Flammenkönigin - Susanne Wolff - E-Book

Flammenkönigin E-Book

Susanne Wolff

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Beschreibung

Wenn Macht auf Täuschung gründet und Vertrauen zum größten Wagnis wird, wer besteht dann im Herz des Feuers? Kaum hat Arnemon die Küstenstädte Daramons nach der Flutwelle vor einem Jahr wieder aufgebaut, bedrohen mysteriöse Piratenüberfälle sein Reich. Woher kommen die fremden Schiffe unter den roten Segeln und gebieten sie wirklich über die Macht der Flammen? Als Herrscherin der Feuerinseln fürchtet Suela den Konflikt, den sie durch die Raubzüge provoziert. Doch sie hat keine andere Wahl, solange ihr Volk noch immer unter den Folgen des Vulkanausbruchs leidet und gleichzeitig ihre Macht von innen heraus bedroht wird. Arnemon und Suela lernen einander bald intensiver kennen, als ihnen lieb ist. Wie werden sie entscheiden, wenn Krieg ebenso riskant ist wie ein Kompromiss? Und welche Rolle können eine Windzauberin und ein ehemaliger Heerführer dabei spielen? Eine aufwühlende Geschichte um die Bürde der Macht und die Kraft echter Freundschaft, in der zwei Kulturen aufeinander prallen.

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Kapitel 1
Harte Entscheidung
Kapitel 2
Leuchtfeuer
Kapitel 3
Reiche Beute
Kapitel 4
Bajbangho
Kapitel 5
Stille und Einsamkeit
Kapitel 6
Wiedersehen
Kapitel 7
Die Stimme Peréns
Kapitel 8
Flammenschiff
Kapitel 9
Ungebetener Besuch
Kapitel 10
Caldéranische Gastfreundschaft
Kapitel 11
Ermanas Plan
Kapitel 12
Der Spiegel der Göttin
Kapitel 13
Goldener Falke
Kapitel 14
Die Novizin
Kapitel 15
Ein stilles Anwesen
Kapitel 16
Stürmische Flucht
Kapitel 17
Tumult im Hafen
Kapitel 18
Nächtliches Meer
Kapitel 19
Auf der Sturmlanze
Kapitel 20
Ringen mit Worten
Kapitel 21
Ein Wagnis
Kapitel 22
Folgenschweres Angebot
Kapitel 23
Heimathafen
Kapitel 24
Kriegsrat
Kapitel 25
Lilie und Falke
Kapitel 26
Feldzug
Kapitel 27
Zeremonie
DANKSAGUNG
DIE AUTORIN

 

 

WELTENBAUM VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

09/2024 1. Auflage

 

Flammenkönigin

 

© by Susanne Wolff

© by Weltenbaum Verlag

Egerten Str. 42

79400 Kandern

 

Umschlaggestaltung: © 2024 by Magicalcover

Druck: CreativWorkDesign

Lektorat: Julia Schoch-Daub

Korrektorat: Michael Kothe

Buchsatz: Giusy Amé

Autorenfoto: Privat Autorin

 

 

ISBN 978-3-949640-76-6

 

www.weltenbaumverlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

Susanne Wolff

 

 

Flammenkönigin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Björn

der ‚ja‘ gesagt hat.

Immer

und immer wieder.

 

Kapitel 1

Harte Entscheidung

 

 

»Bitte! Gebt mir die Rationen jetzt. Ich habe drei Kinder zuhause!«

Die schrille Frauenstimme vor dem Fenster ließ Suela zusammenzucken. Fragend sah sie vom Lagermeister zur Vorsteherin der Bürgerhalle und wieder zurück. »Was ist da draußen los?«

Der Lagermeister, der an der ihr gegenüber liegenden Tischseite saß, nestelte an dem Muschelarmband um sein Handgelenk. »Es gibt Gerüchte, dass Vorräte unterschlagen wurden.«

Scharf sog Suela die Luft ein. »Und das hast du mir verschwiegen?« Sie durchbohrte den Mann mit ihrem Blick.

»Vergebt mir. Ich wollte Euch nicht mit belanglosem Geschwätz ...«

Mit einer energischen Handbewegung schnitt sie ihm das Wort ab und erhob sich. Wie ein Schatten folgten ihr die Commandata und die beiden Soldatinnen ihrer Leibwache zum Fenster. Durch die von einem Blumenmuster durchbrochenen, geschnitzten Schlagläden konnte sie sehen, wie sich zwei Stockwerke unter ihr auf dem Platz vor dem Gebäude mehrere Dutzend Menschen versammelt hatten. Immer weitere kamen aus den Gassen dazu.

»Wir brauchen das Essen!«, rief die Frau.

Neben ihr hob ein Alter seinen Gehstock. »Ihr dürft uns die Vorräte nicht wegnehmen!«

»Wir haben genauso Hunger wie die Patrizier!«

»Die sind eh schon fett!«

Eine tiefe Furche grub sich zwischen Suelas Brauen. Warum glaubten die Menschen, ihnen würde für die Patrizier etwas weggenommen? Erneut traf ihr Blick den Lagermeister.

»Ich weiß wirklich nicht, wie die Leute darauf kommen, Miadonna. Das Gegenteil ist der Fall. Gestern erst kam eine Lieferung von einem der oberen Lager an. Ich hatte gehofft, damit würden die Befürchtungen sich zerstreuen. Aber ...« Hilflos hob er die Hände.

»Die Donna war hier. Ich habe sie gesehen.«, tönte es von draußen. »Es muss also noch etwas da sein.«

»Schnell, unternehmen wir was, bevor der Rest auch noch verschwindet!«

Ein frostiger Schauer überkam Suela. Würden die Menschen nun etwa gewaltsam in die Halle eindringen? Rasch trat sie vom Fenster zurück und fixierte nun auch die Vorsteherin der Bürgerhalle. »Wenn die Vorräte gestern eintrafen, wieso haben die Menschen ihre Rationen dann noch nicht erhalten?«

»Die Lieferung hatte sich verspätet. Wir mussten viele vertrösten.«

Schon wieder etwas, das man ihr verschwiegen hatte. Suela stemmte die Arme in die Seiten. »Dann sorgt jetzt dafür, dass die Leute erhalten, was sie brauchen! Na los!«

»Aber, Miadonna, wie sollen wir so viele auf einmal ...«

Die wütenden Rufe vor dem Gebäude wurden lauter. Dutzende Füße trampelten über Stein. Dann übertönte lautes Poltern die Geräusche. Es klang, als hätten die unten postierten Palastwachen hastig das Eingangsportal geschlossen.

Das bronzefarbene Gesicht ihrer Commandata Ermana war von Sorge zerfurcht. »Miadonna, ich denke es ist besser, wenn wir jetzt aufbrechen.«

Suela nickte, hielt den Blick jedoch weiter auf die Vorsteherin gerichtet. »Kennst du den Grund für die verspätete Lieferung?«

Die Frau schüttelte zerknirscht den Kopf.

»Verräter!«, schrie draußen jemand. »Oberstadtkriecher!«

»Wir lassen uns nicht ausrauben!«

»Bitte, Miadonna! Jetzt!« Ermanas harter Tonfall jagte einen eisigen Blitz durch Suelas Brust. Die Commandata nutzte ihn nicht oft, aber wenn sie es tat, dann aus gutem Grund.

»Führ mich zum Palast«, flüsterte sie. »Aber lass auch die beiden hier herausbringen.«

»Donnácias, Rückzug über den ersten Stock«, befahl Ermana und gab der Soldatin nahe der Tür ein Zeichen. »Informiere die Palastgarde auf der Treppe. Sie sollen sich zurückziehen und uns dabei Zeit verschaffen.«

»Jawohl, Commandata!« Schon hatte die drahtige Frau die Tür aufgerissen und war aus dem Raum.

Suela hörte sie mehrere knappe Befehle bellen, während der Rest ihrer Donnácias sich eng um sie scharte. Eine Geste von Ermana, dann setzten sie sich mit energischen Schritten in Bewegung.

Die genagelten Sandalen der Wächterinnen knallten auf den Mahagoniboden, als sie den Raum verließen. Suela steuerte die Balustrade an und blickte die zwei Stockwerke des Treppenhauses hinab. Vor dem untersten Treppenabsatz sah sie zwei Soldaten in den gelben Wappenröcken der Palastwache stehen, stocksteif und mit gekreuzten Lanzen, während vom Eingang gedämpft Rufe und Hämmern zu hören waren.

Holz krachte. Die Männer fuhren zusammen und packten die Lanzen mit beiden Händen. Dann schwappte der Tumult von draußen herein.

»Schnell, Miadonna.« Bestimmt zog Ermana sie von der Balustrade weg.

Suela packte ihren Arm. »Die Wachen dürfen nicht gegen unsere Bürger kämpfen.«

»Das werden sie nicht, Miadonna, ich verspreche es. Kommt jetzt.«

Sie erhaschte noch einen letzten Blick auf den untersten Treppenabsatz, auf dem die beiden Palastwachen nun Verstärkung von zwei Kameraden erhielten. Sie hatten ihre Lanzen ineinander verhakt und blockierten den Aufgang.

»Lasst uns zum Lagermeister!«

»Verhaftet diese Diebe!«

»Gebt uns unsere Rationen!«

Mit einem Mal kam Suela die orangerote Seide ihres Kleides trotz des lockeren Ausschnitts und der flatternden Ärmel viel zu eng vor. Sie ließ sich von ihrer Leibgarde an die Außenwand des Treppenhauses drängen und raffte mit beiden Händen die Röcke, als sie die Stufen hinabeilten. Zum Glück trug sie heute nicht die hochhackigen Schuhe, sondern ein paar eng anliegende Ledersandalen mit goldenen Riemen.

Das Geschrei unter ihnen schwoll an. Der Puls hämmerte Suela in den Schläfen und ihr Atem ging in viel zu heftigen Stößen. Sie erreichten die erste Etage und Suela hatte das Gefühl, der Zorn ihres Volkes würde auf sie zurasen wie eine Gewitterfront.

»Hier!« Ermana riss die erstbeste Tür auf und scheuchte die Gruppe hindurch. Wie lebendig gewordene Schatten huschten die Donnácias um Suela herum in den Raum. Die Commandata stieß einen Pfiff aus und zog die Tür hinter sich zu.

Dämmerlicht hüllte Suela ein, zusammen mit dem Geruch nach abgestandener, staubiger Luft und salzigem Schweiß.

Durch die geschlossenen Läden fielen nur ein paar dünne Lichtstrahlen und warfen das Muster der Blumenschnitzereien auf den Fußboden. Dennoch erkannte Suela diesen Raum. Sie war schon zwei, drei Mal mit ihrer Mutter hier gewesen, um einem Konzert beizuwohnen, wie es die Bürger der Unterstadt vor der Katastrophe regelmäßig veranstaltet hatten. Donna Cordana hatte die Musik geliebt. Und das Volk liebte sie dafür, dass sie sich gerne unter sie mischte.

Mein Volk leidet und ich verstecke mich vor ihm.

Der Tumult im Treppenhaus wurde immer lauter. Mehrere Schreie ließen Suela zusammenzucken. Etwas krachte, dann polterte es. Wieder Schreie, dann stürmten dutzende Füße die Treppen hinauf.

Suela hielt den Atem an und starrte ihre Commandata an, die direkt vor der Tür Stellung bezogen hatte, den blanken Säbel in der Hand.

Bitte greift sie nicht an! Kein Blutvergießen!

Der Aufruhr schwappte durch die erste Etage, drang durch den Spalt unter der Tür hindurch. Ermana nahm eine geduckte Haltung ein, angespannt und jederzeit bereit vorzuschnellen.

Suela hielt den Atem an und lauschte. Herrin Perén, lass sie vorbeirennen! Wenn sie uns hier finden, kommt es zum Kampf. Ihre Hand klammerte sich um das Medaillon an der goldenen Halskette, in das in feurig roter Emaille die Symbole der Göttin eingelassen waren: Flamme und Dreizack. Das vertraute Muster unter ihren Fingern gab ihr Halt.

Das Geschrei wurde ein allmählich leiser. Kurz hallte ein dünner, schriller Laut durch das Gebäude, dann waren wieder nur Stimmengewirr und Stampfen zu hören.

»War das das Signal?«, hauchte die Wache neben Ermana.

Die Commandata griff wortlos nach der Klinke und zog ganz langsam die Tür einen winzigen Spalt auf.

Suela biss sich auf die Unterlippe und die Finger um ihr Medaillon ballten sich zur Faust. Sie fixierte den dünnen Lichtfaden auf Ermanas Gesicht, der ihr rechtes Auge leicht aufblitzen ließ. Eine scheinbare Ewigkeit lang starrte die Commandata in dieses Licht, dann nickte sie knapp.

»Einen Überwurf für die Donna und dann los.«

Die enge Formation um Suela löste sich und sie atmete auf. Stoff raschelte, dann legte sich warme, feste Baumwolle um ihre Schultern.

Suela klammerte sich daran fest, als Ermana die Tür aufriss und sie zurück in den Flur scheuchte.

Einige Nachzügler hasteten die Stufen zum zweiten Stockwerk hinauf, ohne die Truppe zu bemerken, die in die entgegengesetzte Richtung huschte.

Sie sind alle oben, schoss es Suela durch den Kopf. Was machen sie mit dem Lagermeister und der Vorsteherin? Mit den Palastwachen? Sie schämte sich, dass sie erst jetzt an die anderen dachte. War das eine gute Donna?

»Hier entlang.« Weiter dicht an der Außenwand des Treppenhauses führte die Commandata sie hinunter ins Erdgeschoss.

Auf dem grau-schwarzen Sternenmuster des Steinbodens lagen Scherben und Schutt. Die beiden Flügeltüren standen weit offen. Durch sie konnte Suela sehen, dass sich vor dem Eingang der Bürgerhalle noch immer viele Menschen drängten.

»Schneller!«, zischte Ermana.

Suela grub ihre Finger in den Baumwollumhang um ihre Schultern und zog ihn noch enger um sich. Das dunkle Grau verdeckte größtenteils ihr orangerotes Kleid und erlaubte ihr, mit den Vulkansteinsäulen in der Eingangshalle zu verschmelzen. Trotzdem hatte sie das Gefühl, dass die Blicke von draußen sie fanden, sie aufspießten.

Fürchte ich mich etwa vor meinem eigenen Volk?

Erneut formierten die Donnácias sich eng um sie und steuerten das andere Ende der Halle an. Unter ihren Schritten knirschte Sand auf dem Boden, den der Wind durch die zersprungenen Bogenfenster hereingeweht hatte. Auch ein Jahr nach dem Vulkanausbruch waren die Scheiben noch nicht ersetzt worden.

Ermana packte das dunkle Holz des Rahmens und zog ihn auf. Suela schlüpfte hindurch und stand auf einer Kiesfläche inmitten von Palmen und verschlungenem Buschwerk. Hier wuchsen keine Früchte, nichts von Wert für die Menschen, nur Zierpflanzen, die seit einem Jahr niemand mehr gepflegt hatte. So waren die Kugelsträucher aus der Form geraten, verwelkte Blüten hingen an den Stauden und der Pfad war von Gras und Schlingkraut überwuchert.

Zielstrebig führte Ermana ihre Donna und die Leibwache diesen Pfad entlang. Schon nach wenigen Schritten schloss der Vorhang aus Pflanzen sich hinter ihnen und es wurde still um Suela. So still, dass sie das Zirpen von Grillen vernahm und das Zwitschern verborgener Vögel.

Welch trügerischer Friede.

Suela musste erneut ihre Röcke raffen und weit ausgreifen, um mit ihrer Commandata Schritt zu halten. Unter dem Schutz der hohen Palmen erreichten sie das Ende des Gartens. Durch den breiten Spalt in einer zerbröckelten Mauer konnten sie problemlos das Gelände des öffentlichen Bades betreten.

Trauer ließ Suelas Brust eng werden, als sie die gegeneinander verschobenen Vulkansteinfliesen und das dazwischen sprießende Unkraut erblickte. In den beiden Außenbecken stand noch Wasser. Es hatte sich gelblich verfärbt und verströmte den Geruch von Fäulnis. Seit dem Ausbruch waren die heißen Quellen beinahe versiegt.

»Du, sieh, ob die Straße frei ist.«

Die angesprochene Donnácia löste sich aus der Formation und rannte zwischen den Schwimmbecken hindurch zur jenseitigen Mauer. Das schmiedeeiserne Tor war aus den Angeln gefallen und stand halb offen. Durch Schlingkraut und Windenranken war nur ein Teil der Straße zu sehen.

Die Wache schlüpfte hinaus. Suela starrte auf die Lücke im Grün, durch die sie verschwunden war, und zog die Zehen in ihren Sandalen an. Es dauerte nicht lange, bis der dunkelgraue Wappenrock wieder zwischen dem Grün auftauchte. Die Wache und Ermana wechselten einige knappe Gesten, dann setzte der Trupp sich wieder in Bewegung.

Mit gesenktem Kopf, den grauen Umhang fest um sich und ihr auffälliges Kleid geschlungen, eilte Suela zwischen ihrer Leibgarde am öffentlichen Bad vorbei in eine der schmaleren Gassen, die parallel zur Hauptstraße den Berg hinaufführten.

Als Kind hatte sie sich immer gefragt, warum die besten Soldaten von Caldéran sich in diese schlichten Farben kleideten, anstatt das stolze Gelb und Rot ihrer Heimat zu tragen. Nun wünschte sie sich, sie hätte nie erfahren müssen, warum das so war.

Über die Schulter blickte sie zurück, wo an der Mündung der Gasse ein Teil des Platzes vor der Bürgerhalle zu sehen war. Immer mehr Menschen liefen dort zusammen und ihre Stimmen klangen hart und schrill.

Bei Peréns Feuer, dass die Menschen Angst um ihre Versorgung bekamen, hätte nie passieren dürfen! Was hatte sie nicht alles getan, um die von Lava zerstörten Felder und Plantagen zu ersetzen. Doch trotz des Ausbaus der Fischerei, der Tangplantagen und der neuen Äcker an den Küsten war es schwer, ein einst reiches und blühendes Reich zu versorgen.

Die Gasse verbreiterte sich und Suela begriff, dass sie bereits die Oberstadt erreicht hatten. Sie blieb stehen und ließ den dunklen Umhang von ihren Schultern gleiten. »Wir nehmen die Hauptstraße.«

Ermana stockte, neigte dann aber den Kopf. »Wie Ihr wünscht, Miadonna.«

Sie bogen ab und passierten mit Skulpturen und Büschen abgegrenzte Grundstücke. Aufwändige Steinmetzarbeiten schmückten die Ränder der Flachdächer, auf denen die in der ganzen Stadt charakteristischen Dachgärten thronten. Einige waren abgebrochen und nicht ersetzt worden. Manches Eingangsportal und manche Hauswand wies Risse auf.

Dann traten die Häuser zurück und gaben den Blick frei auf einen mit schwarzem Schotter bestreuten Platz, gesäumt von zwölf viereckigen Gedenksäulen. Die verdientesten Menschen der gesamten Historie Caldérans wurden hier am Exerzierplatz der Palastwache mit ihren Namen verewigt.

Die Hälfte der Säulen war umgestürzt oder abgebrochen gewesen, doch um der Geehrten Willen hatte Suela befohlen, den Schaden so gut wie möglich zu reparieren. Nun standen sie nicht mehr ganz in Reih und Glied und zwei Bruchstücke hatte man neben ihren Fundamenten aufgestellt. Doch die mit Goldfarbe eingelassenen Namen glänzten wieder in der Sonne.

Vor der Erinnerung an all die großen Namen fühlte Suela sich fehl am Platz, als wäre sie nur als Herrscherin verkleidet. Am liebsten hätte sie sich wieder in den Umhang verkrochen, doch sie war die echte Donna. Und daran darf ich niemanden zweifeln lassen.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie Ermana den Platz direkt in ihrem Rücken einnahm und die restlichen Wachen fächerförmig hinter ihr formierte.

Der schwarze Schotter blieb hinter ihr zurück, als sie die breite Freitreppe zu den Toren hinaufschritt. Die Stufen waren von einem hellen Beige, das ständig gefegt werden musste, um die schwarzen Fußspuren zu entfernen. Darüber erstrahlte der verschachtelt den Berghang erklimmende Palast in derselben Farbe. Er war das einzige aus diesem Stein erbaute Gebäude in ganz Caldéran. Material vom Festland, etliche Tagesreisen entfernt.

Die Palastwachen, die auf jedem Treppenabsatz Wache standen, nahmen Haltung an, als sie vorüberschritt. Weitere Männer bezogen am großen Tor Stellung und öffneten ihr die doppeltürige Mannpforte.

Die kupfernen Beschläge des zwei Stockwerke hohen Tores fingen die Strahlen der hoch stehenden Sonne ein und warfen sie auf Suela zurück. Zu gut kannte sie inzwischen den Effekt, den das helle Licht in Verbindung mit dem feurigen Rot ihres Kleides, den gelben Topasstickereien an Saum und Kragen und den eingewirkten Goldfäden hatte. Auch wenn die Soldaten am Tor sie des Öfteren so zu sehen bekamen, sah sie doch stets die Ehrfurcht in ihren Gesichtern. Dabei habe ich das gar nicht verdient.

Das Flammenschauspiel ihres Kleides wurde zu einem hintergründigen Glühen, als sie durch die Mannpforte in die Eingangshalle des Palastes trat. Die Halle war erfüllt von orangegoldenem Schein, den die bunt verglaste Kuppel hereingoss und der sich auf dem mit Goldstein gefassten Marmorboden spiegelte.

»Miadonna, Ihr seid zurück. Herrin Perén sei Dank!« Aus dem Schatten am hinteren Ende der Halle trat ein hoch gewachsener, schlanker Mann in tiefrot changierenden Roben, zwei Frauen in leichten, roten Kleidern folgten dicht hinter ihm.

»Hohepriester Canto.« Suela blieb abrupt stehen und zwang ein Lächeln auf ihre Lippen. Das Gefühl, für diese Halle und ihre kostbaren Gewänder nicht groß genug zu sein, kehrte auf einen Schlag zurück.

Canto hielt auf sie zu, wobei der Schleier an seiner spitzen, mit Rot und Gold bestickten Haube hinter ihm her wehte. Erst als Ermana sich neben ihr aufstellte, bremste er ab und hielt in gebührendem Abstand an.

»Ich hörte, es habe einen Aufruhr in der Unterstadt gegeben, und war in Sorge um Euch. Geht es Euch gut, Miadonna?«

Wie hatte er so schnell davon erfahren? Suela bemühte sich um eine unbekümmerte Miene. »Es geht mir gut, wie Ihr seht. Habt Dank. Allerdings bin ich unzufrieden mit der Verteilung der Vorräte. Anscheinend haben sie nicht stattgefunden, wie von mir angeordnet.«

»Das tut mir aufrichtig leid.« Canto senkte für einen Moment das Haupt. »Doch ich habe Euch gewarnt. Ihr habt die Patrizier mit Euren Befehlen brüskiert. Die wenigsten haben Euren Vorwurf, Nahrungsmittel zu unterschlagen, gut aufgenommen.«

Verborgen von den Falten ihres Kleides ballte Suela die Fäuste. »Ihr wisst besser als jeder andere, dass ich nie etwas Derartiges behauptet habe!«

»Und doch sind Eure Befehle so aufgefasst worden.« Wieder neigte Canto kurz den Kopf. »Aber wir bringen das wieder in Ordnung. Ihr habt erst vor wenigen Monaten Euer achtzehntes Lebensjahr vollendet und Euer erstes Jahr als Donna von Caldéran hat Euch viel abverlangt. Wir werden sie dazu bringen, das zu verstehen. Und bald habt Ihr selbst das nötige Gespür für die Feinheiten der Politik. Bis dahin stehe ich Euch jederzeit gerne mit meinem Rat zur Seite.«

Suela unterdrückte ein Seufzen. Sie hatte geglaubt, das Problem mit den Vorräten selbst in den Griff zu bekommen. Doch vielleicht hatte Canto recht. Auch wenn die Patrizier ebenso ihre Untertanen waren wie alle anderen Bürger Caldérans, der Hohepriester war im Umgang mit ihnen einfach besser als sie. »Trefft mich in einer Stunde in meinem Arbeitszimmer. Ich will mir Eure Meinung anhören.«

Ein feines Lächeln breitete sich auf Cantos dunklen Lippen aus und er verbeugte sich tief.

 

Mit einer Schüssel Gemüsebrühe in der Hand stand Suela am Fenster ihres Gemachs und betrachtete den schwarzen Fluss erstarrter Lava, der den westlichen Teil von Porto Caldéra unter sich begraben hatte. Auch die Gemächer ihrer Eltern im Westflügel des Palastes hatten die steinernen Wellen verschluckt. Die Erinnerung schmerzte wie eine offene Wunde in Suelas Brust.

Womit hatten Don Jerendo II und Donna Cordana die Herrin Perén so sehr erzürnt, dass sie das Reich so hart bestrafte? Dem Paar und seinem ältesten Sohn das Leben nahm? Suela schluckte gegen das Brennen in ihrer Kehle. Warum hatte die Göttin nicht wenigstens ihren Bruder verschont? Wie sehr sie ihn vermisste, sein verschmitztes Lächeln, seine ungezwungene Art und seine manchmal so tiefe Nachdenklichkeit.

»Miadonna, Canto wartet vor Eurem Arbeitszimmer. Darf ich Euch noch schnell das Haar legen?«

Suela tupfte sich mit den Fingern über die Wange und bog die Mundwinkel nach oben, bevor sie sich umdrehte. »Tu das, Licia.«

Sie nahm in dem mit gelbem Samt gepolsterten Sessel Platz und schloss die Augen, während ihre Zofe um sie herumschwirrte, ihre Locken auskämmte und wieder feststeckte.

Schon nach wenigen Minuten reichte die junge Frau ihr einen goldenen Handspiegel in Form einer Sonne.

Die topasbesetzten Haarnadeln bildeten einen Strahlenkranz und hielten mehrere Strähnen wie ein Diadem geformt auf ihrem Haupt. Einzelne Locken kringelten sich hinter ihren Ohren herab und betonten ihren Hals mit dem Medaillon der Göttin.

»Es ist perfekt, Licia. Danke.«

Ihre Zofe schob Suelas Füße in ein Paar rote Samtpantoffeln. Nach dem harten Marsch durch die Stadt brannten ihre Sohlen noch immer, doch der weiche Stoff machte es erträglich. Sie erhob sich und als Licia ihr öffnete, trat sie in kerzengerader Haltung durch die Verbindungstür in ihr Arbeitszimmer.

Ein ausladender Mahagonischreibtisch, fast so groß wie der Besprechungstisch in der Bürgerhalle, beherrschte den Raum. Obwohl hohe Bogenfenster das Nachmittagslicht einließen und die Diener zusätzlich orangefarbene und gelbe Laternen entzündet hatten, kam Suela der Ort düster vor.

Vielleicht lag es an den vielen Sorgen und Nöten, die sie hier drin schon gewälzt hatte. Vielleicht war es der schwere Brokat an der Wand. Einer der Behänge zeigte in Gold den Flammenberg und den Dreizack, mit dem die Göttin Caldéran durch das Meer emporgestoßen hatte. Auf den anderen waren die Schätze des Reiches abgebildet: geschliffene Edelsteine, Münzen und Barren aus verschiedenen Metallen und ein Korb mit Paprika, Mango, Maiskolben und anderen Früchten.

Der prächtigste Wandbehang aber hing hinter dem Schreibtisch direkt neben der Tür, durch die Suela hereingekommen war. Der strahlend rot-gelbe Brokatstoff in ihrem Rücken trug als Goldstickerei das Wappen Caldérans – einen Kranz aus stilisierten Flammen in Form einer Sonne.

Wenn sie hier vor dem Schreibtisch stehenblieb, umgab der goldene Sonnenkranz des Wappens sie wie ein Glorienschein.

Suela wandte den Blick zu der Palastwache, die an der gegenüberliegenden Tür auf Posten stand. »Canto soll eintreten.«

Der Soldat verbeugte sich und öffnete.

»Miadonna!« Der Hohepriester kam schwungvoll herein und neigte in einer fließenden Bewegung den Oberkörper. »Ich freue mich, dass Ihr meinen Rat anhören wollt.«

Seinen hoch gewachsenen, schlanken Körper umspielte die Robe aus mehreren Seidenschichten in unterschiedlichen Rottönen und erinnerte an einen Wechsel aus Schatten und Glut. Der Schleier an der Rückseite seiner spitzen Kappe bedeckte nur einen Teil des kinnlangen, schwarzen Haars, das stets wie frisch gebürstet glänzte. Es betonte seine ungewöhnlich helle Haut, die wirkte wie Tee mit viel Milch. Cantos tiefbraune Augen, die in krassem Kontrast zu seinem hellen Gesicht standen, erwiderten ihren Blick geduldig. Dabei strahlte er die Art von ruhiger Stärke aus, die Suela schon oft Vertrauen und Zuversicht eingeflößt hatte.

Auch dieses Mal löste sich ihre Anspannung zusehends. »Wie Ihr wisst, geht es um die Verteilung der Vorräte.« Sie ließ sich auf den mit rotem Samt gepolsterten Lehnstuhl nieder, der im Sitzen mehr als einen Kopf über sie hinausragte. Mit einer Geste bat sie Canto, ihr gegenüber Platz zu nehmen.

Er ließ sich auf dem deutlich schlichteren und kleineren Stuhl nieder und konnte trotzdem noch fast väterlich auf sie herabsehen. »Erzählt mir, was heute Vormittag in der Unterstadt passiert ist, Miadonna.«

Suela unterdrückte ein Seufzen und schilderte, wie sie die Bürgerhalle besucht hatte, um die Verteilung der Vorräte nach ihren Anweisungen zu überprüfen und die Sorgen der Bewohner des Hafenbezirkes zu zerstreuen. Und wie all das fürchterlich schief gegangen war. »Ich begreife nicht, wie die Menschen denken konnten, ich wollte ihnen das Essen wegnehmen und den Patriziern geben!« Sie rang die Hände. »Und dann kam zu diesen Gerüchten noch die Verspätung der Lieferung. Fast, als hätte es jemand so geplant.«

»Wollt Ihr etwa andeuten, jemand arbeite gegen Euch? Das wäre Hochverrat.«

Cantos bestürztes Gesicht verunsicherte sie. »Das wäre schrecklich. Und ich bete, dass ich mich irre, aber ...«

»Niemand würde es wagen, sich gegen die Donna zu stellen.«

»Seid Ihr sicher?« Suela presste die Lippen aufeinander. Wie konnte sie davon ausgehen, dass ihr gesamtes Volk stets lückenlos hinter ihr stand?

»Ihr habt getan, was Ihr konntet. Die Menschen wissen das.«

»Mag sein.« Sie knetete unter der Tischplatte ihre Finger. »Aber war das genug?«

»Ihr folgt dem Beispiel Eurer ehrwürdigen Großeltern und Eltern. Sie waren gute Herrscher, unter denen Caldéran reich erblühte. Dennoch, wir dürfen nicht ignorieren, dass die Göttin erzürnt wurde.«

Seine Worte trafen sie ins Mark. Suela schluckte und verschränkte ihre Hände noch fester ineinander. »Sprecht weiter, Mifuego Canto.«

»In den vergangenen Jahrzehnten wuchsen unsere Gehöfte und Ställe. Die Kleidung der Städter wurde ebenso feiner wie die Waren auf den Märkten. Ich bin sicher, die Göttin war erfreut darüber. Doch dann ...? Denkt an die vielen Sänften, die in den Straßen unterwegs waren. Oder die Vergnügungsschiffe. Wie viele Bürger von Porto Caldéra hatten an den Hängen des Vulkans ein Lusthäuschen?«

Ein Schauer rieselte durch Suelas Glieder. Von diesen Häuschen war nicht eines stehen geblieben, als der Vulkan sich geschüttelt und seine glühende Lava ausgespien hatte. Wer an jenem Tag dort draußen gewesen war, hatte nicht überlebt.

Es stimmte. Sinnesfreuden und Lustbarkeiten hatten sich in Caldéran zunehmend ausgebreitet. Zu vielen Festen und Zerstreuungen hatten ihre Eltern selbst in den Palast eingeladen. Hatten sie so die Zerstörung heraufbeschworen? »Was ratet Ihr mir nun, Mifuego?«

»Ihr müsst Euch auf Caldérans alte Stärken besinnen.«

Bitterer Geschmack breitete sich auf Suelas Zunge aus. Das sagte er nicht zum ersten Mal. »Die ‚alte Stärke‘, von der Ihr sprecht, war es, durch die Segel mit der Flammensonne Angst und Schrecken zu verbreiten. In diese Zeit will ich nicht zurückkehren.«

»Das verstehe ich, Miadonna. Aber welche Wahl habt Ihr für Euer Volk? Ich betrachte die Menschen Caldérans als meine oberste Pflicht. Lange vor irgendwelchen Fremden an fremden Gestaden.«

Wollte er damit andeuten, bei ihr wäre es anders? Suelas Hände unterm Tisch schmerzten zunehmend unter dem Druck. Natürlich galten ihre Sorgen zuallererst ihrem Volk. Doch was er vorschlug, war einfach falsch! »Die Lektion der Göttin ist sicher nicht, in die Piraterie zurückzufallen und uns einfach mit Gewalt zu nehmen, was wir brauchen!«

Canto zog den Kopf zurück und räusperte sich. Er schien einen Moment zu brauchen, um ihren Ausbruch zu verdauen, doch dann kehrte das verständnisvolle Lächeln auf seine Züge zurück. »Die Lektion der Göttin ist Stärke, Wachstum und Überleben«, erwiderte er sanft. »Das war sie schon immer.«

Suela reckte das Kinn vor. »Wir werden überleben. Indem wir weiteres Felsland urbar machen, Wasserplantagen anlegen und die Fischgründe ausweiten.«

»All das sind gute und weise Strategien, Miadonna. Doch bis die Erträge ausreichend steigen, werden viele Caldéraner sterben. Die Trockenzeit naht. Vorfälle wie heute früh werden sich häufen. Und schlimmer werden.«

Die ängstlichen und wütenden Blicke der Unterstädter drängten in Suelas Gedanken und ihr Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Sie hatten die Patrizier beschuldigt. Wenn weitere Lieferungen sich verspäteten, würden sie sich gegen die Oberstadt erheben? Und wie lange ertrugen die Menschen auf dem Land noch klaglos die steigenden Abgaben? Mit der Beute aus anderen Reichen wäre zumindest Porto Caldéra mit einem Schlag versorgt.

Suelas Brust bebte, als sie sich gegen die Enge stemmte und Atem holte. Ihre Stimme klang viel zu dünn in ihren Ohren. »Glaubt Ihr wirklich, die Göttin will, dass wir ausziehen und unsere Nachbarn überfallen?«

»Unsere Schiffe haben den Ausbruch recht glimpflich überstanden. Ein Zufall?« Canto legte den Kopf schief.

Unter dem Blick seiner dunklen Augen wurde Suela heiß. »Ich verstehe nichts vom Kampf. Wie könnte ich ...«

»Unter Euren Leuten gibt es einige Fähige. Es wird ihnen eine Ehre sein, im Dienste Caldérans auszuziehen.«

Suela leckte sich über die trocken gewordenen Lippen. Schwindel erfasste sie und sie griff nach der Tischkante, während jedes weitere Wort in ihrer Kehle erstarb.

»Die Herrin ist mit den Mutigen.« Canto lehnte sich vor, griff nach ihren Händen und senkte die Stimme. »Lasst uns wieder ein Volk sein, dessen Namen man nicht leichtfertig ausspricht. Rettet uns aus unserer Not und erhebt uns im Antlitz der Herrin.«

»Ich werde darüber nachdenken.« Allein dieses Zugeständnis stürzte sie in ein kaltes, tosendes Meer. Cantos warmer, fester Händedruck erschien ihr darin plötzlich wie der einzige Halt. »Ich war schon lange nicht mehr bei einer Eurer Andachten, Mifuego. Heute Abend möchte ich ihr wieder beiwohnen.«

»Es ist weise, vor einer solchen Entscheidung die Gegenwart der Herrin zu suchen. Sie wird Euch auf den richtigen Weg leiten.« Canto lächelte. »Mit Eurer Erlaubnis widme ich mich sogleich den Vorbereitungen für die Andacht.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und verbeugte sich. Suela beobachtete, wie er den Raum verließ, und rang mit dem Tosen in ihrem Innern.

 

Die Palmwedel troffen noch von dem letzten, für diese Jahreszeit typischen Sturzregen, als Suela durch den Park zwischen Palast und Tempel schritt. Die Wolken verzogen sich ebenso schnell, wie sie gekommen waren, und sattgoldenes Abendlicht brach sich in den unzähligen Tropfen.

Als wäre die Göttin zufrieden mit mir.

Suela rieb sich die Arme unter der eigentlich schwülen Landbrise. Flankiert von Ermana und einer weiteren Donnácia erklomm sie die seitlichen Stufen zu der Terrasse, auf der die Priesterschaft die allabendlichen Andachten zu Ehren Peréns abhielt. Unter ihr hatten sich bereits die Gläubigen aus allen Teilen der Stadt versammelt und ihre Stimmen verwoben sich zu einem rhythmisch an- und abschwellenden Raunen.

Der Umhang, der mit zwei sonnenförmigen Goldspangen an ihre Schultern geheftet war, bauschte sich, als sie die Plattform erreichte. Der Schein der sinkenden Sonne umfing sie und Suela spürte eine fast zärtliche Wärme.

Als hätte Canto nur auf sie gewartet, wandte er sich um und neigte das Haupt. Gleich darauf folgte die Priesterschaft seinem Beispiel.

Sie trat vor an die Kante, hinter der es mehrere Meter steil abwärts ging, und hob grüßend die Hand. Das Murmeln der versammelten Menge antwortete ihr.

In diesem Moment erdröhnte eine Trommel. Der Schlag vibrierte selbst in Suelas Bauch. Die rotgoldene Sonnenscheibe berührte den Horizont und die Andacht begann.

Canto trat nach vorne, die Arme weit ausgebreitet. »Herrin Perén, du wachst über uns zu jeder Zeit. Ein weiterer Tag in deiner Obhut neigt sich dem Ende zu. Wir bitten dich, sei bei uns auch in der Nacht. In allen Tagen und Nächten, die da kommen.«

»Herrin Perén«, intonierte Suela gemeinsam mit der Menge die rituellen Worte, »wache über uns.« Und leite mich zu der richtigen Entscheidung für mein Volk.

»Im tiefen Rot der Sonne offenbart sich das Wohlgefallen der Herrin an unserem heutigen Tagewerk.« Canto streckte die Hände vor, als wolle er den glühenden Feuerball am Horizont umarmen.

Andächtiges Schweigen breitete sich aus. Die Wellen und die Wolken am Himmel reflektierten die satten Farben, während die leuchtende Scheibe im Meer versank. Findet auch mein Tagewerk deinen Gefallen, Herrin?Was habe ich in deinen Augen richtig gemacht?

Es verging nur kurze Zeit, bis das Lichtspiel verebbte und das samtige Blau der Nacht den Himmel einnahm.

Erneut schlug die Trommel, dieses Mal in einem mitreißenden Wirbel. Zu beiden Seiten der Terrasse trugen Priester Fackeln herbei und entzündeten bereitstehende Feuerschalen. Kurz darauf war die gesamte Fläche in goldenes Leuchten getaucht. Im Hintergrund glühte der Kraterrand des Vulkans.

Eine Priesterin mit flatterndem Kleid lief im Kreis, sprengte mit Duftöl versetztes Wasser in die Runde und hinunter auf die versammelten Menschen. Ein Mann warf Räucherwerk in die Feuerschalen, bis bläulicher Rauch sich in alle Richtungen ausbreitete.

Suela gab sich der leicht berauschenden Wirkung der Substanzen hin, die ihren Geist für die Göttin öffnen sollten. Der Rhythmus des Trommlers brachte ihr Blut in Wallung und pulsierende Wärme legte sich auf ihre Haut.

Sechs Priester, drei auf jeder Seite, warfen ihre Roben von sich und sprangen nur in Pluderhosen, mit schweiß-glänzenden Oberkörpern in die Mitte und begannen einen wilden, akrobatischen Tanz.

Zum Schlag der Trommel gesellte sich ein volltönendes Klangrohr und eine Schar Priesterinnen fiel mit ein. Sie drehten sich und wirbelten in ihren flatternden Kleidern umher, ohne dabei sichtbar den Boden zu berühren.

Jetzt führten die Tänzer brennende Stäbe und schwangen sie in angedeutetem Hiebwechsel gegeneinander. Klatschen, Stampfen und Johlen der Menge begleiteten die Darbietung.

Suela spürte, wie die Energie von den Priesterinnen und Priestern abstrahlte und ihr tief unter die Haut drang. Wir sind ein starkes Volk. Ein Volk von Kämpfern. Ein durchdringendes Prickeln in ihrem Kopf begleitete den Gedanken.

Ist dies dein Wille, Mutter Perén? Ist dies der richtige Weg für deine Kinder?

Der Rhythmus der Instrumente wurde schneller, drängender. Es schien Suela, als tanzte das Feuer in den Schalen ebenso mit wie das Glühen des Vulkans. Die Trommel hob zu einem heftigen Wirbel an. Ein Schlag wie Donner, dann Stille. Die Priesterinnen und Priester sanken zu Boden.

Ihr eigener Atem drang an Suelas Ohren, als hätte sie selbst wild getanzt. Schweiß perlte über ihre Haut und ihr war, als schlossen sich zwei feurige Arme um sie.

»Ich sehe ihr Leuchten in Euren Augen, Miadonna.« Cantos tiefe, sanfte Stimme drang von der Seite an ihre Ohren. Er blieb so dicht neben ihr stehen, dass seine Robe den Saum ihres Kleides wie ein Gluthauch streifte. »Ihr seid zu einer Entscheidung gelangt?«

Tief holte Suela Atem und ihre Brust zitterte dabei. »Das bin ich.«

Auffordernd nickte der Hohepriester ihr zu und deutete mit einer Geste auf die Versammlung unter ihnen.

All ihre Zweifel waren mit einem Mal weggewischt. Sie reckte das Kinn vor und trat an die Felskante. »Bürger von Caldéran, die Herrin wünscht, dass ihre Kinder stark und tapfer sind. Nach ihrem Zorn und nach der Prüfung, die sie uns auferlegt hat, haben wir uns bewiesen. Wir sind nicht verzweifelt, sondern haben gekämpft, uns unser Überleben verdient.«

Flüstern und Murmeln schwappte durch die Menge.

»Ich habe viel darüber nachgedacht. Im Gebet ebenso wie im Gespräch mit Mifuego Canto. Nun weiß ich, es ist an der Zeit, den nächsten Schritt zu tun. Noch stärker zu werden und noch weiter auszugreifen.«

Das Raunen schwoll an und umwogte Suela wie die unruhige See. Sie holte tief Luft und hob ihre Stimme. »Einst waren wir mächtige Seefahrer und unsere Schiffe brachten reiche Güter nach Porto Caldéra. So soll es wieder werden.«

Der vielstimmige Chor steigerte sich zu einem Brausen. Aus Begeisterung oder aus Furcht? Suela versuchte, in den Gesichtern zu lesen, doch die Gefühle der Menschen schienen so gemischt wie bis eben noch ihre eigenen.

Canto trat neben sie und hob die Arme. »Perén war stets mit uns, wenn wir in See stachen. Auch jetzt lächelt sie auf den Plan der Donna herab. Die Herrin will, dass wir zu unserer alten Stärke zurückfinden. Dann wird sie uns segnen.«

»Gepriesen sei die Göttin!«, rief eine Priesterin vom anderen Ende der Terrasse.

»Sie sei gepriesen«, antworteten ihre Brüder und Schwestern.

Als wäre ein Funke auf einen Strohhaufen übergesprungen, brach die Versammlung in Jubel aus.

»Gepriesen sei Perén!«

»Hoch Donna Suela!«

»Auf Caldérans Stärke!«

Suela bewegte die Lippen, doch es kam kein Ton mehr heraus. Die berauschende Wärme auf ihrer Haut war verflogen und sie musste ein Frösteln unterdrücken.

Sie wollen es. Die Göttin will es. Selbst Canto hat mir dazu geraten. Also werden wir unsere Schiffe rüsten und ausziehen, um andere Gestade zu überfallen.

Der Stich, den dieser Gedanke ihr versetzte, drängte sie bis in den hintersten Winkel ihres Geistes zurück.

 

Kapitel 2

Leuchtfeuer

 

»Mein Lord, wenn wir unsere Vasallen nicht unterstützen, werden sie uns für schwach halten. Und dann machen sie uns Schwierigkeiten, sobald sie die Möglichkeit dazu haben.« Heerführer Arkon spießte die Landkarte mit dem Finger förmlich auf.

Arnemon fixierte den Grenzfluss zu ihrem westlichen Nachbarn mit gefurchter Stirn. Wenn Daramon schwach wirkte, war dies nicht der einzige Konfliktherd, der wieder aufflammen konnte.

Flottenführer Pieran fuhr sich durch das feuerrote Haar und verzog das Gesicht. Die Narbe, die seine rechte Gesichtshälfte unter der Augenklappe hindurch zerteilte, trat dabei wie ein tiefer Graben hervor. Er bewegte die Schultern, als hätte er sich noch immer nicht an die neue Uniformjacke mit den Abzeichen des Befehlshabers über die Flotte gewöhnt. Sein Tonfall verriet jedoch keinerlei Unsicherheit. »Wenn wir Schiffe von Daramons Küste abziehen, machen wir uns selbst verwundbar.«

Arnemon hob die Brauen. »Seit der Flutwelle vor einem Jahr gibt es keine Flotte, die uns noch gefährlich werden könnte.«

»Zumindest keine, von der wir wissen«, erwiderte Pieran.

Arkon rümpfte die Nase. »Es geht hier um ein paar räudige Piraten. Oder habt Ihr wieder irgendwelches Seemannsgarn aufgeschnappt?«

Pieran holte Atem, rieb sich dann aber über die Augenklappe und drehte sich zur Seite.

Arnemon trommelte mit den Fingern auf den Kartentisch. »Ja, Flottenführer?«

Pieran rieb sich den Nacken, bis sein rotes Haar in alle Richtungen abstand. »Es gibt Gerüchte, es seien keine gewöhnlichen Piraten. Angeblich haben sie einen Meeresdrachen bei sich, der Feuer speit.«

»Das glaubt Ihr doch nicht im Ernst!«, stieß Arkon hervor.

Mit einem knappen Wink gebot Arnemon ihm zu schweigen. »Was könnte die Menschen dazu veranlassen, solch eine Geschichte zu erzählen?«

»Wahrscheinlich das, was Piraten immer tun. Plündern und brandschatzen«, wich Pieran aus.

Das war möglich. Trotzdem ließ Arnemon das Gefühl nicht los, es könne mehr dahinter stecken. »Sammelt so viele Informationen darüber wie möglich«, entschied er. »Pieran, lass vier Galeonen klar machen, die an der Küste patrouillieren. So zeigen wir Stärke und sind gleichzeitig auf weitere Bedrohungen vorbereitet.«

»Wie Ihr wünscht, mein Lord.« Die beiden Kommandeure verbeugten sich gleichzeitig.

Arnemon verließ den Raum und folgte mit langen Schritten dem Gang durch die Burg. Es gab noch etwas anderes, das er in Angriff nehmen musste. Nach wie vor war er unsicher, ob das Volk von Daramon dazu bereit war. Doch die jüngsten Ereignisse mahnten ihn, dass die Zeit des Abwartens vorüber war. Er trat hinaus auf den Wehrgang und hieß mit einem tiefen Atemzug den frischen Wind willkommen. Dann wandte er sich zu der allgegenwärtigen Begleitung seiner Leibwachen um. »Ich möchte mit Prinzessin Maeva sprechen.«

 

*

 

»Ihr meint wirklich, ich soll dort hinauf gehen?« Maeva deutete auf die Steintreppe, die zum Wehrgang von Burg Daramon führte.

Die schwarz gerüstete Leibwache nickte. »Lord Arnemon erwartet Euch auf dem Westturm.«

Warum war der Lord hier draußen und nicht in seinem Arbeitszimmer? Maeva hob den Saum des dicht gewebten Leinenkleides und erklomm die Stufen. Auch nach einem Jahr in Daramonhafen hatte sie sich noch nicht an die schwere Kleidung gewöhnt, ganz gleich wie viel besser sie vor dem stürmischen und kalten hiesigen Wetter während der Regenzeit schützte.

Als sie den Wehrgang erreichte, blies eine Böe ihr so heftig entgegen, dass sich ihr schwarzer Haarknoten innerhalb von Augenblicken auflöste. Mit beiden Händen versuchte sie, ihre flatternden Strähnen einzufangen, als sie Lord Arnemon erblickte, der über den Zinnen des Westturms lehnte und zu ihr herüber sah.

Hastig drehte sie die im Nacken zusammengefassten Haare wieder auf und steckte sie mit der Haarnadel fest. Dann zog sie die langen Ärmel des blauen Kleides bis über ihren Handrücken und ging auf den Herrscher von Daramon zu.

»Ihr habt mich rufen lassen, Lord Arnemon?«

Er musterte sie aufmerksam. »Ist Euch kalt, Prinzessin? Wir können auch hineingehen.«

Maeva schlang die Arme umeinander und schüttelte gleichzeitig entschieden den Kopf. Sie war kein zerbrechliches Prinzesschen, sondern eine Tochter Bajbanghos, eine Banjhee, ein Kind des Sturmvaters. Ganz sicher würde sie nicht vor einer steifen Brise und etwas Nieselregen die Flucht ergreifen.

»Wie Ihr wollt.« Der Hauch eines Lächelns huschte über seine Lippen.

Dass er nicht fror in dem steifen Ornat, das selbst seinen Hals fest umschloss, konnte sie sich gut vorstellen. Wie er es allerdings schaffte, dass sein schulterlanges, braunes Haar fast vollkommen in dem fest gebundenen Zopf verblieb, war ihr ein Rätsel. Nur zwei dünne Strähnen links und rechts von seiner Stirn flatterten im Wind.

»Wie geht es Meisterin Liann, ihrem Gemahl und ihrem Sohn?«

Maeva senkte den Blick. Ihr letzter Kontakt zu Liann war schon eine ganze Weile her.

In den ersten Wochen hatte sie mit Hilfe ihrer Windmagie häufig die Verbindung zu ihrer Schwester gesucht. Doch irgendwann hatte sie Liann nicht weiter mit ihrem Heimweh belasten wollen. Als junge Meisterin und Mutter hatte sie auch so genug Sorgen. Außerdem wollte sie stark sein.

»Es geht ihnen gut«, antwortete sie ausweichend. »Gegen Ende der Regenzeit ist auf den Inseln immer sehr viel zu tun.«

Lord Arnemon hielt ihren Blick fest, als erwarte er, dass sie weiter sprach, doch sie blieb stumm.

Schließlich nickte er knapp. »Ich freue mich, das zu hören, Prinzessin.«

»Warum nennt Ihr mich immer noch so, Lord Arnemon? Ihr wisst genau, dass ich keine Prinzessin bin.«

Er zog eine Braue hoch und ein Schatten huschte durch seine lebhaften, braunen Augen. »Wem gegenüber habt Ihr das noch erwähnt?«

Sie verzog das Gesicht. »Niemandem.«

»Gut.« Die Züge des Lords entspannten sich. »Ich habe einiges über Eure Heimat gelernt, Maeva. Und mir ist klar, dass Meisterin Liann Euch nicht als ihre Schwester bezeichnet hat, weil Ihr blutsverwandt seid.«

»Wir sind Banjhee-Schwestern.« Immerhin verzichtete er jetzt auf diesen Titel.

»Ihr solltet inzwischen jedoch auch einiges über Daramon wissen. Sicher versteht Ihr, dass Euer Status als Friedenspfand nur gesichert ist, so lange Ihr die Prinzessin der Perleninseln seid.«

»Eine Geisel, mit der man Liann jederzeit erpressen könnte.« Maeva bleckte die Zähne. Auch wenn es ihr in dem knappen Jahr, dass sie nun schon auf Burg Daramon lebte, nie an etwas gefehlt und jeder sie gut behandelt hatte, diese Tatsache schmeckte noch genau so bitter wie am ersten Tag.

»Eure Rolle hier ist nach wie vor entscheidend für den Frieden zwischen unseren beiden Reichen. Das wisst Ihr genauso gut wie ich.« Behutsam legte der Lord ihr eine Hand auf den Arm. Seine Berührung sandte einen Schauer durch ihre Glieder. So vertraulich hatte sich Daramons Herrscher ihr gegenüber noch nie gegeben.

Ja, sie wusste um die Bedeutung ihrer Anwesenheit auf der Burg. Sie selbst hatte sich dafür angeboten, damit Liann nach Hause zurückkehren und dort ihr Kind gebären konnte. Damit sie bei ihrem Geliebten Marcian sein konnte, der nun als Verräter in Daramon ein geächteter Mann war.

Nach allem, was sie während der letzten Monate gehört hatte, waren Lord Arnemon und der ehemalige Heerführer Marcian enge Freunde gewesen. Man munkelte, dass dies der einzige Grund war, warum der Verräter noch lebte. Verräter ... Maeva schüttelte sich. Marcian hatte Liann aus dem Kerker unter der Burg befreit, als diese darin zu sterben drohte. Er hatte ihr Leben gerettet. Das Leben der zukünftigen Herrscherin des Landes, mit dem Daramon damals im Krieg gelegen hatte. Dass die Feindseligkeiten nur deshalb hatten beendet werden können, schien niemanden zu interessieren.

Der Lord interpretierte ihre bittere Miene falsch. »Ich weiß, das ungewohnte Wetter macht Euch zu schaffen. Und diese dicken Mauern.« Er lächelte schief und klopfte auf die vom Regen dunkelgrauen Zinnen. »Manchmal ist dieser Steinhaufen auch mir zu viel.«

Maeva hob den Kopf. »Sind wir deswegen hier draußen?«

»Ihr habt mich durchschaut.« In deinen braunen Augen blitzte es kurz auf, bevor er wieder ernst wurde. »Aber lasst mich zur Sache kommen. Ich bin sicher, es verbessert Eure Stimmung ... Prinzessin.«

Sie verengte die Lider, doch ihre Mundwinkel zuckten. »Wie Ihr wünscht, Lord Arnemon.« Sie vollführte einen übertrieben höflichen Knicks.

Ein dunkler Laut, halb Lachen, halb Grollen drang aus der Kehle des Lords.

Maeva schluckte. Scherzte sie gerade wirklich mit dem Herrscher von Daramon?

Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, ergriff er wieder das Wort. »Denkt Ihr, Bajbangho und Meisterin Liann sind bereit, einen Friedensvertrag mit Daramon zu schließen?«

Friedensvertrag! Das Wort durchfuhr Maeva wie brennender Pfeil. Ein Jahr lang wartete sie nun schon darauf! »Warum kommt Ihr damit erst jetzt? Gab es so viele wichtigere Dinge zu tun?«

Der warme Glanz in den Augen des Lords wich Düsternis und sofort bedauerte Maeva ihre Worte. Ihn so anzugehen, war mehr als unangemessen. »Bitte verzeiht, ich ...«

Der Lord unterbrach sie mit einem schweren Seufzer. »Es gibt Dinge, die Zeit brauchen, Maeva. Allen voran Menschen. Die Auseinandersetzung mit den Perleninseln hat uns viel gekostet. Manches davon musste erst heilen. Oder vergisst man auf Euren Inseln so schnell?«

»Wahrscheinlich nicht.« Maeva senkte den Kopf. »Trotzdem, ich dachte, Ihr würdet viel früher mit Liann darüber sprechen.«

»Ich weiß, welche Haltung Bajbangho zu Verträgen hat. Vor allem zu Verträgen mit Daramon.« Er stieß die Luft aus und wischte sich die flatternden Strähnen aus der Stirn. »Deshalb möchte ich zuerst Eure Meinung hören.« Er zog ein gefaltetes Pergament aus der Tasche seiner steifen Jacke und reichte es ihr.

Sie begriff, dass der Lord gerade alles andere tat, als den Gebräuchen Daramons zu entsprechen. Ehrfürchtig nahm Maeva das Papier entgegen und begann zu lesen.

»Ich nehme an, der ausschließliche Verkauf unserer Perlen an Daramon steht nicht zur Diskussion?« Eine überflüssige Frage. Bajbanghos Perlen waren der einzige Grund, weshalb Daramon damals versucht hatte, seinen Einfluss bis dorthin auszudehnen.

Arnemon deutete auf die diesem Passus folgende Zeile. »Im Gegenzug dafür könnt Ihr von Daramon alle Waren ordern, die ihr wünscht, und wir werden sie beschaffen.«

Maeva schürzte die Lippen. »Hier steht nichts über den Preis.«

»Darüber müssen wir eine separate Vereinbarung schließen. Ich denke, wichtig ist Eurer Meisterin vor allem, dass wir abgesehen von Staatsbesuchen nur Zivilisten zu Euch schicken. Händler und wenn sie es will, auch Handwerker.«

Langsam nickte Maeva. »Ich denke, es ist ein guter Anfang.«

Der Lord neigte leicht den Kopf und nahm das Pergament wieder an sich. Der warme Ausdruck war in seine Augen zurückgekehrt. »Möchtet Ihr jetzt vielleicht einen warmen Tee od...«

Ein Hornsignal schmetterte vom Hafen herauf. Maeva fuhr herum und beugte sich neben dem Lord über die Zinnen.

Nieselregen und Dunstschwaden trübten die Sicht auf den Fjord und die Häuser, die sich bis hinunter zum Wasser an den Hang schmiegten. Das trübe Bild wurde durchbrochen von einer hell orangenen Flamme, die am äußersten Wehrturm der Hafenmauer aufloderte.

»Alarm vom Westturm. Feinde nähern sich aus Westen!« Lord Arnemon schob sich an Maeva vorbei und eilte den Wehrgang entlang.

Sie packte mit der einen Hand ihr Kleid, mit der anderen ihren Haarknoten und eilte ihm nach.

 

*

 

Als Arnemon den höchsten Punkt des Wehrgangs über dem Haupttor erreichte, streckte er vor dem ersten Soldaten auffordernd die Hand aus.

Der Wächter reichte ihm sofort sein Fernrohr. »Die Handelskoggen draußen vor den Riffen haben Alarm gegeben. Sie sind erst vor Kurzem ausgelaufen.« Er deutete hinaus auf das grau verhangene Meer. Nur dort, wo die Wellen sich an mehreren spitz aufragenden Felszähnen brachen, blitzten weiße Schaumkronen auf.

Es dauerte eine Weile, bis Arnemon die flatternden Segel zweier Händlerschiffe ausgemacht hatte. Die Flut stand hoch und der steife Wind war günstig für die Fahrt aufs Meer. Dennoch bremsten sie ab und drehten zurück in Richtung Küste.

Arnemon hörte, wie jemand Weiteres den Wehrgang erklomm. Er wandte sich um und Kommandant Pieran nahm neben ihm Haltung an.

»Wovor fürchten sich diese Händler?« Arnemon deutete mit der freien Hand in Richtung der vorderen Kogge.

»Zwei fremde Schiffe. Sie haben einen Abfangkurs eingeschlagen.« Pierans grünes Auge wirkte finster.

Rasch presste Arnemon sich die Linse wieder vors Auge und schwenkte weiter nach Westen. Da, ein weiterer, spitzer Bug durchpflügte spritzend die Wellen. »Sind das rote Segel? Wo kommen sie her? Verdammt, sie sind schnell!«

Arnemon sog scharf die Luft ein und suchte wieder nach den Koggen. Das Wendemanöver hatte die hintere viel Zeit gekostet. Der vordere der fremden Dreimaster, groß und wehrhaft wie die daramonischen Galeonen, holte zusehends auf.

»Wann können wir ihnen zur Hilfe kommen?« Doch ihm war bereits klar, dass keine menschliche Mannschaft schnell genug zur Stelle sein würde.

Nur noch eine halbe Seemeile, eine viertel. Gleich waren sie in Reichweite.

Der Atem blieb Arnemon im Hals stecken, als ein Flammenstrahl über die Wogen schoss. Das Heck der Händler fing sofort Feuer.

Die Burgwachen schrien auf. »Ein Drache!«

Kälte machte sich unter Arnemons Haut breit. Nein, kein Drache. Aber das beruhigte ihn nicht im Mindesten.

Von der steifen Brise angefacht wuchs der Brand rasend schnell. Flammen kletterten die Wanten und Stagen hinauf und nur wenige Atemzüge später loderte die Takelage der Kogge lichterloh. Arnemon glaubte, die Schreie der Besatzung bis hierher zu hören, und erschauerte.

In Arnemons Kopf dröhnten Waffenklirren und das Bersten von Holz, als die Feinde längsseits gingen und sich hinüber schwangen. Sie brauchten nicht einmal die Unterstützung ihres Schwesternschiffes, das an den beiden vorbei zog und ganz offensichtlich die zweite Kogge anvisierte.

Das Fernrohr knackte, als er mit aller Kraft die Hand darum schloss. »Wer wagt es, direkt vor meinen Toren ein Schiff zu kapern?«

»Das werden sie bereuen, mein Lord.« Pieran zischte durch die Zähne und deutete hinunter an den Kai. »Die Sturmlanze löst eben die Leinen. Die Schwertfisch ist auch bereit. Wenn diese Bastarde nicht sofort kehrtmachen, verpassen wir ihnen eine gehörige Abreibung.«

Arnemon stieß heiße Luft durch die Nase aus. Der Flottenführer mochte Recht haben. Für die Händler war es dann trotzdem zu spät.

»Sie schaffen es nicht«, flüsterte Maeva neben ihm.

Die Inselprinzessin hatte er ganz vergessen. »Könnt Ihr irgendetwas tun, Banjhee?«

Maevas braune Augen waren voller Kummer. »Ich bin nicht so stark wie Liann. Wir waren immer zu zweit oder zu dritt, um dem Wind zu befehlen.«

Arnemons Hoffnungsschimmer flackerte wie eine Kerze im Regen, doch er klammerte sich daran fest. »Ich glaube an Euch. Diese Kogge braucht nur ein kleines bisschen mehr Zeit!«

»Ich ... wüsste nicht ...« Sie schluckte hörbar und ihre Augen bekamen einen nassen Glanz.

»Ich habe die Banjhee so viele unglaubliche Dinge tun sehen. Wind, Wolken, Regen, sogar die Wellen konntet ihr beeinflussen.«

»Ja, aber wir waren viele. Ich allein ...« Sie stockte. Ihre Miene veränderte sich, auf ihre waldhonigfarbenen Wangen stieg eine frische Röte und Arnemon hielt den Atem an.

»Der Nebel!« Sie ließ die Hand auf die Zinne klatschen, dass der Regen aufspritzte. »Ich könnte den Nebel aus dem Fjord zusammenziehen. Wenn die Feinde ihr Ziel nicht mehr sehen, können sie es nicht angreifen.«

Ihre Worte sandten feine Blitze durch Arnemons Glieder. »Schickt den Nebel nicht zu den Händlern. Hüllt die Angreifer darin ein. Ich habe eine Idee.«

Maeva hob das Kinn und streckte die Arme aus. Ihr Kleid flatterte und ihr Haar umwehte sie wie ein schwarzer Schleier. Sie öffnete die sanft geschwungenen Lippen und ein klarer, heller Ton drang daraus hervor.

Arnemon wartete nicht, bis der Zauber seine Wirkung entfaltete. »Soldat, signalisiere dem Hafen«, befahl er einer der Wachen auf der Mauer. »Sie sollen unser Leuchtfeuer löschen. Und du ...« Er nahm den Nächsten ins Visier. »Nimm dir zwei Kameraden und Pferde. Ich will, dass ihr an der Spitze der Ruineninsel ein Feuer entzündet. Ihr habt eine Viertelstunde.«

»E... eine Viertel ... zu Befehl, mein Lord.« Der Soldat warf seine Lanze und seinen Helm fort und rannte die Stufen ins Innere der Burg hinab.

Arnemon wäre am liebsten hinterher gestürmt. Er konnte nur beten, dass sein Plan aufging. Langsam hob er das malträtierte Fernrohr ans Auge und beobachtete, wie die beiden daramonischen Galeonen in voller Fahrt auf den Feind zuhielten. Das rot betakelte Schiff behielt die Verfolgung der Kogge jedoch ungerührt bei.

Hatten diese Piraten etwa nicht bemerkt, dass ihre Beute Verstärkung bekam? Arnemon hoffte es von ganzem Herzen, denn die andere Möglichkeit war, dass sie sich für so stark hielten, dass es sie nicht kümmerte.

Nun hielt es ihn doch nicht länger auf seinem Aussichtsposten.

Der Gestank von kaltem Rauch und nasser Asche empfing Arnemon, als er flankiert von seiner Leibwache den Wehrturm an der Spitze der Hafenmauer erreichte. Ebenso wie das Leuchtfeuer vor der Hafeneinfahrt war auch das Signalfeuer gelöscht worden.

Der Hafen war bereits von der Stadtgarde abgeriegelt worden und nahezu menschenleer. Die einzigen, die noch umhereilten, waren Matrosen und die Medikas, die sich auf die Ankunft von Verwundeten vorbereiteten. Mitten unter ihnen stand Heerführer Arkon am Kai und erteilte Befehle.

Pieran sprang neben ihm auf die vorderste Zinne des Wehrturms und verfolgte, wie die Sturmlanze und die Schwertfisch vor dem Fjord hart an den Wind gingen und in voller Fahrt auf die Feinde zuhielten.

Fest verschränkte Arnemon die Hände hinter seinem Rücken. »Hoffentlich können unsere Galeonen es mit dieser Feuerwaffe aufnehmen.« Oder diesem Zauber.

Er hatte nur leise gesprochen, dennoch schien der Flottenführer ihn gehört zu haben. »Die Decks sind mit nassem Sand bestreut und dutzende Wassereimer stehen bereit. Dazu sind beide Galeonen bis zur Luke voll mit Pulver und Kugeln. Diese roten Hundesöhne werden sich wundern.«

Arnemon presste die Lippen zusammen. Sein Blick huschte hinauf zur Burgmauer, wo er Maeva in der Obhut eines Leibwächters zurückgelassen hatte. Auf dem Wasser sammelte sich bereits der Dunst und behinderte die Sicht auf die Koggen und ihre Gegner. Wie lange noch, bis ihr Zauber sich voll entfaltete?

»Was ist mit dem falschen Leuchtfeuer?« Er trat dichter an die Zinnen heran und spähte über die Hafeneinfahrt hinweg nach Westen, wo die Ruineninsel, eine Ansammlung spitzer Felsen umgeben von Untiefen, von den Wellen umschäumt wurde. Dicker, dunkler Qualm erhob sich darüber. Dann, als hätten sie nur auf Arnemons Blick gewartet, schlugen Flammen in die Höhe und ließen die wabernden Schwaden orange glühen.

Die Händlerkogge, deren Sicht von Maevas Nebel kaum behindert wurde, hielt in gerader Linie auf den Hafen zu. Arnemon wartete mit angehaltenem Atem. Kein Verfolger kam in Sicht. War der Plan tatsächlich aufgegangen?

»Wer hätte gedacht, dass das Wetter uns auch mal zur Hilfe kommt?« Unruhig drehte Pieran sein Messingrohr in der Hand. »Hoffentlich verfehlen unsere Leute die Feinde nicht.«

Danke, Maeva. Arnemon stieß die Luft aus. Er wandte sich um und sah hinauf zur Burg. Die Silhouette direkt über dem Haupttor, das musste sie sein. Ihr Haar flatterte und sie hatte die Arme ausgebreitet. Schwankte sie? Bei meinem Herzschlag! Wie weit reichen ihre Kräfte? Bis eben hatte er nicht einen Gedanken daran verschwendet. Halte durch! Nicht mehr lange ...

Ihre Hände fielen herab. Sie taumelte, kippte zur Seite. Eine zweite Gestalt sprang herbei, dann verschwanden beide außer Sicht.

Nein!

Pieran stieß einen Fluch aus. Arnemon fuhr herum. Vor seinen Augen zerfaserte der Nebel und enthüllte den vorderen feindlichen Dreimaster in unmittelbarer Reichweite der daramonischen Galeonen.

Einen Augenblick lang schien die Überraschung alle drei Mannschaften zu lähmen. Dann donnerten die ersten Kanonen. Unter Funken und Rauch spie die Sturmlanze ihre Kugeln auf die Gegner. Kurz darauf peitschte eine Flammenzunge durch die Luft. Die schreckliche Waffe verfehlte die Verteidiger nur knapp. Auch die Schwertfisch nahm den Beschuss auf.

Sie werden sie versenken. Grimmige Befriedigung erfüllte Arnemon. Niemand überfällt ungestraft Händler in Daramons Hoheitsgewässern.

Die roten Segel flatterten, als die Piraten ein hektisches Wendemanöver ausführten. Da zerschlug ein Treffer den feindlichen Besanmast und er stürzte krachend über das Heck. Damit waren sie manövrierunfähig und besiegt.

Arnemons Hochgefühl erstarb im Keim. Trotz des Schadens schoss aus dem Schanzkleid des havarierten Dreimasters eine Feuerlanze und verschluckte Bugspriet und die Vorstag der Schwertfisch.

Schrille Schreie drangen an Arnemons Ohren und der Atem blieb ihm im Hals stecken. Das Vordeck der Galeone rauchte und an mehreren Stellen fraß sich Feuer das stehende Gut hinauf.

»Nun versenkt sie endlich, ihr Seegurken«, zischte Pieran. »Die Kumpane dieser Piraten kommen in Reichweite!«

Durch sein Fernrohr sah Arnemon, wie das zweite Flammenschiff in der sich auflösenden Nebelbank die Kanonenluken aufzog. Donner rollte über das Wasser, als sie eine Reihe hoch gezielter Schüsse abgaben.

»Verdammt, sind die gut!« Pieran presste die Zähne aufeinander, als die Schwertfisch unter mehreren Treffern schwankte.

Kälte kroch unter den schweren Stoff von Arnemons Ornat, als er sah, wie vom Deck der Feinde ein lodernder Ball abgeschossen wurde. Er traf die Schwertfisch mittschiffs und Feuer spritzte in alle Richtungen.

»Hagel und Sturm!« Pieran stürmte auf die andere Seite des Wehrturms und brüllte ins Hafenbecken. »Kann die Wellentänzer endlich auslaufen? Unsere Leute brauchen Hilfe!«

Kanonendonner dröhnte erneut in Arnemons Ohren. Draußen feuerten nun beide Seiten in schneller Abfolge aufeinander.

Die Schwertfisch hatte sich für den Moment außer Reichweite der Flammenwaffe gebracht, doch sie hatte mehrere Brandherde davon getragen, welche die Mannschaft anscheinend nicht löschen konnte.

Mit einer dritten Galeone konnten sie vielleicht siegen. Doch zu welchem Preis? Arnemon packte Pieran am Arm. »Sie sollen zurückfallen. Die Feinde ihre havarierten Kameraden aufnehmen lassen. So gewinnen wir Zeit, uns neu zu formieren. Wenn sie dann immer noch auf ein Gefecht aus sind, sind unsere Aussichten deutlich besser.«

Das vernarbte Gesicht des Flottenführers verzog sich grimmig, als er den Befehl für die entsprechenden Signale gab. »Ich hoffe sehr, diese blutrünstigen Piraten scheren sich überhaupt um ihre Kameraden!«

Arnemon schüttelte den Kopf. »Das sind keine Piraten. Nicht mit diesen Waffen und dieser Disziplin.« Tatsächlich erfüllte sich seine Hoffnung und der Dreimaster ging am Wrack seiner Kameraden längsseits. Die Schwertfisch und die Sturmlanze hatten genügend Zeit, sich außer Reichweite zu bringen. Als die Wellentänzer als dritte Galeone den Hafen verließ, machten die Gegner kehrt und hielten aufs offene Meer zu.

Mühsam lockerte Arnemon seine verkrampften Finger. Die Gefahr war gebannt, zumindest fürs Erste.

 

*

 

Maeva erwachte, weil viel zu helles Licht sie blendete. Sie kniff die geschlossenen Lider noch fester zusammen. Ein Stöhnen entschlüpfte ihr. Verdammte Kopfschmerzen. Und warum war sie so entsetzlich erschöpft?

»Seid Ihr wach, Prinzessin?«

Nein. Lasst mich in Ruhe. Lasst mich schlafen.

Mühsam hob sie die Hand vors Gesicht und öffnete ein Auge. »Lord Arnemon, w...« Ihr Hals kratzte und sie musste husten.

Jemand hielt ihr einen Becher an die Lippen. »Ich habe Euch gesagt, sie ist noch zu schwach. Kann das nicht warten?« Diese energische Stimme gehörte mit Sicherheit der Majora Medika. Niemand sonst redete so mit dem Lord von Daramon.

»Es kann nicht warten«, antwortete er sanft, aber bestimmt.

Maeva trank einen Schluck, dann schob sie den Becher weg. »Schon gut«, krächzte sie.

»Aber sie bleibt im Bett«, schnarrte die Medika, bevor sie das Feld räumte.

Der Lord stellte seine Laterne auf dem Nachttisch ab und endlich wurde Maeva nicht mehr geblendet. Blinzelnd sah sie sich um. Die einsame Flamme war die einzige Beleuchtung im Raum. Vor dem kleinen Fenster gegenüber war es schwarz.

»Wo bin ich? Und wie lange habe ich geschlafen?«

»Ihr seid in der Burgstation der Medikas. Direkt neben dem Übungsplatz für die Soldaten. Ihr habt über zehn Stunden in diesem Bett verbracht.«

»Zehn Stunden?« Der Impuls, sofort die Beine aus dem Bett zu schwingen, durchzuckte sie.

Sofort hob der Lord die Hand. »Ich bin nicht hier, um euch aufzuscheuchen. Sondern zuallererst, um Euch zu danken.« Er neigte den Kopf.

Eine Geste wie gegenüber einer Verbündeten, nicht einer Geisel. Der Gedanke sandte einen Schauer Gänsehaut über ihre Arme. Also hatte ihr Zauber doch etwas genützt. Zu gerne wollte sie ihn über den Ausgang des Kampfes ausfragen, doch sicher suchte er sie nicht mitten in der Nacht auf, um einen Bericht abzugeben.

Der Lord richtete sich auf seinem Platz auf und erst da begriff Maeva, dass er auf einem Stuhl neben ihrem Bett saß. Seine ohnehin schon helle Haut wirkte im Flammenschein noch eine Spur blasser. Von seinem streng zurückgebundenen, braunen Haar fiel ihm eine sanft geschwungene, kinnlange Strähne auf die Wange. Sein schwarzes Ornat mit den goldenen Besätzen hatte Wasserflecken und auf den Schulterstücken glitzerten frische Regentropfen. Er musste wirklich in Eile sein.

»Ihr habt das Feuer gesehen, mit dem die Feinde uns angegriffen haben. Eine mächtige Waffe. Vielleicht auch Magie.«

Feuermagie? Ein Frösteln durchlief Maeva und sie zog die Decke höher. »Ich weiß, worauf Ihr hinaus wollt, Lord Arnemon. Diese Schiffe sind nicht nur für Daramon eine Gefahr.«

Er nickte. »Wir haben die letzten Stunden mit Nachforschungen verbracht. In der ganzen östlichen See gibt es keine Schiffe mit vergleichbarer Bewaffnung. Unsere Kapitäne konnten das Wappen beschreiben, dass sie führen. Ein gelber Flammenkranz auf rotem Grund. Es gehört einem alten, fast vergessenen Feind.«

Maeva richtete sich senkrecht im Bett auf. Die vibrierende Anspannung vertrieb den letzten Rest Erschöpfung aus ihren Gliedern.

»Sagen Euch die Feuerinseln etwas?«

»Gruselgeschichten«, war Maevas erster Reflex. Dann weiteten sich ihre Augen. »Ihr meint, es gibt sie wirklich? Die Heimat der Feuergöttin, die alles verschlingt, was in ihre Nähe kommt?«

»Zumindest gibt es diese Inseln.«

»Ihr spracht von einem alten Feind. Hat Daramon sie schon einmal bekämpft?«

»Mein Urgroßvater gebot über die stärkste Flotte in der Geschichte des Reiches. Dennoch vertrieb er sie nur unter großen Verlusten.«

Maeva vergrub die Hände in ihrer Decke. »Warum sind sie nun wieder da?«

Der Lord hob die Schultern. »Fest steht, dass wir eine drei zu eins Übermacht brauchen, um ihnen gewachsen zu sein. Wenn sie das nicht schon wussten, dann haben sie es jetzt erfahren.«

Energisch schluckte Maeva den Kloß in ihrem Hals herunter. »Ich muss Liann sofort davon berichten.«

»Wenn Ihr das tut, bittet sie auch um ein Treffen. Wir sollten dieser neuen Bedrohung gemeinsam begegnen.«

»Ihr wollt nach Bajbangho fahren? Wann?«

»So bald wie möglich.«

Ein Schwall Wärme ließ Maeva für einen Moment ihr inneres Schaudern vergessen. Nach Hause ... Ich werde nach Hause kommen! Seltsamerweise begleitete ein Hauch Wehmut den Gedanken.

Sie verbannte das Gefühl und fokussierte sich ganz auf den Lord. »Ich werde Liann rufen. Könnt Ihr das Fenster öffnen?«

Eine Gestalt im Hintergrund, vielleicht ein Diener oder eine von Arnemons Leibwachen, erfüllte ihre Bitte.

Tief sog Maeva die hereinströmende Nachtluft ein. Dann schloss sie die Augen und lauschte auf den Wind, der den Vorhang bauschte und draußen in den Blättern der Olivenbäume raschelte. Sie sandte einen einfachen, klaren Ton aus, der in die Luft aufstieg und sich in alle Richtungen ausbreitete. Wie Wellen in stillem Wasser würde er Maevas Ruf tragen.

»Liann?«