe an Jahren, wenn nicht Jahrzehnten älter, und das machte sich bemerkbar.

Der Mann warf ihn zu Boden und hielt ihn dort mit eisernem Griff und einem Knie auf Heinz’ Magen. Es schmerzte, er bekam kaum Luft und hatte keine Chance mehr. Das Dunkel im Raum verschmolz mit dem dunklen Nebel, der sich vor seinen Augen bildete. Wie durch Watte hörte er ein reißendes Geräusch, etwas Festes legte sich über seinen Mund, verklebte seine Lippen und ein Nasenloch, das Atmen wurde nahezu unmöglich. Mit letzter Kraft bäumte Heinz sich auf, stieß seinen Kopf in die Richtung des Mannes, riss seine Arme hoch, um nach ihm zu schlagen, aber der Fremde fing sie ab, und Heinz ging endgültig die Luft aus. Panisch drängte es ihn nur noch, den Mund aufzureißen, einzuatmen, um nicht zu ersticken, und in der hintersten Ecke seines Gehirns brach sich der Gedanke Bahn, dass er sich beruhigen musste, dass er durch sein freies Nasenloch würde atmen können, wenn es ihm nur gelang, die Angst vorm Ersticken abzuschütteln.

Er stellte die Gegenwehr ein, versuchte, sich aufs Luftholen zu konzentrieren, und spürte, dass der Druck des Knies auf seinen Magen ein winziges bisschen nachließ. Durch das Rauschen in seinen Ohren hörte er den Mann etwas murmeln, das er nicht verstand. Dann wurde er ohne Vorwarnung wie ein Paket herumgerissen und landete mit dem Gesicht auf dem Teppich. Wieder erklang das reißende Geräusch, Hand- und Fußgelenke wurden gefesselt, vermutlich mit demselben Klebeband, das bereits über seinem Mund lag. Brutal warf ihn der Mann erneut herum, auf den Rücken. Heinz’ Gewicht drückte auf Arme und Hände, es schmerzte, er wollte aufstöhnen, aber nicht einmal das gelang ihm. Ruhig, sagte er sich, atme einfach nur, at…

Er hatte noch nicht zu Ende gedacht, da wurde etwas über seine Stirn, seine Augen und weiter nach unten gezogen. Heinz konnte die Panik nicht mehr zurückdrängen – er würde qualvoll ersticken! Mit einem letzten Aufbäumen wand er sich nach links und rechts und brachte den Mann so kurz aus dem Konzept. Der begriff offenbar, schob den rauen Stoff wieder höher, sodass er nur noch Heinz’ Augen bedeckte.

Einen Moment lang war alles still bis auf das leise Keuchen des Fremden. Heinz spürte den Lufthauch einer Bewegung, hörte ein Zischen, dann dröhnte sein Kopf. Höllenschmerzen. Helle Sterne, Punkte, Spiralen hinter seinen Lidern. Dann Schwärze. Nichts mehr.

1

Zwei Monate zuvor

Kassandra lehnte sich zurück und hielt die Augen geschlossen. Alles um sie herum nahm sie mit anderen Sinnen wahr: die warmen Sonnenstrahlen des Frühlings auf ihrer Haut, die leichte Brise in ihren Haaren, das Plätschern der Wellen um den Bootsrumpf, hin und wieder einen Wasserspritzer auf ihren Armen, den Geruch des Holzes, der Taue und der Segel. Es war wunderbar, auf dem Bodden dahinzugleiten, sich treiben und den Gedanken freien Lauf zu lassen. Nur sie und Paul – und der Skipper.

Der störte sie nicht. Kassandras Nachbar Jonas Zepplin hatte ihnen diese Sonderfahrt auf seinem Zeesboot Tante Mine schon zu Weihnachten geschenkt, und jetzt zur Saisoneröffnung lösten sie das Geschenk ein. Kassandra genoss die Stille in der Natur und das Nichtstun. Bald genug würde sich das ändern, wenn aus den hin und wieder anreisenden Urlaubern, die die Zimmer ihrer Pension »Woll tau seihn« in dieser Jahreszeit bewohnten, Ströme von Menschen wurden, die sich ohne einen Tag Pause bei ihr abwechselten. Sie mochte den Trubel, aber diese Ruhe auf dem Bodden war etwas ganz Besonderes.

Kassandra hatte keine Ahnung, wo sie gerade unterwegs waren, und wollte eben träge die Augen öffnen, als in unmittelbarer Nähe Glocken erklangen. Sie setzte sich auf und blinzelte hinüber zur Fischländer Kirche. Die Turmuhr zeigte drei, sie waren schon fast zwei Stunden unterwegs. Wie schnell die Zeit verging. Ein Seitenblick zu Paul verriet ihr, dass das Geläut ihn anscheinend auch aus seiner kontemplativen Stimmung gerissen hatte.

Jonas schmunzelte. »Wach?« Dann deutete er zum Ufer, an dem nun nach Hafen und Kirche die Stinne in Sicht kam – das Schiff mit den zwei Masten, dem schwarzen Rumpf und dem weißen Aufbau, das seit Jahrzehnten dort friedlich auf dem Trockenen lag. Seit einiger Zeit war es auf der Stinne und um sie herum weniger friedlich. Baulärm tönte herüber. Nicht zu laut, aber auch nicht zu überhören.

»Du weißt doch immer alles, Herr Gemeindevertreter«, wandte Jonas sich an Paul. »Wie weit ist es denn gediehen?«

Paul lachte. »In dem Fall muss ich dich enttäuschen. Ich weiß nicht mehr als das, was in der Zeitung steht. Allerdings kennen wir eine Person, die sehr wahrscheinlich bald viel besser informiert sein dürfte.«

»Ob wir was davon haben, ist eine andere Frage«, schaltete sich Kassandra ein. »Violetta wurde zu strengstem Stillschweigen verdonnert.«

»Violetta und Schweigen?«, fragte Jonas ungläubig, während er das Segel reffte. »Nicht euer Ernst.«

»Sei nicht ungerecht«, sagte Kassandra. »Violetta mag ja beim Reden weder Punkte noch Kommata kennen, eine Klatschtante ist sie trotzdem nicht.«

»Meinetwegen. Aber wie kommt ihr darauf, dass sie mehr erfahren könnte als Paul?«

»Wegen des Fischländer Lesezirkels, den sie vor ein paar Jahren gegründet hat«, erklärte Kassandra. Sie amüsierte sich über Jonas’ noch ratloseren Blick und beschloss, ihn aufzuklären. »Neulich war Violetta zum Kaffee bei uns«, begann sie.

»Das ist besser gesichert als Fort Knox, kann ich euch sagen, echt unglaublich, nicht mal mir verrät sie, was für Tricks und Finessen da eingebaut werden, obwohl sie doch so viel Wert darauf legt, mit mir zusammenzuarbeiten, muss man sich mal vorstellen, mit mir, ist doch der Wahnsinn, oder?« Violetta brauchte eine kleine Pause zum Luftholen, was ungewöhnlich war und ein Zeichen dafür, wie sehr sie die Anfrage von Nicola Hülskamp überraschte und offenbar auch freute.

So aufgeregt hatte Kassandra ihre Freundin selten erlebt.

»Na ja«, nutzte sie die Gunst der Sekunde, »du kannst nicht erwarten, dass sie dir schon beim ersten Gespräch sämtliche Geheimnisse der neuen Stinne verrät.«

»Sämtliche natürlich nicht, aber vielleicht das eine oder andere, schließlich soll ich doch mitwirken an den Szenarien für die Krimi-Dinner.«

»Eben«, schaltete Paul sich ein. »An denen für die Krimi-Dinner, nicht an denen für die … ähm … Escape-Room-Adventures.« Er verdrehte ein wenig die Augen, und Kassandra wusste, warum.

»Was willst du denn, Paul?«, fuhr Violetta jedoch auf, der seine Mimik nicht verborgen geblieben war. »Ist doch allemal besser als Verfall, wäre ja nicht das erste Mal gewesen, dass hier was ewig verrottet, weil alle Pläne fehlschlagen und windige Investoren sich die Klinke in die Hand geben, ich sag nur Seefahrtschule, von den Leerständen der Geschäfte und dem Gastronomiemangel nicht zu reden, was beschwerst du dich also?«

»Ich beschwere mich nicht«, stellte Paul richtig. »Ich bin nur vorsichtig mit meinen Erwartungen. Auch das lehrt die Erfahrung. Die Stinne ist einmalig. Wir sind ihr was schuldig, das Bewahren von Geschichte nämlich, und ich weiß nicht, ob dem neuen Besitzer beziehungsweise seiner Projektleiterin Frau Hülskamp das gelingt, wenn aus dem Schiff ein Abenteuerspielplatz gemacht wird.«

»Ja, ja, jetzt kommst du gleich wieder mit den ollen Kamellen vom dänischen Schoner, der in der Steinzeit vor der Küste Wustrows gestrandet ist und …

»1965«, warf Paul ein, seine Mundwinkel zuckten. »Nicht ganz so alt, aber du warst nicht mal angedacht.«

»Haha, siehste, genau, und dass die Stinne seit fast ebenso ewig am Bodden auf dem Trockenen liegt, ein FDGB-Heim zuerst und später ein Hotel- und Restaurantschiff und so heimelig und urig und maritim ausgestattet war und zu Wustrow dazugehört wie die See und die Zeesboote, die Rohrdachhäuser und die alten Linden auf der Strandstraße.«

Paul grinste und applaudierte lautlos. »Dann muss ich ja nichts mehr sagen. Noch Kaffee?«

Violettas Miene entspannte sich. Sie nickte und blinzelte in die Sonne, die auf Pauls Terrasse niederschien.

»Und noch ein Stück Rhabarbertorte?«, fügte Kassandra hinzu, den Tortenheber bereits in der Hand. Über ihnen kreischte eine Möwe, hinter dem Deich rauschte leise die See, eine Brise fuhr durch die Kartoffelrosenhecke und die Bäume jenseits des Grundstückes. Es war ein viel zu schöner Tag, um zu streiten, vor allem um Dinge, die sich ohnehin nicht ändern ließen.

Ein Investor aus Baden-Württemberg mit deutschlandweiter Erfahrung im Eventbereich hatte die Stinne gekauft und nach zwei, drei persönlichen Auftritten in Wustrow Nicola Hülskamp als Projektleiterin eingesetzt. Ausgestattet mit einer allumfassenden Vollmacht und Handlungsfreiheit in jeglicher Beziehung machte sie daraus nun das ihrer Meinung nach aufregendste, innovativste und lukrativste Eventschiff, das die Ostseeküste jemals gesehen hatte.

Kassandra platzierte die Rhabarbertorte mit dem Baiser-Topping auf Violettas Teller und leistete der Projektleiterin im Stillen Abbitte. Sie konnten nichts beurteilen, solange sie das Ergebnis nicht gesehen hatten, und gegen Nicola Hülskamp persönlich war nichts einzuwenden. Die Pläne mochten etwas abgehoben sein, aber sie selbst kam bodenständig rüber und war sogar bei Skeptikern im Ort durchaus beliebt.

»Auf jeden Fall«, nahm Violetta den Faden wieder auf, nachdem sie sich einen Happen Kuchen einverleibt und etwas Baiserschaum von der Oberlippe geleckt hatte, »finde ich die Sache total spannend, ich wollte schon immer mal an einem Krimi-Dinner teilnehmen, und jetzt soll ich sogar beim Entwurf der Szenarien dabei sein.« Sie pickte ein Mandelblättchen auf die Kuchengabel, runzelte die Stirn und sah Paul nachdenklich an. »Oder ist es das, bist du beleidigt, weil sie mich gefragt hat und nicht dich, den berühmten Bestsellerautor?«

Kassandra wollte schon aufbrausen, doch Paul schüttelte belustigt den Kopf.

»Da du mich eindeutig besser kennst, nehm ich diese Bemerkung jetzt mal nicht ernst.«

»War sie auch nicht gemeint«, gab Violetta zurück. »Im Gegenteil, ich habe sogar gefragt, ob sie dich nicht ins Boot holen will, dann könnte sie immerhin mit einem bekannten Namen hausieren gehen, und letztlich hast du ja viel mehr Ahnung vom Schreiben, als ich je haben werde, und wenn ich noch so viel lese.«

»Was hat sie dazu gesagt?«, fragte Kassandra.

Violetta zuckte bedauernd mit den Schultern. »Dass sie gerade die Interessen der Leser spannend findet, also, was die wiederum spannend finden, welche Geschichten die mögen und so, und da wäre ich mit meinem Lesezirkel …« Sie unterbrach sich und lachte. »Ist es nicht übrigens göttlich, dass ich den nie gegründet hätte ohne den Fall damals, für den wir so was als Alibi brauchten?« Ohne eine Bestätigung abzuwarten, redete sie gleich weiter. »Also, jedenfalls wäre ich nun mal die beste Quelle, weil ich nicht nur selbst Krimis verschlinge, sondern auch noch jede Menge andere Leute kenne und deren Vorlieben, die ich ebenfalls einbringen könnte.«

»Stimmt alles«, sagte Kassandra. »Trotzdem seltsam, dass sie auf die Expertise eines arrivierten Schriftstellers verzichtet. Das eine würde ja das andere nicht ausschließen.«

»Hab ich auch gesagt, und da rückte sie damit raus, dass sie so ganz ohne doch nicht auskommen will.« Violetta machte eine gezielte Kunstpause und guckte Kassandra und Paul erwartungsvoll an.

»Inwiefern?«, erlöste Paul sie.

Ein breites Lächeln legte sich über Violettas Gesicht. »Sie will dich als Krimi-Dinner-Test-Gast, natürlich noch mit ein paar anderen, aber dein Urteil ist ihr besonders wichtig, weil sie wissen möchte, wie schnell du als Profi auf die Lösung der Fälle kommst.«

»Ich bin kein Krimi-, sondern Thriller-Autor. Das kann ein großer Unterschied sein«, gab Paul zu bedenken.

»Deswegen gibt es ja unterschiedliche Szenarien, beides wird bedient, wobei ich glaube, dass die Escape-Rätsel eher was von Thrillern haben werden, aber sie meint, du kennst dich bestimmt mit beidem supergut aus, und wie dem auch sei, ich soll mir ein paar Sachen überlegen, und ich hab auch schon prima Ideen, wenn die nicht bei Nicola zünden, weiß ich auch nicht, aber ihr versteht sicher, dass ich nicht drüber reden darf, weil sonst müsstest du ja nichts mehr testen, was, Paul?« Violetta lachte wieder.

»Absolut«, stimmte Paul gut gelaunt zu. »Obwohl ich zugeben muss, dass ich extrem neugierig bin.«

»Genau wie ich«, sagte Kassandra. »Wie kommt’s übrigens, dass du schon auf so vertrauter Basis mit Frau Hülskamp bist, von wegen Nicola?«

»Ach, die ist ganz locker drauf, wartet’s ab, bis ihr sie kennenlernt, die will nichts von Siezen und so wissen.«

»Hab ich schon gehört«, sagte Paul. »Das gilt auch für die Leute, die die Stinne umbauen. Die Jungs und Mädels sind sich allerdings nicht ganz im Klaren darüber, ob sie es gut finden, dass Frau Hülskamp so oft hier ist und den Bau überwacht.«

Kassandra schob die letzten Kuchenkrümel auf ihrem Teller zusammen. »Die fühlen sich kontrolliert? Ist es nicht normal, dass der Bauherr oder eine Vertretung vor Ort ist?«

»Schon, aber offenbar nicht so häufig, und die wenigsten lassen sich alles so haarklein erklären. Andererseits ergibt das natürlich Sinn. Sie sollte schon wissen, wie die Tricks, Fallen und Finessen der Stinne technisch funktionieren, damit sie bei Fehlern die Ursachen erkennt und später alles an die Angestellten weitergeben kann. Konstruktionspläne allein, ganz ohne Praxis, reichen vermutlich nicht. Sie hat einen verantwortungsvollen Posten und will nichts falsch machen. Es ist ihr erstes Großprojekt dieser Art, wie man so hört. Neuland für Wustrow und für sie.«

Jonas war mittlerweile mit der Tante Mine wieder in den Hafen eingefahren und holte die Segel ganz ein.

»Da hattest du vermutlich recht, Paul«, sagte er. »Die Hülskamp will sich nicht blamieren, so locker sie sich auch sonst gibt. Marlene ist schon diverse Male beim Einkaufen auf sie getroffen, beim Frischemarkt, bei Schlachter Lohse, und jedes Mal plauscht sie mit Leuten. Neulich war sie in der Bücherstube, da schwatzte sie mit Gerlinde, und die ist im Gegensatz zu Violetta ja sehr für Tratsch empfänglich.« Er lachte. »Wobei Marlene den Eindruck hatte, dass die beiden sich schon näher kennen.«

»Violetta hat erzählt, dass Frau Hülskamp nicht nur generell kunstinteressiert ist, sondern die Stinne auch mit hiesiger Kunst ausstatten will«, sagte Kassandra. »Wahrscheinlich hat sie Gerlinde als Inhaberin der Kunstscheune kennengelernt.«

Jonas nickte. »Gut möglich.«

»War sie noch nicht in deinem Laden?«, fragte Paul. »Bei deinen Fischländereien findet sie doch jede Menge tolle maritime Stehrümchen.«

»Doch, sie war da, ich aber leider nicht. Chris meinte, sie hätte einiges in die engere Auswahl genommen, konnte sich aber noch nicht endgültig entscheiden. Ich muss zusehen, dass ich ihr mal«, er zeichnete Gänsefüßchen in die Luft, »rein zufällig begegne und sie wieder in mein Geschäft lotse.«

Jonas machte die Tante Mine sicher am Kai fest. Bevor er sich verabschiedete, weil er noch einen Blick in seinen Souvenirladen hinter der Hafenmeisterei werfen wollte, fragte er: »Habt ihr inzwischen noch mal mit Violetta gesprochen?«

»Nein. Obwohl ich vor Neugier platze, wie weit sie mit ihren Krimiszenarien ist und ob sie die schon erfolgreich bei der Hülskamp vorgestellt hat, habe ich mich bisher mühsam mit Nachhaken zurückgehalten«, sagte Kassandra.

»Sehr tapfer!«, fand Jonas. »Wenn du es gar nicht mehr aushältst, ruf sie an, sie freut sich bestimmt, auch wenn sie nichts sagen darf, außer dass alles ›echt total spannend‹ ist.«

Gespielt empört drohte Kassandra ihm mit dem Finger, dann winkten sie einander zu und trennten sich.

Vorn an der Hafenstraße wollte Paul nach links Richtung Kirche abbiegen, doch Kassandra hielt ihn zurück.

»Ich weiß, es geht mich nichts an, aber …«

»Du möchtest Gerlinde ausquetschen.« Paul formulierte das als Feststellung, nicht als Frage. »Die nächste Ausstellung ist noch längst nicht eröffnet, ein Besuch der Kunstscheune funktioniert als Vorwand nicht. Willst du klingeln und offen zugeben, dass du … wissbegierig bist?«

»Natürlich nicht. Aber vielleicht ist sie ja gerade im Garten. Wenn nicht, haben wir eben einen Spaziergang gemacht, oder wir schneien bei Matthias und Greta nebenan herein.«

»Keine schlechte Idee. Wenn Frau Hülskamp so kunstinteressiert ist, mag sie ja auch schon Kontakt zu Matthias geknüpft haben. Grund genug böten seine Mühlengalerie und seine eigene Holzkunst allemal.« Er marschierte los, zuerst die Hafenstraße entlang, dann weiter den Barnstorfer Weg hoch.

Bald darauf kam Hufe IV in Sicht, zuerst das Wohnhaus von Gerlinde und Jens Meerbusch, das wunderschön am Bodden lag und von hier aus die Kunstscheune noch verbarg. Im Näherkommen beobachtete Kassandra die Schafe auf der Wiese und ließ ihren Blick dann zu dem prägnanten, nach links geneigten Baum gleiten und zu dem unscheinbaren Hügel, in dem sich das alte Eishaus befand. Sie hatte diese Motive oft fotografiert und auch auf ihren Fischland-Kalendern verewigt, und doch war sie immer wieder aufs Neue von dem romantischen Anblick angetan.

Nach einer Kurve lag die Zufahrt zum Haus neben ihnen. Gerlinde war nirgends zu sehen, aber Jens bastelte an seinem Auto. Obwohl er Kassandra und Paul bemerkt haben musste, ließ er sich nicht stören. Jens war kein kommunikativer Mensch, am liebsten verschanzte er sich hinter einer Sportzeitung und wollte in Ruhe gelassen werden. Normalerweise hätte Kassandra freundlich gegrüßt und wäre weitergegangen, heute blieb sie stehen.

»Hallo, Jens! Herrlicher Tag, was?«

Flüchtig hob Jens den Kopf und nickte. »Falls ihr zu Gerlinde wollt, die ist unterwegs. Trifft sich mit dieser Hülskamp zum Kaffee.«

Das waren für Jens ungewöhnlich viele Informationen auf einmal, und Kassandra meinte, Unmut auf seinem Gesicht zu erkennen.

»Wie schön«, sagte sie dennoch und ignorierte Pauls dezenten Anstupser. »Lässt Frau Hülskamp sich von Gerlinde zu ortsansässigen Künstlern beraten, die die Stinne ausstatten könnten?«

»Ist längst erledigt. Gerlinde hat ein paar Kontakte hergestellt und Matthias auch. Wen die Hülskamp engagiert, ist allerdings Staatsgeheimnis, jetzt ist nur noch ganz normaler Kaffeeklatsch angesagt.« Jens’ Miene drückte allzu deutlich aus, was er davon hielt. »Na, solange das Gequatsche nicht hier stattfindet, soll’s mir recht sein. Die Frau ist mir definitiv zu viel Wirbelwind. Ich fürchte …« Er brach ab und schüttelte Kopf, als habe er bereits zu viel gesagt.

»Was fürchtest du?«, schaltete Paul sich ein. »Stimmt mit der Hülskamp was nicht?«

»Abgesehen davon, dass sie nervt, weil sie dauernd auf der Matte steht? Nee.« Jens wandte sich demonstrativ wieder seinem Auto zu, die Unterhaltung war beendet.

»Er hatte noch was anderes sagen wollen«, sagte Kassandra leise, als sie weitergingen und zunächst das lang gezogene Gebäude mit dem moosbedeckten Rohrdach und dann die geschlossen daliegende Kunstscheune passierten.

Paul hob die Schultern. »Bei Jens weiß man nie so genau. Vielleicht hatte er einfach keine Lust mehr zu reden. Er hat ja für seine Verhältnisse einen wahren Wortschwall von sich gegeben.« Er deutete nach vorn. »Noch zu Matthias und Greta, wo wir schon mal hier sind?«

Kurz darauf läuteten sie an der Messingklingel der großen Scheune, die Matthias vor vielen Jahren zu einem phantastischen Wohnhaus hatte umbauen lassen, das in einem ebenso phantastischen Garten stand. Die meisten Urlauber, die vorbeikamen, blieben stehen, um das Ensemble zu bewundern. Nur Matthias konnte das nicht mehr, er war beinahe blind. Was man häufig vergaß, wenn man mit ihm sprach und vor allem seine im wörtlichen Sinn schrägen, aber genialen Holzmöbel betrachtete, die ausschließlich Kunst und keine Gebrauchsgegenstände waren.

Matthias’ Frau Greta öffnete ihnen die Tür.

»Kassandra, Paul! Das ist ja eine schöne Überraschung! Kommt rein!« Sie ging voran in den großen Wohnraum mit den gemütlichen kleinen Fenstern zur Straßen- und dem riesigen Panoramafenster zur Boddenseite.

Auf dem Fußboden spielte Alexander ganz versunken mit Holzklötzchen, schaute aber auf, als Paul ihm durch das dunkle Haar wuschelte und sich neben ihn hockte.

»Hallo, Alex, mein Lieblingspatensohn!«

»Lieblingsonkel!«, krähte Alexander undeutlich zurück und griente. Dann deutete er auf das, was er gebaut hatte. »Papas Mühle. Ganz viele Bilder drin.«

»Klar! Die sind toll! Hast du auch welche gemalt?« Und als Alexander nickte: »Zeigst du mir die?«

Der Kleine rappelte sich auf die Beine und streckte Paul seine Hand hin. »Komm!«

Paul ließ sich mitziehen und nahm den Jungen huckepack die Treppe hoch zu seinem Zimmer. Im Vorbeigehen zwinkerte er Greta und Kassandra zu. »Bis gleich.«

Greta lachte und tippte Kassandra an. »Dann entführ ich dich zu den anderen Mädels.«

»Mädels?«, wiederholte Kassandra, während sie Paul und Alexander hinterhersah. In letzter Zeit fragte sie sich hin und wieder, ob sie und Paul auch Kinder hätten haben sollen. Sie wusste, dass alles gut so war, wie es war – sie beide hatten nie den tiefen Wunsch verspürt, Eltern zu werden. Aber manchmal, in Momenten wie diesen, ging ihr durch den Kopf, ob sie nicht etwas Wesentliches versäumten.

Inzwischen hatte sie mit Greta die Küche betreten, wo zwei Frauen an dem großen Tisch saßen. Gerlinde winkte ihr fröhlich entgegen. Die andere Frau kannte Kassandra bisher nur vom Sehen: Nicola Hülskamp. Das also war der Kaffeeklatsch.

Während Greta sie einander vorstellte, spürte Kassandra denselben prüfenden Blick über sich gleiten, den sie Nicola Hülskamp angedeihen ließ: Sie mochte um die vierzig sein, trug ihre braunen Haare kurz geschnitten und eine große Brille in dezentem Erdton vor blauen, neugierig dreinblickenden Augen. Sie steckte in einem lässigen grauen Blazer, einem weißen Shirt und hellblauen Jeans. Zur Begrüßung stand sie auf und streckte ihr die Hand entgegen.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Frau Voß. Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« Sie lächelte. »So wie Sie vermutlich von mir. Da wir in Violetta eine gemeinsame Freundin haben, können wir doch das Sie weglassen und zum Du übergehen, oder? Ich bin Nicola.«

Kassandra erwiderte das Lächeln. »Freut mich ebenfalls – Kassandra. Violetta hält sich übrigens ungewohnt bedeckt, aber natürlich hat sie von euren gemeinsamen Plänen erzählt. Ich liebe Krimis fast so wie Violetta und kann kaum erwarten zu erfahren, was es demnächst auf der Stinne zu erleben gibt.«

Sie nahm Platz, und auch Nicola setzte sich wieder, bevor sie fortfuhr: »Sicher nichts, das so spannend wäre wie deine Realität. Du hast ja viel mit Verbrechen …« Sie unterbrach sich und wirkte zerknirscht. »Entschuldigung. Ich sollte nicht so mit der Tür ins Haus fallen, nur weil Violetta die eine oder andere Bemerkung rausgerutscht ist.«

»Kein Problem, das ist in Wustrow kein Geheimnis. Glücklicherweise liegt der letzte Fall einige Zeit zurück, und wir sind nicht erpicht auf einen neuen. Ein ruhiges Leben ist auch ganz schön.«

»Ach, komm«, mischte Gerlinde sich ein. »Das wär doch auf Dauer langweilig, oder nicht? Du musst unbedingt noch mal erzählen, wie das alles anfing, damals mit dem Toten in deiner Pension.« Sie wandte sich an Nicola. »Der war Kunstgutachter, bloß wusste das zuerst keiner, weil sich der Mann inkognito bei Kassandra eingemietet hatte.«

»Hm, ja, Violetta erwähnte so was. Flüchtig«, schmunzelte Nicola. »Außerdem, dass du überhaupt nur begonnen hast, dich einzumischen, Kassandra, weil die Polizei dich verdächtigt hat. Das muss ziemlich schrecklich gewesen sein.«

»Angenehm ist was anderes«, gab Kassandra zu. »Ich war froh, dass mir eine Menge Fischländer geholfen haben, und das, obwohl ich erst ein paar Monate hier wohnte. Aber lassen wir die alten Geschichten, die neue Stinne finde ich bei Weitem interessanter.«

Jetzt lachte Nicola. Ein tiefer Ton, der aus ihrem Inneren kam, heranschwoll und nur langsam wieder abebbte. Anscheinend war es nicht das erste Mal, dass jemand versuchte, ihr diese Geheimnisse zu entreißen. »Das kann ich mir denken. Geduldet euch einfach, ist doch viel besser, als wenn ich alles vorwegnehme.« Ein Schatten fiel über den Tisch, Nicola sah hoch und erkannte Paul, der gerade hereingekommen war. »Oder was sagt der Profi? Ein Autor würde niemals das Ende seines Buches verraten, richtig?«

»Keinesfalls! Es gibt allerdings Leute, die lesen grundsätzlich den Schluss zuerst. Was ich nicht nachvollziehen kann, aber jede und jeder, wie’s gefällt.«

»Also, mir gefällt’s mit Spannung besser«, sagte Nicola, »und da ich auf der Stinne das Sagen habe, müssen sich alle nach mir richten.« Sie grinste und streckte Paul die Hand hin. »Nicola. Ich hoffe, das Du ist in Ordnung, und ich hoffe, du bist nicht sauer, weil ich Violetta um Zusammenarbeit gebeten habe statt dich.«

Verschmitzt lächelnd ergriff Paul ihre Hand. »Ja und nein.«

Nur kurz war Nicola irritiert, dann nickte sie. »Sehr schön. Ich habe übrigens ›Boddenblut‹ gelesen, das ist wirklich gruselig. Wenn ich mit meinen Events auch nur einen Hauch dieses Gänsehautgefühls vermitteln kann, habe ich schon gewonnen.«

»Danke sehr. Du und Violetta werdet das bestimmt hinbekommen. Ich für meinen Teil lehne mich entspannt zurück, bis ich zum Testen aufgerufen werde. So habe ich Violetta jedenfalls verstanden.«

Nicola biss sich auf die Lippen. »Ich hätte erst fragen sollen, aber manchmal nimmt mich der Überschwang mit.«

»Das passt schon«, stellte Paul fest.

»Wunderbar! Die Premiere ist am 27. Mai, ich hoffe, ihr habt da noch nichts vor.«

»Nein, das passt auch. Violetta war so frei, uns den Termin zu nennen, damit wir das einplanen konnten. Falls sie da vorgegriffen hat, sieh ihr das bitte nach.«

»Aber gar nicht, alles prima!«

Kassandra hatte den Eindruck, dass Nicola das nur der Form halber sagte und sich ein Lächeln verkniff. Bestimmt kannte sie Violetta gut genug, um dieses »Vorgreifen« vorhergesehen, wenn nicht gar einkalkuliert zu haben.

Inzwischen hatte sich Paul an Greta gewandt. »Alexander wollte zurück zu seinen Bauklötzen. Davor hat er mir seine Bilder gezeigt, die sind gut! Ich konnte in dem Alter nichts malen, was man auch nur ansatzweise erkennt.«

Greta nickte. »Die Kunst liegt ihm im Blut, vererbt vom Vater und Großvater gleichermaßen. Matthias ist begeistert.« Ein winziger Schatten zog über ihr Gesicht. »Obwohl er die Bilder nicht sehen kann.« Doch gleich darauf lächelte sie wieder. »Neulich haben wir uns vorgestellt, wie Alexander in zwanzig Jahren in der Kunstscheune seine erste Ausstellung eröffnen wird.«

»Bei uns? Warum nicht in eurer Mühlengalerie?«, fragte Gerlinde verwundert, dann begriff sie. »Ach, klar, damit es nicht heißt, der Vater protegiert den Sohn. Ich freu mich jetzt schon drauf, die Eröffnungsrede zu halten! Das ist immer ein Highlight bei jeder Vernissage, ich stricke schon an der Rede für Ende Mai.« Sie schaute zwischen Kassandra und Paul hin und her. »Wisst ihr noch damals die Vernissage von dem Kesting und der Bodenstedt? Wo alles anfing mit dir und dem Künstler?«

Kassandra seufzte innerlich, als Gerlinde ohne Übergang zu Nicola sah und fortfuhr: »Das war nämlich sozusagen der zweite Ansatzpunkt für den ersten Fall von Kassandra und Paul. Muss man sich mal vorstellen: Ein Mörder hat bei mir ausgestellt!« Wieder glitt ihr Blick zu Kassandra. »Nun erzähl das doch endlich, du kennst die Einzelheiten viel besser als ich.«

»Die hat Violetta ganz sicher schon ausführlich ausgebreitet«, sagte Kassandra etwas genervt. »Im Übrigen wurde Arnold nicht wegen Mordes, sondern wegen Totschlags verurteilt.«

Gerlinde wedelte mit ihrer Hand in der Luft herum, als wolle sie damit ausdrücken, dass Mord und Totschlag doch eigentlich das Gleiche seien. »Spielverderberin«, sagte sie, nahm dem Wort jedoch mit einem Zwinkern die Schärfe. »Du mochtest den Mann ja ganz gern, stimmt’s?«

»Tatsächlich?«, fragte Nicola, bevor Kassandra etwas erwidern konnte. »Ist ein bisschen schräg, jemanden zu mögen, der einen Menschen umgebracht hat.«

Kassandra zuckte mit den Schultern. »Arnold war kaum die Unschuld vom Lande, und es gab Momente, in denen ich mich vor ihm gefürchtet habe, aber ich konnte zumindest zum Teil die Gründe für seine Tat verstehen, zu der er auf gewisse Weise getrieben wurde. Es war kompliziert. Und es ist lange her. Ich habe ewig nicht mehr daran gedacht und das auch nicht vermisst.«

»Verstehe ich«, sagte Nicola. »Violetta hat mir allerdings auch verraten, dass ihr zwei«, sie deutete auf Kassandra und Paul, »durch diese Sache zusammengefunden habt. Hatte also alles was Gutes.«

Paul legte seine Hand auf Kassandras, seine Wärme durchströmte sie, und was sie dabei empfand, war noch immer das Gleiche wie vor so vielen Jahren. Sie war unendlich dankbar dafür.

»Deshalb besteht Violetta auch darauf, dass unsere Szenarien sämtlich ein Happy End haben«, fuhr Nicola fort.

»Was denn sonst?«, erkundigte sich Greta. »Du hattest ja wohl nicht vor, so was wie ›Und dann gab’s keines mehr‹ frei nach Agatha Christie zu inszenieren, wenn deine Krimi-Dinner-Gäste den Mörder nicht fassen oder die Leute nicht aus den Escape-Rooms finden.«

Wieder lachte Nicola dieses tiefe Lachen. »Das wäre ein Alleinstellungsmerkmal. Allerdings fürchte ich, ich könnte dann gleich wieder dichtmachen!« Sie beruhigte sich. »Nein, im Ernst, ich hatte mir überlegt, ob es für die Geschichten alternative Enden geben könnte – eins, in dem der Täter gefasst wird, und eins, in dem er im letzten Moment entwischt, je nachdem, für welche Spielvariante sich die Gäste – unbewusst – entscheiden.« Nicola schlug sich die Hand auf den Mund. »Jetzt habt ihr’s doch geschafft! Ich glaub’s nicht! Ich plaudere aus dem Nähkästchen!«

»Klingt aber interessant, dein Ansatz«, fand Paul. »Unter dem Aspekt eines Spiels natürlich nur.«

Kassandra runzelte kaum merklich die Stirn. Zu gut erinnerte sie sich an einen ihrer Fälle, in dem sich Paul in der Realität für Letzteres entschieden hatte. Sie warf einen Seitenblick zu Greta und erkannte, dass sie das Gleiche dachte. Weil sie und Matthias damals involviert gewesen waren, hatte Paul so gehandelt.

»Ist die Idee vom Tisch?«, wollte er wissen, als Nicola nichts erwiderte.

»Ich hab schon viel zu viel gesagt, jetzt ist Feierabend. Schluss, Ende, aus!« Nicola seufzte, schaute auf die Uhr und erhob sich. »Leider auch mit dem Kaffeeklatsch, jedenfalls für mich, vielen Dank, Greta, für die Bewirtung. Ich hab noch einen Termin, den ich nicht absagen kann und der sich bestimmt bis in den späten Abend zieht. Gerade bei solchen Gelegenheiten bin ich froh, dass ich diese süße kleine Ferienwohnung in der Osterstraße dauermieten konnte. Die Streblows sind wirklich wahnsinnig nett, es ist wie ein zweites Zuhause nach einem anstrengenden Arbeitstag. Wir sehen uns!« Sie winkte ihnen noch einmal zu, kurz darauf war sie wie ein Wirbelwind verschwunden.

Amüsiert sah Paul ihr hinterher.

»Was?«, fragte Kassandra.

»Ich stelle mir gerade Siegfried Streblow vor, unseren bedächtigen Direktor des Grandhotels Dünentraum, wie er von Nicolas guter Laune und Redefluss erschlagen wird. Aber was sie und Violetta angeht – da haben sich wirklich zwei gefunden.«

2

»Er war’s, da bin ich absolut sicher, auch wenn er sich sehr verändert hat, zu seinem Nachteil leider, er sah ja damals extrem attraktiv aus, sonst hätte ich ja nie … aber wie dem auch sei, mir wäre fast das Herz in die Hose gerutscht, und ich habe gemacht, dass ich vom Acker kam, bevor er mich noch erkannt hätte, darauf lege ich ja nun gar keinen Wert, mit dem will ich nie wieder was zu tun haben.« Wie zur Bekräftigung ihrer Worte warf Violetta geschickt ein flaches Steinchen in die ruhige See. Es sprang dreimal, bis es unterging.

Ein paar Wochen waren seit dem Kaffeeklatsch bei Greta vergangen. Inzwischen standen drei Krimi-Dinner-Szenarien fest, die Violetta und Nicola gemeinsam ausgearbeitet hatten. Violetta schwieg weiterhin tapfer darüber und hatte trotz wiederholten Nachfragens nichts über die Escape-Room-Abenteuer erfahren. Niemand außer Nicola selbst und ihrer Crew hatte die Stinne in all der Zeit betreten, und Violetta wurde ganz wuschig, weil sie das Gefühl hatte, gleichzeitig nah dran und weit weg zu sein.

Jetzt schien es allerdings, als rücke die Stinne mit ihren Geheimnissen komplett in den Hintergrund wegen einer Begegnung, an die Kassandra nicht so recht glauben mochte. Violetta war der festen Überzeugung, Raimund Degenhard in Wustrow gesehen zu haben. Der einstige Kunstgutachter und Geschäftsführer einer Stralsunder Galerie war nicht nur vor vielen Jahren Violettas heimlicher, weil verheirateter Liebhaber gewesen. Er hatte auch gemeinsam mit dem Maler und Fotografen Arnold Kesting den Kunstgutachter Josef Kind im Bodden ertränkt – jenen Mann, den Kassandra am Morgen darauf pitschnass und tot in ihrer Pension aufgefunden hatte. Es gab keinen, aber absolut gar keinen Grund, weshalb Raimund, vorausgesetzt, er war mittlerweile aus dem Gefängnis entlassen, ausgerechnet auf dem Fischland auftauchen sollte.

»Du irrst dich bestimmt nicht?«, vergewisserte Kassandra sich.

»Wenn ich es doch sage, ich kannte ihn ja nun wirklich besser als manch andere.« Violetta seufzte leise. »Obwohl er zugegebenermaßen mehr Frauen hatte, als ich damals dachte und wusste, seine eigene nicht mitgezählt.«

Kassandra setzte sich wieder in Bewegung und ließ dabei ihre Füße vom erfrischend kalten Wasser umspülen. »Wo genau hast du ihn denn gesehen?«

»Hinter der Kirche, er saß auf der Bank, auf der ich auch manchmal sitze, und ließ sich mit geschlossenen Augen von der Sonne bescheinen, ich hatte genug Zeit, ihn zu mustern, Irrtum echt ausgeschlossen, jedenfalls war ich verdammt froh, dass ich rechtzeitig verschwinden konnte.«

Noch immer war Kassandra nicht gänzlich überzeugt. »Ich kannte Raimund ja kaum, aber er machte mir nicht den Eindruck eines Mannes, der sich ein Plätzchen in der Abgeschiedenheit eines Kirchhügels sucht. Oder wart ihr mal zusammen bei dieser Bank, sodass er alte Erinnerungen aufgefrischt hat?«

»Nein, nie, aber wer weiß, vielleicht hat das Gefängnis ihn nicht nur äußerlich verändert, mancher findet ja zu Gott oder sonst was.«

Da war was dran. »Wie sieht er jetzt aus?«, fragte Kassandra.

Früher war Raimund Degenhard ein großer blonder Mittvierziger gewesen, nach ihrem Geschmack oberflächlich attraktiv, aber ohne jede Ausstrahlung. Laut Violetta war er allerdings phantastisch im Bett gewesen und hatte sie beim Sex mit Kunstwerken verglichen.

»Zu dünn, sein Gesicht ist dadurch viel länger, das markante Kinn ist verschwunden, die Haare sind noch blond, aber von seiner vollen Matte ist nicht mehr viel übrig, stattdessen trägt er einen Schnauzer. Mag ja wieder in sein, aber er steht ihm nicht. Vielleicht soll das Ding davon ablenken, dass Raimund insgesamt zusammengesunken wirkt, kraftlos.« Im Gegensatz zu sonst hörte man Punkte zwischen Violettas Sätzen, jetzt machte sie sogar eine längere Pause, als müsse sie ihre Worte noch einmal überdenken. »Kraftlos nicht im körperlichen Sinne. Obwohl er so hager geworden ist, waren seine Armmuskeln nicht zu übersehen, möglicherweise hat er im Knast Gewichte gestemmt oder so, das macht man doch da, oder, jedenfalls meine ich eher geistig kraftlos, als hätte er sich aufgegeben und wäre froh, einfach nur so dazusitzen und nichts weiter tun zu müssen.«

»Ich dachte, das ist, was man im Gefängnis meistens macht. Da sollte doch jemand, der endlich draußen ist, dankbar sein, wieder etwas tun zu können oder zumindest das, was man gern tun möchte«, wandte Kassandra ein.

»Was das betrifft, ist vielleicht auch jeder anders, kann ja sein, dass er gar nicht mehr weiß, was er eigentlich will.«

Kassandra schlug den Weg zum nächsten Strandübergang ein, der sie an den umgedrehten Fischerbooten in den Dünen vorbeiführte. Das Wetter war herrlich, entsprechend waren die Boote von Urlaubern umlagert, von denen von Woche zu Woche mehr aufs Fischland kamen.

»Und weil er nicht weiß, was er eigentlich will, kommt er ausgerechnet nach Wustrow?«, fragte sie.

Violetta blieb stehen. »Du glaubst, ich bilde mir das ein.«

»Nein. Ja. Ich weiß nicht.« Unsicher hob Kassandra in einer kapitulierenden Geste die Hände. »Wahrscheinlich finde ich den Gedanken, dass Raimund sich wieder auf dem Fischland blicken lässt, zu ungewöhnlich. Er wäre doch nicht ohne Grund hier. Ich kann mir keinen vorstellen.«

»Ich schon«, sagte Violetta, »und du auch, wenn du ehrlich bist, du willst bloß nicht vor dir selber zugeben, dass es Rache ist, die Raimund hertreibt, weil das natürlich beunruhigend ist.«

»Rache?«, wiederholte Kassandra. Daran hatte sie tatsächlich nicht gedacht, und ihr erster Impuls war zu erwidern, dass das absurd sei.

»Klar, hättest du dich nicht eingemischt, wäre die Wahrheit nie ins Licht gekommen«, sagte Violetta.

»Doch. Auch wenn Kay auf dem falschen Dampfer war, indem er mich verdächtigte, hätten ihn seine Ermittlungen schließlich zum richtigen Schluss geführt. Er war damals schon so hartnäckig wie heute und hat auch ohne mich mitbekommen, dass was nicht stimmte.«

»Wenn du das sagst.« Auf dem Weg hinterm Deich schüttelte Violetta den Sand aus ihren Sandalen und wartete, bis Kassandra ihre Schuhe wieder angezogen hatte, bevor sie zum Schlag ausholte. »Fragt sich nur, ob Raimund das genauso sieht.

»Violetta hat recht«, stellte Paul fest. Sie hatten gerade gegessen und genossen jetzt auf Kassandras Terrasse den milden Abend. »Falls dieser Mann wirklich Raimund Degenhard war, könnte er aus diesem Grund hergekommen sein.«

»Ja«, gab Kassandra widerwillig zu. »Falls. Wir wissen ja nicht mal, ob er überhaupt wieder auf freiem Fuß ist.«

Paul hielt ihr das Telefon hin. »Ruf Kay an.«

Zögernd nahm sie ihr Handy. Kriminalhauptkommissar Kay Dietrich, der Mann, der sie damals am liebsten wegen Mordes oder wenigstens wegen Beihilfe hinter Gitter gebracht hätte, war seit einiger Zeit von der KPI Anklam zum Stralsunder Kriminaldauerdienst gewechselt und seit vielen, vielen Jahren ein sehr guter Freund. Angefangen mit dem Fall des Toten in ihrer Pension hatten sie mittlerweile eine Menge Verbrechen gemeinsam aufgeklärt. Natürlich wäre es ein Leichtes für ihn herauszufinden, ob Raimund aus dem Gefängnis entlassen worden war, und wenn ja, wo er sich jetzt herumtrieb. Dumm nur, dass Kassandra es gar nicht so genau wissen wollte. Aber sie kam nicht drum herum, dafür würde Paul schon sorgen. Seufzend tippte sie Kays Nummer an und stellte auf Lautsprecher.

»Kassandra!«, meldete er sich erfreut. »Kannst du Gedanken lesen? Ich wollte eben zum Telefon greifen und fragen, ob wir im Juni alle zusammen Clemens Meisner in der Stralsunder Marienkirche hören wollen.«

Sie kannten den begnadeten Organisten durch einen ihrer Fälle, und Kassandra wünschte, dass das tatsächlich der Grund ihres Anrufs gewesen wäre. Offenbar hatte sie zu lange mit der Antwort gewartet. Kay hatte ein feines Gespür und hakte sofort nach.

»Kassandra? Ist alles in Ordnung?«

»Sag du’s mir. Violetta behauptet, sie hätte Raimund Degenhard in Wustrow gesehen.« Sie gab ihm eine Kurzfassung von Violettas Bericht. Noch während sie sprach, hörte sie Kay tippen – und schließlich Luft holen.

»Degenhard wurde vor zwei Monaten vorzeitig entlassen. Gib mir eine Stunde, um Einzelheiten in Erfahrung zu bringen.« Grußlos beendete Kay das Gespräch, aber Kassandra hatte seiner Stimme die Besorgnis angehört.

»Das hat noch gar nichts zu bedeuten«, sagte sie. Fast trotzig begegnete sie Pauls Blick, und plötzlich wurde ihr etwas bewusst. »Selbst wenn er hier sein sollte: Es wäre hochgradig dämlich, sich offen in Wustrow zu zeigen, falls er Rachepläne hätte. Er mag sich ja sehr verändert haben, dennoch wäre das Risiko viel zu hoch. Nicht nur Violetta, auch du, ich, Heinz oder Jonas hätten ihm über den Weg laufen und ihn erkennen können.«

Paul ließ sich das durch den Kopf gehen, dann nickte er langsam, nur um gleich darauf wieder die Stirn zu runzeln. »Hoffen wir, dass das nicht zum Plan gehört.«

»Um uns einzuschüchtern? Nach Violettas Schilderung wirkte er nicht gerade furchteinflößend.« Ihre Miene hellte sich auf. »Noch ein Zeichen dafür, dass wir für nichts ein Fass aufmachen. Man plant keinen angstverbreitenden Rachefeldzug und sieht dabei aus wie jemand, der sich nicht in den Keller wagt.«

Eine Weile hingen beide ihren Gedanken nach. Kassandra erinnerte sich an den Abend von Jonas’ fingierter Geburtstagsparty, auf der sie Raimund Degenhard und Arnold Kesting mit einem kleinen Schauspiel in eine Falle gelockt hatten. Wunschgemäß war sie zugeschnappt, dennoch wäre beinah einiges schiefgegangen. Wie hatte Heinz damals gesagt? »Menschenskind, Kassandra, ihr wart unglaublich leichtsinnig!«

Sie hatten enorm viel Glück gehabt. Raimund und Arnold nicht.

Wie aufs Stichwort betrat im Nachbargarten Heinz seine Terrasse. Kassandra winkte ihren Onkel herüber und weihte ihn in die neuesten Ereignisse ein.

»Das ist ja eine verrückte Geschichte«, fand er. »Wann war das, gestern Nachmittag? Da habe ich einen Hafenrundgang gemacht und von Weitem einen Mann vorn am Steg stehen sehen. Etwas an seiner Haltung war mir auf diffuse Art vertraut, aber ich kam nicht drauf, was. Dann klingelte mein Handy, und als ich fertig war mit Telefonieren, war der Mann weg, sonst wäre ich dem auf den Grund gegangen.« Er biss sich auf die Lippen. »Degenhard. An den hätte ich nie gedacht, aber es könnte hinkommen. Was immer er hier will, es ist höchstwahrscheinlich nichts Gutes.«

»Ihr tut alle, als wäre sein Auftauchen eine Tatsache!«, empörte sich Kassandra. »Du hast einen Typ gesehen, der dir bekannt vorkam, mehr nicht.«

Heinz’ linke Braue zuckte nach oben. »Ich bin ja auch dafür, erst mal die Fakten abzuwarten, in diesem Fall allerdings dürfte kaum ein Zweifel bestehen. Violetta Grabe hat ihn eindeutig identifiziert, im Nachhinein betrachtet erkenne ich ebenfalls eine Ähnlichkeit, und der Mann sitzt nicht mehr ein. Das sind mir ein bisschen zu viele Zufälle. Aber gut, warten wir ab, was Herr Dietrich ausgräbt. Sollte Degenhard nach Honduras ausgewandert sein, wären unsere Überlegungen in der Tat hinfällig.«

»Haha«, machte Kassandra. »Ich habe in den letzten Jahren kaum an Raimund gedacht, jetzt frage ich mich, ob er noch verheiratet ist.«

»Eher nicht«, vermutete Paul. »Seine Cornelia war damals schon nicht von seinen diversen Affären begeistert. Nach dem, was er sich außerdem geleistet hat, wird sie bestimmt nicht auf ihn gewartet haben.«

»Das hieße, er wäre ohne vertraute Anlaufstelle und ohne Job gewesen, als er entlassen wurde. Als Geschäftsführer ihrer Galerie hat sie ihn ja sicher auch gefeuert«, sagte Kassandra.

»Es sei denn, er hat sich um beides aus der Haft heraus gekümmert«, meinte Heinz. »Degenhard versteht was von Kunst. Es bestünde immerhin die Möglichkeit, dass er Arbeit in einem hiesigen Museum oder in einer der unzähligen kleinen Galerien gefunden hat.« Heinz richtete sich auf. »Das würde auch seine Anwesenheit erklären, ganz ohne dass er Schlimmes im Schilde führte.«

»Ich an seiner Stelle wäre dann doch lieber ausgewandert«, murmelte Kassandra. Als ihr Telefon zu läuten begann und sie Kays Namen auf dem Display las, fügte sie hinzu: »Sieht so aus, als könnten wir mit dem Spekulieren aufhören.« Sie wischte über den grünen Hörer. »Hallo, Kay, sag, dass Raimund nach Honduras ausgewandert ist!«

Kay stutzte. »Wie bitte?«

»War ein Scherz. Bayern würde mir fürs Erste reichen. Jedenfalls wünsche ich ihn ganz weit weg.«

»Kann ich mir denken, damit aber leider nicht dienen. Degenhard wohnt seit seiner Entlassung in Rostock und arbeitet als Museumswärter im Kunsthaus. Sicher kein erfüllender Job, der noch dazu nicht berauschend bezahlt wird, ist aber immerhin ein Anfang in seinem eigenen Metier. Das schafft nicht jeder und gelang ihm auch nur durch frühere Beziehungen, die nicht komplett abgebrochen sind. Die haben ihm gleichzeitig eine günstige Sozialprognose gebracht, weil er außer dem Job eine Wohnung in Aussicht hatte. Das zusammen mit ausgezeichneter Führung in den letzten Jahren resultierte in seiner vorzeitigen Entlassung.« Er machte eine kurze Pause. »Gestern war Montag, da hat das Kunsthaus geschlossen, durchaus möglich also, dass er den freien Tag für einen Ausflug nach Wustrow genutzt hat.«

»Das klingt toll für Raimund, ist aber nicht, was ich hören wollte«, stellte Kassandra missmutig fest.

»Kannst du noch was vertragen?«

»Kommt drauf an.« Kassandra lachte halbherzig. »Ist Arnold etwa auch draußen?«

»Bingo. Seit fast einem Jahr. Im Gefängnis hat er sich ebenso gut geführt wie Degenhard, seine Sozialprognose war sogar besser, weil er Familie hat. Kesting lebt mittlerweile in Bonn und arbeitet in einem Fotostudio. Nicht unbedingt das, was er früher gemacht hat, obwohl er ja seine Gemälde gerne mit Fotos kombinierte, soweit ich mich erinnere.«

»Richtig, und zwar auf begnadete Art und Weise«, sagte Kassandra. »Kannst du herausfinden, ob Arnold und Raimund noch Kontakt haben oder ob Arnold zwischenzeitlich auch hier war?«

Kay hatte seine Methoden, die weit über die legalen Ermittlungswege der Polizei hinausgingen, und Kassandra zweifelte nicht daran, dass er früher oder später eine Antwort auf ihre Fragen fand. Eher früher. Sie hätte ihre Hand dafür ins Feuer gelegt, dass er bereits mit der Recherche begonnen hatte.

»Sicher, ist in Arbeit. Bis wir mehr wissen, pass besonders gut auf dich auf. Paul, hörst du mit?«

»Ja, ich bin hier, und ich passe auch auf. Das war es doch, was du sagen wolltest, oder?«

»Ganz genau.«

»Ich gestehe, dass mir ein bisschen seltsam zumute ist«, sagte Kassandra. »Trotzdem kann ich mir nach wie vor nicht vorstellen, dass Raimund – mit oder ohne Arnold – etwas Unaussprechliches plant und dabei nicht in Deckung bleibt.«

»Sehe ich prinzipiell auch so, aber man kann nie wissen. Deshalb: Falls Degenhard oder Kesting in Wustrow gesichtet wird, sagt sofort Bescheid.«

»Machen wir«, schaltete Heinz sich ein. »Ich habe übrigens ebenfalls ein Auge auf Kassandra.«

»Tag, Herr Jung!« Kay klang erfreut. »Sollte ich mich nicht klar ausgedrückt haben: Das Aufpassen betrifft nicht nur Kassandra, sondern alle, die damals beteiligt waren. Violetta Grabe weiß ja schon Bescheid, aber benachrichtigen Sie bitte auch Herrn Zepplin. Wie gesagt: Ich halte es wie Kassandra für wenig wahrscheinlich, aber …«

»Vorsicht ist besser als Nachsicht«, vervollständigte Heinz den Satz.

»Absolut. Ich melde mich, sobald ich Näheres in Erfahrung gebracht habe.«

»Warte, Kay!«, sagte Kassandra. »Was ist mit Tina Bodenstedt und Claus Menning? Meinst du …«

»Die habe ich nicht vergessen«, fiel Kay ihr ins Wort. »Wir hören voneinander.«

»Das war ja kurz«, fand Heinz. »Ob ihm die Sache mit seinem Ex-Kollegen Menning noch immer nachgeht?«

»Na, hör mal!«, sagte Kassandra empört. »Menning hätte Kay fast umgebracht, weil er ihm auf die Schliche kam. Egal, wie viele Jahre ins Land gegangen sind, das lässt einen doch niemals kalt!«

»Nein, wohl nicht«, stimmte Heinz zu. »Warum hast du nach den beiden gefragt? Kriminalhauptkommissar Claus Menning wurde wegen versuchten Mordes an einem Polizisten, wegen Korruption und Betruges verurteilt. Selbst wenn er sich blendend geführt hat, halte ich es für unwahrscheinlich, dass er schon wieder draußen ist. Er müsste also aus dem Gefängnis heraus agieren.«

»Nicht unbedingt. Oder nur zum Teil. Seine fabulöse Bildhauerin Tina ist dafür, dass sie die eigentliche Strippenzieherin war, ziemlich glimpflich davongekommen, die hat ja kaum Gefängnismauern von innen gesehen, weil sie selbst nicht Hand angelegt hat. Sie könnte alles steuern«, sagte Kassandra. »Wenn sie eins kann außer bildhauern, dann gut planen und noch besser intrigieren.«

»Ihr vergesst etwas«, schaltete Paul sich ein. »Menning und Tina waren Degenhards und Kestings Gegenspieler, die werden sich jetzt nicht gemeinsam gegen das Fischland verschworen haben.«

»Weshalb auf einmal so optimistisch? Ihr habt doch bisher immer ein düsteres Szenario gezeichnet, düsterer bestimmt als alles, was Violetta und Nicola sich ausgedacht haben.« Kassandra verzog das Gesicht. »Erlaubt mal, dass ich Kay zitiere: Man kann nie wissen.«

3

Betont vorsichtig legte Dietrich sein Telefon auf den Schreibtisch. Dabei hätte er es am liebsten in die nächste Ecke gepfeffert. Er hatte immer befürchtet, dass ihnen diese Geschichte eines Tages wieder vor die Füße fiel. Warum gerade diese bei all den anderen gemeinsam aufgeklärten Verbrechen, konnte er nicht sagen. Vielleicht weil es das war, das sie zusammengebracht hatte. Vielleicht aber auch, weil es ihn fast das Leben gekostet hätte und weil das ausgerechnet auf das Konto eines Mannes ging, dem er zuvor blind sein Leben anvertraut hätte. Ein Jahrzehnt lang hatten sie zusammengearbeitet, waren Freunde gewesen. Jedenfalls hatte er das gedacht. Er war fassungslos gewesen, als er begriffen hatte, was für ein Mensch Claus Menning tatsächlich war.

Dietrich seufzte und starrte auf den Bildschirm, auf dem noch die Suchmaske seiner eigenen, ausführlicheren und höchst illegalen Version eines Polizeiauskunftsystems zu sehen war, einer Version, die seine Kollegen beim KDD besser nie zu Gesicht bekamen. Karo würde vom Glauben abfallen, wenn sie sah, was Dietrich in seiner Freizeit trieb. Der Gedanke ließ ihn ein klein wenig schmunzeln. Karola von Bennigsen, mit der er sich ein Büro teilte, hatte keine Ahnung, dass sein Dienst nicht mit dem Feierabend aufhörte, sondern oft dann erst richtig begann. Wenn er sich nämlich mit Fällen befasste, die von der Polizei nicht weiter verfolgt werden konnten oder sollten. Eine Zeit lang hatte er für diesen Zweck eine Truppe um sich geschart, die jedoch wegen ernsthafter Auseinandersetzungen zerbrochen war. Er hatte allein weitergemacht, bis er letztes Jahr im Zuge ganz offizieller Ermittlungen Rieka Stahl wiederbegegnet war, der hochbegabten Hackerin ihrer Truppe. Nach und nach hatten sie sich ausgesprochen und wieder angenähert.

Bei zwei seiner »Nebentätigkeitsfälle« war sie ihm seither behilflich gewesen, und nicht nur dabei hatte es manchmal den Anschein gehabt, als könne sich mehr zwischen ihnen entwickeln. Dietrich wusste, dass Rieka einmal viel für ihn empfunden hatte. Lange Zeit war er nicht bereit gewesen, sich darauf einzulassen, weil seine eigenen Gefühle für Kassandra dem im Wege gestanden hatten. Von gelegentlichen Rückfällen abgesehen, war es ihm jedoch mittlerweile gelungen, das hinter sich zu lassen. Trotzdem gestaltete sich das, was sich zwischen ihm und Rieka anbahnte, schwierig. Es schien, als würden sie immer kurz vor dem entscheidenden Moment einen Rückzieher machen. Vielleicht weil beide befürchteten, sie könnten verlieren, was sie gerade wiedergewonnen hatten: ihre Freundschaft.

Ob Dietrich sie für diese Sache einspannen sollte, wenn daraus ein Fall wurde, konnte er schlecht abschätzen. Zwar standen auch zwischen den Fischländern und Rieka die Zeichen eindeutig auf Versöhnung, und er war sicher, dass sie alles tun würde, um zu helfen. Dennoch beschloss er, es zunächst allein zu versuchen.

Was Claus Menning betraf, wusste er ohnehin selbst fast alles, was es über ihn zu wissen gab. Das wiederum hatte er Kassandra wohlweislich verschwiegen. Sie brauchte nicht zu erfahren, dass er sich über ihn auf dem Laufenden gehalten hatte – was auch Tina Bodenstedt einschloss, jedenfalls, bis sie sich von Claus abwandte, weil die Liebe doch nicht groß genug gewesen war, um ewig auf ihn zu warten. Der Verbleib der Bodenstedt also war zurzeit noch ein Fragezeichen. Claus dagegen saß nach wie vor sicher in seiner Gefängniszelle. Und im Rollstuhl. Polizisten sind generell nicht sonderlich beliebt im Knast. Wenn es sich um solche wie Claus handelte, der zu jeder Menge Verurteilungen beigetragen hatte, schon mal gleich gar nicht. Er war so heftig zusammengeschlagen worden, dass er trotz dreier Monate Krankenhaus und anschließender Reha-Maßnahmen gelähmt bleiben würde. Aufgrund seiner Vergangenheit zeigten auch die Justizvollzugsbeamten nur wenig Mitleid, sodass er ein trostloses Leben führte.

»Geschieht dir recht«, murmelte Dietrich vor sich hin, mehr aus alter Gewohnheit, denn Claus war ihm mit der Zeit immer gleichgültiger geworden. Zumindest aus der Distanz. Er konnte nicht hundertprozentig sagen, wie ihm zumute wäre, wenn er ihm gegenüberstünde.

Die letzten Informationen über Claus hatte er vor einem Jahr eingeholt. Um jetzt sagen zu können, ob von ihm eine Gefahr drohte oder ob es wider Erwarten neuen Kontakt zu Tina Bodenstedt gegeben hatte, musste Dietrich einen seiner Kontakte anzapfen. Er griff zum Telefon.

»Kay! Wir haben ja lange nichts voneinander gehört«, meldete sich Bengt Johannsen erfreut. »Ist das ein Freundschaftsanruf oder einer mit tieferem Sinn?«

»Ertappt«, sagte Dietrich. Er hatte viel zu lange schon nicht mehr mit seinem alten Kollegen gesprochen, der seit ewig im Ruhestand und noch dazu einmal Teil der Truppe gewesen war. »Ich habe ein angemessen schlechtes Gewissen.«

Bengt lachte. »Das könntest du beruhigen, wenn du mich gelegentlich auf ein Bier einlädst. Oder einen guten Rotwein, der ist dir ja bestimmt lieber.«

»Ich denke, wir finden eine Lokalität, die beides im Angebot hat. Wie wär’s mit morgen?«

»Wenn ich bis dahin genau was für dich in Erfahrung gebracht habe?« Unüberhörbar genoss Bengt, dass er in Dietrich las wie in einem Buch.

»Hast du noch Verbindung zu dem JVA-Beamten, der dich so zuverlässig über Claus informiert hat?«

Am anderen Ende herrschte kurzes Schweigen. »Hast du nicht letztes Mal gesagt, das Kapitel sei abgeschlossen?«

»Wär möglich, dass es wieder geöffnet wurde.« Dietrich konnte ohne ausschweifende Erklärungen Violetta Grabes und Heinz Jungs Beobachtungen schildern, denn Bengt war damals als Ermittler hinzugerufen worden, hatte den Showdown in Wustrow miterlebt und Claus verhaftet. »Ich will sicherheitshalber ausschließen, dass außer von Degenhard noch von anderer Seite Gefahr droht.«

»Falls überhaupt Gefahr droht«, schränkte Bengt ein, nur um gleich hinzuzufügen: »Aber ich sehe die Problematik. Ich schalte Bernhard ein, der wird mir sagen können, ob es bei Claus Ungewöhnliches gab – Besuche, Post, Anrufe oder Kungeleien und neue Freundschaften mit Mitgefangenen. Darüber passiert ja auch viel.«

»Danke. Und such dir aus, wo wir uns morgen Abend treffen. Um Degenhard und Kesting kümmere ich mich und auch um die Bodenstedt, falls die nicht wieder bei Claus aufgetaucht ist.«

Nachdem Bengt sich für das urige Kellerlokal Ben Gunn entschieden hatte, wo sie öfter zusammensaßen und wo Dietrich sogar das Bier schmeckte, verabschiedeten sie sich.

»Na, dann mal los«, sagte Dietrich zu sich selbst, fuhr seine zwei weiteren Rechner hoch, öffnete ein paar Programme und machte sich an die Arbeit.

Eine lange Nacht lag hinter ihm, als er am nächsten Morgen zum Dienst erschien.

»Wo hast du dich rumgetrieben?«, flachste Karo. »Du siehst aus, als hättest du durchgemacht. Kamm vergessen?«

Schuldbewusst fuhr Dietrich sich durch die Haare. Er legte normalerweise Wert auf sein Äußeres. Zerknittertes Jackett und ungekämmt ging gar nicht. Das Jackett sah aus wie frisch aus der Reinigung, aber das Kämmen hatte er tatsächlich vernachlässigt. Eine alarmierte Sekunde lang strich er sich übers Kinn. Doch. Rasiert hatte er sich immerhin.

»Konnte nicht schlafen«, murmelte er. »Gibt’s Neuigkeiten wegen der Messerstecherei in der Hafenstraße?«

»Nein, du hattest vollkommen recht, gestern pünktlich zu gehen. Die KT ist immer noch nicht weiter.«

Er runzelte die Stirn, da stand Tobias Harms auch schon in der Tür, der Leiter des KDD und wie Bengt einst Teil der Truppe.

»Morgen, Kay«, grüßte er. »Setz dich nicht erst, Einsatz Am Langenkanal. Schon wieder eine Messerstecherei mit Todesopfer. Und nein, ich will nichts von Serie hören. Noch nicht.«

Dietrich warf Karo die Wagenschlüssel zu, und sie machten sich auf den Weg. Die Fahrt verlief schweigsam.

»Was nicht in Ordnung?«, erkundigte sich Karo schließlich und musste ihre Frage wiederholen, weil Dietrich in Gedanken war.

»Wenig geschlafen, sonst alles okay.« Wenig war übertrieben, er hatte gar nicht geschlafen. Im Übrigen stimmte die Aussage, zumindest soweit seine Recherchen gediehen waren.

Degenhard, Kesting und Menning waren zunächst in der JVA Waldeck inhaftiert gewesen und später nach den umfangreichen Baumaßnahmen in der Haftanstalt Bützow dorthin verlegt worden. Speziell zwischen Degenhard und Kesting hatte es in der ersten Zeit immer wieder Probleme gegeben, die von Degenhard ausgingen, sodass sie schließlich so weit voneinander entfernt untergebracht wurden wie irgend möglich. Bis zur jeweiligen Entlassung waren sich alle drei dann auch tunlichst aus dem Weg gegangen, und Ruhe war eingekehrt.

Dietrich hatte jede mögliche Spur von Degenhard und Kesting verfolgt – Adressen, Telefonnummern, soziale Medien, Arbeitgeber, Verwandte, Partner, Freunde und Bekannte, sofern vorhanden. Absolut nichts wies auf etwas Auffälliges hin. Beide Männer bewegten sich in ihrem normalen Umfeld, hatten laut ihrer Bewegungsprofile keine Reisen unternommen und waren nicht miteinander in Kontakt getreten. Komplett auszuschließen war das natürlich trotzdem nicht, es gab Mittel und Wege, sich bedeckt zu halten, indem man zum Beispiel unregistrierte Prepaidhandys nutzte, während ein nachzuverfolgendes Telefon an einem unverfänglichen Ort blieb. Nachweislich jedenfalls war Degenhard nur einmal in Wustrow gewesen, nämlich an jenem Tag, an dem Violetta Grabe und Heinz Jung ihn gesehen hatten. Hätte er das verheimlichen wollen, hätte er sein Handy ausgeschaltet. Insgesamt kein Grund zur Sorge also?

In Dietrich grummelte es. Etwas Diffuses nagte an ihm. Eine Ahnung von Gefahr, die er nicht näher benennen konnte. Leider trog sein Gefühl ihn nur selten. Vielleicht lag es daran, dass er mit seiner Recherche bezüglich Tina Bodenstedt so grandios gescheitert war. Er rechnete nicht ernsthaft damit, dass Bengt sie als Claus’ Besucherin plötzlich wieder aus dem Hut zauberte. Deswegen hatte er versucht, sie aufzustöbern. Doch die Bildhauerin schien verschollen, seit vor sechs Jahren ihre letzte Ausstellung in Dahmetal, einem Knapp-Fünfhundert-Seelen-Dorf in Brandenburg, nach nur einer Woche wieder geschlossen worden war. Dass sie andere als Werkzeug benutzt hatte, um Josef Kind ins Jenseits zu befördern, hatte ihr kein Glück gebracht.

Vielleicht ist sie ja nach Honduras ausgewandert, dachte Dietrich gerade sarkastisch, als das Telefon in seinem Jackett vibrierte. Während er danach fischte, ging ihm im Kopf herum, dass sein ungutes Gefühl eher nichts mit der Bodenstedt zu tun hatte.

Bengts Name stand auf dem Display, und er stritt kurz mit sich, ob er rangehen oder ihn zurückrufen sollte, sobald er allein war. Da er nicht wusste, wann das in absehbarer Zeit sein würde und es wichtig sein mochte, nahm er das Gespräch an.

»Falls du gerade nicht reden kannst, sag Ja und hör mir bloß zu«, meldete sich Bengt.

Dietrich schmunzelte verhalten. »Ja.«

»Gut. Also: Wie seit Beginn seiner Haft bekommt Claus alle drei Monate Besuch von einem alten Schulfreund, der ihn ebenfalls wie üblich alle vier Wochen anruft. Ansonsten keine Post, keine Telefonate, weder an ihn noch von ihm. Nach wie vor wechselt er nur die nötigsten Worte mit Mitgefangenen und Personal, liest weiterhin die Gefängnisbibliothek leer, und wenn mal ein Kochkurs angeboten wird, geht er hin. Das ist alles. Keine Tina Bodenstedt weit und breit.« Bengt machte eine winzige Pause. »Wo ich schon mal dabei war, habe ich mich nach Degenhard und Kesting erkundigt. Über die wusste Bernhard nichts weiter, will sich aber umhören und benachrichtigt mich. Vielleicht ja sogar bis heute Abend. Wir sehen uns.«

»Alles klar«, sagte Dietrich und steckte das Handy wieder weg.

»Das war ja ein dolles Gespräch«, frotzelte Karo. »Ja und alles klar.«

»Mehr braucht es oft nicht«, ging Dietrich auf ihren Ton ein.

»Beneidenswert, wenn man sich ohne große Worte versteht«, stellte Karo fest und hielt am Straßenrand, wo schon ein Streifenwagen und ein RTW standen. »Dann wollen wir mal.«

Dietrich folgte ihr und schob das Fischland gedanklich beiseite, so gut es ging.

4

»Wichtige Post?«, fragte Kassandra.

Paul stand mit einem Blatt Papier und einem aufgerissenen Briefumschlag in der Hand vor der Terrassentür, las angestrengt und antwortete nicht gleich, sodass Kassandra zu ihm hinüberging.