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Löse mit Nym das Geheimnis ihrer Identität
Band 2 der packenden Fantasy-Reihe Geheimnis der Götter
Nym hat die Tür zu ihrer Vergangenheit geöffnet und weiß nun zwei Dinge: Manche Erinnerungen in ihrem Kopf sind nicht ihre eigenen – und je mehr sie über ihre wahre Identität erfährt, desto weniger möchte sie wissen. Doch während eine Reihe von mysteriösen Morden Bistaye in Aufruhr versetzt, zieht die Göttliche Garde immer engere Kreise um die Gruppe aus Asavez. Sehr schnell wird klar, dass sie vor allem ein Ziel hat: Sie zu finden. Aber warum? Hat es etwas damit zu tun, wer sie wirklich ist? Levi will ihr helfen das herasuzufinden – doch seine Blicke und Küsse verwirren Nym. Denn er weigert sich, sie zu fürchten. Auch wenn alle anderen es zu tun scheinen.
Dies ist eine Neuauflage des bereits erschienenen Titels Flammen der Befreiung.
Weitere Titel dieser Reihe
Funke (ISBN: 9783968175966)
Feuer der Rebellion (ISBN: 9783960872436)
Asche des Krieges (ISBN: 9783960872443)
Erste Leserstimmen
„eine starke Kriegerin, die sich nicht unterkriegen lässt“
„ein furioser Fantasy-Roman um eine faszinierende Heldin“
„ein mehr als gelungener zweiter Band der Fantasy-Saga“
„Nyms Geschichte um ihre mysteriöse Vergangenheit zieht einen in den Bann.“
Über den Autor/die Autorin
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Seitenzahl: 470
Nym hat die Tür zu ihrer Vergangenheit geöffnet und weiß nun zwei Dinge: Manche Erinnerungen in ihrem Kopf sind nicht ihre eigenen – und je mehr sie über ihre wahre Identität erfährt, desto weniger möchte sie wissen. Doch während eine Reihe von mysteriösen Morden Bistaye in Aufruhr versetzt, zieht die Göttliche Garde immer engere Kreise um die Gruppe aus Asavez. Sehr schnell wird klar, dass sie vor allem ein Ziel hat: Sie zu finden. Aber warum? Hat es etwas damit zu tun, wer sie wirklich ist? Levi will ihr helfen das herasuzufinden – doch seine Blicke und Küsse verwirren Nym. Denn er weigert sich, sie zu fürchten. Auch wenn alle anderen es zu tun scheinen.
Dies ist eine Neuauflage des bereits erschienenen Titels Flammen der Befreiung.
Überarbeitete Neuausgabe Mai 2021
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-96817-745-8 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-804-2
Copyright © 2017, dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Dies ist eine überarbeitete Neuausgabe des bereits 2017 bei dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH erschienenen Titels Flammen der Befreiung (ISBN: 978-3-96087-242-9).
Covergestaltung: Vivien Summer unter Verwendung von Motiven von Shutterstock.com: © Artikom jumpamoon, © Aleshyn_Andrei, © Michael Benjamin, © d1sk, © Phatthanit Lektorat: Janina Klinck
E-Book-Version 07.08.2024, 11:50:05.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Für Alina, weil ihre Begeisterung ansteckend ist.
Danke, dass du seit dem Kindergarten dein Essen mit mir teilst.
Copyright © Antonia Sanker
In den letzten Tagen ist deutlich geworden, dass sich zwei Lager gebildet haben. Eine Reihe von Menschen, die sich die Gottlosen nennen, möchte nicht mehr unter den Göttern und ihren Gesetzen leben. Es wird Krieg geben. In diesen Tagebüchern berichte ich über die Geschehnisse.
„Ich verstehe nicht.“ „Was verstehst du nicht?“
„Nun … der Auftrag lautete anders. Ihr sagtet –“
„Ich weiß, was ich sagte.“ Thakas Gesicht blieb unverändert. „Aber du vertraust mir doch, nicht wahr?“
„Natürlich.“ Sie nickte, schloss die Arme enger um ihren Oberkörper. „Es ist nur, dass ich mich dann vielleicht anders vorbereitet hätte, wenn Ihr mir …“
Der Gott der Gerechtigkeit lächelte leicht. Die Mundwinkel seiner dünnen Lippen hoben sich kaum merklich an, doch sie wusste, dass diese Gesichtsregung einem Grinsen gleichkam. „Es gibt keinen Grund, dich vorzubereiten. Api wird sich um deine Vorbereitung kümmern. Alles, was ich dir geben möchte, ist eine Begründung … weißt du, was ein Wahrheitsleser ist?“
Der Appo ist nicht länger blau. Er verfärbt sich rosa – dabei haben die Kämpfe noch nicht einmal begonnen. Eine Menge Schiffe laufen aus. Die Menschen fühlen sich hier nicht mehr sicher.
Da war Oyitis. Der Appo. Der Altar. Der Dolch. Levi. Liri. Jaan.
Ro. Filia. Leena.
Die Kutsche, die sie gestohlen hatten. Das hässliche graue Kleid, das sie gegen die Rüstung eingetauscht hatte.
Levi. Liri. Levi.
Sie lief übers Wasser. Sie versank im Wasser. Sie fürchtete sich vor dem Wasser. Überall war Wasser.
Blätter flogen um ihren Kopf, sie fühlte sich frei. Levis Lippen auf ihren, sein Herzschlag unter ihrer Hand.
Die Rebellen der Vierten Mauer.
Im Licht schauen sie nicht hin, im Schatten suchen sie dich.
Ihre Faust brannte. Sie zertrennte die Halsschlagader ihres Gegners. Das Genick brach unter ihrer Hand.
Lehm unter ihren Füßen. Etwas versperrte ihr die Sicht.
Das Osttor. Sie würden durch das Osttor in die Vierte Mauer gelangen. Oder durch das Tor Amries, der Hafenstadt. Sie wusste es nicht.
Ein Ring in Liris geschlossener Faust. Sie konnte ihn nicht sehen, aber wusste, dass er da war.
Feuer. Luft. Wasser. Erde.
Die Kreisberge. Niemand ging in die Kreisberge. Niemand – aber war Jaan nicht dort gewesen?
Provodes. Stechend graue Augen, deren Blick sich in ihren bohrte, versuchte, ihre Erinnerungen herauszufiltern.
Nyms Blick huschte hin und her. Er suchte nirgendwo und überall. Bilder strömten auf sie ein.
Dinge, die sie getan hatte. Dinge, die sie gehört hatte. Dinge, die sie gesehen hatte.
Sie spürte die Klinke unter ihrer rauen Handfläche. Sie glühte unter ihrer Berührung. Nym wusste, wo sie war, wusste, dass sie die Tür schließen sollte, die sie so unvorsichtig geöffnet hatte. Doch die Erinnerungen der letzten Tage strömten auf sie ein, schwirrten wie lästige Fliegen um ihren Kopf herum und ließen sich nicht vertreiben.
Sie hatte einen Fehler gemacht. Sie hätte die Tür nie öffnen dürfen.
Plötzlich veränderten sich die Bilder. Sie wurden grau, verschwommen. Eine kleine Hand lag in ihrer, während sie auf den Boden sah. Diese Hand war das Kostbarste, was sie noch hatte.
Erde fiel dumpf auf Holz und heiße, salzige Tränen liefen an ihren Wangen hinab. Sie verglühten auf ihrem Gesicht und brannten sich in ihre Poren. Das einzig Kühle, das sie davor bewahrte, zu verbrennen, war die kleine Hand. Sie durfte sie nie wieder loslassen. Ihr durfte nichts passieren.
Ihr Griff wurde fester, doch der Schmerz nicht besser. Sie wünschte sich, nicht fühlen zu können, während das dunkle Holz des menschengroßen Kastens sich mit dem Braun der Erde vermischte – und die Umrisse des Bildes verwischten.
„Nym!“ Die Hand in ihrer war plötzlich gar nicht mehr so klein. „Nym! Verdammt noch mal, mach die Augen auf! Ro, hilf mir. Sie glüht förmlich!“ Die Hand wurde ihr entrissen, und wieder fluchte jemand.
Etwas Kaltes legte sich auf ihre Stirn, ihre Wangen, ihren Hals. Es waren Hände, und unter der kühlen Berührung fing ihre Haut an zu zischen. So als wäre sie Feuer, das gelöscht wurde.
Auf einmal fuhr ein Ruck durch ihren Körper. Ihr Oberkörper wurde nach vorn geschleudert und sofort öffnete sie die Augen.
Das Erste, was ihr auffiel, war, dass ihre Wangen klebten. Das Zweite, dass es still war. Sie hörte weder Hufgetrappel noch das Knirschen von Rädern auf Sand. Die Kutsche bewegte sich nicht.
Sie ließ die Erinnerung an die Hand los – es war eine alte Erinnerung, eine von vor der Löschung ihres Gedächtnisses – und kämpfte damit, in die Realität zurückzukehren.
Da waren Fragen.
Wo, wer, was, wie, wann.
Sie war in einer Kutsche, auf dem Weg in die bistayischen Mauern. Sie wollten eine Gruppe Rebellen und Flüchtige aus der Vierten Mauer retten. Eine Suizidmission. Doch noch waren sie nicht tot.
Ro war bei dem Ruck gegen die Kutschwand gepresst worden, seine Hände erhoben. Neben ihm saßen Leena und Filia, die sie beide anstarrten.
Nyms Oberschenkel wurde gegen Levis gepresst. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Haut so heiß geworden war, dass die dünne, goldene Rüstung, die sie trug, angefangen hatte, orange zu glühen. Den Göttern sei Dank trug Levi selbst eine Rüstung, und seine Haut blieb somit unversehrt.
Langsam atmete sie ein und aus, versuchte sich zu beruhigen, ihr Blut zu kühlen. Ein Blick in Liris rundes, ängstliches Gesicht genügte.
„Du siehst ganz furchtbar aus“, flüsterte sie. „Du hast laut geschrien.“
Hatte sie? „Ich …“ Ihr Blick lief einmal durch die Runde. Alle starrten sie wortlos an. „Es tut mir leid. Ich … Warum stehen wir?“
Erst jetzt schien auch den anderen aufzufallen, dass sie sich nicht mehr bewegten – und dennoch Hufgetrappel zu hören war.
Und dann rief Jaan etwas. Er saß vorne auf dem Kutschbock und trug die dritte der Uniformen, die sie den Soldaten der Göttlichen Garde abgenommen hatten.
„Was gibt’s? Warum haltet ihr uns an?“
Das Hufgetrappel verstummte, und Nym lehnte sich leicht zurück, um aus dem Fenster der Kutsche blicken zu können. Die Sonne hatte sich noch nicht vollends über den Horizont gekämpft, spiegelte sich jedoch in einem Meer aus Lichtsplittern auf dem Appo wider, dem Fluss, der Asavez und Bistaye trennte. Sie ritten also immer noch nicht querfeldein, was bedeuten musste, dass sie den Eingang von Amrie, der Hafenstadt Bistayes, benutzen würden, um in die Vierte Mauer zu gelangen.
„Wir sollen jede Kutsche durchsuchen, die uns entgegenkommt.“ Eine dumpfe Stimme wehte durch das Fenster. Sie kannte sie. Sie hatte die Stimme schon einmal gehört. Nym drückte sich gegen die Kutschwand, um einen Blick auf denjenigen zu erhaschen, der sprach. Alles, was sie erkennen konnte, war jedoch nur der große Hintern eines braunen Pferdes. „Wir sind auf dem Weg zu den Diamantklippen. Asavezische Krieger werden heute erwartet. Sie überqueren von Lyrisa aus den Appo.“
Jaan lachte spöttisch auf. „Asavezische Krieger? Natürlich. Und der Appo besteht aus purem Gold und nicht aus Wasser.“ Er klang überzeugend ungläubig, dafür dass er selbst einer dieser asavezischen Krieger war.
Nur, wieso wurden sie gesucht? Woher wussten die Sprecher, dass sie den Appo überwunden hatten? Vor allem wo sie den Appo überwunden hatten. Es gab nur eine Brücke über den Fluss und die war nicht nur stark bewacht, sondern lag auch sehr viel weiter nördlich als die Diamantklippen, an denen sie tatsächlich angekommen waren. Sie hatten keinem davon erzählt. Woher hatte die Göttliche Garde ihre Informationen?
„Wir haben Anweisung von Jeki Tujan selbst erhalten, keine Ausnahmen zu machen. Ganz gleich, ob ein Göttlicher Soldat im Sattel sitzt oder nicht.“
Jeki Tujan. Nyms Nackenhaare richteten sich auf. Sie kannte den Namen. Sie konnte nicht sagen, ob sie ihn schon oft benutzt oder nur gehört hatte, aber direkt schossen ihr Zahlen und Fakten in den Kopf. Er war sechsundzwanzig. Ikano der Erde. Erster Offizier der Göttlichen Garde. Es hieß, er habe mehr Menschenleben als Atemzüge genommen. Er war für die Ergreifung der Rebellen zuständig. Trug die Verantwortung, Flüchtige zu fangen. Apis Liebling. Er hatte einen kleinen Bruder. Janon.
„Wir schauen nur kurz in die Kutsche hinein und reiten dann weiter. Ach ja, wir sollten dir wahrscheinlich auch noch die Zeichnungen geben, die von den Asavez angefertigt wurden.“
Neben ihr zog Levi zischend Luft ein und Ro schlug sich geräuschlos eine Hand auf die Augen.
Zeichnungen?
Woher hatte die Göttliche Garde Zeichnungen von ihnen?
„Was machen wir?“, wisperte Leena, die bereits zwei Dolche von ihrem Gürtel gezogen hatte. „Wir können nicht immer alle umbringen, die uns über den Weg laufen. Das wäre, als würden wir der Göttlichen Garde Brotkrumen in Form von Leichen hinwerfen, die ihnen unseren Weg weisen!“
Filia, die in der Mitte zwischen ihr und Ro saß, war schneeweiß geworden. Sie war eine Flüchtige aus der Sechsten Mauer und hatte in ihrem Leben schon genug gewaltsame Begegnungen mit der Göttlichen Garde gehabt. Man sah ihr deutlich an, dass sie nicht scharf darauf war, noch eine hinzuzufügen.
Nym blickte zu Levi, der ruhig geblieben war. Seine grünen Augen fanden ihre, und sie konnte seine Gedanken mit den ihren um die Wette rasen sehen.
Schwere Stiefel trafen dumpf auf dem Lehmboden auf und Nym konnte Metall klirren hören. Das waren mindestens vier Soldaten da draußen. Ein Schlag auf Holz bedeutete ihnen, dass Jaan nun ebenfalls aufgesprungen war. „Das ist albern. Ich werde mit Tujan selbst ein Wörtchen wechseln, sobald ich wieder in der Dritten Mauer bin …“
Schritte kamen näher und jetzt blitzte der Schatten einer breiten Statur durch den Rahmen des Kutschfensters. Neben ihr machte Liri einen Kiekslaut, die blonden Zöpfe klebten ihr am Hals. Sie wollte nicht zeigen, dass sie Angst hatte, versagte dabei aber kläglich.
Nym bekam eine trockene Kehle.
Liri.
Die Soldaten durften die Tür nicht öffnen. Wenn sie sahen, dass sie ein Kind dabei hatten … sie würden sofort wissen, dass es sich bei ihnen nicht um Mitglieder der Göttlichen Garde handelte!
„Setz den Helm auf!“, zischte Nym Levi zu, bevor sie sich den eigenen, der zwischen ihre Füße geklemmt gewesen war, über ihre, jetzt schulterlangen, schwarzen Haare stülpte. Im nächsten Moment trat sie unwirsch die Holztür der Kutsche auf, sodass die Soldaten, die sich fast direkt dahinter befunden hatten, zurückschreckten.
„Was soll der Unsinn?“
Sie trat in die Morgensonne, der Helm presste ihr unangenehm auf die Schläfen. Die Arme hielt sie verschränkt und ihre Stimme war ruhig und gefasst. Doch aus jeder Silbe, die ihren Mund verließ, hörte sie ihre eigene unterdrückte Wut tropfen. Und die Wut war nicht einmal gespielt.
Sie war es so leid.
Nicht zu wissen, wer sie war, und doch eine ungefähre Ahnung zu haben. Zu ahnen, dass die Uniform der Göttlichen Garde einst zu ihr gehört hatte, und doch von dem Gefühl verfolgt zu werden, dass die Rüstung versuchte, sie in die Knie zu zwingen.
Die Unsicherheit. Die Probleme. Die Geheimnisse. Das Nicht-Wissen.
Levi war ihr auf dem Fuß gefolgt, den Helm, der mehr als die Hälfte seines Gesichts verbarg, trug er an seinem angedachten Platz. Er stieß die Kutschtür hinter sich zu und sie schlug fest in ihren Rahmen.
„Wir müssen die Kutsche durchsuchen“, wiederholte der Soldat gelassen. „Es dauert nur ein paar Sekunden.“
„Durchsuchen? Die Kutsche eines Göttlichen Soldaten?“ Nyms Stimme war kalt und ihr Blick wanderte über die einzelnen Männer.
Es waren tatsächlich vier, so wie sie vermutet hatte. Immer noch fragte sie sich, ob sie die Stimme des Soldaten, der mit ihr sprach, tatsächlich kannte. Vielleicht spielte ihr ihr Gehirn, das zugegebenermaßen in letzter Zeit etwas gelitten hatte, auch nur einen Streich. Vielleicht pflanzte ihr Gedächtnis ihr Erinnerungen ein, die es überhaupt nicht gab. Sie hasste es, dass sie sich nicht mehr auf sich selbst verlassen konnte.
„Seit wann wird die Loyalität der Göttlichen Soldaten angezweifelt?“, verlangte sie scharf zu wissen. „Ist es nicht schlimm genug, dass bereits jedes Gesicht in der Vierten Mauer mit Skepsis betrachtet wird?“
Sie hörte, wie Levi sich hinter ihr gegen die Tür der Kutsche lehnte, und sein Blick huschte einen kurzen Moment zu ihr, als fragte er sich, was sie da eigentlich tat.
Sie wusste es selbst nicht genau. Doch es fühlte sich natürlich an. Die Worte fielen ihr leicht. Die Autorität, die sie ausstrahlte, flog ihr zu.
Ungeduldig schnalzte der Soldat, der direkt neben Jaan stand, mit der Zunge. „Ich habe Anweisungen von Jeki Tujan persönlich.“
„Jeki Tujan hat nicht das Recht, sich über jeden einzelnen Soldaten zu erheben“, zischte Nym. „Nur weil Api ihm regelmäßig den Kopf tätschelt, heißt es nicht automatisch, dass er jedem Offizier Befehle erteilen kann! Er ist nicht der einzige Erste Offizier. Unsere Kutsche ist leer und wir sind in Eile. Wir werden jetzt weiterfahren, und wenn ihr uns davon abhalten solltet, werdet ihr euch wünschen, ihr hättet Api selbst widersprochen, anstelle von uns.“
Die Soldaten sahen einander an und einer der hinteren schnaubte laut. „Eine Frau erhebt sich über einen Gott? Vielleicht solltest du uns deinen Namen nennen, damit wir ihn direkt an den Gott der Vergeltung weiterleiten können.“
Sie hatte es nicht so mit Namen. Vor allem nicht mit ihrem eigenen.
Und … eine Frau?
Nyms Füße fingen an zu kribbeln und Hitze stieg in ihr auf. Doch es war eine andere Hitze als die, die sie in ihrem Traum verspürt hatte. Es war keine Hitze der Angst. Sie fürchtete sich nicht vor den Soldaten. Diese Hitze bestand aus purer Wut.
Wie sprachen diese mickrigen Männer mit ihr? Diese Männer, die keinen Stand und keinen Ruf innerhalb der Garde genossen? Die sich hinter der Autorität eines Gottes und eines Ersten Offiziers verstecken mussten?
Bevor sie wusste, was sie tat, zog sie sich mit einem Ruck den Helm vom Kopf. „Ich sagte, wir werden jetzt weiterfahren“, knurrte sie. Der Helm glühte weiß zwischen ihren Fingern, und augenblicklich stolperten die Soldaten zurück. Sie stießen dabei beinahe Jaan um, der zum ersten Mal, seitdem Nym ihn kannte, eine klare Regung in seinem Gesicht erkennen ließ.
Fassungslosigkeit.
Doch die Soldaten vor ihr bemerkten es nicht. Sie hatten ihre Köpfe geneigt, und obwohl ihre Gesichter größtenteils verdeckt waren, konnte Nym plötzlichen Respekt und Demut in ihren geweiteten Pupillen erkennen.
„Entschuldigt. Wir hatten ja keine Ahnung. Natürlich könnt ihr weiterfahren. Es tut uns leid.“
Nym erschrak anhand der Reaktion der Soldaten, doch im gleichen Atemzug war sie kaum überrascht. „Ich will es nicht hören“, flüsterte sie. „Geht. Aber vorher will ich die Bilder haben.“
„Bi…Bi…Bilder?“ Der Soldat, der sie eben noch spöttisch als Frau verhöhnt hatte, hatte tatsächlich angefangen zu stottern.
„Die Zeichnungen von den Asavez, die ihr erwartet“, sagte sie unwirsch. „Ihr habt Kopien, schätze ich?“
„Natürlich!“ Eilig wandte er sich zu seinem Pferd um, das neben den zweien stand, die vor die Kutsche gespannt waren. „Ich bin überrascht, dass Jeki sie noch nicht weitergeleitet hat …“
„Ich war offensichtlich unterwegs.“
„Natürlich.“ Er zog einen Papierstapel aus einer Seitentasche und wollte ihn ihr reichen.
Nym nickte jedoch nur Levi zu, der die Aufgabe, sie entgegenzunehmen, für sie übernahm. Sie hatte das ungenaue Gefühl, dass sie einen solch profanen Akt nicht selbst ausgeführt hätte. Außerdem hatte sie Angst, dass das Papier in Flammen aufgehen könnte, sobald sie es berührte.
Die Blätter knisterten zwischen Levis Fingern, und Nym starrte die Soldaten nieder, bis sie wieder auf ihre Pferde stiegen und in die Richtung ritten, aus der sie gekommen waren. Erst als das Hufgetrappel zur Gänze verstummt war, atmete Nym aus.
Ihr Kopf sackte nach vorne, ihre Hände kühlten sich ab und die Rüstung lastete schwer auf ihren Schultern.
Sie hatte immer Angst davor gehabt, dass sie ihre Erinnerungen vielleicht gar nicht wiederhaben wollte. Und als sie jetzt Jaans ausdruckslosen Blick und Levis geöffneten Mund sah, schien es, als sei ihre Angst vielleicht berechtigt gewesen.
Wer war sie gewesen, dass Soldaten eine solche Furcht vor ihr hatten?
„Damit wäre die Frage offiziell beantwortet“, murmelte Levi hinter ihr und zog sich ebenfalls das goldene Metall vom Kopf, auf dem sich die weiter aufsteigende Sonne spiegelte. Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Du warst ein Mitglied der Göttlichen Garde, Nym. Und ganz offenbar keine kleine Nummer. Die Frage ist …“ Sein Blick bohrte sich in ihren. „Warum hat noch niemand mitbekommen, dass du offensichtlich kein Teil mehr von ihr bist?“
***
Jeki war müde. Er hatte die letzten achtundvierzig Stunden kaum geschlafen und das aus den verschiedensten Gründen. Der dringendste jedoch saß auf einem Stuhl direkt vor ihm, die zierlichen Hände auf dem Tisch verschränkt und die großen blauen Augen unschuldig geöffnet.
Nikana Halks war keineswegs der Inbegriff einer Rebellin. Sie war Tochter des ansässigen Diamantimporteurs und genoss hohe Anerkennung in der Vierten Mauer. Und doch hatte in den letzten Wochen nicht einmal, sondern gleich zweimal ein Gerücht die Runde gemacht, dass sie in Beziehung zu den Rebellen stand und sogar als ihre Anführerin fungierte.
Sie war kaum einundzwanzig, bei den Göttern! Jeki bezweifelte stark, dass sie auch nur eine Herde Kamele führen könnte, geschweige denn eine Gruppe Rebellen, die es in den letzten Monaten erfolgreich geschafft hatte, die Göttliche Garde an der Nase herumzuführen.
Sie wirkte wie eines dieser Mädchen, das sich mehr Gedanken um ihre Fingernägel als um die Entscheidungen der Götter machte.
Er seufzte tief und faltete die Hände zusammen. Nikana kannte ihn nicht, deswegen hatte er den Helm aufbehalten. „Nikana, wissen Sie, weswegen Sie hier sind?“
Sie blinzelte und zuckte dann die Schultern. „Ich dachte mir, dass es vielleicht mit ein paar gestohlenen Diamanten aus den Minen meines Vaters zusammenhängt. Auch, wenn ich mir nicht vorstellen kann, warum ich darüber etwas wissen sollte. Oder werde ich vielleicht sogar verdächtigt, sie selbst gestohlen zu haben?“
„Nein, es geht nicht um Diamanten.“ Jeki kratzte sich den Nacken.
Das Gefängnis der Göttlichen Garde war ein quadratischer, grauer Steinblock, der direkt neben dem Göttlichen Dom stand, den die Götter der Garde einst als Denkmal für ihre besonderen Verdienste um Bistaye geschenkt hatten. Die Sonne mühte sich noch immer am Horizont ab, zumindest glaubte Jeki das, denn der Raum, in dem sie waren, besaß keine Fenster. Lediglich zwei Kerzen standen vor ihnen auf dem Tisch und beleuchteten die kahlen Wände.
Das war keine Gegend, in der sich Töchter von Diamantimporteuren normalerweise herumtrieben. Außerdem war es kalt hier. Selbst durch seine Rüstung hindurch fror Jeki ein wenig. Und er war ein Mann – hieß es nicht immer, dass Frauen noch schneller kalt wurde?
Sein Blick fuhr über Nikanas naives Gesicht, über ihre langen, ungekämmten roten Haare – und jetzt, wo er darüber nachdachte, wirkte sie fast ein wenig zu unschuldig.
Zu unschuldig und vor allem zu gefasst. Er hatte sie zusammen mit seiner rechten Hand Arcal und der Ikano des Feuers Esya heute früh, noch vor Tagesanbruch, aus ihrem Haus geholt. Sie trug nur ein langes Nachthemd und einen Mantel und wurde in diesem desolaten Zustand in einem dunklen, engen Verließ von einem Ersten Offizier der Göttlichen Garde befragt.
Warum war sie immer noch so ruhig?
Oder suchte er schon gezielt nach Zeichen dafür, dass die Gerüchte über sie stimmten? Immerhin hatte der Informant, der sie auf Nikanas Spuren gebracht hatte, schon einmal richtiggelegen, was die Rebellen anging.
„Es geht nicht um Diamanten? Worum geht es dann?“
Langsam lehnte sich Jeki in seinem Stuhl zurück, sodass nur noch sein Kinn von dem Licht der Kerzen beleuchtet wurde. „Haben Sie schon einmal von den Rebellen aus der Vierten Mauer gehört?“
Verwirrt runzelte sie die Stirn, während sie eine dunkelrote Haarsträhne hinters Ohr strich. „Rebellen? In der Vierten Mauer? Der Vierten? Das ist absurd.“
Ja, sollte man meinen. „Oh, so absurd ist das nicht. Wir haben erst letzte Woche ein Treffen dieser Rebellen unterbrochen. Es gab drei Tote. In den inneren Mauern wird sehr viel getratscht – Sie müssen davon gehört haben.“
Nikana verdrehte die Augen. „Natürlich habe ich davon gehört. Aber mir wurde erzählt, dass es sich bei den Toten um Flüchtige gehandelt habe und nicht etwa um … Rebellen.“ Sie sprach das Wort aus, als würde es sauer auf ihrer Zunge schmecken.
„Nun. Es waren Rebellen. Rebellen, die anscheinend in nächster Zeit aus Bistaye fliehen wollen.“
Jetzt kicherte sein Gegenüber doch tatsächlich. Laut und hoch. Verwirrt blinzelte er. Frauen kicherten nicht in seiner Anwesenheit. Nie. Nicht einmal seine Verlobte tat das.
„Aus der Vierten Mauer fliehen. Direkt vor den Augen der Göttlichen Garde. Das können Sie unmöglich ernst meinen.“ Ausdrucksstark verdrehte sie die Augen. So wie es nur Mädchen taten, die in behüteten Haushalten aufgewachsen waren.
Nein. Sie musste unschuldig sein. Wieder ließ Jeki seinen Blick über sie schweifen und … blieb an ihrem Fuß hängen. Der Fuß, der leicht unter der Tischplatte hervorstach, wippte hastig von der Spitze auf die Ferse und wieder zurück.
Das war der Moment, in dem Jeki entschied, dass Nikana Halks nicht diejenige war, die sie vorgab, zu sein. Sein Instinkt sagte ihm, dass sie etwas vor ihm verbarg. Nur, ob es tatsächlich eine Gruppe von Rebellen war, konnte er nicht sagen.
„Ja, da haben Sie recht. Es wäre Wahnsinn, es zu versuchen“, murmelte er leise. Seine Fingerspitzen trommelten auf den Tisch. „Doch zurzeit scheint es eine bedenklich große Menge an Menschen zu geben, die wahnsinnig ist.“
„Herr Offizier Tujan“, flötete die junge Frau und beugte sich auf ihren Unterarmen etwas nach vorne. „Mit dieser Aussage mögen Sie recht haben – und bei den Göttern vielleicht gibt es sogar eine Gruppe Rebellen in der Vierten Mauer. Aber warum erzählen Sie mir das?“
Jeki sah keinen Sinn darin, um den eigentlichen Vorwurf herumzureden. Die Reaktion auf eine direkte Anschuldigung verriet oft mehr als das langsame Vorantasten an eine Vermutung. „Es gab Gerüchte, die Sie mit den Rebellen in Verbindung gebracht haben.“
Wieder lachte sein Gegenüber. „Gerüchte? Ich hatte Sie nicht für die Art von Mann gehalten, die Gerüchten eine besondere Wertschätzung zuteilwerden lässt.“
Das hatte er auch nicht. Sein Blick fiel wieder auf ihren wippenden Fuß, den sie jetzt abrupt unter den Tisch zog. Ein leises Lächeln stahl sich auf seine Züge. Vielleicht hatte sie ihren Fehler bemerkt. „Es ist als Erster Offizier meine Pflicht, jeder Spur nachzugehen“, stellte er gelassen fest.
„Natürlich ist es das, und das verstehe ich sehr gut. Aber Sie können unmöglich glauben, dass ich etwas mit den Rebellen zu tun habe“, antwortete Nikana nun gereizter, ganz die Rolle des verwöhnten, reichen Mädchens ausfüllend.
„Sie streiten also ab, etwas von den Rebellen zu wissen oder Teil einer solchen Vereinigung zu sein?“
„Natürlich streite ich es ab! Das ist absurd!“
Absurd.
Noch vor wenigen Minuten hatte Jeki dasselbe gedacht.
Doch der Fuß.
Was ein Fuß alles verraten konnte.
Er nickte langsam und stand auf. Es lohnte sich nicht, weitere Fragen zu stellen. Sie würde ihm nichts erzählen.
Bevor er aus der Tür trat, wandte er sich noch einmal zu ihr um. „Ist Ihnen bewusst, dass sich gerade eine Soldatin der Göttlichen Garde in Ihrem Haus umsieht?“
Nikana blinzelte. „Tut sie das?“
Jeki nickte. „Ja. Und was für eine Schande wäre es, wenn sie tatsächlich etwas finden würde …“
Nikana lächelte, doch für einen kurzen Moment – und Jeki hätte sich ihn nur einbilden können – wirkte ihr Gesicht verkniffener als zuvor. „Sie wird nichts finden.“
„Das hoffe ich für Sie“, murmelte er, und endlich blitzte ein Teil der Angst über ihre Züge, den er die ganze Zeit auf ihrem Ausdruck vermisst hatte.
Er ließ die Tür leise ins Schloss fallen und schüttelte den Kopf. Interessant. Das Gespräch war anders verlaufen, als er erwartet hatte.
Er lief den steinernen Gang bis zum Ausgang und trat ins Licht hinaus. Arcal wartete auf ihn und hob fragend eine Augenbraue. „Und?“
Wahrheitsgemäß zuckte Jeki die Schultern. „Ich bin mir nicht sicher. Sie ist entweder ein naives Dummchen, das Zuckungen im Bein hat, oder eine erstklassige Schauspielerin mit einem nervösen Fuß.“
Arcal lachte leise. „Und das bedeutet?“
Seufzend ließ sich Jeki mit dem Rücken gegen die Mauer sinken. „Wenn Esya nichts findet, müssen wir sie laufen lassen. Es wäre nicht rechtens, sie nur aufgrund eines Gerüchts hierzubehalten. Aber ich will, dass du ein, zwei Soldaten auf sie ansetzt, sollte Esya tatsächlich leer ausgehen. Verflucht seien die Gerüchte Bistayes, aber … an diesem könnte tatsächlich etwas dran sein.“ Bis vor ein paar Minuten hätte er nie geglaubt, diese Worte je aus seinem Mund zu hören.
Arcal nickte entschlossen. „Gut. Das werde ich. Und ich soll dir ausrichten, dass Api dich sprechen möchte.“
Jekis Augenbrauen flogen in die Höhe. „Jetzt?“ Die Sonne stand kaum am Himmel – außerdem schrie ein weiches Bett nach ihm.
„Nein. Nicht jetzt. In zwei Jahren.“
Jeki verdrehte die Augen. Noch ein Treffen an diesem elendig langen Tag. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Seufzend legte er sich eine Hand auf den Helm. „Schön. Würdest du unserem Gast etwas Wasser bringen? Ich möchte nicht, dass ihr Vater uns vorwerfen kann, wir hätten sie schlecht behandelt.“
Er wartete nicht auf eine Antwort, sondern verschwand zwischen den nächstgelegenen Häusern.
Für seinen Geschmack hatten er und der Gott der Vergeltung in den letzten Wochen viel zu oft die Ehre miteinander gehabt. Er hoffte sehr, dass Api diesmal gute Nachrichten haben würde.
Jeki brauchte … Informationen.
Das grell türkise Haus des Gottes schien im Dämmerlicht des frühen Morgens fast grün, und kaum hatte Jeki seine Hand erhoben, um zu klopfen, öffnete sich die Tür vor ihm bereits.
Eine Dienstmagd, die ungewöhnlich blass und ängstlich wirkte, ließ ihn fahrig ins Haus. „Sie sind oben. In der Bibliothek.“
„Sie?“
Die Magd nickte nur, antwortete jedoch nicht.
Jeki erklomm die breite hölzerne Treppe in den ersten Stock, warf einen kurzen Blick auf die prunkvollen Kronleuchter, die in dem Ess- und Festsaal hingen, und trat dann in die Bibliothek des Hauses, deren Tür nur angelehnt war.
Sobald Jeki den ersten Schritt über die Schwelle gemacht hatte, wusste er, warum die Magd so blass und aufgeregt gewesen war. Man musste es ihr hoch anrechnen, dass sie nicht in Ohnmacht gefallen war.
In großen roten Sesseln saßen nicht nur ein, sondern gleich drei Götter.
Selbst Jeki, der zumindest mit Api und Thaka regelmäßig Kontakt hatte, machte erst einmal einen kleinen Schritt zurück und schluckte seine Überraschung geräuschvoll hinunter.
Api, der Gott der Vergeltung, saß in der Mitte zwischen Thaka, dem Gott der Gerechtigkeit, und Valera, der Göttin der Vernunft.
Thaka und Api waren beide hellblond, wobei Thakas Haare jedoch so kurzgeschoren waren, dass sie im gedämpften Licht fast weiß wirkten. Seine Augen waren flüssiger Bernstein, während Apis aufmerksamer Blick violett leuchtete. Jeki konnte nicht sagen, ob die beiden als attraktiv galten. Darüber sollte eine Frau urteilen. Er hatte dazu keine wirkliche Meinung. Was er jedoch mit Sicherheit sagen konnte, war, dass es sich bei Valera um eine Schönheit handelte.
Sie war über dreitausenddreihundert Jahre alt, sah jedoch keinen Tag älter aus als fünfunddreißig. Das hellbraune Haar fiel ihr in feinen Locken bis zur Taille, die so schmal war, dass sie den schwarzen Gürtel, den die Götter verpflichtet waren, zu tragen, zweimal darum binden konnte.
Die Drei hatten sich gedämpft unterhalten, verstummten jedoch, als Jekis Schatten in den Raum fiel. Alle lächelten ihn an.
Jeki hatte sich das letzte Mal so unwohl gefühlt, als seine Mutter ihn dabei erwischt hatte, wie er versuchte, einem Mädchen unter den Rock zu sehen. Damals war er dreizehn gewesen.
„Hallo, Jeki, bitte schließe doch die Tür.“
Jeki nickte, sagte nichts, schloss jedoch die Tür. Das war ihm eindeutig zu viel Aufmerksamkeit. Es bedeutete meist nichts Gutes, wenn so viele Blicke auf einmal auf einen gerichtet waren. Bei Hinrichtungen war das zum Beispiel der Fall.
Er blieb stehen, die Arme hinter seinem Rücken verschränkt, seine Wirbelsäule gerade. Wenn er es sich recht überlegte, hatte dieser Besuch mehr als nur eine Parallele zu einem Treffen mit seiner Mutter. Das Einsetzen von Schuldgefühlen, würde sicherlich noch folgen.
Es war Api, der wieder sprach. „Du brauchst nicht so nervös zu sein“, sagte er und lachte. „Ich dachte, deine Gelassenheit würde dich von den anderen Ersten Offizieren unterscheiden.“
Seine Gelassenheit? Seine schauspielerischen Fähigkeiten wohl eher. „Ich bin gelassen“, murmelte er verkrampft.
Valera hob den Blick und lächelte nachsichtig. Ihre Augen waren so schwarz wie Kohle. „Api, jetzt spann ihn nicht auf die Folter. Er wird es von allen am meisten wissen wollen.“
Api sah die Göttin vorwurfsvoll seufzend an, so als habe sie ihm gerade eine Menge Spaß verdorben, gab jedoch nach. „Nun gut. Ich habe gute Neuigkeiten. Ich konnte zu ihr durchdringen. Sie hat mich eingelassen. Ich hatte einen schönen weitläufigen Blick in ihren Geist.“
Er sprach von ihrem Kopf, als sei es eines der teuren Gemälde, die bei Api an der Wand hingen – doch das war Jeki egal. Erleichterung erfüllte ihn, und eine große Portion Anspannung, die er sich selbst in den letzten Wochen nicht eingestanden hatte, fiel von ihm ab.
Informationen. Das war es, was er gebraucht hatte, und jetzt würde er sie endlich bekommen. „Was habt Ihr gesehen?“, fragte er etwas atemlos, bemüht, nicht allzu gierig zu klingen.
„Viele Dinge, die nicht von Belang sind …“, antwortete Api langsam, das Kinn auf seine Fingerspitzen gestützt. „Wälder, durch die sie gegangen ist. Oyitis. Sie scheint eine kurze, nicht sehr angenehme Begegnung mit Wasser gehabt zu haben …“
„Aber sie kann nicht schwimmen.“
Api lachte leise. „Ja, aus diesem Grund empfand sie die Begegnung wohl auch nicht als angenehm. Na ja. Jedenfalls geht es ihr gut. Leider weiß ich immer noch nicht, wie die Asavez über den Appo gelangen konnten, aber das werde ich noch herausfinden. Alles, was für dich interessant sein wird, ist, dass sie auf dem Weg sind und sie entweder durch das Osttor kommen werden oder aber durch das Tor in Amrie. Sie haben sich wohl noch nicht entschieden. Und, ach ja: Sie sind als Soldaten der Göttlichen Garde verkleidet.“
Thaka, zur Rechten von Api, lachte laut auf. „Wie ironisch, nicht? Dass sie sich als Soldatin der Göttlichen Garde verkleidet.“
„Das ist in der Tat ironisch“, bestätigte auch Api, seine Augen jedoch auf Jeki gerichtet. „Aber das bedeutet natürlich, dass die Garde aufmerksamer sein muss denn je. Sie sollen jeden Soldaten, der die Mauergrenzen passiert, nach seinem Namen fragen.“
„Natürlich.“ Jeki nickte, immer noch ungeduldig.
All das war für ihn nicht von Belang. Natürlich war es wichtig, aber er brauchte andere, tiefergehende Informationen. Irgendetwas, das ihn wissen ließ …
„Da fällt mir ein“, unterbrach Api Jekis Gedankengang, „es scheint so, als hätte sie sich mit dem Ikano der Luft … angefreundet.“
Jeki blinzelte und Valera wandte sich interessiert zu ihrem Mitgott um. „Angefreundet? Ist das ein Euphemismus?“
Api betrachtete die Göttin der Vernunft und lächelte vage. „Möglich. Ich konnte nicht genug von ihrem Geist einsehen, um ein Urteil zu fällen, aber sie scheinen sich ungewöhnlich gut zu verstehen. Wenn man bedenkt, wo die beiden herkommen und was sie erlebt haben, ist das schon sehr verwunderlich, aber nun ja. Sie erinnert sich ja nicht.“
Angefreundet?
Irgendetwas in Jekis Magen rebellierte gegen dieses Wort. Der Ikano der Luft, der ihn beinahe getötet hatte …
„Jeki, alter Freund, du siehst müde aus.“ Diesmal war es Thaka, der seine Stimme erhoben hatte. Der Gott wedelte unwirsch mit einer Hand hin und her. „Du solltest etwas Schlaf bekommen. Wie ich höre, bist du mit der Arbeit gegen die Rebellen mehr als nur ausgelastet, und mehr als das bereits Gesagte ist für dich ohnehin nicht von Belang. Geh ruhig.“
Nicht von Belang?
Sein Kiefer verkrampfte sich, und es kostete ihn einige Mühe, seine Zähne auseinanderzureißen. „Natürlich“, murmelte er, denn er wusste, dass Thakas Worte kein Vorschlag gewesen war, sondern eine Aufforderung. Er wollte nicht gehen, doch er war offensichtlich nicht dazu eingeladen, zu bleiben.
Jeki neigte seinen Kopf leicht nach vorne und verließ dann rückwärts den Raum. Die Tür schloss sich hinter ihm und ein fahler Geschmack haftete an seiner Zunge.
Er hatte Informationen gewollt und er hatte welche bekommen. Aber wissen tat er nichts.
***
Api beobachtete, wie Jeki den Raum verließ und fragte sich, ob er gerade eine Spur zu weit gegangen war. Es machte Spaß, zu sehen, wie Menschen auf gewisse Aussagen reagierten – doch er brauchte Jeki, und es wäre nicht ratsam, ihn absichtlich weiter zu reizen.
Valera schien den gleichen Gedanken zu haben. „Jeki ist ein treuer Soldat, Api. Davon gibt es nicht allzu viele.“
„Ich weiß.“
„Dann solltest du darauf achten, wie du ihn behandelst. Du hast ihn bereits belogen, und das wird er zweifelsohne bald herausfinden.“
Auch das wusste Api. Doch das hatte er bereits in seiner Planung berücksichtigt. „Es ging nicht anders. Das weißt du. Manchmal schützt eine Lüge das, was wirklich wichtig ist.“
Valera nickte langsam und betrachtete die rote Flüssigkeit in ihrem Weinglas, bevor sie daran nippte. „Ich weiß. Und ich weiß ebenso, dass du noch einige Informationen in ihrem Kopf gesehen hast, die uns interessieren könnten, aber Jeki nichts angehen.“
Api lächelte breit und lehnte sich zurück. Natürlich war ihr das aufgefallen. Wenn man über dreitausend Jahre mit jemandem befreundet war, war es schwierig, Geheimnisse voreinander zu verbergen. „Jaan ist bei ihnen“, stellte er deswegen tonlos fest. Apis Blick schwang von Valera zu Thaka. Wie von ihm erwartet, schien keiner der beiden überrascht.
„Natürlich ist er bei ihnen“, bemerkte die Göttin der Vernunft unbeeindruckt. „Was hast du erwartet? Der gute Anführer der Asavez ist vorsichtig. Es wäre dumm gewesen, Jaan nicht zu schicken.“
Thaka prustete ein freudloses Lachen. Api wusste, dass er ungeduldig wurde. Ihm ging es zu langsam, und zurzeit sah es nicht sehr gut für den Gott der Gerechtigkeit aus. „Der gute Anführer wäre sicherlich ziemlich wütend, wenn Jaan etwas zustieße …“, knurrte er.
„Thaka!“, schalt Valera ihn sofort. „Du weißt, dass du ihn nicht töten kannst.“
„Kann? Nicht töten kann?“
„Wir haben Regeln.“
„Die einzige Regel, die wir haben, ist die, dass keiner von uns Kinder bekommt. Das andere Geschwätz … das kann höchstens als Abmachung gewertet werden.“
Valera kniff die Augen zusammen. „Und diese Abmachung ist mindestens genauso viel Wert wie unsere Regel. Wir waren alle damit einverstanden.“
Der Gott der Gerechtigkeit schlug ungehalten auf die Lehne seines Sitzes. „Vor tausend Jahren! Ja! Aber jetzt ist es eine Abmachung, die uns allen nichts mehr nützt. Außer ihm.“
„Du hast deinen Nutzen bereits aus ihr gezogen“, erinnerte ihn Valera bestimmt. „Unser Gerechtigkeitssinn gebietet es uns, die Abmachung bis zum Schluss einzuhalten. Dir, als Gott der Gerechtigkeit, muss das doch bewusst sein.“
„Gerechtigkeitssinn!“ Thaka spuckte das Wort auf den Boden und sprang auf. „Natürlich spricht die Göttin der Vernunft von Gerechtigkeitssinn! Unsere Abmachungen bergen für dich zurzeit ja auch keinen Nachteil!“
Interessiert betrachtete Api Valeras Gesicht, das kaum ein Lächeln verbergen konnte. „Du hast deine Wahl getroffen, Thaka. Und seien wir ehrlich: Der Einzige, der sich sichtlich ärgern sollte, ist Api.“
Api lachte leise. Sie hatte vollkommen recht, aber er hatte bereits vor dreihundert Jahren eingesehen, dass er die falsche Wahl getroffen hatte. „Es liegt nicht in meiner Natur, mich unnötig aufzuregen. Ich bin mit meiner Position vollauf zufrieden.“
Und das war er. Er hatte die Göttliche Garde, er hatte seine Ikanos und er hatte seine Pläne. Mehr brauchte er nicht. Außerdem machte es ihm Spaß, seinen Mitgott dabei zu beobachten, wie ihm vor Nervosität der Schweiß ausbrach. Gleichwohl er sich wünschte, dass auch Valera ein wenig mehr Anspannung zeigen würde.
Api hat sich der Ikano angenommen. Ich wohne in der Vierten Mauer und kann sie bis tief in die Nacht kämpfen und trainieren hören. Die Erde zuckt nun ständig. Der Nachbarsjunge wurde zur Göttlichen Garde einbezogen. Er sagte mir, er fühle sich geehrt, für Bistaye kämpfen zu dürfen.Aber natürlich weiß ich, dass er lügt. Ich weiß es immer. Warum machen die Menschen sich noch die Mühe?
Vea Kerwin zitterte. Sie betrachtete Janon, dessen Hand sein Gesicht verdeckte, und Angst kroch durch ihre Adern.
„Scheiße, scheiße, scheiße …“, murmelte er, und Vea konnte sich nicht mehr daran erinnern, wie oft er dieses Wort jetzt schon wiederholt hatte.
Es mussten über hundert Mal gewesen sein – und wenn sie ehrlich war, konnte sie es ihm nicht einmal wirklich verübeln.
„Verfluchte Scheiße, Vea! Wie kannst du … scheiße! Ich dachte, du wärst wegen der schlechten Beziehung zu deiner Schwester kein Freund der Garde, und nicht etwa, weil du eine verdammte Rebellin bist!“
Vea sah auf die Hand, die sein Gesicht verdeckte, dann flackerte ihr Blick zu der Tür zurück, aus der Jeki und Arcal Nika vor nicht allzu langer Zeit herausgeführt hatten. Esya war hineingegangen. Esya, die Ikano des Feuers.
Vielleicht sollte sie gehen. Weglaufen. Janon war Jekis kleiner Bruder, und dass er jetzt wusste, dass sie eine Rebellin war, könnte ihr zum Verhängnis werden.
Doch wo sollte sie hin? Nikana war ihre engste Vertraute gewesen. Ach, wem machte sie etwas vor: Sie war ihre einzige Vertraute.
Veas Unterlippe zitterte heftig, und sie biss mit ihren Vorderzähnen darauf, um sie zum Aufhören zu zwingen. Mühsam presste sie die aufsteigende Panik hinunter, die sich langsam, aber sicher in ihr breit gemacht hatte, und kniff sich in den Handrücken, um ihre Konzentration zurückzugewinnen.
Sie musste nachdenken. Was würde Nika tun? Was wäre ihr erster Schritt?
„Deine Freundin …“ Janon unterbrach ihre Denkversuche und zwang sie mit nur einem Finger dazu, ihn anzusehen. Dann nickte er zu Nikas Hauseingang hinüber, den Vea eben noch betrachtet hatte. Als müsse er ihr erklären, wen er mit Freundin meinte. „Ist sie auch eine … Rebellin?“
Vea sagte nichts. Sie sah ihm in die braunen Augen, die in der Dunkelheit schwarz wirkten, und schwieg. Ihre zu freizügige Zunge war das, was sie überhaupt erst in Schwierigkeiten gebracht hatte.
Doch offenbar war selbst ihr Schweigen verräterisch. „Verdammte Scheiße, Vea! Was genau werden sie ihr vorwerfen?“
Veas Finger kniffen weiterhin in ihre Hand, und sie fragte sich, warum Janon diese Fragen stellte. Wollte er ihr helfen oder würde er mit den Informationen, die sie ihm lieferte, direkt zu seinem Bruder laufen?
„Vea“, raunte er, seine Stimme rau wie Schmirgelpapier. „Sie werden das Haus durchsuchen. Gibt es dort irgendetwas, das sie belasten könnte? Etwas, das die Vorwürfe, die sie ihr machen werden, unterstützt?“
Veas Gedanken fingen an zu rasen. Richtig. Beweise. Das wäre es, an das Nika zuerst gedacht hätte. Gab es Beweise in Nikas Haus, die sie als Rebellin enttarnten?
Da waren die Briefe, die sie aus Asavez erhalten hatte. Liebesbriefe von Ro, ihrem Freund. Bis vor kurzem hatten sich außerdem noch Flüchtige in Nikas Keller versteckt – doch die waren fort. Blieb nur die Frage offen, ob auch ihre Spuren verwischt worden waren.
Veas Herz klopfte schwer gegen ihre Brust, während sie versuchte, sich daran zu erinnern, ob Nikana erwähnt hatte, dass sie die Briefe und restlichen Beweise weggeschafft hatte. Doch sie wusste es nicht. Entweder war sie zu vergesslich oder Nika hatte nie … Sie stockte in ihrem Gedankengang. Etwas anderes, viel Furchtbareres hatte sich in ihren Kopf geschlichen. „Der Dolch!“ Die Worte waren kaum ein Flüstern in der Nacht, und Vea schlug sich die Hand vor den Mund. Eine ganz andere Art von Kälte als die, die sie umgab, kroch in ihre Kleider und unter ihre Haut. „Bei den Göttern, der Dolch!“
„Welcher Dolch?“
„Der Göttliche Dolch!“
„Jekis Dolch?“
Sie nickte, und ihr Herz schien in ihre Luftröhre gesprungen zu sein, denn es fiel ihr plötzlich schwer, zu atmen. „Ich habe ihn Nikana gegeben.“
„Warum zum Teufel hast du das getan?“
„Sie kann viel besser mit Messern umgehen und … es hat in dem Moment Sinn gemacht! Wenn er noch im Haus ist und Esya ihn findet … bei den Göttern.“
Thaka entschied über das Schicksal von Dieben. Meistens wurde Diebstahl mit einer langen Haftstrafe bestraft. Doch der Diebstahl eines Göttlichen Dolches von dem Gürtel eines Ersten Offiziers? Vea wollte gar nicht wissen, was für eine Strafe auf so eine Tat folgte. „Ich muss ihn holen“, murmelte sie und wollte zum dritten Mal in dieser Nacht losrennen. Und zum dritten Mal war es ein starker Arm, der sie davon abhielt.
„Du musst überhaupt nichts! Esya ist in dem Haus!“
„Na und?“, zischte sie zurück und riss an ihrem Arm. „Wenn Esya den Dolch findet, dann ist das Nikas Todesurteil!“
„Und wenn Esya dich erwischt, dann ist es deines!“
Sie schnaubte und schmeckte Blut an der Stelle, an der sie sich in die Unterlippe gebissen hatte. „Mein Tod würde zumindest von dem Dolch ablenken. Mein Leben ist im Vergleich zu Nikas nichts wert.“
Janons Griff wurde noch fester und jetzt gruben sich seine Fingernägel in ihren Unterarm. „Sag so etwas nie wieder“, knurrte er. „Dein Leben –“
„Mein Leben geht dich nichts an!“ Sie hatte keine Zeit hierfür. Sie musste ins Haus, den Dolch suchen. Wieder riss sie an ihrem Arm, aber Janons Hand hatte sich wie ein Schraubstock darum gelegt.
Er sah wütend aus. Doch es war eine andere Wut als die, die sie kurz in seiner Miene hatte aufblitzen sehen, als er erkannt hatte, dass er sich mit einem Mädchen traf, das gegen seinen Bruder arbeitete. Eine aufmüpfigere. „Ich sehe das anders.“
Fassungslos fing Vea an zu lachen. „Es interessiert mich nicht, wie du es siehst! Du kennst mich doch gar nicht! Ich mache es dir einfach: Du kannst gehen und den heutigen Abend ignorieren. Ich weiß, dass das schwierig für dich ist, aber ich hatte ohnehin entschieden, dass es Blödsinn wäre, es mit dir zu versuchen, also: geh! Geh nach Hause und vergiss einfach alles, was du heute erfahren hast.“
„Das kann ich nicht.“
„Also willst du mich verraten?“ Jetzt brach die Panik doch durch. Wenn er sie verriet, dann waren die Rebellen verloren.
„Natürlich verrate ich dich nicht!“, zischte er aufgebracht. „Lass mich nachdenken, okay? Ich brauche nur ein paar Sekunden, um meine Gedanken zu ordnen. Das ist heute alles etwas viel auf einmal.“
„Ich habe keine Zeit dafür, dass du nachdenkst! Der Dolch …“
Abrupt ließ Janon sie los. Sein Blick war hart und bestimmt und schließlich nickte er fest. „Gut. Dann gehen wir.“
Er streckte seinen Arm aus, um ihr den Vortritt aus der schmalen Gasse zu lassen. Verwirrt sah sie zu ihm auf.
„Gehen?“
„Den Dolch holen.“
„Aber –“
Janon verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn du auch nur für eine Sekunde denkst, dass ich dich alleine in das Haus einer Rebellin spazieren lasse, in dem eine verdammt cholerische Ikano des Feuers wartet, dann hast du ganz offensichtlich deinen hübschen Verstand verloren.“
Vea wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Mund stand offen. Der erste Gedanke war, ihn zu fragen, wie ein Verstand hübsch sein konnte, der zweite war … „Janon! Das ist idiotisch! Du bist nicht unantastbar, nur weil Jeki dein Bruder ist. Die werden dich ohne Umschweife verhaften, wenn sie erfahren, dass du mir hilfst.“
„Sie werden es nicht erfahren, und ich lasse dich nicht alleine.“
Ihre Augen fingen an zu brennen und sie musste mehrfach schlucken, um wieder normal atmen zu können. Janon war einmal mit ihr ausgegangen. Er kannte sie nicht. Nicht gut genug zumindest, um so viel für sie aufs Spiel zu setzen. Sie öffnete den Mund, um ihm zu verbieten, so dumm zu handeln, doch er wusste offenbar genau, was sie dachte.
„Vea.“ Seine Stimme war jetzt kaum noch ein Flüstern, und er sah sie so eindringlich an, dass sie gerne weggesehen hätte, doch seine Hand an ihrer Wange hielt sie davon ab. „Ich habe nicht einmal einen Tag gebraucht, um zu wissen, dass ich so ziemlich alles für dich tun würde. Wenn mich das zu einem Idioten macht, muss ich wohl damit leben.“
„Aber …“
Janon schüttelte den Kopf. „Du nimmst den Hintereingang, ich lenke Esya ab.“
„Wie willst du das anstellen?“
Ein breites Lächeln stahl sich auf seine Züge. „Na wie schon? Ich klopfe an die Tür.“ Und mit diesen Worten ließ er sie los und trat aus der Gasse auf die breite Straße, die von den ersten Sonnenstrahlen in dämmriges Licht gehüllt wurde.
Vea hätte ihn nicht zurückrufen können, selbst wenn sie es gewollt hätte. Leise fluchend sah sie ihm einige Sekunden lang nach. Sie wusste nicht, ob sie ihn schlagen oder küssen wollte. Da zum jetzigen Zeitpunkt beides keine Option war, presste sie nur die Lippen aufeinander, schüttelte ein letztes Mal den Kopf und huschte dann weiter in die Dunkelheit der Gasse, um durch Nikas Garten hindurch in ihr Haus zu gelangen.
Die Vierte Mauer bestand aus fünf Parallelstraßen und Nika wohnte von Süden aus gesehen in der dritten. Ihr Garten war mit einem weißen Lattenzaun umgeben, der im Licht der aufsteigenden Sonne gelb leuchtete, und als Vea sich zu den Seiten umsah, stellte sie erleichtert fest, dass die Fensterläden der umliegenden Häuser vorrangig noch verschlossen waren. Der Tag hatte für die meisten Leute noch nicht begonnen.
Sie sprang in den Garten hinein, wollte das Quietschen des Tores nicht riskieren, und bemühte sich, nicht allzu viele Pflanzen in Nikas Blumenbeet zu zertreten. Nicht dass Nika das interessiert hätte, aber je weniger Spuren sie hinterließ, desto besser.
Ihre Füße sanken in die taufeuchte Erde, und hastig sprang sie auf den Rasen, bevor das Profil ihrer Schuhe so dreckverschmutzt war, dass sie Spuren auf dem Boden im Haus hinterlassen würde. Nikanas Hintertür war aus solidem Holz, das sie dunkelblau gestrichen hatte. Sie grenzte direkt an die ausgedörrte Grasfläche. Es war heiß und trocken in Bistaye und die Gärten grün zu halten, war sehr teuer. Die meisten Menschen machten sich nicht die Mühe, sie zu bewässern.
Vea betrachtete das Schloss und war froh darüber, dass sie einen Schlüssel zu Nikas Haus besaß. Sie war zwar eine Diebin, aber sie stahl nicht aus den Häusern von Leuten. Sie beklaute nur auf offener Straße und wenn sie eine Tür hätte aufbrechen sollen, wäre sie überfragt gewesen. Sie würde es auf die Liste der Dinge setzen, die sie noch lernen wollte.
Fahrig und mit zitternden Fingern zog sie ihren Schlüsselbund, das einzige, was sie aus ihrem Haus mitgenommen hatte, aus der Tasche. Das Metall schlug verräterisch laut gegeneinander. Sie schluckte mehrmals und konnte ihren Herzschlag im Hals spüren. Vorsichtig atmete sie ein und aus.
Sie musste sich beruhigen, sich konzentrieren. Nikas Leben hing womöglich von ihrem Handeln ab. Mit zittrigen Fingern fand sie den richtigen Schlüssel und steckte ihn so vorsichtig wie möglich ins Schloss. Gleichzeitig spitzte sie die Ohren und presste eines davon an die Tür. Hatte Janon bereits geklopft? Sprach er bereits mit Esya?
Sie konnte nichts hören. Aber das konnte auch an dem dicken Holz und den zwei Räumen liegen, die zwischen dieser und der anderen Tür lagen.
Das Schloss klickte, als sie den Schlüssel darin drehte, und sie betete zu den Göttern, an die sie längst den Glauben verloren hatte, dass das Scharnier nicht quietschen würde.
„… was soll das? Ich sagte doch, dass Jeki nicht hier ist!“
„Ich habe ihn aber doch vorhin hier stehen sehen.“
„Er stand hiervor und ist wieder gegangen – der Rest geht dich nichts an, Janon.“
Vea stieß die Tür weiter auf. Das war ihre Chance. Sie hatte keine Ahnung, wie lange Janon Esya würde ablenken können. Hastig presste sie sich durch den Hintereingang und drückte die Tür so leise wie möglich zurück in ihren Rahmen.
Nikas Wohnzimmer war nicht allzu groß. Zu Veas Rechten war ein steinerner Kamin eingebaut, während sich zur Linken Bücherregale aneinanderreihten, zwischen denen eine schmale Treppe nach oben führte. Ein großes braunes Sofa stand in der Mitte des Raumes, der mit schweren grünen Teppichen ausgelegt worden war.
Sie würde sich nie wieder über Nikanas zwanghaften Drang, warme Füße zu haben, lustig machen.
„Wohnt nicht Nikana hier?“
„Und wenn es so wäre, ginge dich das immer noch nichts an!“, schnarrte Esya laut, und für einen kurzen Moment konnte Vea den Rücken ihrer Rüstung durch die leicht geöffnete Tür, die vom Flur in den Wohnraum führte, erkennen. Doch sie machte sich nicht die Mühe, länger hier unten zu verweilen. Nikana würde die Dinge, die ihr wichtig waren, nicht im Wohnzimmer verstecken. Wenn, dann wären sie in ihrem Schlafzimmer.
Vea kannte Nikana seit sechs Jahren. Sie hatte sich an dem Tag mit ihr angefreundet, an dem Salia mit den Worten: „Es wird sich nichts ändern“, in die Dritte Mauer gezogen war.
Vea musste beinahe bitter auflachen, als sie sich an diesen Tag zurückerinnerte. Salia war ausgezogen, und einen Tag später hatte sich ihre Mutter das Leben genommen. Seitdem war ihre Schwester nicht mehr dieselbe. Vea hatte immer das Gefühl gehabt, dass sie sich schuldig für ihren Tod fühlte. Und vielleicht war sie sogar schuld. Vea hatte nie erfahren, worum es in dem letzten Gespräch zwischen Salia und ihrer Mutter gegangen war.
Sie hatte ihre Schwester und ihre Mutter mit nur einem Schlag verloren und Nikana mit dem nächsten gewonnen.
Nika hatte Vea am Tag nach dem Tod ihrer Mutter dabei erwischt, wie sie ihr ein Armband hatte stehlen wollen. Das Mädchen mit den dunkelroten Haaren hatte sie angesehen – und dann gefragt, ob sie ihr das beibringen könne. Der Anfang ihrer engen Freundschaft. Vea würde alles tun, um Nikana zu verteidigen – so wie sie es auch für sie getan hatte.
Die Stufen, die Vea hocheilte, waren aus Holz und knarrten sanft unter ihren Füßen, während sie immer noch hören konnte, wie Janon eine sinnlose Frage nach der anderen stellte. Er hatte tatsächlich angefangen, Esya nach den architektonischen Begebenheiten des Hauses zu fragen, und deutete nun an, dass er das Haus gerne kaufen wolle, falls Nikana nicht mehr zurückkehrte. Ob man das denn schon voraussehen könne. Ob Esya wisse, was Nikana vorgeworfen werde.
Vea hastete durch den schmalen, dunklen Flur im Obergeschoss, und jetzt konnte sie die Stimmen nicht mehr hören. Sie schob die letzte Tür des Gangs auf und fluchte leise, als sie bemerkte, wie dunkel es hier war. Natürlich hatte Nikana die Fensterläden noch nicht geöffnet, und so drangen nur sehr schmale und dürftige Lichtstrahlen durch die Ritzen im Holz.
Veas Blut pochte in ihren Ohren, als sie die Tür hinter sich schloss. Wo hatte Nikana ihr Geheimversteck? Es gab eines. Sie hatte ihr einmal davon erzählt. Vor anderthalb Jahren, als sie das Haus gekauft hatte. Nur … sie erinnert sich nicht.
Durch die Nase einatmen, durch den Mund ausatmen, durch die Nase einatmen …
Sie konnte die Läden nicht öffnen, das würde Esya auffallen. Nur, ohne Licht war es so gut wie unmöglich, das Zimmer effektiv abzusuchen. Wenigstens war die Ikano des Feuers noch nicht hier gewesen.
Sie musste nachdenken, die Panik nach hinten schieben und konzentriert überlegen.
Wo würde sie einen Dolch verstecken? Wo würde sie Dinge verstecken, von denen niemand wissen durfte, dass sie existierten?
Sie machte einen Schritt nach vorne und stieß sich ihr Schienbein an einem flachen Hocker, den sie vor dem Bett nicht gesehen hatte. Nur mit Mühe und Not konnte sie ein Fluchen unterdrücken. Natürlich hatte sie nur auf Möbel geachtet, die sich auf Hüfthöhe befanden. Sie rieb sich mit der flachen Hand übers Schienbein und sah sich dann fieberhaft im dämmrigen Zimmer um.
Vor ihr stand ein breites Bett, das vollkommen zerwühlt war. Die weißen Leinen reflektierten die paar Lichtstrahlen, die es in den Raum hinein geschafft hatten. Daneben stand ein Nachtschränkchen und über dem Bett hing ein Bild, von dem Vea im Dunkeln nicht ganz erkennen konnte, was es darstellte.
An der Wand gegenüber dem Fenster standen ein Bücherregal und ein schmaler Kleiderschrank.
Verdammt. Warum hatte sie keinen Geistesblitz?
Sie ließ sich auf die Knie fallen und fing an, den Dielenboden nach einem losen Brett abzusuchen – irgendwo musste sie schließlich anfangen. Ihre Hände rannen über das raue, dunkle Holz und hier und da versuchte sie es nach unten zu drücken. Doch sie fand nichts. Wenigstens gewöhnten sich ihre Augen jetzt an das Halbdunkel und sie konnte ihre Umgebung besser erkennen.
Sie war schon so oft bei Nika im Haus gewesen – nur eben nie in ihrem Schlafzimmer.
Vea kroch zum Bett, horchte gleichzeitig, ob Schritte die Treppe hochkamen, bevor sie mit der flachen Hand die Unterseite der Matratze und des Rostes, auf dem sie auflag, abtastete.
Nikana war immer ein wenig paranoid gewesen. Sie würde den Dolch nah bei sich haben wollen, falls sie nachts von der Göttlichen Garde überrascht werden sollte – das war zumindest ihr persönlicher Albtraum gewesen.
Sich auf die Beine stemmend betrachtete Vea das, was dem Bett am nächsten war. Wo konnte man gut einen kleinen, schmalen Gegenstand verstecken?
Ihre Augen flogen über den schlichten Holzrahmen des Bettes und einfach, weil ihre Finger etwas tun wollten, öffnete sie die Schublade des Nachttisches. Doch darin befand sich nichts außer einem zerfledderten Taschenbuch, ein paar Haarklammern, einem Tintenfass und … einem Brief.
Zögerlich hielten Veas Finger über dem gefalteten Pergament inne. Sie wollte nicht in Nikas Privatsphäre eindringen, doch was, wenn es einer von Ros Briefen war? Oder eine Nachricht von einem anderen Soldaten aus Asavez?
Sie zog das Pergament aus der Schublade und öffnete es kurzerhand. Es war nur ein Wappen abgebildet, unter dem zwei Zeilen standen.
Das Wappen zeigte drei Ringe, die – sich überlappend – nebeneinander aufgereiht waren. Über und unter ihnen befand sich jeweils ein Kreuz.
Sie schulden mir überhaupt nichts und jedes Misstrauen habe ich verdient. Dennoch wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie dies dem Ikano der Luft zukommen lassen könnten.
Dies?
War dem Brief etwas beigelegt worden?
Verwirrt steckte Vea sich den Brief in eine der aufgenähten Taschen ihres Schlafhemdes, das sie immer noch unter ihrem Pullover trug. Fest stand, dass Nikana besser nicht in Verbindung mit einem gewissen Ikano der Luft gebracht werden sollte.
Vea schob die Schublade wieder zu und tastete nun die Bettdecke ab. Sie hob das Kopfkissen an, überprüfte erneut die Matratze – und blieb schließlich mit dem Blick am Gemälde darüber hängen.
Sie hätte beinahe angefangen zu lachen.
Es konnte nicht so einfach sein.
Eine Landkarte hing dort, die Bistaye und Asavez zeigte. Die Sieben Mauern, Amrie, die Sakre-Wüste auf der einen Seite, die Kreisberge, die Wälder und einige Städte auf der anderen. Getrennt durch den Appo. Nur gab es im Gegensatz zur Gegenwart auf diesem Gemälde noch vier Brücken, die den großen Fluss überspannten.
Die Karte zeigte Asavez und Bistaye vor dem großen Krieg von vor fast tausend Jahren. Vereint.
Auf dass die Götter bald wieder alles überblicken mögen, stand in goldenen Lettern darunter.
Ja, genau. Nikanas Traum war es, dass die Götter wieder beide Hälften des Flusses regierten.
Im nächsten Moment stand Vea auf dem Bett und hatte das Bild angehoben. Die Wand dahinter war unberührt, doch als Veas Finger am hinteren Rahmen entlangfuhren, stieß sie schon nach wenigen Sekunden auf etwas Hartes. Nika hatte den Dolch zwischen Rahmen und Leinwand gesteckt. Und das war nicht das Einzige, was Veas Hände fanden. Weitere Briefe – diesmal war sich Vea sicher, dass sie von Ro waren – hatte Nikana überall in den Rahmen hineingesteckt.
„Oh, Nika“, seufzte Vea, während sie so hastig wie möglich versuchte, jeden einzelnen Brief zusammenzuklauben. Es waren über ein Dutzend. Ihre Freundin musste wirklich unglaublich verliebt sein, wenn sie so leichtsinnig gewesen war, all diese Beweise zu behalten. Sie hätte doch zumindest –
Vea hielt inne.
Hatte da eben eine Diele geknarrt? Oder war es die Matratze unter ihren Füßen gewesen?