Fischland-Verblendung - Corinna Kastner - E-Book

Fischland-Verblendung E-Book

Corinna Kastner

0,0

Beschreibung

Bei Seeluft stirbt es sich leichter: ein facettenreicher Küsten-Krimi mit Suchtpotenzial. Eine neue Arztpraxis mit kreativer Rundumversorgung stößt auf Skepsis bei den Fischländern. Doch ist das Grund genug, Ernährungsberaterin Rebekka Herzog zu ermorden? Als auch noch der Inhaber der Praxis lebensgefährlich verletzt wird, glaubt Amateurdetektivin Kassandra Voß endgültig an weit persönlichere Motive. Ihr Onkel Heinz Jung wird unterdessen mit seiner Vergangenheit konfrontiert und sieht sich gezwungen, ihre Ermittlungen zu sabotieren. Kassandra muss eine folgenschwere Entscheidung treffen …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 546

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Corinna Kastner wurde 1965 in Hameln geboren. Sie arbeitet am Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung in Hannover und fühlt sich an der Ostsee am wohlsten. Besonders das Fischland inspiriert sie sowohl schriftstellerisch als auch fotografisch. Seit 2005 veröffentlicht sie schauplatzorientierte Spannungsromane und seit 2012 ihre Küsten Krimis, die auf dem Fischland spielen; außerdem seit 2019 die (Schauplatz-)Kalender »Fischland«.

www.corinna-kastner.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. In diesem Roman tauchen viele Namen auf, die so oder ähnlich auf dem Fischland gebräuchlich sind. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt und wären rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Corinna Kastner

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-018-1

Küsten Krimi

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH, Autoren- und Verlagsagentur. www.ava-international.de

Zur Erinnerung an Günther Weihmann – den echten Paul.

Ohne dich wird das Fischland nie mehr dasselbe sein.

Prolog

Herbst 1985

Das Leben war schön! Ach was, schön – es war herrlich, grandios, phantastisch!

Vera stand auf dem Turm der Seefahrtschule und lehnte sich mit dem Rücken ans Geländer. Den Kopf in den Nacken gelegt, schaute sie in das grenzenlose Blau des Himmels. Ein paar Wölkchen schwebten vorüber, zart und fluffig wie Zuckerwatte, Möwen zogen ihre Kreise und genossen die Freiheit wie sie.

»Sei bloß vorsichtig, nicht dass du noch runterfällst«, sagte plötzlich jemand neben ihr.

Gernot. Hätte sie sich ja denken können, dass er ihren Aufstieg auf den Turm bemerkt hatte, und sie konnte nicht behaupten, dass ihr das missfiel. Lachend wandte sie sich ihm zu. »You’re a scaredy cat!«

»Was?«, fragte er.

»Angsthase!«, übersetzte sie.

Gernot seufzte. »Ich sollte deine Englischklasse besuchen.«

»Ich hätte nichts gegen einen zusätzlichen fleißigen Studenten.« Sie tippte auf seine Nasenspitze und grinste.

»Ja, ja, kann ich mir denken. Wie viele sind dir eigentlich schon verfallen?«

Sie lachte wieder. »Keine Ahnung. Studenten interessieren mich nicht, ich mag’s reifer. Von daher bleib doch besser bei deiner Werkstofftechnik, Herr Professor, statt dich in meinen Unterricht zu verirren.« Sie wirbelte herum und ließ ihren Blick schweifen, dabei hörte sie gar nicht, was Gernot antwortete. Zu sehr war sie fasziniert von der Ostsee, die heute türkisfarben unter ihr schimmerte wie das Meer an den Küsten Südamerikas oder Kubas, die sie so gut kannte. Zwar nur aus dem Fernsehen, wenn sie »Zur See« guckte, aber das genügte ihr vollauf. Wozu weit reisen, wenn man das Paradies vor der Nase hatte? Seit sie zum allerersten Mal ihren Fuß aufs Fischland gesetzt hatte, damals in den Ferien mit ihren Eltern im FDGB-Heim Am Strand, war es ihr Traum gewesen, eines Tages hier zu leben. Sie hatte hart dafür gearbeitet, dass dieser Traum in Erfüllung ging, und jetzt hatte sie es geschafft. Sie war Englischlehrerin an der Seefahrtschule – oder hochoffiziell: an der Ingenieurhochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow.

Das Leben war wunderbar!

»Vera?« Gernot stupste sie an.

»Hm?«

»Wo bist du bloß immer mit deinen Gedanken? Ich hab gefragt, ob du heute Abend mitkommst zu Bärbels Geburtstagsfeier.«

Innerlich verzog Vera das Gesicht. Bärbel war eine der Sekretärinnen und schrecklich langweilig. »Ach, wie schade, das geht nicht. Ich hab leider anderes zu tun.«

Misstrauisch sah Gernot sie an. »Du meinst, du hast eine anderweitige Verabredung.«

»Ich meinte, dass ich noch Arbeiten korrigieren muss, mein Lieber.« Ein bisschen Eifersucht war ja ganz schön, aber sie hoffte, dass Gernot sich das nicht zur Gewohnheit werden ließ, sonst musste er sich eine andere fürs kleine Vergnügen zwischendurch suchen.

»Ja. Sicher«, sagte er spöttisch. Er holte tief Luft. »Vera, übertreib es nicht. Die lassen hier einiges durchgehen, solange du deine Arbeit ordentlich machst und nicht allzu sehr aus der Reihe tanzt. Aber …«

Verärgert runzelte Vera die Stirn. »Was aber?«

»Sei einfach ein bisschen diskret, ja? Und pass auf, mit wem du dich einlässt.«

Vera verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich glaube nicht, dass ich deine Ratschläge brauche.«

»Ich mein’s nur gut. Von mir aus kannst du mit dem halben Bezirk ins Bett steigen.«

Jetzt war es Vera, die spöttisch den Mund verzog, und Gernot musste sich selbst das Lachen verkneifen.

»Auch wenn ich nicht begeistert wäre«, gab er zu. Er trat näher, hob ihr Kinn, küsste ihre Lippen – und sie vergaß, dass sie gerade noch wütend auf ihn gewesen war. Er schmeckte gut. Nach mehr. Sie schlang die Arme um seinen Hals, zog ihn an sich und spürte, dass ihm ebenfalls nach mehr zumute war. Sehr schön. Obwohl es ihr schwerfiel, rückte sie von ihm ab und kostete seinen enttäuschten Blick aus.

»Mit mir kannst du das machen«, sagte er heiser. »Aber nicht jeder ist wie ich.«

»Redest du von jemand Bestimmtem?«, erkundigte sie sich, nun doch etwas beunruhigt.

»Lass die Finger von der Obrigkeit, Vera, mein Kirschlein. Aus mehreren Gründen.« Er hielt ihren Blick einige Sekunden fest, Sorge und Ernsthaftigkeit lagen darin, dann wandte er sich um und ging.

Vera sah ihm nachdenklich hinterher, bis er um die Ecke verschwand. Sie hätte nicht gedacht, dass er das wusste. Das war nicht gut. Niemand sollte das wissen. Die meisten Flirts und kleinen Affären konnten ihretwegen im Neuen Deutschland stehen, aber diese …

Sie sollte sie vielleicht beenden, bevor es zu spät war. Für sie beide.

1

»Was hab ich getan? Oh Gott, was hab ich nur getan?«, wisperte Kassandra. Ihr war furchtbar kalt, sie zitterte am ganzen Leib, obwohl die Sonne von einem strahlend blauen Himmel schien, obwohl Paul sie festhielt und mit seiner Wärme umgab. Sie spürte nichts davon, sie spürte nur tiefes Entsetzen.

»Schsch«, machte Paul. Was er sonst noch sagte, ging unter in ihrem Zittern und ihrem Grauen.

Ihre Zähne klapperten, ihre Beine gaben plötzlich nach. Sie wäre auf den vom Regen der vergangenen Nacht und der frühen Morgenstunden durchweichten Boden gesunken, wenn Paul sie nicht gehalten hätte.

»Schsch«, machte er wieder. »Es ist nicht deine Schuld.«

»Doch«, brachte sie mühsam hervor. Das Zittern wurde stärker.

Paul umfing sie fester. »Du musst hier weg, Liebes.« Er wollte sie mit sich ziehen, doch sie wehrte sich, rührte sich keinen Millimeter von der Stelle. Wieder redete Paul auf sie ein. »Bitte, Kassandra. Es kommt alles in Ordnung, versprochen.«

»In Ordnung?« Unversehens kochte Zorn in ihr hoch. Zorn auf Paul mit seiner falschen Zuversicht, Zorn auf die verfluchten Umstände, Zorn auf sich selbst. Viel zu heftig stieß sie Paul von sich. »Was soll da wieder in Ordnung kommen? Wie soll ich damit weiterleben?« Bitter lachte sie auf. »Na ja, ich lebe wenigstens weiter, während …« Sie stockte. Vor ihrem inneren Auge sah sie das schreckliche Bild, das sie nie wieder loswürde, nicht in hundert Jahren.

»Kassandra …«

»Nichts Kassandra!« Sie übertönte die Geräusche der See, des Windes, übertönte das Stimmengewirr, das zu ihr heraufdrang und von dem sie einen Moment lang nicht einmal wusste, ob es echt war oder nur ihrer Einbildung entsprang. Natürlich war es echt, es waren so viele Leute da, so viele Leute, die bezeugen konnten, dass sie sich gar nichts einbildete, dass dies kein Alptraum war. Und sie fasste das Schreckliche in Worte, sprach das Unaussprechliche aus, machte es auf diese Weise endgültig und unwiderruflich real.

»Ich habe einen Menschen getötet!«

2

Einige Tage zuvor

»Ach, Kinners!« Bruno lachte. »Was soll ich denn in meinem Alter noch mit diesem neumodschen Kram? Ich bin über achtzig geworden, ohne dass ich jemanden gefragt hätte, was ich essen soll. Ich esse, was mir schmeckt – Fisch am liebsten und am allerliebsten welchen, den ich selbst aus der See hole. Genau das werde ich jetzt auch tun, wenn ihr erlaubt.« Er schnappte sich sein Angelzeug und schob sich an Paul und Kassandra vorbei. Bevor er die Tür öffnete, drehte er sich noch mal um. »Ach ja, und ich sehe auch überhaupt keinen Grund, zu einem Internisten abzuwandern, wo es ein Allgemeinmediziner wie Dr. Weiß genauso tut – den werde ich weiter konsultieren.« Er zwinkerte ihnen zu. »Falls ich ihn mal brauche.« Dann öffnete er endgültig die Tür und hielt sie weit auf, um die beiden vor sich hinauszulassen.

Kassandra blinzelte in der plötzlichen Helligkeit von Brunos Vorgarten. Der Rausschmiss war deutlich gewesen, aber sie hatte nichts anderes erwartet. Obwohl sie innerlich lachen musste, gab sie sich große Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Es war Pauls Idee gewesen, Bruno zu der Eröffnung der neuen Praxis mit Ernährungsberatung mitzunehmen. Auch wenn Bruno nicht sein Vater war, kümmerte er sich um dessen Wohlergehen und war darauf bedacht, dass es ihm an nichts fehlte.

»Wir werden Dr. Weiß bestimmt auch treu bleiben«, stellte sie fest, »schließlich ist er ein toller Arzt und steht immer sofort auf der Matte, wenn was ist. Uns treibt doch bloß die Neugier zu diesem Engelhardt und seiner Ernährungsberaterin.« Sie wandte sich an Paul. »Wie heißt sie noch?«

»Rebekka Herzog.« Paul griente Bruno an. »Hübsche Frau übrigens. Vielleicht nichts für deine Ernährung, aber fürs Auge ganz sicher.«

»Ich hab einen prima Augenarzt in Ribnitz«, gab Bruno ebenso grienend zurück. »Paul, ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, aber ich bin nicht nur aus dem Alter raus, in dem ich mir erzählen lassen will, was auf meinen Teller kommt, sondern auch aus dem, in dem ich mir was aus hübschen Frolleins mache.«

Mittlerweile hatten sie die Hafeneinfahrt erreicht. Die Sonnenstrahlen glitzerten auf dem Wasser und ließen das Segel des gerade hereinkommenden Zeesbootes in einem satten Rotbraun leuchten. Die nahen Kirchenglocken schlugen halb vier, oben auf der Galerie des Turms genossen ein paar Leute den schönsten Rundblick übers Fischland, den man sich vorstellen konnte – auf den Bodden zur einen, auf die Ostsee zur anderen Seite, und natürlich über Wustrow und darüber hinaus bis zum Darß.

»Müsst ihr euch nicht langsam sputen?«, erkundigte sich Bruno.

»Champagner und Austern werden nicht nach fünf Minuten aus sein«, sagte Paul.

Bruno blieb stehen. »Donnerlittchen. Sind die sicher, dass sie ihre Praxis an der mecklenburgischen Küste eröffnet haben und nicht an der Côte d’Azur? Zumindest interessante Häppchen für eine Ernährungsberatung.«

»Das war nur ein Scherz«, gestand Paul. »Von Verköstigung stand nichts auf dem Flyer. Vielleicht gibt’s gar nichts oder Kaffee und Käseschnitten mit Gürkchen.«

»Gar nichts wäre schlecht für die Laune, Kaffee schlecht für den Magen und Käse für Menschen mit Laktoseintoleranz«, widersprach Kassandra.

»Ingwer-Orangen-Tee mit Hafermilch und Dinkelbrot mit veganem Erbsenaufstrich?«, schlug Paul vor.

Kassandra lachte. »Warum nicht?«

Gleichzeitig verzog Bruno das Gesicht und murmelte: »Ich weiß schon, warum ich nicht mitwill.«

Paul hatte es trotzdem gehört. »Keine Sorge, wir zwingen dich nicht zu deinem Glück. Wenn du übrigens was fängst, hätte ich nichts gegen einen Teil deiner Beute einzuwenden. Falls es auf der Einweihungsfeier doch nichts zwischen die Kiemen gibt.«

»Ach nee. Ich fange aber nicht extra fettarm«, sagte Bruno. »Du findest mich wie immer an der Seebrücke – der Nase nach.« Zum Abschied winkte er ihnen vergnügt zu.

»Ich möchte nicht wissen, was die an Miete zahlen«, sagte Kassandra, während sie sich dem schönsten Haus der Parkstraße näherten – der gelben Villa mit den großen repräsentativen Rundbogenfenstern an der Ecke Direktor-Schütz-Weg. Die Einladung von Dr. Florian Engelhardt und Rebekka Herzog war offenbar gut angenommen worden. Im Vorgarten standen schon viele Gäste mit Sektgläsern.

»Möchtest du wohl wissen«, erwiderte Paul belustigt. In Wustrow etwas zu mieten war grundsätzlich nicht leicht, die meisten Häuser waren Eigentum, doch die Besitzer dieser Villa wollten nicht verkaufen, auch wenn sie ihren Ruhestand nun im sonnigen Süden genossen.

Eine Servicekraft kam mit einem Tablett auf sie zu, kaum dass sie den Vorgarten betreten hatten. Paul nahm ein Glas und reichte Kassandra ebenfalls eins, doch bevor sie dazu kamen, einen Schluck zu nehmen, tauchte die hünenhafte Gestalt von Thomas Hartmann neben ihnen auf.

»Tolle Hütte, von außen ja schon immer, und drinnen sieht’s auch schick aus. Neu eben.« Er seufzte. »Meine Physio-Praxis bräuchte dringend eine Generalüberholung, aber ich fürchte, da macht die Bank nicht mit.«

»Deinen Patienten sind deine heilenden Hände sicher wichtiger als Designerliegen«, stellte Paul fest.

»Hoffentlich.«

»Was ist los mit dir?«, erkundigte sich Kassandra. »Das ist doch keine Konkurrenz für dich, genieß den Sekt und«, sie griff nach einem der Canapés, die gerade an ihr vorbeigetragen wurden, »die Häppchen.« Dieses sah aus wie Weißbrot mit Räucherlachs, frischem Dill und Mayo. Gesund ging vermutlich anders. Sie biss hinein. Das war weder Lachs noch Mayo und daher vermutlich auch kein normales Weißbrot. Dennoch … »Lecker!«

»Freut mich, dass es Ihnen schmeckt«, sagte ein attraktiver blonder Mittdreißiger neben ihr. Er trug eine randlose, eckige Brille, die seine lächelnden grauen Augen betonte. »Darf ich mich vorstellen: Florian Engelhardt. Schön, dass Sie gekommen sind.« Bei den letzten Worten bezog er Paul mit ein. »Sie sind Paul Freese, richtig?«

Erstaunt hob Paul die Brauen. »Eilt mein Ruf mir schon voraus?«

Engelhardt lachte. »So ungefähr. Frau Röwer«, er deutete vage hinter sich, wo Pauls und Kassandras Freundin Greta ihnen zuzwinkerte, »meinte eben, wenn ich mehr über den Ort erfahren will, an dem wir von nun an leben, müssten wir Sie fragen, weil niemand so viel darüber weiß wie Sie.«

»Jederzeit gerne«, sagte Paul erfreut. »Wobei Sie heute bestimmt anderes um die Ohren haben.« Er nickte in Kassandras Richtung. »Die Dame, die Ihr Canapé so lobte, ist übrigens meine Freundin Kassandra Voß. Falls Frau Röwer Ihnen das nicht auch schon verraten hat.«

»Doch, hat sie.« Engelhardt schaute zu Thomas. »Auch, dass Sie in Wustrow der Physiotherapeut sind, Herr Hartmann. Kommen Sie doch alle mit rein, ich würde Ihnen gerne zeigen, was wir aus der Villa gemacht haben. Sie, Herr Freese, kennen sie ja sicher aus früheren Zeiten.«

»Stimmt, ich war allerdings lange nicht mehr hier.«

Kassandra kannte das Haus überhaupt nicht von innen und sah Paul an, dass er Vergleiche zog. Das musste schwer sein, denn nichts erinnerte an das ehrwürdige, traditionelle Äußere, alles war modern und hell, fast schon zu hell, die Farben Weiß und Grau dominierten, an den Wänden hingen als Farbtupfer ein paar Kandinsky-Drucke. Ihr war das alles zu nüchtern, aber natürlich handelte es sich um Praxisräume, in denen man es sich nicht gemütlich machen sollte. Doch es ging auch anders. In der Praxis von Dr. Weiß hatte sie sich vom ersten Moment an wohlgefühlt. Beim Gedanken an Dr. Weiß ging ihr wiederholt im Kopf herum, was der von der Konkurrenz halten mochte. Für ihn, der bisher abgesehen von Zahnarzt und Kurklinik das einzige ärztliche Angebot vorgehalten hatte, dürfte einiges auf dem Spiel stehen.

Gerade als sie sich fragte, ob er heute wohl auch hier war, kam auf dem Flur eine Frau mit einem Tablett voller Teegläser auf ihre kleine Gruppe zu. Sie war schlank wie Kassandra, aber einen Kopf größer, hatte feuerrote, lockige Haare, das Gesicht voller Sommersprossen und grüne Augen. Lächelnd blickte sie in die Runde.

»Hallo, ich bin Rebekka Herzog. Darf ich Ihnen einen Tee anbieten? Meine ganz persönlichen Lieblingssorten aus grünem, weißem und Kräutertee, frisch aufgebrüht und wunderbar aromatisch.«

Da der Sekt inzwischen geleert war, griffen alle zu, und schon allein der Duft nach Vanille, der aus Kassandras Glas in ihre Nase stieg, löste Entspannung in ihr aus.

Rebekka Herzog lachte, als Kassandra das anmerkte. »Das ist Green Vanilla, ein Sencha mit weißen Kornblumenblüten. Tee ist für mich nicht nur ein Getränk, sondern ein Lebensgefühl.« Sie schaute wieder in die Runde. »Das sollte generell für gesunde Ernährung gelten. Wenn Sie wissen möchten, welche Lebensmittel für Sie ganz individuell besonders gut sind und wie Sie daraus die köstlichsten Mahlzeiten zubereiten, kommen Sie gern zu mir.«

Engelhardt schmunzelte. »Das klingt zwar wie aus einem Werbespot, ist aber keineswegs übertrieben. Seit ich mit Rebekka zusammen bin, habe ich mit größtem Genuss fünf Kilo abgespeckt.« Er strahlte sie an und tätschelte seinen nicht vorhandenen Bauch. Dann stellte er ihr Paul, Thomas und Kassandra vor.

»Freut mich sehr.« Rebekka Herzog stellte das Tablett auf einer Anrichte ab und drückte die schon halb geöffnete Tür vor sich weit auf. »Meine heiligen Hallen.«

Kassandra betrat den Raum als Erste und hielt gleich darauf die Luft an. Hier spürte man, dass man auf dem Fischland war, nichts war nüchtern. Jugendstilmöbel – ein Schreibtisch, ein Sessel und ein schmaler Apothekerschrank – harmonierten mit dem Seestück an einer in dezentem Grün gestrichenen Wand, in einem Regal aus Eiche standen Bücher über die Halbinsel, von der Fensterbank aus schaute sie ein Paar englische Hunde an.

»Gefällt es Ihnen?«, fragte Rebekka Herzog.

»Sehr.« Kassandra wusste nicht, ob sie tatsächlich so wohnen wollte, aber das Ambiente war wunderschön.

»In der Küche musste ich Zugeständnisse machen«, erklärte Rebekka Herzog, und erst da bemerkte Kassandra, dass der Raum eine L-Form hatte. Im schmaleren Schenkel, der von der Tür aus nicht einsehbar gewesen war, befand sich eine Kochinsel auf höchstem technischen Niveau. »Ich erkläre meinen Patienten nicht nur, wie sie sich gut ernähren können, ich zeige es ihnen auch.«

Kassandra sah Pauls Blick über die Gerätschaften gleiten. »Das wär was für dich, oder?«

»Sie sind leidenschaftlicher Koch, Herr Freese?«, fragte Rebekka Herzog.

Paul hob die Schultern. »Nur bei Fischgerichten.«

»Er hatte mal eine Fischbude am Hafen«, warf Thomas ein.

Rebekka Herzog zuckte ein winziges bisschen zusammen. »Tatsächlich.« Es gehörte nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, was ihr dazu einfiel: fetttriefende panierte Fischbuletten und ebenso fetttriefende Pommes.

»Ist lange her«, sagte Paul amüsiert. »In den Neunzigern war gesunde Ernährung hier nicht das Top-Thema. Obwohl eine richtig gute Panade zu jedem Zeitpunkt wirkliche Kunst ist, die ich nicht missen möchte.«

»Da bin ich ganz bei Ihnen. Funktioniert mit Sojaflocken prima als Low-Carb-Version. Generell ist der richtige Fisch natürlich immer zu empfehlen. Sardine, Ostsee-Hering, Lachs, Makrele, Thunfisch sind super für die wichtigen Omega-3-Fettsäuren und sollten ein- bis zweimal die Woche auf den Tisch. Natürlich muss dabei auf Nachhaltigkeit …«

»Rebekka.« Sanft legte Engelhardt seine Hand auf ihren Arm. »Ich bin sicher, Herr Freese wird sich bei dir melden, wenn er Ernährungstipps möchte. Jetzt sollten wir uns mal wieder bei den anderen Gästen blicken lassen.«

In Rebekkas Augen funkelte es humorvoll. »Entschuldigung. Ist mit mir durchgegangen.«

»Kein Problem«, sagte Paul im Hinausgehen. »Diese Sojaflocken-Panade klingt interessant, und ich bin immer offen für Neues.«

Kassandra nickte bestätigend und wollte gerade fragen, was auf dem köstlichen Canapé gewesen war, doch da wurden Engelhardt und Rebekka Herzog schon von Siegfried Streblow, dem Direktor des Grandhotel Dünentraum, und seiner Frau mit Beschlag belegt.

Thomas seufzte noch einmal, nur leiser als vorhin. »Ich hab genug gesehen und außerdem noch ein paar Termine.« Er hob seine Pranken. »Damit kann ich zwar nicht kochen, aber ein paar Gelenke wieder in Schuss bringen. Wir sehen uns!«

Kassandra und Paul wanderten weiter durch die Praxis und plauderten mit ebenso neugierigen Fischländern, bis es sich langsam leerte und auch sie sich verabschiedeten.

»Ist dir aufgefallen, dass eine Sprechstundenhilfe fehlte?«, fragte Paul auf dem Weg zur Lindenstraße. »Man sollte doch meinen, dass die bei der Praxiseinweihung dabei ist.«

»Ich hab Dr. Engelhardt sagen hören, er habe eine überaus qualifizierte Kraft in Aussicht, die derzeit noch bei einem Kollegen arbeitet und deshalb erst im Juli oder August anfangen kann. So lange wollen die beiden allein klarkommen.«

Mittlerweile waren sie vor Kassandras Kapitänshaus mit den grün-weißen Fensterläden angekommen, und sie bemerkte, dass ihre Pensionsgäste schon wieder das Fenster der Gaube ungesichert offen gelassen hatten. Was war so schwer daran, die Flügel einzuhaken? Als hätten die ihre Gedanken gelesen, erschien Herr Geschonnek am Fenster, um es zu schließen.

»Schwierige Gäste?«, fragte Paul, der ihren Blick richtig deutete.

»Gibt unkompliziertere.« Dann deutete sie zum Nachbargrundstück ihres Onkels Heinz Jung. »Ich habe übrigens Heinz heute Mittag gefragt, ob er auch zur Einweihungsfeier kommt. Er sagte, er fühle sich nicht. Allerdings sah er ziemlich fit aus, weshalb mich der vage Verdacht beschlich, dass er sich drücken, es aber nicht so deutlich aussprechen wollte wie Bruno.«

»Möglich wär’s. Andererseits ist er meist skeptisch bei Isenbahnern und will einen Blick auf sie werfen.«

»Stimmt.« Kassandra erinnerte sich nur zu gut, wie Heinz ihr, vor vielen Jahren selbst eine eben erst Zugereiste, damals begegnet war. »Schauen wir nach ihm.«

Es dauerte eine Weile, bis er an die Tür kam. Heinz war ein hagerer Mann, der sich für gewöhnlich kerzengerade hielt, wie es sich für einen Polizeihauptmeister a.D. gehörte. Jetzt stand er weniger aufrecht vor ihnen und schien blass um die Nase.

»Na, wie war’s? Hab ich viel verpasst?«, wollte er wissen. »Kommt durch, dann könnt ihr mir alles haarklein erzählen.«

Er ging ihnen voraus ins Wohnzimmer, wo er sich auf die dunkelbraune Ledercouch mehr fallen ließ als setzte. Am Fußende lagen eine zusammengeknüllte Decke und eine Wärmflasche.

»Wie geht’s dir?«, fragte Kassandra, erfüllt von schlechtem Gewissen, weil sie an seinem Unwohlsein gezweifelt hatte. »Können wir was tun, brauchst du was?«

Heinz’ linke Braue hob sich. »Nun mach mal keinen Aufstand, weil ich eine kleine Magenverstimmung habe. Geht schon wieder vorbei.«

Zumindest klang er wie sonst. Etwas beruhigt berichtete Kassandra abwechselnd mit Paul von Engelhardt und seiner Ernährungsberaterin.

»Hast du das wörtlich zitiert, dass Engelhardt sagte, er sei mit der Herzog zusammen? Sind die geschäftlich und privat verbandelt?«, wollte Heinz wissen.

»Darüber bin ich auch gestolpert.« Paul wandte sich an Kassandra. »Was meinst du?«

»So wie er sie angesehen und berührt hat, definitiv auch privat. Es wirkte außerdem noch recht frisch, aber das kann täuschen – alte Liebe rostet ja bekanntlich nicht.«

»Das will ich doch sehr hoffen, Kassandra, Liebes.« Übertrieben tief schaute Paul ihr in die Augen.

Kassandra klimperte mit den Wimpern und hauchte: »Ich auch.«

»Wenn ihr mit Süßholzraspeln fertig seid, könnten wir wieder zum Wesentlichen kommen«, unterbrach Heinz das Geplänkel. »Welchen Eindruck habt ihr? Waren die Wustrower bloß aus Neugier da, oder wechseln ein paar von Dr. Weiß zu Engelhardt?«

»Schwer zu sagen«, meinte Paul. »Speziell die Jüngeren waren beeindruckt von den modernen Räumlichkeiten und von Rebekka Herzogs Angebot. Das steht natürlich nicht in unmittelbarer Konkurrenz zu Dr. Weiß, aber wenn sie die Leute anzieht, kann es passieren, dass die es bequemer finden, gleich im selben Haus zu Dr. Engelhardt zu gehen. Hinzu kommt, das beide sympathisch sind.«

»Hm«, machte Heinz. Er kniff die Augen zusammen und unterdrückte ein Stöhnen.

»So schlimm? Soll ich dir einen Fencheltee machen?«, bot Kassandra an.

Heinz rollte mit den Augen. »Ich kann mich selbst versorgen, falls mir danach ist. Im Moment reicht mir Wasser.« Er nahm einen Schluck. »Plus eine Mütze Schlaf.«

»Dann werden wir mal.« Paul stand auf. »Wenn du was brauchst, melde dich.«

Bereits halb auf dem Flur schaute Kassandra noch einmal zurück. Heinz hatte sich hingelegt, die Augen geschlossen.

»Ab mit euch«, sagte er und lachte leise.

3

»Willst du nicht doch lieber zum Arzt?«, fragte Kassandra zwei Tage später. Prüfend musterte sie Heinz über den Gartenzaun hinweg.

»Heute ist Mittwoch, nur vormittags Sprechstunde«, grummelte er. »Das Wartezimmer wird voll sein. Außerdem geht es mir ja schon besser.« Er bückte sich, um ein Büschel Unkraut auszurupfen, und ächzte beim Aufrichten.

»Das sehe ich.«

Heinz lehnte sich an die Hauswand. »Du gibst keine Ruhe, was? Na schön. Morgen früh.«

Dass er so schnell nachgab, bereitete Kassandra mehr Sorge, als wenn er sich vehement geweigert hätte. »Wir können zusammen hingehen«, bot sie an.

Heinz’ linke Braue rutschte in schwindelnde Höhe. »So weit kommt’s noch! Ich brauch kein Kindermädchen.«

»Ich hab’s nur vorgeschlagen, weil ich sowieso morgen meinen jährlichen Checkup bei Dr. Weiß habe.«

Heinz antwortete nicht sofort. Stattdessen verzog er das Gesicht, seine Hand fuhr zu seinem Unterleib. »Ich glaube, ich sollte doch nicht länger warten. Wenn ich zurück bin, sag ich Bescheid«, nahm er ihre Bitte vorweg.

Kassandras Pension war voll besetzt, sie hatte zuerst mit den Zimmern und danach mit Verwaltungskram viel zu tun und war dankbar für die Ablenkung. Zwischendurch sah sie immer wieder auf die Uhr und wartete auf Heinz. Sein Klingeln kurz vor Mittag erlöste sie.

»Menschenskind, war mir das peinlich«, war das Erste, was er sagte. In der Küche plumpste er auf einen Stuhl. »Blähungen. Ich geh zum Arzt wegen Blähungen!«

Kassandra prustete los. »Die können ziemlich schmerzhaft sein«, sagte sie schließlich. »Hat Dr. Weiß dir was aufgeschrieben?«

»Ja, aber wenn ich das länger und öfter habe, soll ich über eine Ernährungsumstellung nachdenken und mich entsprechend beraten lassen.« Er hielt inne, schürzte die Lippen und sah Kassandra erwartungsvoll an.

»Und … hast du es länger und öfter?«

Heinz lachte. »Dr. Weiß schien sehr darauf bedacht, deutlich zu machen, dass er keine Berührungsängste hat und Rebekka Herzog sogar gern weiterempfiehlt. Da will ich ihn nicht enttäuschen. Auch wenn ich – ganz im Vertrauen und jetzt, wo ich weiß, was mir quersitzt – eher annehme, dass meine derzeitigen Beschwerden vom Chili herrühren, das ich drei Tage hintereinander gegessen habe.«

»Das kannst du künftig von deinem Speiseplan streichen. Oder Frau Herzog zeigt dir, wie du eine magenschonende Variante kochst.«

»Ist vielleicht einen Versuch wert. Ich habe jedenfalls für morgen Nachmittag einen Termin vereinbart.«

»So bald? Klingt nicht, als sei sie komplett ausgebucht.«

»Ich hatte Glück. Jemand hatte just vor meinem Anruf abgesagt.«

Kassandra legte den Kopf schief. »Behauptet sie.«

»Wollen wir ihr mal nichts unterstellen, könnte ja die Wahrheit sein.« Heinz erhob sich. »Selbst wenn ich meine Blähungen dadurch nicht loswerde, dann wenigstens meine Neugier.«

»Nun geh schon, ich kümmere mich um das Frühstück für deine Gäste, wie besprochen.« Paul war direkt vom Laufen auf dem Hohen Ufer zu Kassandra gekommen, um für sie einzuspringen, damit sie in Ruhe ihren Termin bei Dr. Weiß wahrnehmen konnte.

»Die Eier müssen …«

»Ja, ja, ich weiß, sieben Minuten für Familie Berger, fünf Minuten für Herrn Geschonnek, vier für seine Gattin, und die will den Toast nur gerade so eben angebräunt und den Honig flüssig und nur von Lindenblüten. So viel wie in den letzten Tagen habe ich selten an Essen gedacht.« Er tippte auf ihre Nasenspitze und küsste sanft ihre Lippen. »Mach, dass du loskommst, damit du pünktlich bist.«

Auf der Lindenstraße sog Kassandra tief die für Mai noch recht frische Morgenluft ein. Es war Aprilwetter vorhergesagt, abwechselnd Regen, Sonne, Wolken. Momentan war es trocken, doch in der Nacht hatte es heftig geregnet, sodass sie im Birkenweg den mehr oder weniger großen Pfützen ausweichen musste. Der Platz um die Alte Eiche war leer, bis Werner Joerk aus der Bäckerei kam. Der gute Bekannte von Bruno wohnte in der Nähe, war jedoch so in die Zeitungslektüre vertieft, dass er sie gar nicht sah. So setzte sie ihren Weg fort, überquerte die Ernst-Thälmann-Straße, warf einen Blick ins Schaufenster der Bücherstube, wo Pauls Roman »Tiefes Meer« prominent platziert jedem ins Auge sprang. Das Buch war mit dem renommierten Lit-Preis ausgezeichnet worden, was zu der Zeit eine Menge Staub aufgewirbelt hatte. Demnächst würde Pauls neuester Roman erscheinen. Kassandra wünschte ihm genauso großen Erfolg, aber weniger Aufregung drum herum.

Kurze Zeit später erreichte sie die Praxis von Dr. Weiß in der Fritz-Reuter-Straße. Am Straßenrand stand ein mächtiger Baum, daneben eine zierliche Bank, grün-weiß gestrichen wie die Fensterläden und die fein gearbeitete Fischländer Tür mit den Glaseinsätzen. Rechts davon hing eine alte Laterne, die nachts brannte und warmes Licht spendete. Im Dach des Hauses war eine kleine geschwungene Gaube eingelassen und an der Seitenmauer ein rundes Fenster mit einem ebenso runden Fensterladen – grün-weiß wie die anderen und wie an Kassandras eigenem Haus. Vielleicht fand sie es deshalb so heimelig. Der Gegensatz zu Dr. Engelhardts und Rebekka Herzogs beinah herrschaftlicher Villa konnte kaum größer sein. Sie hatte diesen Gedanken gerade zu Ende gedacht und wollte klingeln, als sich die Tür öffnete und sie beinah mit der Frau zusammengestoßen wäre, die heraustrat.

»Oh, Entschuldigung, ich …« Die Frau stockte abrupt.

»Verzeihung, das …«, sagte Kassandra gleichzeitig und brach ebenfalls ab. »Frau Herzog, guten Morgen.« Fast hätte sie »Was machen Sie denn hier?« hinzugefügt.

Rebekka Herzog zuckte zusammen, als sei es ihr unangenehm, erkannt worden zu sein. Ihre Irritation währte nur kurz. »Guten Morgen, Frau Voß.« Für einen Sekundenbruchteil schenkte sie Kassandra ein Lächeln, das eher an ein Zähneblecken erinnerte, dann rauschte sie an ihr vorbei. Viel fehlte nicht, und sie wäre auf dem noch feuchten Katzenkopfstein ausgerutscht. Sie fing sich jedoch und setzte ihren Weg Richtung Thälmann-Straße fort. Kassandra wusste nicht, was sie erstaunlicher fand: dass Rebekka Herzog sich bei der Vielzahl der Menschen, die sie bei der Einweihungsfeier kennengelernt hatte, noch an ihren Namen erinnerte, oder den eiligen Abgang.

»Wollen Sie da draußen Wurzeln schlagen, Frau Voß? Je schneller wir fertig sind, desto eher können Sie frühstücken.« Mit einem Lächeln, das hundertmal echter wirkte als das von Rebekka Herzog, hielt Dr. Weiß einladend die Tür auf.

Kassandra folgte ihm durch den schmalen Flur in sein Sprechzimmer. »Ach, ich falle noch nicht vom Fleisch.«

Aufmerksam glitt Dr. Weiß’ Blick über sie. »Ein paar Gramm mehr könnten Ihnen nicht schaden.«

»Wollen Sie mich zu Frau Herzog schicken wie meinen Onkel?«, fragte Kassandra lachend.

»Das wird nicht nötig sein. Es sei denn, Sie leiden auch unter … ähm. Jetzt hätte ich fast die ärztliche Schweigepflicht verletzt.« Er schmunzelte.

»Er hat’s mir erzählt. Die Antwort lautet Nein.«

»Sehr schön. Dann wollen wir mal sehen, ob auch sonst alles in Ordnung ist.«

Während Dr. Weiß Blutdruck und Puls maß, ein EKG machte und ihr schließlich Blut abnahm, plauderten sie über gemeinsame Bekannte. Geschickt brachte Kassandra dann das Gespräch auf Dr. Engelhardt und Rebekka Herzog. Doch umsonst. Selbst diskreteste Durch-die-Blume-Fragen verleiteten Dr. Weiß nicht dazu, auch nur ansatzweise zu erwähnen, weshalb Rebekka Herzog bei ihm gewesen war. Bereitwillig dagegen erzählte er, dass er schon vor der Einweihungsfeier einer privaten Einladung gefolgt war, um den neuen Internisten, seine Ernährungsberaterin und die Praxisräume kennenzulernen. Selbstverständlich ließ er sich dabei nicht anmerken, inwieweit er die Konkurrenz fürchtete. Am Ende war Kassandra um ein Röhrchen Blut ärmer, aber um keinerlei nennenswerte Informationen reicher.

»Daher können wir nur raten, ob Rebekka Herzog den Fähigkeiten ihres hauseigenen Internisten nicht traut und sich lieber bei Dr. Weiß in Behandlung begibt. Oder ob Dr. Weiß sie wegen etwas behandelt, von dem Dr. Engelhardt nichts wissen soll«, schloss Kassandra ihren Bericht, während sie sich an den von Paul gedeckten Frühstückstisch setzte.

»Oder ob Dr. Weiß versucht, die Ernährungsberaterin abzuwerben«, schlug Paul vor. »Er scheint ja dem Thema aufgeschlossen gegenüberzustehen.«

Kassandra schnitt ein Mohnbrötchen auf, bestrich es mit gesalzener Butter und streute frischen Schnittlauch darauf. »Wenn Dr. Engelhardt und die Herzog ein Paar sind, kann Dr. Weiß werben, wie er will, da hätte er doch nie eine Chance.«

»Wir wissen nicht, ob sie ein Paar sind. Wir vermuten es nur.«

Kassandra biss in ihr Brötchen und kaute nachdenklich. Dann schüttelte sie unwillig den Kopf. »Kann es sein, dass wir uns danach sehnen, mal wieder ein Verbrechen aufzuklären? Wir spekulieren wie wild über Dinge, die uns nichts angehen, noch dazu, ohne dass auch nur das Geringste passiert ist. Ist uns langweilig?«

»Mir nicht. Im Gegenteil, ich stecke gerade an einer kniffligen Stelle in meinem Manuskript, zu dem ich gleich nach dem Frühstück zurückkehren werde.« Paul ließ Honig auf sein Vollkornbrot tropfen. »Glücklicherweise bin ich nicht abergläubisch, sonst würde ich das, was du gerade gesagt hast, als dunkles Omen werten.«

4

»Steckst du immer noch fest?«, fragte Kassandra Pauls angespannten Rücken. Er hatte seit gestern fast ununterbrochen über seinem Text gebrütet und recherchiert. »Vielleicht solltest du mal was anderes sehen und an was anderes denken, dann kommt die Eingebung von allein.«

Paul massierte sich den Nacken. »Kann sein.«

»Bestimmt sogar. Es hat aufgehört zu regnen, gehen wir raus und lassen uns frischen Wind um die Nase wehen.«

Ergeben stand Paul auf, zog seine Jacke über und folgte Kassandra nach draußen. »Wohin?«

Auf dem kleinen Vorplatz vor Pauls blau gestrichenem Haus drehte sie sich um ihre eigene Achse und schaute in den Himmel, wo die Sonne abwechselnd hinter dräuenden Wolken verschwand und zwischen ihnen hervorblinzelte. Das konnten tolle Fotos werden. Auf dem Absatz machte sie kehrt und holte ihre Kamera.

»Aufs Hohe Ufer«, sagte sie, als sie damit zurückkam. »Für den nächsten Kalender fehlen mir noch genau solche Aufnahmen – der Blick über die See.«

»Aha, mir verordnest du Entspannung, aber selbst willst du arbeiten?«

»Du weißt doch, Fotografieren ist keine Arbeit für mich, auch wenn ich damit gelegentlich Geld verdiene.«

»Gelegentlich? Auf deiner letzten Ausstellung im Prerower Kiek In hast du eine Menge Bilder verkauft, und deine Fischland-Kalender sind bei den Urlaubern mittlerweile der Renner.«

»Ja, das mit den Kalendern war eine gute Idee von Bruno. Ich freu mich wirklich, dass die so ankommen.«

Es dauerte gar nicht lange, da wusste Kassandra, dass ihr Rat genau richtig gewesen war. Paul entspannte sich zusehends, wie fast immer, wenn er der See so nah war. Die Luft war noch von Regen erfüllt, aber die Sonne brach sich mehr und mehr Bahn, der Wind blies die Wolken schnell über den Himmel, das Licht- und Schattenspiel über Land und Wasser war grandios. Während sie auf dem Hohen Ufer Richtung Ahrenshoop liefen, blieb sie immer wieder stehen und fotografierte. Ein paarmal musste Paul sie warnen, nicht zu dicht an die Abbruchkante heranzutreten, immer wieder ließ sie, die sie sonst so vorsichtig war, sich verführen von den faszinierenden Farben der Wasseroberfläche, dem Wechsel zwischen Türkis, Blau und Grau. Kassandra liebte diese Stimmung, das leichte Rauschen der Wellen, hier und da den Schrei einer Möwe oder deren lautstarkes Gezänk um ein Stück Fisch, das Klackern der Steine auf dem schmalen Pfad zwischen Wasser und Hohem Ufer. Früher konnte man von Wustrow bis nach Ahrenshoop direkt an der Küste entlangwandern. Das war heutzutage nur noch sehr selten möglich, zu dicht kam die See mittlerweile dem Land. Gefährlich war es außerdem, weil jederzeit massenweise Erde von der Kante brechen und Menschen darunter begraben konnte.

»Und?«, fragte Kassandra, als sie kurz vor der Bunkeranlage, von der in den letzten Jahren immer mehr in der See verschwand, wieder einmal haltmachte. »Hast du eine Lösung für dein Problem gefunden?«

Paul lachte. »Glaub schon. Jedenfalls den Ansatz dazu.«

»Wusste ich’s doch!« Sie drehte sich um und sah dabei, wie sich auf einem strahlend gelb blühenden Ginsterbusch ein Schmetterling niederließ. Was für ein Bild!

Instinktiv tat sie alles auf einmal: die Kamera in Position bringen, zoomen, zwei Schritte zur Seite treten. Mit einem Mal gab der Boden unter ihr nach, sie schrie auf, klammerte sich an ihre Kamera, als könne die ihr Halt und Gleichgewicht zurückgeben, Schwindel erfasste sie, Panik, wieder wollte sie schreien, bekam keinen Ton heraus. Da spürte sie, wie zwei kräftige Hände nach ihr griffen und sie fortzogen von dem Nichts unter ihren Füßen.

»Zum Donnerwetter, Kassandra!«, brüllte Paul. »Wie oft hab ich dir gesagt, dass du aufpassen sollst!«

Ganz allmählich fiel die Panik von ihr ab, bekam sie wieder Luft, wurde das Tosen in ihren Ohren leiser und ihr Herzschlag ruhiger. »Tut mir leid«, krächzte sie dennoch mühsam. Sie sah auf und begegnete Pauls gleichermaßen wütendem wie besorgtem Blick. »Danke. Ohne dich … Du hast …« Ihr versagte die Stimme.

»Schon gut«, sagte Paul leise. »Versprich mir einfach, dass du nicht noch mal so leichtsinnig bist.« Sein Zeigefinger strich sanft über ihre Wange, dann zog er sie dicht zu sich heran.

»Versprochen«, murmelte Kassandra.

Hoffentlich, dachte Paul. Der Schreck, der durch seine Glieder gefahren war, als er gesehen hatte, wie Kassandra beinah zusammen mit dem lehmigen Boden das Hohe Ufer hinabgestürzt wäre, saß tief. Am liebsten hätte er sie gar nicht mehr losgelassen, aber es war besser, kein Drama daraus zu machen. So dankte er nur still dem Schicksal, dass er schnell genug bei ihr gewesen war.

»Geht’s wieder?« Er schob sie ein Stück von sich und musterte sie.

Kassandra nickte. Nach und nach bekamen ihre Wangen Farbe, sie tastete nach ihrer Kamera, die an einem Riemen um ihren Hals hing. Vielleicht war ihr ein Objektiv oder ein Verschluss abhandengekommen, er hatte nicht darauf geachtet.

»Noch alles dran?«

Wieder nickte sie, ihre Finger betätigten ein paar Knöpfe, um die Funktionen zu überprüfen. Oder um etwas ganz Normales zu tun und den Schock zu verbannen.

»Oh«, machte sie da und verzog das Gesicht.

»Was?« Alarmiert berührte Paul ihre Schulter. »Ist dir schwindelig?«

»Nein. Ich muss im Fallen auf den Auslöser gedrückt haben. Das ist dabei rausgekommen.« Sie hielt ihm die Kamera hin. »Sieht verrückt aus, im wahrsten Sinn des Wortes.«

Paul schaute aufs Display. Man sah, dass das Bild in Bewegung aufgenommen worden war, es wirkte noch dazu, als sei das Motiv schräg auf den Kopf gestellt. Der Himmel klebte am unteren Bildrand, die Abbruchkante und die herabstürzende Erde waren gerade noch zu sehen, ein Stück des schmalen Weges mit der frischen Abbruchlawine war oben zu erkennen und darüber ein winziges bisschen Blau der See.

»Zumindest ungewöhnlich«, kommentierte Paul. »Verpass dem Foto das Label Kunst statt Verwackelt, dann verkauft es sich bestimmt gut.«

Kassandras Lächeln war fast schon wieder normal. Sie schaute noch einmal aufs Display, runzelte plötzlich die Stirn, nutzte die Touchfunktion, schluckte, schnappte nach Luft – und ließ die Kamera fallen.

Reaktionsschnell fing Paul sie auf, achtete aber mehr auf Kassandra. Ihre Hände zitterten, aus ihrem Gesicht war erneut alle Farbe gewichen. Beunruhigt schaute er aufs Display. Die Ausschnittvergrößerung zeigte einen Arm, der aus der Abbruchlawine hervorragte. Verwaschen zwar, aber dennoch eindeutig ein Arm – mit einer schlanken Frauenhand, die ihnen wie zum Gruß zuwinkte.

»Großer Gott«, wisperte er und bemerkte gleichzeitig aus den Augenwinkeln, wie Kassandra sich wieder auf die Abbruchkante zubewegte.

»Halt!«, rief er und riss sie zurück.

Wie betäubt starrte sie ihn an, als hätte sie ihn überhaupt nicht gehört.

Er drückte ihr die Kamera in die Hand. »Du rührst dich nicht vom Fleck, klar?«

Wie in Trance nickte sie. Er spürte, dass ihr Blick seinen Bewegungen folgte, als er sein Telefon hervorholte und mit seiner Meldung über eine verschüttete Person eine ganze Maschinerie in Gang setzte: die Feuerwehren von Wustrow und Ahrenshoop, ein Rettungswagen und ein Notarzteinsatzfahrzeug wurden zeitgleich alarmiert. Wenn alles glattlief, würde der RTW aus Dierhagen gleichzeitig mit den Feuerwehren am Strandübergang 1 ankommen. Der lag der Unfallstelle, die Paul so genau wie möglich beschrieben hatte, am nächsten. Das Sanitäterteam würde dann mit allen Gerätschaften auf die »Barsch« geladen, das Boot der Seenotrettung, die ebenfalls verständigt worden war. Über die See gelangten die Retter am schnellsten zum Unfallort.

Paul trat wieder zu Kassandra und nahm sie in die Arme. »Hilfe ist unterwegs.«

Reglos starrte Kassandra zum Horizont. Vielleicht sah auch sie vor ihrem inneren Auge die Abläufe. Wie ein Teil der Wehrleute begann, die Frau auszugraben. Wie die »Barsch« wieder zurückfuhr, um den Notarzt zu holen, der aus Ribnitz oder Barth kam und deshalb erst später abgeholt werden konnte. Wie er schließlich gebracht wurde. Wie er helfen konnte – oder nicht.

In seinen Armen begann Kassandra stärker zu zittern. Paul versuchte, sie zu beruhigen, aber er drang nicht zu ihr durch.

»Was hab ich getan?«, flüsterte sie heiser. »Warum hab ich nicht auf dich gehört? Wenn die Hilfe zu spät kommt … Wenn sie tot ist … Wenn ich sie auf dem Gewissen habe …« Sie löste sich aus Pauls Umarmung. »Wir müssen da runter, wir müssen etwas tun! Das dauert doch alles viel zu lange!«

Schon wollte sie sich in Bewegung setzen. Nur dass Paul sie erneut festhielt, verhinderte das. »Es hilft niemandem, wenn wir runterklettern, damit noch mehr Lehm und Geröll lösen und nicht nur uns selbst, sondern auch die Frau weiter begraben.«

»Ja, ich weiß. Aber …« Kassandra verstummte. Eine Weile blieb sie still, dann sah sie auf die Uhr. »Wo bleiben die denn, wieso dauert das so ewig?«

»Es sind gerade fünf Minuten vergangen, Liebes.«

Sie biss sich auf die Lippen. »Ich kann hier nicht stehen bleiben. Lass uns eine Stelle suchen, von wo aus wir wenigstens ein bisschen sehen können, was da unten passiert.«

Paul war sich nicht sicher, ob es gut war, bei der Rettungsaktion zuzuschauen, wenn auch nur von Weitem. Dennoch ahnte er, dass es keinen Sinn hatte, Kassandra ihr Vorhaben auszureden. So beobachteten sie schließlich von einem einigermaßen sicheren Standpunkt aus, wie in der Ferne ein Boot mit Höchstgeschwindigkeit über die Wellen heranrauschte und kurz darauf Männer und Gerätschaften an dem schmalen Streifen zwischen Wasser und Ufer anlandeten. Einer der Männer war Jonas, Kassandras Nachbar und schon seit vielen Jahren bei der Freiwilligen Feuerwehr. Mit seinen Kameraden begann er, die Erdmassen über der Frau abzutragen.

Paul griff nach Kassandras Hand und spürte ihr Zittern, während sie mit aufgerissenen Augen die Ereignisse verfolgte. Wie sie befürchtete er das Schlimmste. Wäre noch Leben in der Frau gewesen, hätte sie selbst versucht, sich zu befreien. Andererseits war sie vielleicht ohnmächtig und hatte unter dem Geröll in einem winzigen Luftloch atmen können. Man durfte nie zu früh die Hoffnung aufgeben.

Schließlich lag die Frau so frei, dass ein Sanitäter nach ihr sehen konnte. Das Geschehen war zu weit weg, um ihr Gesicht oder das Mienenspiel der Rettungsmannschaft zu erkennen, doch es gehörte nicht viel dazu, die Haltung der Männer zu deuten, die mit einem Mal keine Anspannung mehr ausdrückte, sondern Resignation. Alle traten ein klein wenig zurück von der Unglückstelle. Jonas schaute auf, als ob er sich nun die Zeit nahm, sie beide oben auf dem Hohen Ufer zu suchen. Er hob kurz die Hand, wurde jedoch gleich wieder abgelenkt von dem sich erneut nähernden Boot mit dem Notarzt an Bord, dem nichts mehr bleiben würde, als den Tod der Frau festzustellen.

Paul bekam nicht mit, wie das geschah. Seine Aufmerksamkeit galt Kassandra, die stärker zitterte als je zuvor an diesem schönen sonnigen Tag.

»Was hab ich getan?«, wisperte sie. »Oh Gott, was hab ich nur getan?«

»Schsch«, machte Paul. Er hörte ihre Zähne klappern, merkte, dass ihre Beine plötzlich nachgaben, und hielt sie doppelt fest. Er wusste, was in ihr vorging.

»Schsch«, machte er erneut. »Es ist nicht deine Schuld.«

»Doch«, brachte sie hervor. Ein Wort nur, kaum zu verstehen.

»Du musst hier weg, Liebes.« Er wollte sie mit sich ziehen, sie schien wie festgewachsen. »Bitte, Kassandra. Es kommt alles in Ordnung, versprochen.« Was für einen Blödsinn redete er da? Aber was sagte man nicht alles, um jemanden zu beruhigen? Selbst wenn es keine Beruhigung gab.

Da brach es auch schon aus ihr heraus. »In Ordnung?« Sie stieß ihn von sich. »Was soll da wieder in Ordnung kommen? Wie soll ich damit weiterleben?« Bitter lachte sie auf. »Na ja, ich lebe wenigstens weiter, während …« Sie stockte.

»Kassandra …«

»Nichts Kassandra!« Sie holte tief Luft. »Ich habe einen Menschen getötet!« Sie schlug die Hände vors Gesicht, ihre nächsten Worte waren schwerer zu verstehen. »Eine unschuldige Frau, die jetzt einfach nicht mehr da ist, die vielleicht Familie hat, Kinder, Menschen, die sie lieben und …«

Bevor Paul es verhindern konnte, brachen ihre Beine unter ihr weg, sie glitt zu Boden und schluchzte hemmungslos. Er kniete neben ihr nieder, strich eine ganze Weile über ihren Rücken und über ihre Arme und wagte schließlich den Versuch, sie hochzuziehen. Zu seiner Überraschung ließ sie es geschehen. Sie wehrte sich auch nicht, als er sie langsam zurück auf den Weg führte und von dort aus weiter bis zu seinem Haus. Kassandras Tränen waren versiegt, doch sie reagierte auf nichts, nicht auf seine Worte, nicht, als er sie zum Sofa führte, eine Decke über sie breitete, kurz darauf einen Tee vor sie hinstellte. Sie verharrte so lange in ihrem Schockzustand, dass Paul schließlich Dr. Weiß anrief. Nachdem der gehört hatte, was geschehen war, brauchte er keine zehn Minuten, bis er vor der Tür stand und ihr eine Beruhigungsspritze verpasste.

»Am besten, Frau Voß legt sich ins Bett, sie wird gleich einschlafen«, sagte er. »Sie sollten sie möglichst nicht allein lassen. Falls Sie wegmüssen, sagen Sie ihrem Onkel Bescheid. Es ist wichtig, dass jemand Vertrautes da ist, wenn sie aufwacht.«

»Ich geh nirgends hin. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind, Dr. Weiß.«

»Keine Ursache. Wenn noch was ist, rufen Sie mich jederzeit.«

Nachdem Dr. Weiß gegangen war, kehrte Paul zu Kassandra zurück, die teilnahmslos auf dem Sofa lag. Inzwischen hatte sie die Augen geschlossen. Schlief sie schon? Er berührte sie leicht an der Schulter.

»Kassandra? Ich bring dich nach oben.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte hierbleiben, bitte«, murmelte sie.

Immerhin reagierte sie. Einen Augenblick sah Paul auf sie hinunter, bemerkte, dass sie bald ruhig und gleichmäßig atmete, richtete noch einmal die Flauschdecke um sie herum und küsste ihre Nasenspitze. Dann setzte er sich in den Sessel gegenüber und sah ihr beim Schlafen zu.

5

Kassandra schreckte hoch. Was für ein wirrer Traum! Sie hatte eine Leiche gefunden, begraben unter einem Hügel aus Hühnergöttern, feuchtem Lehm und Sand. Darauf wuchs ein orangefarben leuchtender Sanddornstrauch wie Grabschmuck, und aus der Erde ragte ein langer Arm mit krummem Finger hervor, der sie zu sich in die Unterwelt rief.

»Kassandra?«

Wieder fuhr sie zusammen, sie hatte Pauls Schritte gar nicht gehört. Dann plötzlich, wie ein Faustschlag und bevor sie sich umdrehen konnte, holte die Erinnerung sie ein.

Paul berührte ihre Schulter. »Kassandra, wir haben Besuch.«

Endlich schaute sie auf und bemerkte, dass Kay neben Paul stand und sie besorgt musterte. Natürlich war ihr klar gewesen, dass die Polizei sie in die Mangel nehmen würde. Sie hatte nur nicht damit gerechnet, dass sie ausgerechnet Kay schickten, auch wenn er vor ein paar Monaten von der Kriminalpolizeiinspektion Anklam zum KDD Stralsund gewechselt hatte, und der war schließlich zuständig für zweifelhafte Todesfälle. Wobei es hier keinen Raum für Zweifel gab – die arme Frau war nicht friedlich im Bett gestorben, sondern durch sie. Dennoch, es hieß ja immer, dass ermittelnde Beamte nicht persönlich in einen Fall involviert sein sollten, und durch ihre Freundschaft war Kriminalhauptkommissar Kay Dietrich eindeutig involviert.

»Wie geht es dir?« Er setzte sich auf die Sofakante.

»Ich weiß nicht.« Sie horchte in sich hinein. »Wie benebelt oder in Watte gepackt.«

Kay nickte. »Verständlich. Paul sagt, du hast von eurem Arzt eine Extraportion Beruhigungsmittel bekommen.«

Dunkel erinnerte sie sich, dass Dr. Weiß ihr etwas gespritzt hatte. Vermutlich nahm sie den Horror deshalb jetzt eher wahr wie etwas, das nicht wirklich zu ihr gehörte. Sie verzog das Gesicht. »Ich hab die Watte nicht verdient.«

Kay wollte etwas sagen, doch sie schnitt ihm mit einer Geste das Wort ab. »Auch wenn es ein Unfall war, ändert das nichts daran, dass mein Leichtsinn die Frau das Leben gekostet hat. Ich habe keine Watte verdient. Punkt.«

Kays Blick drückte Unverständnis aus und noch etwas, das Kassandra nicht deuten konnte.

»Rebekka Herzog war mindestens so leichtsinnig wie du. Sie hätte da unten überhaupt nicht langgehen dürfen. Ganz davon abgesehen …«

»Was hast du gesagt?« Es hatte ein, zwei Sekunden gedauert, bis Kays Worte zu ihr durchgedrungen waren. »Ich habe Rebekka Herzog getötet?« Für den Tod eines Menschen verantwortlich zu sein, den sie gekannt hatte, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Trotz des Beruhigungsmittels spürte sie, wie sie wieder zu zittern begann. Kay nahm ihre Hände, drückte sie und schaute ihr fest in die Augen.

»Nein, Kassandra. Rebekka Herzog starb schon letzte Nacht, und zwar durch den berüchtigten stumpfen Gegenstand, den jemand auf ihren Kopf niedersausen ließ.«

Ungläubig sah Kassandra von Kay zu Paul, der mittlerweile im Sessel gegenüber saß, und wieder zurück. »Sie wurde … ermordet?«

Kay nickte. »Irrtum ausgeschlossen.«

Schwindel erfasste Kassandra, danach pure Erleichterung, für die sie sich postwendend schämte. Dass sie nicht verantwortlich war, änderte nichts an Rebekka Herzogs schrecklichem Tod. Dennoch nahm es eine gewaltige Last von ihr.

»Schon dem Sanitäter kam die Kopfwunde merkwürdig vor«, fuhr Kay fort. »Der Notarzt war der gleichen Meinung, also wurde der KDD benachrichtigt. Tobias schickte mich, weil er meinte, ich würde mich am besten auskennen.« Er lächelte süffisant, erhob sich und setzte sich nun ebenfalls in einen Sessel, der bequemer war als die Sofakante.

»Und weil Tobias Harms als neuer Leiter des KDD genau weiß, dass du außerdem sein bester Mann bist«, fügte Paul hinzu. »Habt ihr schon eine Ahnung, was wann genau passiert ist?«

»So gut bin ich wiederum nicht«, flachste Kay. »Etwas mehr Zeit musst du uns schon zugestehen. Bisher steht nicht mal der genaue Todeszeitpunkt fest, irgendwann zwischen zehn gestern Abend und zwei heute früh. Auffällig war allerdings, dass …«

Ein Telefonklingeln unterbrach seine Ausführungen, er schaute aufs Display. »Das ging ja fix«, murmelte er, dann nahm er den Anruf entgegen. »Dr. Semlow, gibt’s schon was Neues?« Er hörte eine Weile zu, bedankte sich schließlich und steckte das Handy weg. »Also, was wir bisher rekonstruieren konnten und was die Rechtsmedizin sagt: Es sind definitiv zwei Abbrüche auf Rebekka Herzog niedergegangen. Beim ersten in der vergangenen Nacht war sie noch am Leben. Er verursachte diverse Hämatome und zwei Knochenbrüche – das Zeug, das da runterkommt, ist verdammt schwer. Vermutlich wurde sie sowohl durch die Brüche als auch das Gewicht auf ihrem Körper daran gehindert aufzustehen, und das muss derjenige, der zuschlug, ausgenutzt haben.« Kay machte eine kleine Pause. »Wären die Witterungsverhältnisse anders beziehungsweise ein Spaziergang unterhalb des Hohen Ufers heute nicht noch gefährlicher gewesen als sonst, wäre sie schon viel früher gefunden worden. So jedoch bedurfte es deines Fehltrittes, Kassandra, der den zweiten Abbruch verursacht und damit zwar die Leiche tiefer begraben, aber kurioserweise gleichzeitig für ihre Entdeckung gesorgt hat.«

»Was war denn die Tatwaffe?«, erkundigte sich Paul.

»Schwer zu sagen. Sicher ist nur, dass winzige Teile von Rost und abgesplitterter grüner Farbe in der Wunde klebten. Sie war übrigens nicht sofort tot, aber ob sie bei Bewusstsein war, als sie starb, lässt sich nicht eindeutig feststellen. Sicher ist dagegen, dass sie Alkohol im Blut hatte, etwas über ein Promille – Rotwein, dem Mageninhalt nach zu schließen.« Er runzelte die Stirn.

»Findest du das ungewöhnlich?«, fragte Kassandra.

»Das allein noch nicht. Ich denke, auch Ernährungsberater gönnen sich hin und wieder ein gutes Glas Wein, obwohl das bei ihr schon ein knapper halber Liter war. Trotzdem alles im Rahmen, wenn da nicht zusätzlich die Rückstände von Ecstasy wären.«

»Ecstasy?«, wiederholte Paul. »Das passt ganz bestimmt nicht zum gesunden Ernährungsplan.«

»Dazu nicht. Zu dem Tütchen mit Ecstasy-Pillen in ihrer Jeans schon.«

Das ließ Paul und Kassandra verstummen.

»Man kann nicht in Menschen hineinsehen, und natürlich kannten wir sie auch gar nicht richtig«, sagte Kassandra schließlich. »Trotzdem: Ich hätte das nie von ihr angenommen.«

»Da bist du nicht die Einzige. Wir haben kurz mit Florian Engelhardt gesprochen. Der Mann steht unter Schock, seine Auskünfte waren bisher wenig ergiebig, aber er ist sicher, dass seine Freundin niemals Ecstasy genommen hat und auch kaum je Alkohol trank.«

Sie waren also tatsächlich ein Paar gewesen, dachte Kassandra. Dann musterte sie Kay prüfend. Hatte sie einen leisen Zweifel in seiner Stimme gehört? »Du glaubst ihm nicht?«

»Bin mir noch nicht ganz im Klaren. Es kann durchaus sein, dass er es nicht mitbekommen hat. Manche Alkoholiker trinken nur bis zu dem Level, bei dem sie sich noch voll unter Kontrolle haben. Oder sie schaffen es, sich bloß dann die Kante zu geben, wenn die Familie nicht da ist.«

»Aber?«, hakte Kassandra nach.

»Falls er es doch mitbekommen hat, wäre es nicht von Vorteil, das zuzugeben«, warf Paul ein. »Was würde eine alkoholabhängige und Ecstasy konsumierende Ernährungsberaterin in seiner Praxis für einen Eindruck machen?«

»Wenn er so um seinen Ruf besorgt wäre, hätte er sich doch nie mit ihr zusammengetan.«

»Vielleicht hat er es anfangs wirklich nicht gewusst, und als er es rausfand, war es zu spät. Praxisräume angemietet und eingerichtet.«

Kay hatte amüsiert zwischen ihnen hin- und hergesehen wie bei einem Tennisspiel. »Ich bin froh, dass es dir wieder besser geht«, sagte er zu Kassandra. »Was doch eine kleine Mordermittlung bewirken kann.«

Kassandra verzog die Mundwinkel. »Es fühlt sich so normal an, und ich bin so erleichtert, auch wenn das falsch ist.«

»Es ist verständlich, nicht falsch«, korrigierte Kay sie.

»Das sehe ich auch so.« Paul lächelte sie liebevoll an, bevor er sich wieder an Kay wandte. »Was hat Engelhardt sonst noch gesagt?«

»Er hat seine Freundin gestern gegen neun das letzte Mal gesehen, sie wollte an die See, um Luft zu tanken. Das tat sie offenbar häufig, also hat er sich nichts dabei gedacht. Er saß dann bis spät in der Nacht über Patientenakten und bemerkte nicht, dass sie nicht nach Hause kam.«

»Das heißt, sie schlafen getrennt?«, fragte Paul.

»Er schnarcht, und sie hatte oft die Angewohnheit, nachts aufzustehen und Yogaübungen zu machen. Da sind zwei Schlafzimmer das Mittel der Wahl. Es klang glaubwürdig. Ihr habt sie zusammen gesehen, welchen Eindruck machten sie auf euch?«

»Wie frisch verliebt, speziell von seiner Seite aus«, sagte Kassandra und erzählte von der Praxiseinweihung.

»Wenn es relativ frisch war«, sagte Kay nachdenklich, »könnte irgendwo ein Ex-Partner oder eine Ex-Partnerin hocken, der oder die von der Beziehung der beiden gar nicht begeistert war. Ein Ansatzpunkt unter mehreren. Wir werden Rebekka Herzogs Leben gründlich durchkämmen, ihre Familie, Freunde, Bekannten und Patienten befragen.« Schmunzelnd fügte er hinzu: »Falls euch noch was einfällt oder ihr euch vielleicht – so ganz nebenbei, versteht sich – in Wustrow umhören könnt, wer was woher über sie weiß: Jede Information ist willkommen. Übrigens auch hierzu.« Er wischte ein paarmal über das Display seines Handys, das er danach zwischen sie auf den Tisch legte.

Kassandra und Paul beugten sich vor und betrachteten das Foto eines silbernen Manschettenknopfes, der ovale Zierrand mit den schräg eingravierten Vertiefungen wie ein Teller geformt, in der Mitte ein Bernstein-Cabochon mit einem Einschluss. Paul nahm das Handy und zog das Bild größer.

»Eine kleine Fliege«, stellte er fest. »Schönes Stück. Fischland-Schmuck?«

Kay nickte. »Fassung und Verschluss sind aus 835er Silber, der Verschluss trägt die Fisch-Punze. Wir haben das Teil in Rebekka Herzogs linker Faust gefunden. Kennt ihr jemanden, der so was oder sogar genau diese Manschettenknöpfe trägt?«

»Beides nein«, antwortete Paul. »Der Mann muss nicht zwangsläufig Fischländer sein, so was kann man sich auch als Urlauber gönnen oder geschenkt bekommen. Ich hör mich gern bei unserer Wustrower Goldschmiedin um, ob sie so was im Verkauf hatte.«

»Hab ich schon. Kein Treffer. Alle anderen in Frage kommenden Geschäfte hatten bereits zu. Ich schicke morgen einen Kollegen los, der die Juweliere in der Gegend abklappert. Vielleicht kommt euch ja auch bei euren diskreten Erkundigungen was unter.« Kay erhob sich. »Ich mach mich für heute vom Acker. Gute Nacht, ihr zwei.«

Kassandra schwang ihre Beine vom Sofa, um ihn gemeinsam mit Paul hinauszubegleiten, doch Kay hielt sie zurück. »Bleib liegen, erhol dich von dem Schock und lass dir im Zweifelsfall noch mal was vom Doktor verabreichen, ja?« Seine Stimme klang warm bei diesen Worten.

Er war mit Paul schon fast bei der Tür, als ihr etwas einfiel. »Moment noch, Kay.«

Erwartungsvoll drehte er sich um und hörte sich an, was sie über ihre Begegnung mit Rebekka Herzog vor der Praxis von Dr. Weiß erzählte.

»Das ist in der Tat interessant. Schade, dass du ihm nichts dazu entlocken konntest.« Er schaute auf die Uhr. »Ist zwar schon spät, aber ich fahre am besten gleich rüber. Vielleicht habe ich ja Glück.« Zum Abschied winkte er ihr noch einmal zu, dann war er endgültig verschwunden.

Paul kam zu ihr, beugte sich herab und strich mit dem Finger über ihre Wange. »Alles in Ordnung?«

»Ja, danke. Es tut mir leid, dass ich auf dem Hohen Ufer so ausgerastet bin. Mir war entsetzlich zumute.«

»Mach dir deswegen keine Gedanken, Liebes. Brauchst du was? Hast du Hunger?«

»Nicht wirklich. Ich sollte versuchen zu schlafen, damit ich morgen fit bin.« Sie erhob sich, um nach oben ins Bett zu gehen. »Weckst du mich früh genug?«

»Keinesfalls. Ich rufe Heinz an und bitte ihn, sich um die Pension zu kümmern. Hab ich vorhin schon versucht, aber er war nicht zu Hause. Wenn ich ihn nicht mehr erreiche, versorge ich deine Gäste, obwohl ich lieber auf dich aufpassen würde.«

Kassandra lachte leise. »Was täte ich ohne meine Männer?«

6

Kay Dietrich stieg aus seinem Lexus und blieb einen Augenblick auf der Fritz-Reuter-Straße stehen. Es war schon dunkel, die mächtigen Bäume ragten schwarz über ihm auf, als er zum Haus des Arztes schaute. Hinter dem Fenster rechts neben der Tür und hinter dem Gaubenfenster brannte Licht. Es wirkte lauschig, so ähnlich wie Kassandras Kapitänshaus. Wieder einmal musste er an den bemerkenswerten Gegensatz zwischen der Idylle des Fischlandes und den Verbrechen denken, die hier geschahen. Als ob das eine das andere geradezu magisch anzog. Wie viele Jahre war es her, dass er zu seinem ersten Mordfall nach Wustrow gerufen worden war? Einerseits vor einer Ewigkeit, andererseits schien es gestern gewesen zu sein, dass er Kassandra verdächtigt hatte, mit dem Tod des Kunstgutachters in ihrer Pension zu tun zu haben. Inzwischen war aus der anfänglichen Antipathie längst eine tiefe Freundschaft geworden, von seiner Seite sogar weit mehr als das. Er konnte diese Gefühle nicht abschalten, sosehr er sich das auch wünschte.

Dietrich gab sich einen Ruck, ging die paar Schritte durch Dr. Weiß’ Vorgarten und klingelte. Geöffnet wurde ihm von einer Mittfünfzigerin mit einem blonden Bubikopf und einem trotz der späten Stunde freundlichen Blick.

»Guten Abend, kommen Sie doch rein. Mein Mann hat schon auf Sie gewartet.« Ohne seine Antwort abzuwarten, ging sie voran.

Perplex folgte Dietrich ihr in die Diele. »Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor, ich bin nicht krank, sondern …«

Frau Weiß drehte sich um und lachte. »Von der Polizei.« Sie schob die Tür auf. »Ben, hier ist …« Sie stockte und sah Dietrich wieder an. »Verzeihung, Ihren Namen kenne ich nun doch nicht.«

»Kay Dietrich, Kriminaldauerdienst Stralsund«, stellte er sich vor. Letzteres kam ihm noch etwas sperrig von den Lippen. »Dr. Weiß? Danke, dass ich so spät noch stören darf.«

Weiß hatte sich erhoben und war ihm entgegengekommen. Jetzt streckte er die Hand aus. »Kein Problem. Ich sitze ohnehin noch über einigen Patientenakten.« Dann deutete er auf einen bequem aussehenden Ledersessel vor seinem Schreibtisch. »Nehmen Sie doch Platz.« Er selbst setzte sich wieder dahinter, und einen Moment lang, in dem Weiß ihn mit zusammengekniffenen Augen ansah, kam es Dietrich so vor, als sei der wuchtige, altmodische Eichentisch eine Art Schutzwall, doch dann wirkte das Gesicht des Arztes wieder offen.

»Wir sind uns schon mal begegnet«, sagte Weiß. »Ich vermute, Sie erinnern sich, auch wenn es lange her ist und wir wenig miteinander zu tun hatten.«

Dietrich nickte. »Wie könnte ich die Geiselnahme im ›FischLänder‹ vergessen?«

»Ja, so was prägt sich ein.« Er machte eine kurze Pause. »Da Neuigkeiten in Wustrow immer schnell rum sind, wusste ich, dass Frau Voß das Unglück hatte, indirekt die Leiche zu finden. Sie hat Ihnen bestimmt erzählt, dass sie gestern Rebekka Herzog hier begegnet ist.«

Dietrich lächelte. »Sehr schön geschlussfolgert. Sie hätten Polizist werden sollen.«

»Oh, ich glaube durchaus, dass unsere Berufe viel gemeinsam haben. Auch wenn wir uns beide an die Fakten halten müssen, ist Intuition ebenso wichtig.«

»Zweifellos. Meine verrät mir, dass Sie das Unvermeidliche hinauszögern und eigentlich nicht über das reden möchten, weswegen ich hier bin.«

Über den Schreibtisch hinweg sah Weiß ihn ernst an. »Ich könnte mich, auch wenn Frau Herzog tot ist, auf meine ärztliche Schweigepflicht berufen, aber dann kämen Sie früher oder später mit einem richterlichen Beschluss oder wie immer so was heißt. Also hätte ich ohnehin keine Wahl mehr, und wir alle hätten unnötig Zeit verplempert.« Er setzte sich aufrechter hin, sprach aber nicht weiter, sondern wartete darauf, dass Dietrich seine Fragen stellte.

»War Frau Herzog krank?«

»Rein körperlich fehlte ihr nichts, zumindest, soweit ich das bei der Anamnese und einer ersten Untersuchung feststellen konnte. Sie klagte über Schlafprobleme, die sie bisher mit Spaziergängen an der See, auch spätabends, zu beheben versuchte. Manchmal half das, meist aber nicht, und weil sie schlecht schlief, war sie oft müde und fühlte sich schlapp. Ich habe sie gefragt, ob sie etwas Bestimmtes bedrückt, und obwohl sie das verneinte, glaube ich, dass es da doch etwas gab. Hätten wir mehr Zeit gehabt, hätte sie sich mir gegenüber vielleicht nach und nach geöffnet.«

Die Schlaflosigkeit passt zu dem, was Engelhardt erzählt hat, dachte Dietrich. »Haben Sie ihr einen Rat gegeben oder etwas gegen die Schlafstörungen verschrieben?«

»Ich habe Autogenes Training vorgeschlagen, was sie schon ausprobiert hatte, genauso wie einige pflanzliche Mittel. Beides zeigte keine Wirkung, weshalb ich ihr ein leichtes Antidepressivum in einer geringen Dosierung verschrieb. Man kann diese Tabletten in kleine Bruchstücke teilen, sie sollte zunächst nur ein Viertel zur Nacht nehmen.«

Dietrich runzelte die Stirn. Medizin war keinesfalls sein Fachgebiet, aber eine Mischung von Antidepressiva und Drogen wie Ecstasy kam ihm gewagt vor. »War sie damit einverstanden?«