Sturmprinzessin - Susanne Wolff - E-Book

Sturmprinzessin E-Book

Susanne Wolff

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Beschreibung

Wenn Freundschaft Eide bricht und Liebe zu Verrat wird, welcher Halt bleibt dann noch im Auge des Sturms? Die einst friedlichen Perleninseln geraten ins Visier des Festlandreiches Daramon und ein erbittertes Ringen um die Vorherrschaft entbrennt. Entschlossen bietet Liann, die Hüterin der Inseln, den rücksichtslosen Eindringlingen die Stirn. Doch sie zögert, in dem sich zuspitzenden Konflikt bis ans Äußerste zu gehen – denn der gegnerische Heerführer Marcian fasziniert sie mehr, als sie zulassen darf. Für Marcian wird es zu einer Frage des Überlebens, Liann auf Distanz zu halten, denn seine Loyalität darf einzig und allein seinem besten Freund Arnemon, dem zukünftigen Lord des Festlandreiches, gehören. Angesichts des drohenden Krieges kämpft Arnemon darum, den richtigen Weg als Thronfolger zu finden. Was, wenn er sich auf Marcian nicht mehr verlassen kann?

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Kapitel 1
Trügerische Ruhe
Kapitel 2
Flut
Kapitel 3
Nachbeben
Kapitel 4
Der Preis der Hilfe
Kapitel 5
Verhandlung
Kapitel 6
Mehr als nur Tribut
Kapitel 7
Der Grat der Diplomatie
Kapitel 8
Silberner Delfin
Kapitel 9
Landgang
Kapitel 10
Sturminseln
Kapitel 11
Der unbeugsame Lord
Kapitel 12
Schwere Bürde
Kapitel 13
Trauer
Kapitel 14
Fremdes Terrain
Kapitel 15
Die Tiefen von Burg Daramon
Kapitel 16
Schweigender Wind
Kapitel 17
Verrat
Kapitel 18
Eine Falle
Kapitel 19
Die Macht der Meisterin
Kapitel 20
Trümmer und Kanonen
Kapitel 21 Sturmvaters Zorn
Kapitel 22
Das letzte Gefecht
Kapitel 23
Tiefe Wunden
Kapitel 24
Gericht
Kapitel 25
Morgenrot
DANKSAGUNG
DIE AUTORIN

 

 

WELTENBAUM VERLAG

Vollständige Taschenbuchausgabe

02/2024 1. Auflage

 

Sturmprinzessin

 

© by Susanne Wolff

© by Weltenbaum Verlag

Egerten Str. 42

79400 Kandern

 

Umschlaggestaltung: © 2023 by Magicalcover

Lektorat: Isabel Dinies

Korrektorat: Michael Kothe

Buchsatz: Giusy Amé

Autorenfoto: Privat Autorin

 

 

ISBN 978-3-949640-67-4

 

www.weltenbaumverlag.com

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

 

 

 

 

 

Susanne Wolff

 

 

Sturmprinzessin

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Fantasy Roman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für Folke,

 

der von Beginn an

an diese Geschichte geglaubt hat.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

Trügerische Ruhe

 

 

Ein entrücktes Lächeln noch auf den Lippen lehnte Liann an den sonnenbeschienenen Felsen, als ihr auffiel, dass sie den Vogelgesang vermisste. Träge von der Wärme blinzelte sie gegen die Helligkeit des Mittags an und sah sich um.

Direkt vor ihr plantschten die Kinder lachend und kreischend in der Lagune. Wahrscheinlich hatten sie einen bunten Fischschwarm entdeckt, der sich so nah ans Ufer verirrt hatte. Immer wieder wehte eine Böe vom Meer herüber und benetzte Lianns ausgestreckte Beine und den Saum ihres weißen Leinenkleides mit Gischt. Nachdenklich drehte sie die goldgelbe Hibiskusblüte, die einer der Fünfjährigen ihr geschenkt hatte, zwischen den Fingern. Je länger sie lauschte, desto seltsamer kam ihr das Schweigen vor, das den Palmenwald am Hang erfüllte. Wo waren die Nektarvögel, die Finken und Stare, deren Stimmen sonst einen wilden Chor bildeten?

»Tante Liann, Tante Liann!« Im triefenden Leinenkleid kam eines der älteren Mädchen angerannt, die ganze Meute im Schlepptau.

Liann lachte und schüttelte den Kopf. »Was ist los, Pachary? Habt ihr etwas angestellt?«

Sie ergriff die Hand des Mädchens, dessen Gesicht bereits die kindlichen Rundungen verlor. Schon zur nächsten Regenzeit würde es alt genug sein. Liann hoffte, dass Pachary zu jenen gehörte, die Meisterin Katesha auswählte, eine Ausbildung zu beginnen.

»Natürlich nicht!« Das Mädchen räusperte sich. »Tante Liann, wir haben ein Geschenk für dich.«

»Schon wieder? Gütige Meeresmutter!« Vorsichtig legte sie die Hibiskusblüte auf einem flachen Stein ab und versuchte, möglichst neugierig auszusehen.

Hinter Pachary gab es Getuschel und Gedrängel. Ein Blätterbündel ging durch mehrere Hände, bis das Mädchen es endlich überreichen konnte.

»Oh, wie schön.« Liann strahlte ehrlich überrascht. »Eine Muschelkette.« Sofort legte sie das Kunstwerk an, das die Kinder mit erstaunlicher Geschicklichkeit aus einer Angelschnur gefertigt hatten. Das Sonnenlicht brach sich im Perlmutt der Muscheln und Schnecken in allen Regenbogenfarben und zauberte einen hellen Schimmer auf ihre braune Haut. »Sie ist wunderschön, vielen Dank.«

»Wir sind getaucht, um sie zu finden«, verkündete ein Junge stolz. Selbst als Sohn eines Fischers war er für sein Alter ziemlich wagemutig und fürchtete sich vor keinem Seegang.

Sie wuschelte ihm durch das vom Salzwasser struppige schwarze Haar, was die Augen in seinem dunklen Gesicht zum Leuchten brachte.

»Aus euch werden bestimmt einmal große Seeleute, wenn ihr ...« Mitten im Satz hielt sie inne. Was war das für ein Brummen? Zitterte der Fels? Jetzt war nichts mehr zu spüren. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Hatte sie es sich etwa nur eingebildet?

Vielleicht sollte sie heraus aus der Sonne. Sie saß hier ja schon, seit sie ihre Morgenlektion mit den Kindern beendet hatte. Langsam stand sie auf und ein leichter Schwindel ließ sie wanken, bevor sie sich fing.

»Was ist?« Pachary zerrte an ihrem Arm. »Warum guckst du so komisch?«

Liann bemühte sich, ihr Stirnrunzeln loszuwerden, da ließ lautes Gekreische sie herumfahren. Über die Klippen jenseits der Lagune jagte eine Gruppe Affen. In wilder Hast erklommen sie die Felsen zum Wald und ihr Zetern wurde erst leiser, als sie schon längst im Dickicht verschwunden waren.

Was ist hier los?

Gedankenverloren befreite sie sich von den Händen der Kinder und trat zwischen ihnen hindurch ans Wasser. Türkisblau und glatt wie ein Spiegel lag die Lagune vor ihr. Keine Wellen kräuselten wie sonst die Oberfläche. Es gab keine Wellen mehr, die vom Meer aus hereinspülten. Der Strand dahinter war trocken und die Lagune war abgeschnitten. Wo war das Wasser hin?

»Gütige Meeresmutter!« Ihr Gesicht fühlte sich mit einem Mal eiskalt an.

Die Kinder starrten sie an.

»Lauft.« Sie sprach nicht laut, aber ihr Tonfall war so atemlos, dass jedes Kind zusammenzuckte. »Nehmt alle mit, die euch begegnen. Zum höchsten Punkt der Insel, sofort!«

Für die Dauer eines Wimpernschlags, einer scheinbaren Ewigkeit, verharrten die Kinder mit offenen Mündern. Pachary befreite sich als erste aus der Starre. Sie hievte den kleinsten Jungen auf ihren Arm und brüllte. »Los!«

Als hätten die anderen nur auf ihr Kommando gewartet, begannen alle gleichzeitig zu rennen.

Liann raffte den Saum ihres Kleides. Die Kinder würden den Berg erreichen, da war sie sich sicher. Aber das nützte nichts, wenn sie die Meisterin nicht rechtzeitig fand. Sturmvater und Meeresmutter, ich flehe euch an, lasst mich Katesha finden!

Trotz ihrer nackten Füße setzte Liann so hastig über die Felsen wie vorhin die Affen. Die Häuser, zu denen die Kinder geflüchtet waren, blieben hinter den Klippen zurück. Bei jedem Schritt schlug die Muschelkette schmerzhaft gegen ihre Rippen.

Der Weg war nicht weit, aber steil. Schon nach kurzer Zeit brannten die Muskeln in ihren Beinen und gnadenlos stach der schroffe Untergrund in ihre Fußsohlen. Ihre Kehle war rau und das schwarze Haar klebte vor Schweiß an Gesicht und Nacken, als sie endlich den Rand der Klippe erreichte, auf der die Meisterin sonst immer stand, um mit ihren Schülerinnen Wind und Wellen zu studieren. Der schwarze Felsen war verlassen.

Gehetzt wirbelte Liann im Kreis, suchte in allen Richtungen. »Meisterin! Wo seid Ihr?«

Das Rauschen des Windes antwortete. Rauschen und ein gleichförmiger Ton, der im Hintergrund mitschwang. Liann überlegte nicht lange. Sie rannte dem Laut nach und stolperte über einen Geröllhaufen. Stiche fuhren ihr in die Seite und raubten ihr den Atem, doch sie rappelte sich wieder auf. An einer schroffen Kante hielt sie abrupt inne. Kleine Kiesel hüpften geräuschvoll hinunter in das kleine Tal, das geschützt vor fremden Blicken unter ihr lag.

Da! Sie hatte sie gefunden! Aus Lianns Mund drang ein erleichtertes Seufzen.

Die Schar der Novizinnen, die sich um Katesha versammelt hatte, zeigte keinerlei Regung. Wie sie so im Schneidersitz dasaßen, die Hände erhoben, sodass der Wind durch ihre Finger streifen konnte, hätte man sie für Statuen halten können. Nur das Haar und die Kleider bewegten sich in der leichten Brise. Die Lippen geschlossen, erzeugten sie doch alle gemeinsam diesen durchdringenden Ton, der die gesamte Luft erfüllte. Dies war die letzte Lektion im Gesang des Windes, der letzte Schritt zu einer vollwertigen Banjhee.

Die Härchen auf Lianns Armen stellten sich auf, als sie den Kreis der beschworenen Macht betrat. Keiner durfte dieses Ritual stören. Aber sie musste.

»Meisterin Katesha.« Ihre Stimme war kraftlos und heiser, doch sie durchbrach den Bann wie ein Hammerschlag eine Eierschale.

Die Meisterin der Banjhee öffnete die Lider und ihr Blick ließ Liann erstarren. Die grauen Augen pulsierten von der Macht eines Gewittersturms, unter der jeder in sich zusammengeschrumpft wäre. Doch sie nicht, nein! Sie musste sprechen.

Energisch blendete Liann die wütenden, verwirrten und enttäuschten Gesichter der Novizinnen aus. »Meisterin, ich … das Meer ...« Sie wusste nicht, wie sie das Grauen in Worte fassen sollte, das da auf sie zurollte. »Es ... es kommt über uns!«

»Was sagst du da?« Katesha sprang auf. Mit ihrer Bewegung zerstob der gewobene Zauber in alle Richtungen. Zischend schnitten Windböen durch Lianns Gesicht. Nur einen Wimpernschlag lang lauschte die Meisterin, dann versteifte sich ihre Haltung. »Hoch mit euch! Sofort! Zum Hauptfelsen.«

Jeglicher Protest über den Abbruch des wichtigen Rituals erstarb im Keim angesichts dieses energischen Befehls. Keine der Novizinnen wagte zu zögern, als sie auf Händen und Füßen aus dem Tal kletterten.

Liann eilte ihrer Meisterin zur Hilfe, die ihre Schülerinnen unentwegt zur Eile drängte. Beim Anblick der altehrwürdigen Züge, denen nach und nach die Farbe entwich, verkrampften sich Lianns Eingeweide.

»Vertrödle deine Zeit nicht mit einer alten Frau!«, herrschte die sie an. »Lauf zu. Lass das Horn blasen. Erhebe deine Stimme und webe den Zauber. Wie haben keinen einzigen Herzschlag zu verlieren.«

Katesha stieß sie von sich und Liann taumelte zurück. Sie holte Luft, um etwas zu erwidern, doch die Meisterin scheuchte sie mit einer Handbewegung fort. »Ich sagte, keinen einzigen Herzschlag!«

Gehetzt nickte Liann, wirbelte herum und rannte, so schnell sie konnte, den steinigen Abhang hinauf. Ihre Knie und Hände waren aufgeschürft, als sie an der Spitze der Novizinnen endlich die Klippe umrundete und die Hütten in Sicht kamen. »Das Horn!«, rief sie aus Leibeskräften. Nicht langsamer werden! »Blast das Horn!«

Dem Sturmvater sei Dank, ein paar der Leute hatten sie gehört. Schon wenige Atemzüge später dröhnte der Ruf des Muschelhorns über die gesamte Inselgruppe. Liann hastete weiter, in vollem Lauf zwischen den ersten Hütten hindurch. Sie folgte dem Pfad hinauf auf den Berg in der Mitte der Insel und drängte alle, ihr zu folgen.

Zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, dass die Kinder, die sie vorausgeschickt hatte, bereits viele Bewohner Bajbanghos gewarnt hatten. Nun strebten die Menschen von den benachbarten Eilanden durch das plötzlich nur noch knöcheltiefe Wasser zwischen den Riffen zur Hauptinsel. Manche brachten ihre Ziegen und Hühner mit und zu Lianns Erstaunen mischten sich auch einige Wildtiere unter die Menge der Flüchtenden.

Schneller, so macht doch schneller!

Von hier oben war der nackte Meeresgrund ein unausweichlich schauriger Anblick. Der Horizont hingegen schwamm in tiefem, diffusem Blau, dessen Anblick Liann den Magen umdrehte.

Sie streckte die Arme aus. »Banjhee, versammelt euch!« Ihre Stimme bebte vor Anspannung, dennoch lag darin ein Hauch der Autorität, die sie sonst an Katesha bewunderte. Aus der wirren Menge von Erwachsenen, Kindern und Alten lösten sich fünf Frauen und zwei Männer. Mit jahrelang geschulter Routine schlossen sie einen Kreis um Liann.

»Novizinnen,« rief Liann erneut, »wir brauchen eure Kraft.«

Die jungen Frauen warfen sich erschrockene Blicke zu, füllten jedoch widerspruchslos die Lücken zwischen den erfahrenen Banjhee.

Unten am Rand des Dorfes trat Katesha an der Hand der letzten Novizin aus dem Dschungel. Liann atmete auf. Gemeinsam mit immer mehr Flüchtenden von den Nachbarinseln strebte die Meisterin auf den Berggipfel zu. Sie würde es rechtzeitig schaffen. Doch galt das für alle? Liann gab sich alle Mühe, diesen Gedanken zu verbannen.

Wir haben keinen einzigen Herzschlag zu verlieren.

»Erhebt eure Stimmen!«, befahl sie und ein peinigender Stich durchfuhr sie dabei.

Katesha hatte den Fuß des Berges erreicht. Schwer stützte sie sich auf die Novizin an ihrer Seite, als sie nun den aufsteigenden Pfad entlangeilte. Die alte Frau hob den Kopf und sah Liann an. Trotz der Entfernung war ihr Blick so durchdringend wie immer. Er wurde begleitet von einem bestätigenden Nicken. Ja, Liann. Tritt du an meine Stelle. So ist es dir bestimmt.

Liann hatte das Gefühl, die Stimme der Meisterin halle in ihrem Kopf wider. An ihre Stelle treten, die Verantwortung für das Inselreich übernehmen, für all diese Menschen ...

Mit einem tiefen Atemzug kämpfte sie gegen das Gewicht an, das sich bei diesem Gedanken auf ihre Schultern legte.

Die Stimmen der Bajhee und der Novizinnen fanden zusammen zu einer schweren, klagenden Harmonie. Liann schloss die Augen und fokussierte sich ganz auf diesen Klang. Der Wind rauschte in den Wipfeln des Dschungels wie ein begleitender Rhythmus. In diesem Rhythmus bewegte sich ihr Körper wie von selbst vor und zurück. Ihr Pulsschlag dröhnte durch ihre Adern wie Trommeln. Sie sog den Wind ein, den Atem des Meeres, den Geruch der vielen zusammengedrängten Menschen und den Duft von Hibiskusblüten. Ihre Lippen öffneten sich und sie begann zu singen.

Komm, Wind, unser Bruder sei.

Tanze, wachse, drehe dich dabei.

Unsr’e Stimmen lenken, unsr’e Kraft wir schenken.

Komm, Wind, unser Bruder sei ...

Geleitet von ihrer Melodie schwoll der Gesang der Banjhee weiter an, wechselte die Harmonien und schraubte sich gemeinsam mit ihr in die Höhe. Von allen Seiten wehte die Luft auf Liann zu. Eine Böe fuhr unter ihr Kleid, sodass der Stoff sich blähte, und wirbelte die Haarsträhnen über ihren Kopf. Sie hob die Arme und ihr Geist folgte der Bewegung immer weiter hinauf. Sie musste alles erfassen, die gesamte gerufene Macht, um sie zu kontrollieren.

Jemand kreischte auf.

Die versammelte Menge schien zu erzittern. Raunen, Jammern, Rufen, all das mischte sich unter den magischen Gesang.

Liann öffnete die Augen. Beißende Kälte jagte durch ihre Glieder und die Melodie blieb ihr im Hals stecken. Der Horizont war vernebelt von schäumender Gischt. Eine regelrechte Wand aus Wasser türmte sich auf und rollte über das Meer auf breiterer Front, als das Auge erfassen konnte. Da, eine der kleineren Inseln ganz weit draußen, plötzlich war sie verschluckt. Die Woge war höher als die Bäume, höher sogar als die Felsen der Nachbarinseln und sie türmte sich immer weiter auf. Und noch immer hatten nicht alle den Schutz Bajbanghos erreicht.

Sie wird alles einfach mit sich reißen. Die Häuser, den Dschungel, die Tiere ... alles!

Nach und nach sickerte das Begreifen in die Köpfe der Inselbewohner. Sie schrien, klammerten sich aneinander und drängten immer heftiger auf den Berggipfel zu. Das Kreischen von Affen gellte Liann in den Ohren und ein Schwarm Vögel durchbrach mit seinem Gezeter jeglichen Gesang. Dennoch kauerten sich die Menschen zu Füßen der Banjhee zusammen in der Hoffnung, von ihrer Magie beschützt zu werden.

Lianns Arme waren mit einem Mal schwer wie Blei. Ihre Muskeln zitterten und Schweiß perlte ihr an Stirn und Nacken herab. Ihr umherhastender Blick blieb an ihrer Meisterin hängen. Auf halbem Weg den Berg hinauf mühte die sich ab, mit der Novizin Schritt zu halten. Sie war so weit weg! Und doch sah Liann, wie die faltigen Lippen sich bewegten und die Melodie für sie aufrecht erhielten. Ich zähle auf dich, Liann. Sie alle!

Gewaltsam presste Liann die Augen zu, bis sie nur noch Kateshas Züge vor sich sah. Ruhig atmen, sich dem Rhythmus hingeben, keinen Fehler machen!

Ihre Gedanken folgten abermals dem heraufbeschworenen Luftstrom in die Höhe, streckten sich aus und bemühten sich, alles zu erfassen. Ihre Stimme wiederholte das immer gleiche Motiv, wieder und wieder, und schraubte sich dabei höher und höher. Der Wind folgte ihr, bildete kleine Wirbel, die um ihre Füße tanzten, und drehte sich weiter und immer schneller.

Der Felsen unter Liann erzitterte. Die Menschen schrien. Sie hörte das Brüllen von Wassermassen, die auf Riffe trafen. Es donnerte und knirschte, Felsen barsten und Baumstämme splitterten.

Ich bin nicht stark genug. Wie kann ich stark genug sein? Gütige Meeresmutter ...

Verzweifelt zwang sie ihre letzte Kraft in den Gesang. Ihre Eingeweide brannten vor Anstrengung. Da legte sich eine kühle Hand auf ihre Schulter. Eine raue Stimme gesellte sich zu der ihren und verstärkte die Melodie. Heulen und Tosen erfüllte die Luft und übertönte das Donnern der Wassermassen. Die Macht in ihren Händen, mit einem Mal fühlte sie sich wieder so vertraut an wie bei ihren Übungsstunden mit der Meisterin. Stetig und sicher strömte ihr Atem nun in den Gesang, der den Wind lenkte, nährte und wachsen ließ.

Sie konnte es kaum glauben, musste hinsehen. Auf dem Gipfel des Berges war es nahezu windstill, während rund herum ein Wirbelsturm tobte, der halb Bajbangho einnahm. Der Tsunami hatte den Strand und die Klippen unter sich begraben. Entwurzelte Palmen tanzten auf der Krone der gigantischen Woge und nun warf sie sich dem Berghang entgegen. Gischt spritzte auf und tauchte alles in Nebel. Dann prallte die Wasserwand auf den Wirbelsturm. Es zischte und brodelte, als ströme glühende Lava ins Meer.

Die Gewalt der Wassermassen drang unnachgiebig auf die Magie der Banjhee ein. Lianns Miene verzog sich und sie knirschte mit den Zähnen. Kateshas Hand auf ihrer Schulter verkrampfte sich und die sehnigen Finger bohrten sich schmerzhaft in ihre Muskeln. Ihr Hals war bereits rau und brannte, doch sie durfte jetzt nicht nachlassen.

Sie schauderte beim Anblick der Welle, die immer höher und höher stieg, bis in den Himmel. Nur wenige Augenblicke lang, die sich zu Ewigkeiten dehnten, verfolgte sie das Funkeln der Sonnenstrahlen, die von oben durch das Wasser fielen und dem Schauspiel eine grauenerregende Schönheit verliehen. Sie beobachtete das Treiben zerfetzter Baumkronen, geborstener Boote und von Baumhäusern fortgerissener Balken. Was sie erblickte, riss kurz darauf der Sturm in die Höhe und zerstreute es in alle Richtungen.

Nicht im Mindesten ließ die gigantische Woge sich dadurch bremsen. Sie teilte sich einfach vor dem Hindernis und rollte weiter, auf die nachgelagerten Inseln zu. Dann war die erdrückende blaue Wand vorbeigezogen und innerhalb weniger Herzschläge umgab die Hauptinsel wieder eine türkisfarbene, sich unschuldig kräuselnde Wasserfläche, die im Sonnenlicht glitzerte. Wie schläfrige Möwen trieben darin Baumstämme, zerstörte Vorratskörbe und die Trümmer von Häusern und Booten.

Der magische Gesang verebbte zu einem sich langsam entfernenden Echo, das der sich auflösende Luftwirbel davontrug. Atemlos betrachtete Liann die Verwüstung, ohne sie wirklich zu begreifen.

Keinen Gedanken hatte sie mehr übrig für die Woge, die hinter ihrem Rücken weiter brauste, um ihre Zerstörung anderswo fortzusetzen.

 

Kapitel 2

Flut

 

 

Marcian zog an seinem Hemd, das ihm an der verschwitzten Brust klebte. Vor lauter Konzentration auf das Spiel hatte er gar nicht bemerkt, wie die Nachmittagssonne weitergewandert war. Inzwischen war der Schatten der Wehrmauer, in den er und Arnemon sich verzogen hatten, unerbittlich zusammengeschrumpft.

»Das reicht. Bei dieser Hitze kann ja niemand klar denken«, knurrte er.

»Dabei finde ich deine neue Strategie sehr interessant«, erwiderte der zukünftige Herrscher von Daramon mit einem schiefen Lächeln.

»Und sicher hast du auch schon wieder einen neuen Weg gefunden, mich vorzuführen. Nein danke«, wehrte Marcian ab und erhob sich.

»Ich hoffe, diese Haltung zeigst du nicht auf dem Schlachtfeld, Heerführer«, neckte ihn sein Freund. »Aber gut.« Mit einer lässigen Handbewegung fegte Arnemon die hölzernen Manöver-Figuren von dem kreisförmigen Spielbrett zurück in ihre Schatulle. »Wie wäre es stattdessen mit einer Runde Schwimmen?«

Marcian bleckte die Zähne. »Schon wieder eine Disziplin, bei der du im Vorteil bist.«

Arnemon grinste verwegen, während er sich die verschwitzten braunen Strähnen aus der Stirn strich, die sich aus seinem Zopf gelöst hatten. »Ich dachte, du hättest in den Seen Tarsias genug Gelegenheit zum Üben gehabt.«

»Du wirst schon sehen.« Marcian befreite sich von Hemd und Stiefeln und sprang mit einem Satz auf die Mauerzinnen. Sofort zerzauste ihm der Seewind den dunkelblonden Haarschopf und trocknete die Schweißperlen auf seiner Haut. Das Rauschen der Böen und das Donnern der Brandung, die unter ihm gegen die Hafenmauer schlug, erfüllten seine Ohren. Fein zerstäubte Gischt benetzte seine Brust und brachte die lang ersehnte Erfrischung.

»Du brauchst dich nicht gleich Hals über Kopf ins Meer zu stürzen, um es mir zu beweisen«, stichelte Arnemon. Er lehnte auf der anderen Seite des Wehrgangs, wo eine Treppe hinab zum ruhigeren Wasser innerhalb des Hafenbeckens führte, und beschäftigte sich mit der komplizierten Schnürung seiner Stiefeletten, während seine nussbraunen Augen ihn anblitzten.

»Versuch bloß nicht, dich rauszureden.« Marcian machte einen herausfordernden Schritt von einer Zinne zur nächsten.

»Pah«, schnaubte Arnemon, ließ sich aber auf das Spiel ein. Obwohl er längst nicht so muskulös gebaut war wie der Heerführer, schwang er sich mit mindestens ebenbürtiger Leichtigkeit zu seinem Freund hinauf. »Bevor mein Vater mich an den Hof deiner Eltern gegeben hat, saß ich jeden Tag hier oben und ...« Mitten in der Bewegung erstarrte er und spähte durch zusammengekniffene Lider hinunter auf die schäumende Wasseroberfläche.

Unwillkürlich fuhr Marcians Hand an seine Hüfte. Doch der Waffengurt war nicht an seinem gewohnten Platz – nicht an einem freien Tag wie diesem.

»Was hast du?« Sein Blick flog in alle Richtungen auf der Suche nach einer möglichen Bedrohung.

»Das Wasser, sieh doch!« Arnemons Geste umfasste die gesamte Linie unterhalb der Wehrmauern, die zu beiden Seiten in den Fjord hineinragten und die Einfahrt nach Daramonhafen mit ihren Türmen schützten.

Marcian beugte sich weit nach vorne. Die Wasseroberfläche war unruhig wie sonst vielleicht eher an einem stürmischen Tag. Bis hinaus auf die offene See tanzten Schaumkronen auf und ab. War das etwas Besonderes? Er war schließlich kein Seemann ...

»Siehst du die Blasen dort aufsteigen?« Arnemon deutete auf eine Formation schwarzer Spitzen, die dort aus dem Wasser ragten, wo die Küste als Steilwand abfiel.

»Wie in einem Kochtopf«, stellte Marcian fest. »Sowas habe ich noch nie gesehen.«

»Ich auch nicht. Aber ich kenne solche Beschreibungen aus Büchern.«

Der Tonfall, den Arnemon anschlug, war düster und alles andere als beruhigend. Prompt begann die Narbe an Marcians Oberarm zu brennen, als wolle sie ihn ebenfalls warnen.

»Das ist ein Seebeben. Wir müssen in die Stadt!« Arnemon sprang zurück auf den Wehrgang. Er rannte los, ohne auch nur an seine Schuhe zu denken.

Marcian hatte keine Erschütterung gespürt, doch er kannte seinen Freund gut genug, um nicht an ihm zu zweifeln. Er griff nach der abgelegten Kleidung und eilte hinterher. In der Mitte der Hafenmauer schloss er zu seinem Freund auf. Dessen Zopf hatte sich mittlerweile völlig aufgelöst und das Seidenhemd klebte ihm am Rücken.

Wenn sein Vater ihn in diesem Aufzug sieht, kam Marcian der absurde Gedanke, dann macht er ihn einen Kopf kürzer.

In vollem Lauf erreichten sie das Ufer, wo der Wehrgang in eine gepflasterte Straße überging. Bis zum Kai, den Stegen, Lagerhäusern und Tavernen war es noch ein gutes Stück. Marcian keuchte bereits, doch Arnemon wirkte wie von Dämonen getrieben.

Mehrere Klafter über dem Wasser hetzten sie dahin. Die Blasen, die vorher nur bei den Riffen zu sehen waren, bildeten nun eine schmierige Schaumschicht im Hafenbecken. Marcian schauderte, als er sah, wie auch die Fischer plötzlich ihre Netze zusammenrafften und in aller Eile auf die Hafeneinfahrt zusteuerten.

Endlich erreichten sie den Kai.

»Flottenführer Kerren!«, rief Arnemon, kaum dass sie die ersten Poller passiert hatten. Seine Stimme war ganz rau von dem langen Lauf.

Der Führer der daramonischen Flotte stand breitbeinig, mit in die Hüften gestemmten Fäusten auf dem ersten Steg und verfolgte jede Bewegung der Mannschaft, die sich auf dem vor Anker liegenden Schlachtschiff abmühte. Die Männer kletterten über die Wanten, zerrten an Tauen und kurbelten an Winden, um die Segel zu setzen und die Bäume nach seinem Befehl auszurichten. Ein neues Kommando und schon ging alles wieder in die andere Richtung. Unter dem Ächzen von Holz und Seeleuten wurden die Segel gerefft und wieder vertäut.

»Das muss schneller gehen«, entrüstete sich Kerren. »In einem Sturm wäre euch schon längst die Takelage um die Ohren geflogen.«

»Kerren!«, brüllte Marcian.

Trotz der Anstrengung verfehlte sein befehlsgewohnter Ton die Wirkung nicht. Der Flottenführer fuhr herum. Deutlich war ihm der Ärger über die Störung anzusehen. Er öffnete den Mund zu einer scharfen Antwort und blinzelte, als er einen zweiten Blick auf die beiden Störenfriede warf.

»Heerführer?« Sein Blick glitt mehrmals ungläubig an der Gestalt des gleichrangigen Befehlshabers auf und ab – über das verschwitzte, flatternde Leinenhemd, die bis über die Knie hochgekrempelten Hosen und die zwei Paar Schuhe in seiner Hand. Als er dann den Sohn seines Lords neben ihm erkannte, ohne formelles Ornat und ebenfalls barfuß, entgleiste seine Miene vollends.

»Lord Arnemon, mein ... mein ...« Eine förmliche Verbeugung wollte ihm nicht gelingen, aber er senkte rasch den Blick, bevor er sich zu sehr mit der außergewöhnlichen Erscheinung des zukünftigen Herrschers beschäftigen konnte.

Dieser trat nach vorne, noch immer keuchend. »Lass sofort den Hafen räumen. Nein, die ganze Stadt. Alles muss hinauf auf die Burg.«

»Auf die Burg? Bei allem Respekt ...« Kerren schnaufte. Sein Blick huschte hin und her, als wäre er auf der Suche nach Unterstützung gegen diesen ihm aberwitzig erscheinenden Befehl. Da entdeckte er die Fischer, die ihre Boote mit allem durch das Hafenbecken trieben, was die Ruder hergaben.

»Flottenführer!« Der Matrose oben im Mastkorb fuchtelte mit den Armen. »Seht Euch das Wasser an!«

»Das ... bei allen Seeungeheuern, das gibt es doch nur in Geschichten!« Kerrens Finger krampften sich um den Hut in seinen Händen.

»Steht nicht ´rum wie ein Stockfisch, sondern befolgt den Befehl!«, fauchte Marcian. »Wenn es Euretwegen Tote gibt, wird der Lord Euch persönlich in Stücke reißen.«

Von einem Moment auf den anderen verschwand die Fassungslosigkeit aus Kerrens Gesicht und machte seinem gewohnt strengen Ausdruck Platz. »Los!«, brüllte er. »Alle Mann an Land!«

»Bewegung!«, bellte auch Marcian. »Warnt die Leute. Klopft an alle Türen. Jeder soll sofort auf der Burg Schutz suchen!«

»Lauft, ihr Ölsardinen«, ließ Kerren sich das letzte Wort nicht nehmen. »Es geht um Leben und Tod!«

Marcian sah die geweiteten Augen, die verwirrt umher huschenden Blicke der jungen Seemänner. Doch auch wenn sie das volle Ausmaß des Geschehens noch nicht zu begreifen schienen, die Autorität der beiden Befehlshaber trieb sie zu höchster Eile. Der Kai erzitterte unter Dutzenden hastiger Schritte und kurz darauf hämmerte es an allen Türen. Innerhalb von Minuten füllten sich die Straßen von Daramonhafen mit rennenden Menschen. Das Geschrei war ohrenbetäubend. Marcian musste mit Arnemons Hilfe mehrere Soldaten der Stadtwache zu einer kleinen Staffel zusammenziehen, damit sie nicht selbst von Flüchtenden umgerannt wurden. Sogar die Häuser schienen unter der sich verbreitenden Panik zu erzittern.

Arnemons Gesicht war ganz blass geworden beim Anblick der flüchtenden Massen. »Sie dürfen nicht so kopflos werden, dass sie sich gegenseitig verletzen.«

»Ich kümmere mich darum«, versprach Marcian. »Geh du rauf in die Burg und gib den Wachen am Tor Bescheid. Sonst bricht dort gleich genauso ein Chaos aus wie hier.«

Sein Freund nickte. »Wir werden Medikas brauchen. Nicht jeder wird ungeschoren davonkommen.« Er legte die Hand auf Marcians Arm. »Bleib nicht zu lange hier unten. Wenn wirklich eine Flutwelle kommt, dann ist sie schneller als jeder noch so erprobte Kämpfer.«

Marcian versuchte sich an einem leichtfertigen Lächeln. »Du solltest dich um dein Volk sorgen, nicht um einen einzelnen deiner Männer.«

»Schon gut.« Arnemon schnaubte.

»Soldat«, griff sich Marcian eine der Stadtwachen. »Du und deine Kameraden, ihr eskortiert den Sohn des Lords hinauf in die Burg. Du haftest mir persönlich für sein Wohlergehen.«

»Zu Befehl, Heerführer.« Der Mann salutierte.

Die Soldaten nahmen den zukünftigen Herrscher in ihre Mitte und preschten los. Im nächsten Moment waren sie in der wirren Menge verschwunden.

Lautes Fluchen drang an Marcians Ohr und er wandte sich um.

»Was soll das denn?«

Einige der Segelmacher versuchten doch tatsächlich, ihren wertvollen Webstuhl auf eine Schubkarre zu hieven. Selbst zu fünft taten sie sich schwer, das sperrige Gerät überhaupt zu bewegen.

»Das Ding nützt euch nichts mehr, wenn ihr hier unten ersauft!«, schnauzte er. Eine der Frauen fuhr zusammen und schluchzte drauflos. Kopfschüttelnd hängte Marcian sie an den Arm des älteren Mannes, der wie der Meister der Segelmacher aussah und scheuchte alle zusammen in Richtung Hauptstraße.

Falls es noch mehr solcher Leuchten hier unten gab, brauchte er dringend Verstärkung. Wo waren nur die übrigen Stadtwachen? Seine Leute waren doch nicht etwa auch auf der Flucht?

Am Marktplatz erspähte er eine der gesuchten, gelb-schwarzen Uniformen. Eine Handvoll Soldaten mühte sich ab, den wilden Strom der Menschen in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken. Drei der Männer zerrten gerade einen Händler von seinem Karren, der diesen nicht freiwillig aufgeben wollte. Das Pony scheute und seine Hufe kamen den Vorbeieilenden gefährlich nahe. Zum Glück schaffte es Arkon, der Hauptmann der Stadtwache, zusammen mit einer weiteren Wache, das verängstigte Tier in eine leere Seitengasse zu jagen. So konnte es niemanden verletzten und gleichzeitig war der Karren aus dem Weg. Der Händler fluchte und zeterte, wurde aber von dem Menschenstrom einfach mitgerissen.

»Gute Arbeit, Hauptmann.« Marcian ließ seine Hand auf die gepanzerte Schulter fallen.

Arkon fuhr herum. »Heerführer?« Er musste zweimal hinsehen, um seinen obersten Befehlshaber zu erkennen. »Dem Himmel sei Dank, dass Ihr da seid. Habt Ihr die Evakuierung angeordnet? Der ganze Hafenbereich ist ein einziges Chaos. Gab es wirklich ein Seebeben?«

»Uns bleibt keine Zeit, hier den Verkehr zu regeln«, erwiderte Marcian knapp. »Durchkämme mit deinen Leuten die Nebenstraßen. Jeder, der nicht sofort zur Burg hinaufgeht, ist so gut wie tot.«

Der Mann nickte hastig, drehte sich um und bellte Befehle. Wenige Augenblicke später schwärmten die Soldaten in einem strategisch geschickten Muster aus, das es ihnen erlaubte, schnell einen großen Bereich der unteren Stadt abzudecken. Wieder einmal bewies Hauptmann Arkon, dass er sein Handwerk verstand.

Marcian blickte zurück zur Hafeneinfahrt. Weiter draußen ragten die schwarzen Zähne der Riffe aus den Wellen. Dabei war jetzt Flut. Also geschah es wirklich ...

»Beeilt euch!« rief er, dann rannte er selbst in eine der Seitenstraßen. Die Türen der Wohnhäuser standen offen, Wäsche lag in der Gosse und Äpfel rollten aus umgeworfenen Körben. Der gedämpfte Lärm der panischen Menschen hallte zusammen mit seinen Schritten gespenstisch von den Wänden wider.

Gut, es schien niemand zurückgeblieben zu sein. Noch eine Straße, dann mache ich auch, dass ich hier wegkomme.

Ein hoher, langgezogener Laut ertönte. Weinte da jemand? Marcian wirbelte herum. Es schien aus einem der Hinterhöfe zu kommen. Rasch hastete er um die Ecke.

»Nun komm schon. Wir müssen uns beeilen!«

Marcian rannte in den Durchgang. Auf dem Hof stand eine Mutter mit Zwillingen auf dem Arm, die es nicht schaffte, ihren älteren Sohn auf die Beine zu ziehen. Der Kleine hatte sich die Knie aufgeschlagen und kauerte weinend am Boden.

»Geh!«, rief er der Frau im Lauf zu.

Sie schreckte auf, rührte sich aber nicht vom Fleck.

»Geh!«, wiederholte Marcian. »Ich nehme ihn schon!«

Er war schon fast bei ihr, da setzte die Mutter sich mit ihren Zwillingen endlich in Bewegung. Marcian packte den älteren Sohn und hievte ihn auf seinen Rücken. Der Junge war höchstens fünf und schien nicht zu begreifen, in welcher Gefahr er schwebte. Laut brüllend hämmerte er mit seinen Fäustchen auf Marcians Kopf ein. Er schloss seine Finger fest um die dünnen Oberschenkel, ignorierte den schrillen Protest und lief los.

Ihm blieb keine Zeit, sich zu orientieren. Er nahm die erstbeste Abzweigung, die bergauf führte. Die Gasse, in die er lief, war so schmal, dass kaum ein Sonnenstrahl auf die modrig riechenden Pflastersteine fiel. Die Schritte der Mutter, er war sich sicher, dass er sie irgendwo vor sich hörte. Aber wo? Bevor er riskierte, sich zwischen den eng verschachtelten Häusern der Hafenstadt zu verirren, suchte er sich lieber seinen eigenen Weg. Mit weit ausgreifenden Schritten setzte er mal nach links um eine Biegung, mal nach rechts, hielt sich aber immer bergauf. Endlich wurde es heller und er erreichte die Hauptstraße. Am Rand stand ein verlassener Karren mit dem bockenden Pony von zuvor, an dem die letzten Nachzügler vorbeihasteten. Marcian sah sich um. Unterhalb von ihm war die Straße verlassen. Dem Himmel sei Dank!

Ein kurzer Blick auf den Hafen trieb ihn unerbittlich weiter an. Bis hin zur Wehrmauer an der Einfahrt waren überall die Sandbänke zu sehen. Mit einem dumpfen Knarren setzte ein Schlachtschiff eben auf Grund auf und kippte langsam zur Seite. Nach und nach legten sich auch die anderen Schiffe in den Schlick und ihre Masten stachen schief in alle Richtungen.

In Rinnsalen rann der Schweiß ihm unters Hemd. Noch nie war ihm der Weg vom Marktplatz am Kai bis zur Burg so steil vorgekommen. Die letzten Flüchtenden aus der Stadt hatten ihn längst abgehängt. Auf seinen Schultern hüpfte der Junge im Takt seiner Schritte auf und ab und plärrte, dass ihm die Ohren gellten. Seine Arme schmerzten von der Anstrengung, den zappelnden Bengel festzuhalten, und seine Lungen brannten. Nicht darüber nachdenken, einfach weiterlaufen, immer weiter.

Während sich die Häuser unten am Hafen noch dicht an dicht drängten, lichteten sich in der Oberstadt nahe der Burg die Gebäude, wurden prächtiger und gönnten sich Vordächer. Gleich hatte er es geschafft.

Da hörte er das Donnern. Es war nicht laut, aber es drang durch den Boden in seine Füße und bis hinauf in die Haarspitzen.

Von den Burgzinnen hallten verzerrte Schreie zu ihm herunter. Er wollte nicht, aber sein Kopf drehte sich von selbst. Der ganze Horizont war erfüllt von mächtigem, unscharfem Blau. Es kam näher – mit einer Geschwindigkeit, die ihm das Herz stolpern ließ.

»Heerführer, lauft!« Eine letzte Wache hielt das Burgtor einen Spalt geöffnet.

Marcian schlang einen Arm um die Schenkel des Jungen, lehnte sich vor und rannte, was seine Beine noch hergaben.

Das Dröhnen hinter ihm wurde immer lauter. Hatte die Welle schon die Riffe erreicht? Wassermassen brüllten wie gierige Ungeheuer. Sicher prallten sie schon gegen die Hafenmauer. War es Gischt oder Schweißtropfen aus seinen Haaren, die er im Nacken spürte? Marcian verscheuchte die Bilder, die sein Verstand ihm vorgaukelte. Sein Atem rasselte und in seinem Brustkorb hämmerte es, als würde er jeden Augenblick zerspringen. Der Junge krallte sich mit beiden Händen in sein Haar und wimmerte. Dazu mischten sich das Knirschen von Stein, das Knarren von Holz und dumpfes Rauschen.

Nur noch ein paar Meter!

Die Wache trat von einem Fuß auf den anderen und umklammerte den Riegel, als würde sie sich jeden Moment dazu entscheiden, das Tor doch noch zu schließen.

Marcian warf sich nach vorne, stieß den Mann aus dem Weg und fiel ungelenk auf die Knie. Die schattige Kühle der Eingangshalle umfing ihn und er stieß einen langen Atemzug aus. Noch bevor er sich aufrappeln konnte, zerrte bereits jemand an seinem Arm. Verheulte Augen sahen ihn an.

»Danke, Heerführer«, schluchzte die Frau und reckte die Arme nach ihrem Sohn. »Tausend Dank!«

Marcian rang sich ein Lächeln ab und ließ den Jungen von seinem Rücken in die Arme seiner Mutter rutschen. Der letzte Sonnenstrahl von draußen verlosch, als das Tor zufiel und zwei Soldaten den Riegel vorschoben.

Marcian rappelte sich auf und kämpfte sich durch das Gedränge ans gegenüberliegende Ende der Eingangshalle. Dort schwangen sich zu beiden Seiten des Portals zum Thronsaal Treppen empor. Er hetzte die Stufen hinauf, umrundete die einmal die Halle umlaufende Galerie und stürzte durch eine Tür oberhalb des Tors hinaus auf den Wehrgang. Gleißender Sonnenschein und Seewind schlugen ihm entgegen. An den Zinnen stand sein Herrscher, Lord Verion, gemeinsam mit seinem Sohn in einem Ring aus Leibwachen. Obwohl Marcian sehr stürmisch heraufpolterte, drehte der Lord sich nicht um. Sein Blick war wie festgeleimt an dem, was sich unterhalb abspielte.

Marcians Beine zitterten, als er zur Brüstung wankte. Alles an ihm klebte vor Schweiß. Halt suchend lehnte er sich gegen den kühlen Stein und beugte sich nach vorne. Er musste sehen, was dort unten geschah.

Nein!

Seine erschöpften Glieder versagten ihm beinahe den Dienst. Er wurde Zeuge, wie ein Kamm aus schäumender Gischt über die Riffe vor der Bucht genauso spielend hinwegrollte wie über die Wehrmauer. Die Wucht, mit der die Wassermassen auf die Steilwände des Fjordes trafen, ließ den Felsen dröhnen. Kurz nur hüpften die im Hafen liegenden Schiffe auf und ab, bevor sie unter Knirschen und Jammern von der Woge zermalmt wurden. Im nächsten Moment schwemmten die zerfetzten Überreste von Handelskoggen und Galeonen die Hauptstraße hinauf.

Türen barsten und Lagerhäuser liefen voll. Innerhalb von Augenblicken nahm das Wasser eine Gasse nach der anderen. Wände stürzten ein und Dächer schwammen weg. Marcian hörte Fenster vom Druck des Wassers splittern. Irgendwo kreischten Hühner, deren Pferch überflutet wurde. Selbst die Fassaden der oberen Villen bröckelten und bekamen Risse.

Das im Sonnenlicht glitzernde Wasser kroch aufwärts wie eine gefräßige Schlange, leckte schon am Vorplatz der Burg.

Nicht auch noch die Burg! Bei meinem Herzschlag und meinem Atem, nicht die Burg! Marcian klammerte sich so fest an die Steinquader, dass er seine Hände aufscheuerte.

Die ersten Bäche kräuselten sich unten auf dem Platz, dann schien einen Augenblick lang alles still zu stehen. Im nächsten Moment kehrte sich die Gewalt der Wassermassen um und all das Treibgut und die Trümmer, die sie zuvor hinaufgespült hatten, rissen sie nun wieder mit. Als hätte sich ein gieriger Schlund geöffnet, gurgelte der Strom durch die Straßen abwärts. Der Sog ließ weitere Wände einstürzen und riss Pflastersteine heraus. Händlerkarren und Marktstände trudelten wie Spielzeug umher, bevor sie an Hausecken zerschellten und untergingen. Dann war das Wasser fort und hinterließ feucht glänzendes Pflaster voller Trümmerteile und Schlamm.

Marcian klammerte sich an der Zinne fest. Obwohl die Sonne auf ihn herunterbrannte, war ihm eiskalt.

»Bei meinem Herzschlag«, wisperte Arnemon.

Mehr brachte niemand über die Lippen. Selbst Lord Verion, der so gut wie nie eine Gefühlsregung zeigte, war blass geworden.

In nur wenigen Augenblicken hatte die Naturgewalt so viel Zerstörung hinterlassen wie ein durchmarschierendes Heer.

Das Schweigen war bleiern. Marcians Ohren fühlten sich taub an. Erst nach einer Weile drang das Kreischen der Möwen über ihren Köpfen wieder zu ihm durch. Wie lange standen sie schon so da? Stunden oder nur wenige Augenblicke? Er wusste es nicht.

Endlich drehte Lord Verion den Kopf zu ihm, so langsam, dass man für einen Moment sein Alter erahnen konnte. Ein Wimpernschlag, dann hatte der Herrscher sich wieder im Griff und sein Tonfall war hart und direkt wie immer.

»Dein Bericht, Heerführer.«

Marcian salutierte und kratzte seine gerade erst zurückkehrenden Kräfte für eine würdevolle Haltung zusammen. »Die Stadt ist geräumt, mein Lord. Ich war der Letzte.«

»Gut.«

Irrte er sich oder hob ein erleichterter Seufzer die Brust seines Herrschers?

Lord Verion fixierte bereits seinen obersten Berater. »Talien«, befahl er, »beauftrage ein bis zwei fähige Nautiker. Ich will genau wissen, wo diese Flutwelle überall auftraf. Wenn du die zu erwartenden Verluste an unserer eigenen Küste und bei unseren Vasallen ermittelt hast, erstellst du mir zusätzlich einen Bericht über unsere weiter entfernten Nachbarn. Ich muss wissen, wer von ihnen besonders geschwächt wurde.«

Marcian sog die Luft ein. Die kühle Präzision seines Herrschers beeindruckte ihn ebenso, wie sie ihn schaudern ließ.

Schon richtete der Lord seinen Finger wieder auf ihn.

»Heerführer, kümmere dich um Hilfskräfte für Daramonhafen und die anderen Küstenstädte. Halte außerdem Männer bereit, die kurzfristig in benachbarte Reiche aufbrechen können. Ich erwarte, dass mir fünf Kompanien auf Abruf zur Verfügung stehen.«

»Zu Befehl, mein Lord.« Marcian salutierte steif. Er kannte die Politik seines Herrschers gut genug, um zu wissen, was solche Worte bedeuten konnten.

 

Kapitel 3

Nachbeben

 

 

Die Schatten der Nacht legten sich wie eine dicht gewebte Decke über die Spuren der Katastrophe. Die in ihr Gedächtnis eingebrannten Bilder dagegen konnten sie nicht dämpfen. Liann blinzelte, als die silberne Mondsichel vor ihren Augen verschwamm.

So viele hatten es nicht rechtzeitig zur Hauptinsel und auf den Berg geschafft. So viele lagen nun verletzt oder tot am Strand. Noch mehr waren einfach verschwunden, vom Meer verschluckt ...

Gütige Meeresmutter, warum? Hastig fuhr Liann sich mit dem Arm durchs Gesicht und beugte sich tief über ihren Mörser, so dass ihr schwarzes Haar nach vorne fiel und den Blick auf ihre Umgebung versperrte.

»Hast du die Wundpaste fertig?«

Die raue Stimme ließ sie zusammenfahren. Rasch fügte sie als letzte Zutat die Blüten des Blutdorns hinzu und zerkleinerte sie, dann reichte sie die Medizin weiter. »Unsere Reagenzien gehen zur Neige«, stellte sie tonlos fest. »Bald können wir die Wunden nur noch mit Aloe behandeln.«

Katesha kontrollierte eher flüchtig das Ergebnis, bevor sie mehrere Stoffstreifen mit der rötlich braunen Paste bestrich. Ihre sehnigen Finger bebten dabei.

Liann schluckte. Trotz der Dunkelheit, die nur an wenigen Stellen durch kleine, qualmende Feuer durchbrochen wurde, waren die tiefen Schatten in den sonst so sprühenden grauen Augen ihrer Meisterin deutlich zu sehen. »Wollt Ihr nicht einen Moment ausruhen?«

»Pah«, schnaubte die. »Jeder, der sich noch auf den Beinen halten kann, wird gebraucht. Oder würdest du dich etwa hinlegen?«

Heftig schüttelte Liann den Kopf und nahm die dürftigen Verbände entgegen, die Katesha ihr reichte. Sie hatte recht. Bis zur jüngsten Novizin würde keine von ihnen ruhen, solange sie noch einen Funken Kraft besaßen.

Die Lager der Verwundeten waren zumeist nicht mehr als Kuhlen im Sand, notdürftig gepolstert mit abgerissenen Palmwedeln. Liann versuchte, ihre Ohren vor dem allgegenwärtigen Jammern zu verschließen, das ihr die Eingeweide zusammenzog. Sie eilte dorthin, wo ihre Schwestern Brüche richteten oder offene Wunden nähten, und verteilte die schmerzlindernde Salbe. Es war viel zu wenig, um allen zu helfen. Jedes Mal, wenn sie deswegen an einem Verletzten vorübergehen musste, wurde der Knoten in ihrem Magen enger.

Als die Paste schließlich ganz verbraucht war, ging sie zu einem der wenigen geretteten Regenfässer und brachte Wasser zu jenen Patienten, die noch immer keinen Schlaf gefunden hatten. Ein junger Mann, der seinen rechten Arm in einer Schlinge aus hastig geflochtenen Ranken trug, half ihr mit dem schweren Eimer. Er keuchte bei jedem Schritt, doch sie sah ihm an, dass auch er keine Ruhe fand. Also nahm sie seine Hilfe an, anstatt ihn für seine mangelnde Vorsicht zu tadeln.

»Banjhee«, sprach er sie an und senkte dabei den Kopf, »könntet Ihr vielleicht noch einmal nach meiner Schwester sehen? Sie ist immer noch nicht aufgewacht.«

Liann bemühte sich um ein warmherziges Lächeln. Sie erinnerte sich an das Mädchen, das man am Rand des verwüsteten Dschungels gefunden hatte. Die Strömung hatte es nur deshalb nicht mit sich gerissen, weil es sich krampfhaft an einen dicken Ast geklammert hatte – so fest, dass selbst die Holzfäller Mühe gehabt hatten, es davon zu lösen. Dabei war es die ganze Zeit bewusstlos gewesen.

Die Schwellung an der Schläfe des Kindes hatte Liann bereits behandelt, mehr konnte sie in dieser Nacht nicht tun. Dennoch ging sie mit dem jungen Mann zu der Kleinen. Deren Lider waren geschlossen, nur manchmal zuckten sie. Ihr Atem aber ging gleichmäßig.

Liann legte ihre Hand auf die Stirn der kleinen Patientin. Obwohl ihre Haut von der vielen Arbeit kaum noch Gefühl hatte, spürte sie die unnatürliche Wärme des Fiebers. Sie tauchte einen Stofffetzen in den Wassereimer und legte ihn dem Mädchen auf die Stirn.

»Sie schläft im Schutz von Meeresmutter und Sturmvater«, versuchte sie, den Bruder zu beruhigen. »Wahrscheinlich ist das auch besser, als all diese Schrecken mitzuerleben.«

»Ihr habt recht, Banjhee. Vielen Dank für Eure Hilfe.« Er verneigte sich leicht, bevor er sich am Lager seiner Schwester niederließ. Schon kurz darauf begannen seine Lider zu flattern.

Gut so, er sollte sich wirklich ausruhen. Seine Schulterverletzung war bei weitem nicht so harmlos, wie er tat.

Bevor ihre eigenen Glieder ebenfalls zu schwer wurden, trieb Liann sich aufs Neue an. Es wurde noch viel Arznei gebraucht und die komplexen Rezepturen durfte sie nicht den Jüngeren überlassen.

An der aus angeschwemmten Brettern zusammengezimmerten Arbeitsfläche setzte sie sich in den Sand. Ihr Kopf war so schwer, dass sie ihn aufstützen musste. Hinter ihrer Stirn begann es zu hämmern. Eine kurze Pause, nur einen Moment ausruhen ...

Liann stieß den Atem aus und schloss die Augen. Sofort begannen in ihrem Geiste die Bilder zu kreisen. Sie sah das diffuse Blau am Horizont, das immer näher kam und sich immer höher auftürmte. Dann hörte sie das Kreischen der rennenden Menschen. Das Gedränge auf dem höchsten Hügel der Hauptinsel, die panischen Schwimmer, die von den anderen Inseln zu ihnen flüchteten ... Das Donnern der Wassermassen hallte in ihrem Kopf wider, als wäre sie erneut mittendrin. Holz krachte, es gurgelte und heulte. Wieder spürte sie Meisterin Kateshas kräftige Hand auf der Schulter, die ihr Kraft gab, damit sie ...

Liann fuhr hoch. Gütige Meeresmutter, war sie etwa eingeschlafen? Sie blickte umher auf der Suche nach dem Laut, der sie aufgeschreckt hatte. Irgendetwas tat sich am Rande des Lazaretts.

Eine der Banjhee eilte an ihr vorbei. War es Schwester Maeva? »Sie haben noch jemanden gefunden«, keuchte sie.

Liann sah ihr nach und endlich begriff sie, was ihr die ganze Zeit in den Ohren gellte. Zwei Fischer trugen eine Gestalt auf den Armen, die durchdringend wimmerte.

Von Maeva geführt, schleppten die Männer sich in ihre Richtung. Neben der Arbeitsfläche waren weitere Bretter im Sand ausgelegt, die als Liegen dienten. Darauf betteten die beiden ihre Last.

Scharf sog Liann die Luft ein. »Meilyn!« Sofort stürzte sie an die Seite der Perlenzüchterin, die das Riff direkt neben dem ihrer Eltern pflegte.

Unter ihrer Bräune wirkte die Frau aschfahl. Ein stetiger Blutstrom sickerte unter dem Stoff ihres Kleides hervor, dort wo ein armlanger Holzsplitter ihren Oberschenkel durchbohrt hatte. Sie hatte die Lider zusammengekniffen und jammerte heiser, ohne wirklich bei Besinnung zu sein.

Vorsichtig löste Liann Meilyns Kleid von ihrem Bein. »Mächtiger Sturmvater!« Die Wunde war viel größer, als die Blutung hatte vermuten lassen. Meilyns Haut war eiskalt und wahrscheinlich war es ein Wunder, dass sie überhaupt noch atmete. Jeden Moment konnte sie verbluten.

»Wir müssen diesen Holzspieß entfernen«, drängte ihre Schwester.

Liann hielt ihre Hand auf. »Wenn wir das tun, vergrößern wir ihre Wunde weiter. In diesem Zustand bringt es sie um.«

»Aber … was sollen wir dann tun?« In Maevas dunklem Gesicht trat das Weiß ihrer Augen scharf hervor. Sie rang um Beherrschung, doch auch ihre Kräfte waren nahezu erschöpft.

»Ich werde ihr Blutbann geben. Das wird die Blutung erst einmal stillen. Vielleicht ist sie bis morgen kräftig genug für eine Operation.« Entschlossen erhob sich Liann.

»Bist du sicher? Das Rezept ist sehr schwierig. Soll ich dir helfen?«

Liann setzte sich vor ihren Mörser und griff nach einem zerdrückten Bund getrockneter Kräuter. Diese Arznei zu mischen, bedeutete weniger Wundpaste für alle anderen. Aber sie konnte Meilyn unmöglich allein in der Hand der Meeresmutter lassen. »Komm.« Sie ergriff den Stößel mit neuer Kraft. »Gemeinsam schaffen wir es.«

 

*

 

Was hatte Lord Verion nur im Sinn? Wozu brauchte er fünf Kompanien, wenn er keine Schiffe mehr zu bemannen hatte?

Schon seit Stunden wälzte Marcian diese Frage. Seine Befehle befolgte er natürlich trotzdem. Eine Kompanie von sechzig Mann war bereits dabei, ihre Seesäcke zu packen. Die zweite würde er zusammentrommeln, sobald die wichtigsten Aufräumarbeiten in der Stadt erledigt waren. Außerdem hatte er Brieftauben zu den nahe gelegenen Stützpunkten geschickt, um die fehlenden einhundertachtzig Soldaten herzukommandieren, die sein Herrscher von ihm forderte. Er konnte nur hoffen, dass sie trotz des Aufruhrs im Land rechtzeitig innerhalb eines Tagesrittes hier ankamen.

Wozu diese Eile?, grübelte er, während er von der Waffenkammer zum Arbeitszimmer des Schreibers ging, um den für fünf Kompanien benötigten Proviant zu bestellen. Den schweren Samtvorhang noch in der Hand, blieb er mitten im Türbogen stehen. Jemand anderes war ihm zuvorgekommen und stand breitbeinig zwischen dem Eingang und dem Schreibtisch des Schreibers. Es war der Flottenführer.

Die Stimme des wettergegerbten Seebären dröhnte durch den ganzen Raum. »Fünf Mannschaften, das wirst du doch wohl organisieren können? Schließlich hast du sonst eine ganze Flotte zu versorgen.«

Kitians Feder kratzte über das Pergament. Ein glänzender Schweißfilm stand auf seiner Stirn und er blickte nicht auf.

»Lord Verion wünscht es«, betonte Kerren. »Er kann sich doch auf dich verlassen, oder?«

Erst als Kitian nickte, stieß der Flottenführer ein befriedigtes Brummen aus und kehrte dem Schreibtisch den Rücken. Als er Marcian im Durchgang stehen sah, tippte er sich zum lässigen Gruß an die Stirn und zog einen Mundwinkel hoch. Direkt vor ihm blieb er stehen und nahm ihm den Samtvorhang aus der Hand. »Schön, dass Ihr mit Euren Landratten auch schon soweit seid.«

Sein Tonfall war leicht und scherzhaft, dennoch runzelte Marcian die Stirn. Ganz egal, wie viele Dienstjahre Kerren mehr auf dem Buckel hatte als er, es ärgerte ihn, dass der Flottenführer immer wieder mit ihm sprach wie mit einem Matrosen und nicht einem gleichrangigen Befehlshaber. Zu Land oder zur See – hin oder her.

Entschlossen begegnete er dem Blick des Seemanns, ohne auf seine Bemerkung zu antworten. Schließlich war es Kerren, der – von einem schiefen Grinsen begleitet – zur Seite trat und den Weg zu Kitians Schreibtisch frei gab.

Ohne einen weiteren Blick ging Marcian an ihm vorbei in den von deckenhohen Regalen dominierten Raum. Der Geruch von altem Pergament und Tusche war allgegenwärtig und auch die dünne Brise, die durch das schmale, vergitterte Fenster hereinwehte, kam dagegen nicht an. Kitians Schreibtisch wirkte verloren zwischen all den in den Gestellen aufgehäuften Folianten und Schriftrollen.

Obwohl Marcian dessen Liebe für Zahlen nicht nachvollziehen konnte, mochte er den harmlos aussehenden Mann, dessen Hände anstatt voller Schwielen voller Tuscheflecken waren. Seine blauen Augen blitzten immer, wenn er jemanden gefunden hatte, der sich für seine Schreibarbeit interessierte, und dass er mittlerweile ergraute, sah man in dem strohblonden Haarschopf nur, wenn man ganz genau hinsah.

Noch während Marcian sich näherte, schweifte sein Blick über die auf der Tischplatte verstreuten Schriftstücke. Auf einem erkannte er die Aufstellung von Lebensmittelvorräten, ergänzt um einige Anmerkungen zu Kerrens Forderungen. Bei einem anderen handelte es sich um eine Rechnung der Flusswerften im Zentrum des Landes, die für den Lord den Ausbau und die Instandsetzung seiner Flotte durchführte. Das wird teuer beim nächsten Mal, dachte er.

Ein kleiner Stapel Nachrichten trug die Siegel nahegelegener Küstenstädte. Er konnte nicht erkennen, was sie berichteten und scharrte ungeduldig mit den Stiefeln.

Kitian schreckte auf. »Oh!« Er fuhr sich durchs Haar und hinterließ einen schwarzen Strich auf seiner Stirn. »Heerführer, entschuldigt bitte. Ich habe Euch gar nicht kommen hören.«

Und das bei dem Lärm, den Kerren gerade veranstaltet hatte? Marcian zog verwundert eine Braue hoch.

Offenbar deutete der Schreiber seine Miene als Missfallen, denn er räusperte sich hastig. Beim Aufstehen warf er beinahe das Tuschefass um.

»Womit kann ich zu Diensten sein?«, fragte er.

»Schon gut«, wehrte Marcian ab, »du kannst ruhig sitzen bleiben.« Besser, Kitian konzentrierte sich auf seine Arbeit, als darauf, ehrerbietig zu sein. Wenn man es genau nahm, hatte er das nicht einmal nötig. Immerhin war er so etwas wie der Befehlshaber über die Bücher des Lords. Nur lag es Kitian nicht, Befehle zu erteilen.

»Haben die anderen Provinzen die Katastrophe gut überstanden?«, fragte Marcian mit einem Wink in Richtung der Nachrichten.

Kitian schob die Briefe in seine Richtung. »Im Moment verschaffe ich mir noch einen Überblick. Unsere Steilküste war ein Segen, würde ich sagen. Trotzdem gab es viel Verwüstung. Wo die Menschen nicht so zeitig gewarnt wurden wie hier, sind Dutzende gestorben. Wir werden viel in den Wiederaufbau stecken müssen. Ich habe bereits Nahrungsmitteltransporte von den Lagerhäusern im Hinterland angeordnet und in jeder Stadt werden Listen ausgehängt, in denen sich freiwillige Helfer eintragen können.«

»Gute Arbeit.« Marcian nickte anerkennend. Er war froh, dass jemand diese Dinge in die Hand nahm, jetzt wo er selbst andere Befehle auszuführen hatte. »Leider muss ich dir noch mehr abverlangen. Ich brauche Vorräte. Zwei Kompanien heute Abend, weitere drei bis morgen.«

Geräuschvoll blies Kitian sich eine lose Strähne aus den Augen und bedachte die Vorratsauflistung neben sich mit einem kritischen Blick. »Ihr wisst, dass alles, was Ihr aus den Lagern entnehmt, den Obdachlosen in Daramonhafen und den anderen Städten fehlt?«

Marcian presste die Lippen zusammen und nickte nur.

»Braucht Ihr auch Medikas?«

Diese Frage ließ ihn stocken. Konnte er wirklich zulassen, dass die medizinische Versorgung der Flutopfer geschmälert wurde?

»Wir haben einen ungewissen Auftrag vor uns«, antwortete er schließlich. »Sag der Majora Medika, sie soll zwei Dutzend ihrer Frauen bereithalten. Meine genauen Bedarfe erhält sie morgen früh.«

Kitian unterdrückte einen Seufzer. »Wie Ihr wünscht, Heerführer.« Er machte seine Notizen neben denen für Flottenführer Kerren und zog dann mehrere Briefbögen mit dem daramonischen Wasserzeichen aus der Schublade. »Ich werde gleich die offiziellen Befehle aufsetzen. Wohin sollen die Vorräte gebracht werden?«

»Darum kümmere ich mich als nächstes.«

 

Es war bereits dunkel, als Marcian am Kai endlich ein Lagerhaus gefunden hatte, das nicht unmittelbar einsturzgefährdet war und in dem er die Waffen und Vorräte für seine Kompanien lagern konnte. Eine Handvoll Männer befreite auf seinen Befehl hin die Räume von Schlamm und Unrat und nahm notdürftige Reparaturen vor.

Sofern die angeforderten Waren rechtzeitig eintrafen, hatte Marcian hoffentlich alles getan, um seinen Herrscher zufriedenzustellen. Zeit, Meldung zu machen. Danach erlaubte der Lord ihm hoffentlich, sich wieder intensiver der Hilfe für die Flutopfer zu widmen.

Seine Schritte waren nicht so kraftvoll wie sonst, als er seinen Rückweg über die Hafenpromenade antrat. Gestern um diese Zeit war der gesamte Hafenbereich erfüllt gewesen von den Lockrufen der Tavernenwirte, vom Grölen der Seeleute, dem Duft von Eintopf und Gewürzwein und von Frauenlachen. Jetzt hing die Ruhe ihm wie Bleigewichte auf den Schultern. Nur manchmal drang ein Rumpeln oder Ächzen an sein Ohr.

Stumm schufteten die Hafenarbeiter, die Handwerker und die Ladenbesitzer Seite an Seite, legten verschüttete Hauseingänge frei und stützten eingestürzte Wände und Dächer – schon seit Stunden und ohne Pause. Auch einige seiner Soldaten waren darunter, so viele er eben entbehren konnte. Mehr als einmal ließ der Drang mit anzupacken ihn innehalten. Doch er hatte andere Befehle und so setzte er sich stets zähneknirschend wieder in Bewegung. Zwischen all den schwitzenden, schlickbesudelten Gestalten fühlte sich sein aufwendig verzierter Harnisch mit dem Wehrgehänge viel zu eng an.

Er erreichte den Marktplatz, auf dem ein großes Feuer brannte und einen ganzen Berg aus Trümmern verzehrte. Eine Handvoll Medikas hatte sich hier mit einem kleinen Lazarett eingerichtet und versorgte jene Helfer, die sich bei ihrer Arbeit verletzt hatten. Neben ihnen hatten Bedienstete aus der Burg einen Stand errichtet, an dem sie Eintopf, Brot und gewässerten Wein verteilten. Immerhin.

Marcian dachte an die Liste seiner Bestellungen, die er bei Kitian abgegeben hatte und schüttelte den Kopf. Der Lord muss mir einfach ein paar Antworten geben.

 

Vor den herrschaftlichen Gemächern standen vier der persönlichen Leibwachen des Lords auf Posten. Anders als bei den gewöhnlichen Soldaten waren ihre Rüstungen geschwärzt und matt. Die darüberliegenden Wappenröcke waren nicht in dem üblichen Schwarz-Gelb gehalten, sondern wiesen nur schlichte Verzierungen des schwarzen Stoffes auf, dafür aber in Gold. Der Umriss des daramonischen Falken war mit Goldgarn auf der Brust eingestickt. Durch die Helme mit den breiten Nasen- und Wangenschirmen konnte Marcian nur die Augen der Männer erkennen. Sie waren die einzigen Soldaten, die es wagten, sich selbst dem Heerführer in den Weg zu stellen.

Marcian unterdrückte ein Knurren, als sie ihm tatsächlich den Durchgang versperrten.

»Lord Verion ist derzeit nicht zu sprechen«, tönte es blechern aus dem Helm zu seiner Rechten. »Er wird Euch bald rufen lassen, Heerführer.« Wenigstens war der Junge nicht so respektlos wie Kerren.

»Ich muss ihn jetzt sprechen«, erwiderte Marcian ungehalten.

»Ist es eine Angelegenheit von Leben und Tod?«, fragte die Wache kühl zurück.

Marcian bleckte die Zähne. »Nein«, knurrte er, bemüht seinen Zorn zu zügeln.

»Dann, Heerführer, bitte ich Euch um Geduld. Ihr wisst genau, wie ungern Lord Verion bei der Arbeit gestört wird. Wenn er soweit ist, werdet Ihr unverzüglich benachrichtigt.«

»Na schön, ich warte«, schnaubte Marcian und machte auf dem Absatz kehrt. Seine Fingerspitzen prickelten und er durchschritt die Flure so energisch, dass jeder Diener hastig zur Seite sprang. Erst kurz vor Arnemons Arbeitszimmer bremste er ab. Den Durchgang, der nur mit einem Vorhang verhangen war, schützten zwei der schwarz gerüsteten Leibwachen, die bei seiner Ankunft jedoch keine Miene verzogen. Er war ein häufiger Gast in diesen Räumen.

Die Perlen am Saum des Vorhangs klimperten vernehmlich, als er den Stoff zur Seite schlug und eintrat. Er brachte einen Luftzug mit, der die Flammen der mehrdochtigen Öllampe flackern ließ, so dass das Meer aus Schatten im Raum hektisch zuckte.

Arnemon hatte seinen Stuhl von dem raumfüllenden Schreibtisch und dessen Papierlast weggerückt und saß am offenen Fenster. Hin und wieder zauste ihm eine Böe des warmen Nachtwinds das offene Haar, ohne dass er es beachtete. Seine Hand hing von der Armlehne herab und drehte gedankenverloren das leere Branntweinglas, sodass Marcian befürchtete, es gleich auf dem Steinboden zerschellen zu sehen. Hatte er ihn denn nicht gehört?

»Setz dich«, bot der Lordssohn an ohne aufzublicken. »Nimm dir auch ein Glas.«

Marcian trat neben seinen Freund. Es gab keinen zweiten Stuhl in diesem Raum und so setzte er sich auf den Rand des Schreibtisches, der nur wenig wuchtiger war als der seines Herrschers.

Er schob einige Pergamente beiseite, unter denen die Kristallgläser zum Vorschein kamen. Die Karaffe mit dem Branntwein musste er aus einem Stapel Schriftrollen befreien, um sich bedienen zu können. Herb und brennend zugleich stieg das Aroma des Alkohols in seine Nase, als er das Glas hob. Wie flüssiges Feuer rann der Branntwein seine Kehle hinab und er unterdrückte den Drang zu husten. Trotz des Sommerwetters war er dankbar für die Wärme, die sich in seinem Magen ausbreitete.

Arnemon nippte ebenfalls an seinem Glas und brummte unwillig, als er erkannte, dass er bereits geleert hatte. Auffordernd streckte er es Marcian entgegen.

»Denkst du, es nützt was, wenn du dich betrinkst?« Dennoch ließ er die klare braune Flüssigkeit in das Glas rinnen.

»Es nützt genau so viel, wie wenn ich nüchtern bliebe«, entgegnete Arnemon und hob das gefüllte Glas an die Lippen. Noch immer hielt er dabei den Blick auf das samtige Nachtblau vor dem Fenster gerichtet. »Den ganzen Nachmittag hat mein Lord-Vater mich hier eingesperrt. Ich habe berechnet, dass es mindestens fünf Jahre dauern wird, bis die Städte an Daramons Küste wieder in annähernd demselben Zustand sind wie vor der Katastrophe. Die menschlichen Verluste und das Vieh ... die Waren ...« Seine Stimme wurde heiser und er nahm einen großen Schluck. »Jetzt arbeite ich an einer Strategie, den Wiederaufbau zu beschleunigen.«

Marcian ließ einen weiteren Schluck auf seiner Zunge hin und her rollen und spürte dem Brennen nach, das sich in seinen Gaumen fraß. »Lord Verion versteht eine Menge davon. Nicht umsonst ist Daramon eines der wohlhabendsten Länder auf diesem Kontinent.« Genau wie Tarsia. Er stieß die Luft durch die Nase aus. Sie war heiß und schwer vom Alkohol. Auf einmal vermisste er den Hof seiner älteren Schwester und ihre Art, die Dinge anzugehen.

»Ich kann das Ganze einfach nicht betrachten wie eine Partie ‚Manöver’!«, fauchte Arnemon. Sein schon wieder leeres Glas krachte auf die Tischplatte. Er riss sich vom Blick aus dem Fenster los und sah Marcian an. Die Flammen der Öllampe spiegelten sich in seinen Augen und fast rechnete Marcian damit, gleich angesprungen zu werden. Dann fiel das Strohfeuer in sich zusammen und der Lordssohn wandte sich wieder seinem Glas zu. Er schwenkte den letzten Tropfen darin ein paar Mal hin und her, dann schob er es von sich. »Wie sieht es aus dort unten?«

»Schrecklich.« Marcian kippte den letzten Rest Branntwein in sich hinein. »Alles ist voller Trümmer und Schlamm. Durch die Wärme fault das Zeug schneller, als die Leute es wegschaffen können, und sie haben kein frisches Wasser. Die Häuser sind unbewohnbar, die meisten von ihnen könnten jeden Moment einstürzen. Viele haben sich deshalb schon verletzt. Die Medikas befürchten, dass sich schon bald Krankheiten ausbreiten.«

»Ich habe es geahnt.« Mit einer fahrigen Bewegung strich Arnemon sich die wirren Strähnen aus dem Gesicht. »Das Schlimmste ist also noch nicht überstanden. Und wenn ich nur an die anderen Städte denke, die uns Nachrichten geschickt haben ...«

Bei dem Gedanken an die vielen Pergamente in Kitians Arbeitszimmer schenkte Marcian sich ein zweites Mal ein. Ob es wirklich nur fünf Jahre dauern würde, bis Daramons Küstenstädte sich von diesen Wunden erholten? Seltsam, wie sehr ihm das naheging, wo doch die im Wind wogenden Ebenen seiner Heimat viele Meilen im Nordwesten lagen – weit außerhalb der Reichweite jeder möglichen Flutwelle.

---ENDE DER LESEPROBE---