Flavia de Luce 11 - Des Henkers letzte Mahlzeit - Alan Bradley - E-Book

Flavia de Luce 11 - Des Henkers letzte Mahlzeit E-Book

Alan Bradley

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Beschreibung

Endlich: Die bezaubernde Flavia ermittelt wieder! Der 11. Fall für die minderjährige Kult-Ermittlerin.

Major Greyleigh, ein ehemaliger Henker, wird tot aufgefunden. Todesursache: der Verzehr giftiger Pilze. Schnell gerät die Köchin Mrs Mullet ins Visier der Polizei. Doch ganz so einfach ist die Lösung nicht – Flavia ermittelt auf eigene Faust. Auf der Suche nach dem Mörder wird sie auf einige Familien aufmerksam, die durch den Henker Angehörige verloren und damit alle ein Motiv haben. Oder hat etwa ihre unerträgliche Cousine Undine etwas mit dem Tod des Henkers zu tun? Am Ende ihrer Nachforschungen kommt Unvorstellbares ans Licht: Flavia erfährt, was wirklich mit ihrem toten Vater geschah – das wohl größte Rätsel ihres Lebens.

Sie können gar nicht genug bekommen von der herrlich versponnenen Flavia de Luce? Dann lesen Sie doch Band 1 bis 10 ihrer Abenteuer!

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Seitenzahl: 310

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Buch

Major Greyleigh, ein ehemaliger Henker, wird tot aufgefunden. Todesursache: der Verzehr giftiger Pilze. Schnell gerät die Köchin Mrs Mullet ins Visier der Polizei. Doch ganz so einfach ist die ­Lösung nicht – Flavia ermittelt auf eigene Faust. Bei ihrer Suche nach dem Mörder wird sie auf einige Familien aufmerksam, die durch den Henker Angehörige verloren und damit alle ein Motiv haben. Oder hat ihre unerträgliche Cousine Undine ihre Finger im tödlichen Spiel? Am Ende ihrer Nachforschungen kommt das Unvorstellbare ans Licht, und Flavia erfährt, was einst wirklich mit ihrem verstorbenen Vater geschah – das wohl größte Rätsel ihres Lebens …

Autor

Alan Bradley wurde 1938 geboren und wuchs in Cobourg in der kana­dischen Provinz Ontario auf. Er war Direktor für Fernsehtechnik am Zentrum für Neue Medien der Universität von Saskatchewan in Saskatoon, bevor er sich 1994 aus dem aktiven Berufsleben zurückzog, um sich nur noch dem Schreiben zu widmen. »Mord im Gurkenbeet« war sein erster Roman und der bereits viel umjubelte Auftakt zur Serie um die außergewöhnliche Detektivin Flavia de Luce. Alan Bradley lebt zusammen mit seiner Frau auf der Isle of Man.

Von Alan Bradley bereits erschienen

Mord im Gurkenbeet · Mord ist kein Kinderspiel · Halunken, Tod und Teufel · Vorhang auf für eine Leiche · Schlussakkord für einen Mord · Tote Vögel singen nicht · Eine Leiche wirbelt Staub auf · Mord ist nicht das letzte Wort · Der Tod sitzt mit im Boot · ­Todeskuss mit Zuckerguss · Des Henkers letzte Mahlzeit

ALAN BRADLEY

Des Henkers letzte Mahlzeit

FLAVIA DE LUCE

Roman

Deutsch von Gerald Jung und Katharina Orgaß

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel WHATTIMETHESEXTON’S SPADEDOTHRUST bei Bantam Books, New York.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen

Copyright der Originalausgabe © 2024 Amadeus Enterprises Ltd.

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2024 by Penhaligon in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Rainer Schöttle

Umschlaggestaltung und Illustration: © Isabelle Hirtz, Hamburg

StH · Herstellung: fe

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-31498-9V001

www.penhaligon.de

Für Shirley

Der rost’ge Spaten muss im Schuppen bleiben,

Der Totengräber lässt beim Wirt anschreiben.

ANDREWDODDSAt the End

1

Viele bedeutende Geistesgrößen sind nach dem Aufwachen schlecht gelaunt, und ich bin diesbezüglich keine Ausnahme. Wenn mein Hirn zu Hochform auflaufen soll, brauche ich Ruhe, wie ein Luftballon Helium.

Darum hocke ich, kaum eine Viertelstunde nach einem hastigen, einsamen Frühstück auf Buckshaw, unter einem schwarzen Schirm auf dem alten Friedhof von St. Tankred – dem einzigen Ort, wo mich mit Sicherheit niemand stört.

Es gibt eine bestimmte Sorte Friedhofserde, die Blasen schlägt, wenn es regnet. Ich habe bereits eine Theorie über die Ursache dieses Phänomens entwickelt, möchte aber weitere Beobachtungen vornehmen, ehe ich meine Überlegungen zu Papier bringe.

Nach meiner Erfahrung ist nichts belebender, als auf einem verregneten, nebligen Landfriedhof unter einem Schirm zu kauern. Dicht über deinem Kopf veranstalten die Tropfen einen militärischen Trommelwirbel auf dem straffen schwarzen Seidenstoff, während deine Nase gierig den erquickenden Mief von Grabsteinen, nassem Gras und uraltem Moos einsaugt: einen Geruch, der in deinem Geist Türen öffnet, von denen du bis dahin nichts gewusst hast.

Auf Friedhofsmoos sitzt es sich weich, aber feucht. Mrs Mullet sagt immer, ich würde davon das Reißen kriegen und müsste irgendwann meine Knochen austauschen lassen.

Das alles mag sich kalt und klamm anhören, doch es liegt eine ganz eigene Wärme in der Gewissheit, dass man völlig allein ist – von den Toten mal abgesehen.

Tote bekommen keine Wutanfälle, sie sind nicht gemein und hinterlistig, schmeißen nicht mit Tellern und Besteck und schmollen nicht. Sie dienen einfach nur unter ­unseren Füßen dicken schwarzen Käfern als Festschmaus, während Pilze genüsslich die Sargreste verdauen. Es ist eine Welt voller Harmonie und dunkler Behaglichkeit, voller stiller Gnade und Schönheit. Ein glückseliger Totentanz.

Ich dachte an das Jahr, in dem ich spätabends an Allerseelen in einer entlegenen Ecke ebenjenes Friedhofs eine Handvoll Feuerwerksraketen gezündet hatte, eine jede handschriftlich mit dem Namen eines dort ruhenden, aber so gut wie vergessenen Verstorbenen versehen:

Bamm!

Das war für Nettie Savage (1792 – 1810)

Kawumm!

Samuel Pole (1715 – 1722)

Zosch! Arden Glassfield (1892 – 1914)

Bumm! Pumm! Pumm! Eine dreifache Salve für Annie Starling, alte Jungfer (1744 – 1775)

Bedauerlicherweise war eine von Annies Lunten in der Dachrinne der Kirche niedergegangen, wo sie eine Ansammlung von Moos und anderem Zeug entzündet und damit das Haus Gottes in Brand gesteckt hatte. Die Feuer­wehr von Bishop’s Lacey musste anrücken, um den kleinen, aber hell lodernden Brandherd zu löschen. Vater hatte seinem Unmut dadurch Ausdruck verliehen, dass er mich dazu verdonnerte, monatlich für die Feuerwehr zu ­spenden, was jedoch, da es sich um sein Geld handelte, keine sonderlich harte Strafe war. Unangenehm war nur, dass ich die Spende jedes Mal persönlich abliefern musste, was ich anfangs als Qual empfand, weil ich mich dabei wie ein elender Wurm fühlte, aber letztlich lernte ich jede Menge Feuerwehrleute kennen und etwas über die Chemie des Löschens.

Ach, was waren das für herrliche Tage! Und ach, wie inbrünstig wünsche ich sie mir zurück!

Heutzutage sind Pilze meine einzigen Freunde.

***

Wenn ich nicht einschlafen kann, tue ich manchmal so, als wäre ich selbst ein Pilz, der heimlich, still und leise über eine glitschige, mondbeschienene Oberfläche kriecht und sich an arglosen Borkenstückchen labt, und schmatze mit meinen Pilzlippen, wie nur Pilze schmatzen.

Schmatz! Eine leckere Kiefernnadel. Schmatz! Der ­bittere Geschmack von Weidenrinde. Schmatz! Ein unverhoffter Sargdeckelsplitter mit seinem diskreten Formaldehyd-Aroma. Ermutigt krieche ich weiter, hoffe auf etwas Gehalt­volleres, Fleischiges.

Und so weiter und so fort … bis ich in lähmenden grauen Schlaf sinke.

Womit wir wieder auf dem verregneten Friedhof von St. Tankred wären.

Ich musste dringend für mich sein.

»Flavia!«

Verflixt und zugenäht! Das war Undine, meine nervtötende Cousine, der Fluch von Buckshaw. Wie hatte sie mich aufgespürt? Ich hatte mein treues Fahrrad Gladys unter dem Kirchenportal abgestellt, zum einen, damit Gladys trocken blieb (sie fährt sehr gern bei leichten Niederschlägen, steht aber nicht gern im Regen herum), zum anderen, um sie vor ungebetenen Blicken zu schützen.

Ich duckte mich noch tiefer, krümmte mich zusammen, als könnte ich mich auf diese Weise kleiner oder sogar unsichtbar machen. Vielleicht würde der kleine Quälgeist meinen nassen Schirm für ein schwarzes Marmorgrab halten.

»Flavia!«

Mit angehaltenem Atem biss ich die Zähne zusammen. In ihrem Regenmantel und dem wasserdichten Hut glich Undine einer Nachwuchs-Untoten.

Doch sie hatte mich schon entdeckt.

»Was führt dich zu mir, herzallerliebste Base?«, knurrte ich und wischte mir einen Regentropfen vom Augenlid.

Sie glotzte mich mit offenem Mund an, als wäre ich soeben auf einer goldenen Strickleiter vom Himmel herabgestiegen.

»Warum musst du mir eigentlich überallhin ­nachlaufen?«, schob ich nach.

»Weil ich dein Krokodil bin«, fauchte sie, schnappte mit den Zähnen und stieß kehlige Laute aus. »Ticktack, ticktack.«

»Du kannst mich mal«, sagte ich.

»Und du spinnst«, gab sie zurück. »Weißt du das eigentlich? Du bist plemplem.«

Mir kam, wie man so schön sagt, die Galle hoch, aber ich riss mich zusammen.

»Ich möchte, dass wir – du und ich – hier und jetzt schwören, sozusagen auf dem Grab des heiligen Tankred, von nun an netter zueinander zu sein. Bekanntlich sind wir beide Waisen, und Waisen müssen zusammenhalten. Verstehst du, was ich meine?«

»Jawollo!«, erwiderte sie begeistert.

»Sag nicht immer ›Jawollo‹. Dann hörst du dich an wie eine Bauchrednerpuppe. Du verbringst zu viel Zeit mit Carl Pendracka.«

Carl gehörte zu den ehemaligen Verehrern meiner Schwes­ter Ophelia, ein amerikanischer Soldat, der als Kind zwischen seinen Eltern hin- und hergependelt war, von St. Louis, Missouri, nach Cincinnati, Ohio, und wieder zurück. Eine »saisonbedingte Wanderkindheit«, wie er selbst es nannte. Obwohl seine Liebesleidenschaft durch Feelys Hochzeit mit einem Rivalen einen Dämpfer bekommen hatte, trieb er sich auch danach auf Buckshaw herum. Womöglich, wie meine andere Schwester Daffy argwöhnte, »auf der Jagd nach leichterer Beute«.

»Carl ist super«, sagte Undine. »Er bringt mir bei, wie man ›Hail to the Chief‹ furzt. Das ist der Marsch, der immer für den Präsidenten der Vereinigten Staaten gespielt wird.«

»Sei nicht so vulgär!«

»Eigentlich wollte ich ›Rule Britannia‹ lernen, aber Carl meint, das ist ein Orchesterstück und zu riskant für eine Anfängerin. Da muss man sich langsam rantasten. Momentan schaffe ich bloß das Entchen-Lied. Carl sagt, ich muss lernen, die Altstimme zu pupsen und Zischer zu vermeiden, darum komme ich manchmal zum Üben hierher. Falls mal was danebengeht, du verstehst. Hey, Flavia, ich hab ein Rätsel für dich: Was ist weiß, hat einen Henkel und kann fliegen?«

»Weiß ich nicht und will’s auch nicht wissen.«

»Ein Nachttopf!« Sie bog sich vor Lachen und schlug sich aufs Knie.

»Du bist eklig«, sagte ich streng und verkniff mir das Grinsen, um sie nicht zu ermutigen.

»Ich bin nicht eklig, sondern geschäftstüchtig. Hast du gewusst, dass der Franzose Joseph Pujol sagenhaft reich wurde, indem er vor großem Publikum auf der Bühne Winde streichen ließ? Und er brachte nicht nur Musik­stücke zu ­Gehör – er konnte auch Tierlaute nachmachen!«

»Ich will nichts davon hören.«

»Carl meint, ich soll mehr Kohl essen und dazu pfundweise Bohnen. ›Dann flehen sogar die Engel um Gnade‹, sagt er.«

»Interessiert mich nicht.«

»Du bist verklemmt.«

»Ich bin nicht verklemmt, ich besitze lediglich Anstand.«

Undine kniff ein Auge zu und musterte mich von oben bis unten, als stünde ich auf einem orientalischen Basar zum Verkauf.

»Du bist eine de Luce aus Buckshaw. Ihr seid alle gleich. Etepetete. Habt einen Stock im Hintern. Tragt die Nase hoch. Ibu hat sich immer über euch lustig gemacht.«

So hatte Undine ihre verstorbene Mutter Lena genannt – Ibu. Lena war eines schrecklichen und spektakulären Todes gestorben, in einem Hagel aus bunten Kirchenfensterscherben, teils noch aus dem 13. Jahrhundert.

Undine beäugte mich durch einen imaginären Zwicker und trällerte: »Wir sind nämlich was Besseres – die Treppe unseres Anwesens hat der berühmte Architekt Christopher Wren persönlich entworfen!«

»Aha« war das Schlagfertigste, was mir einfiel.

»Ibu meinte, der Hochmut quillt euch Buckshaw-de-­Luces aus allen Poren.«

»Dann ist das wohl so.« Ich bemühte mich um die Sanftmut einer Heiligen, und sei es nur kurz, doch genauso gut hätte ich versuchen können, Wackelpudding festzuhalten, und ich fühlte mich plötzlich mies.

War das alles, was mir einfiel, um unsere kaputte Familie zu kitten? Was hätte Vater von mir gedacht?

Sein unvermittelter Tod hatte mich schwer getroffen, alles kam mir sinnlos vor. Erst hatte ich versucht, mich abzuschotten und so zu tun, als wäre er noch am Leben und nur nicht erreichbar – als wäre er bloß wie so oft in seine blöde Briefmarkensammlung vertieft. Doch als die Tage, die Wochen und schließlich die Monate schwerfällig dahinkrochen, wachte ich immer öfter weinend auf und schämte mich dafür, ein tränennasses Kopfkissen vorzufinden, das ich niemandem erklären konnte (oder wollte), nicht mal mir selbst.

Die Frau des Vikars hatte mich beiseitegenommen, um, wie sie sich ausdrückte, »ein bisschen zu plaudern«. Sie meinte, sie wisse, wie es sei, einsam zu sein, und dass ich mich deswegen nicht schlecht fühlen müsse. Dass Einsamkeit keine Sünde sei.

Es ist immer peinlich, wenn jemand die unsichtbare Grenze zu deinem Privatleben übertritt. Selbst wenn es gut gemeint ist – die Grenze ist verletzt und kann nie wieder der undurchdringliche Schutzwall werden, der sie einmal war.

Ich hatte mich für ihre Anteilnahme bedankt, ihr aber verschwiegen, dass ich nicht von Einsamkeit zerfressen wurde, sondern vom Mangel an Liebe (was genauso wenig eine Sünde ist).

Doch es steckte noch mehr dahinter.

Ich bin die Erste, die zugibt, dass ich kein gewöhnliches Mädchen bin, aber da gab es noch mehr: Etwas seltsam Verstörendes war in mein Leben getreten.

Es war, als würde sich um mich herum unmerklich eine Glaswand bilden – ein trüber Nebelschleier, der mich von meiner Umgebung trennte. Dagegen musste ich etwas unter­nehmen, bevor es zu spät war – bevor ich in der Falle saß und nicht mehr auf die andere Seite gelangen konnte.

Ich musste mich aus eigener Kraft wieder aufbauen.

Doch ich musste mit etwas Einfachem anfangen. Erst sind Spaten und Meißel dran, dann kommt die Kathedrale.

Undine beugte sich über einen Grabstein, bohrte in der Nase und tat so, als würde sie die Inschrift lesen.

»Und was willst du jetzt hier?«, hakte ich nach.

»Dogger hat mir aufgetragen, dich zu holen. Sofort.«

»Aus einem bestimmten Grund?«

»Ich weiß nur das, was ich durch die geschlossene Tür gehört habe«, erwiderte Undine. »Aber es geht um Mrs Mullet. Ich glaube, sie hat jemanden umgebracht.«

2

Gladys’ Reifen sangen im Regen, als wir über den Asphalt flitzten. Vor mir hockte Undine wie ein verletzter Storch auf Korb und Lenker und grölte irgendeinen heidnischen Gesang. Doch ich war zu abgelenkt, um sie ­zurechtzuweisen.

Mrs Mullet sollte jemanden umgebracht haben? Das konnte ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Und wen überhaupt?

Dogger konnte es nicht sein, denn er hatte Undine losgeschickt. Und die einzige andere Person im Haus war Daffy. Meine Schwester …

Ich trat noch kräftiger in die Pedale.

Bitte lass sie … Bitte lass sie …

Wir sausten durchs Mulford-Tor und die lange Kastanienallee entlang. Weiter vorn erblickte ich schon Inspektor Hewitts blauen Vauxhall, der Unheil verkündend vor dem Vordereingang von Buckshaw parkte. Vom Fahrersitz blickte uns ein junger Wachtmeister mit unbewegter Miene entgegen. Er gehörte nicht zu den Beamten, die ich kannte. Wahrscheinlich war er als Wache hier postiert, falls irgendwelche Täter aus dem Haus fliehen wollten.

Als ich jäh bremste, rutschte das Hinterrad weg, Undine landete auf dem Kiesweg und stolperte ein paar Schritte auf unsicheren Storchenbeinen.

»Pass auf!«, rief ich, denn es war tatsächlich keine Absicht gewesen.

Sie warf mir unter ihrem Regenhut einen Blick zu, den ich aber in der Eile nicht deuten konnte.

Als wir am Vauxhall vorbeikamen, winkte ich dem Wachtmeister zu, doch sein großes weißes Gesicht hinter der Fensterscheibe blieb so ausdruckslos wie ungebackenes Brot.

Drinnen steuerte ich die Küche an. Mrs Mullet würde sich nirgendwo anders verhören lassen als in ihrem eigenen Hoheitsgebiet.

Sie saß am Küchentisch, ihr Gesicht starr wie eine Marmormaske, doch als sie mich erblickte, zersprang die Maske und sie brach in Tränen aus.

»Oh, Miss Flavia«, schluchzte sie. »Du musst es ihm sagen … Ich hab doch niemanden umgebracht … so was könnte ich gar nicht!«

Inspektor Hewitt stand mit seinem Notizbuch auf der gegenüberliegenden Tischseite.

»Miss de Luce.« Er nickte mir knapp zu.

So sollte es also ablaufen – formell bis in die Fingerspitzen. Er und ich hatten schon mehrfach miteinander zu tun gehabt, aber jede Begegnung war anders verlaufen, und jedes Mal hatten wir ganz von vorn angefangen, als hätten wir einander noch nie gesehen.

»Herr Inspektor«, gab ich zurück. »Würden Sie mir bitte erklären, was hier vorgeht?«

Am besten demonstrierte ich von Anfang an Autorität, immerhin befanden wir uns auf meinem eigenen Grund und Boden. Meine Mutter Harriet hatte mir Buckshaw vermacht, allerdings zu gewissen komplizierten, treuhänderischen Bedingungen, die mir eine Reihe staubgrauer Herren immer wieder von Neuem erläutern mussten.

Inspektor Hewitt wirkte leicht verblüfft. Vielleicht hatte er meine Gedanken erraten.

Unser Verhältnis war wechselvoll. Er wusste nie so recht, was er von mir halten sollte, wogegen ich in ihm lesen konnte wie in einem offenen Telefonbuch. Ich hatte ihm bereits bei etlichen Fällen geholfen, doch wie es Autoritäten so oft erging (Paulus hatte Timotheus anempfohlen zu ­beten: »Für Könige und all jene, die in Amt und Würden sind, auf dass wir ein ruhiges und friedliches Leben in aller Güte und Ehrenhaftigkeit führen können«), bedeutete das alles nichts. Ich hatte es versucht, und es hatte nicht geklappt.

Plötzlich erschien Dogger auf die ihm eigene überraschende lautlose Art und Weise. Eben war er noch nicht da gewesen, jetzt stand er halb in der Tür. Doch er sagte nichts, und ich begriff sofort, dass er nicht beachtet zu werden wünschte.

Dogger war unsere große Stütze: unser Mann für alles, Berater, Gärtner, Beschützer und Freund. Er war zusammen mit Vater in Kriegsgefangenschaft gewesen und litt noch immer an den seelischen Narben. Im einen Augenblick war er ein Fels in der Brandung, im nächsten ein bebendes Blatt im Winde. Ich lächelte ihm verstohlen zu.

»Jemand ist tot«, sagte der Inspektor endlich. »Vielleicht kann Mrs Mullet das erklären.«

Ein kluger Schachzug. Einerseits untersagten ihm die Vorschriften, öffentlich Informationen auszustreuen, als würde er Weizen säen, andererseits rutschte Mrs Mullet daraufhin vielleicht etwas heraus, was sie bis dahin verschwiegen hatte. Kompliment, Herr Inspektor, dachte ich.

»Der Inspektor sagt, es ist dieser Major Greyleigh.« Mrs Mullet trocknete sich mit der Schürze die Augen. »Er ist tot. Du weißt ja, dass ich ab und zu für ihn in seinem Cottage gekocht hab, seit dein armer Papa – Colonel de Luce, meine ich … Entschuldige, Miss Flavia, ich wollte nicht …«

Ich drückte ihre Schulter.

»Er ist tot«, wiederholte sie.

Aber wen von beiden meinte sie jetzt?

Der pensionierte Major, so viel wusste ich, hatte sich vor ein paar Jahren in ein Häuschen am Ortsrand von Bishop’s Lacey zurückgezogen. Persönlich war ich dem Mann nie begegnet, hatte aber den Eindruck, als würde er ganz für sich leben. Nur ein kleiner Beamter, hatte er sich mal gegenüber dem Vikar bezeichnet. Wer konnte Interesse daran haben, so jemanden umzubringen?

»Er hat zum Frühstück gern Pilze gegessen«, fuhr Mrs Mullet fort. »Deshalb hab ich auf dem Weg zum Moonflower Cottage welche gesammelt. Hinter dem Zauntritt bei Grangers Wiese, du kennst die Stelle. Und ich hab sie selber geschmort und ihm auf Toast serviert. Und dann auf einmal – bums! – ist er tot. Die Pilze waren giftig, und ich bin an allem schuld, sonst keiner.«

Pilze! Ich traute meinen Ohren nicht. Ich muss nämlich gestehen, dass ich schon lange zu Gott, der Jungfrau Maria und sämtlichen Heiligen um eine richtig schöne Pilzvergiftung betete. Natürlich wollte ich nicht, dass jemand daran starb, aber wozu verlieh man einem Mädchen ein Talent für Naturwissenschaften – beziehungsweise in meinem Fall für Chemie –, wenn man ihr keine Gelegenheit gab, dieses Talent zu erproben?

Abgesehen davon sammelte und kochte Mrs Mullet schon seit Menschengedenken Pilze und konnte die verschiedenen Arten so treffsicher voneinander unterscheiden wie jede Frau vom Land. Genau genommen hatte ich mein Grundwissen über essbare Pilze von ihr, und das schon lange, bevor ich mich der Erforschung seltenerer toxischer Chemikalien zugewandt hatte.

Mrs Mullet weinte jetzt leise vor sich hin, und Inspektor Hewitt bedachte sie mit einem Blick … ja, mit was für einem? Einem skeptischen?

»Hat schon jemand daran gedacht, Mrs Mullets Mann zu holen?«, fragte ich, ohne den Inspektor dabei direkt anzusehen. Ich hatte einen sonderbaren Geschmack im Mund, den mein Verstand versuchsweise als bis dahin ungekannte Art von Verstimmung einstufte.

»Selbstverständlich«, antwortete der Inspektor. »Bis jetzt konnten wir ihn noch nicht ausfindig machen.«

»Mein Alf ist Angeln«, sagte Mrs Mullet tonlos. »›Nimm deine Watstiefel mit‹, hab ich noch gesagt, aber er hat’s vergessen.«

Ich legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter.

»Schon gut, Mrs M. Das Ganze ist bestimmt ein Irrtum und wird sich aufklären.«

Als sie ihre Hand auf meine legte, wusste ich, dass meine Worte bei ihr angekommen waren.

Inspektor Hewitt warf mir ein schiefes, bittersüßes Lächeln zu. Kein Gesetz der Welt verbot es, Beschuldigte zu trösten, das wusste er ebenso gut wie ich.

»Ich sag gar nix mehr, bevor Alf nicht hier ist.« Mrs Mullet wischte sich abermals mit der Schürze übers Gesicht.

Sie präsentierte mir den Aufschub auf dem Silbertablett, und ich sprach ein stummes Dankgebet.

Währenddessen spähte Undine um Dogger herum, der immer noch reglos in der Tür zur Anrichtekammer stand. Der Himmel allein wusste, was meine Cousine von alldem hielt.

»Ich hätte ein paar letzte Fragen, Mrs Mullet«, ergriff Inspektor Hewitt wieder das Wort. »Danach bringen wir Sie nach Hause.«

Mrs Mullet verschränkte die Arme und starrte trotzig an die Küchendecke.

»Nun denn …« Der Inspektor steckte den Kugelschreiber geschickt in die praktische kleine Lasche an seinem Notizbuch und klappte es zu. »Nur eins noch: War Major Greyleigh gestern vor seinem Frühstück bei guter Gesundheit? Ist Ihnen irgendetwas an ihm aufgefallen?«

»Na ja, still war er. Am Abend davor war er drüben in Leathcote, im Offiziersclub. Er kannte da Leute und war für die so was wie eine Berühmtheit. Seine Kameraden haben gern einen mit ihm gehoben und über die alten Zeiten geplaudert. Sie haben ihm auch manchmal was geschenkt – Fleisch und Butter, Coca-Cola oder eine Zigarre. Was eben alles so rationiert ist. Schon komisch, dass die Yanks alles kriegen und wir immer noch halb am Verhungern sind, wo der Krieg doch jetzt schon acht Jahre vorbei ist.«

»Verstehe. War der Major so still, bevor Sie ihm die Pilze vorgesetzt haben oder danach?«

Ich fand die Frage ein bisschen grob, aber vielleicht war es ja nicht so gemeint.

»Die hängen mich auf!«, jammerte Mrs Mullet, nachdem sie tief und zittrig Luft geholt hatte. »Die binden mir die Hände zusammen und die Füße auch, dann ziehen sie mir einen Sack über den Kopf und stellen mich auf die Falltür. So macht man das mit Mördern. Hab ich aus der Zeitung.«

Was war nur in sie gefahren? Hatte sie einen Schock erlitten? Wie sonst konnte eine derart bodenständige, durch nichts zu erschütternde Frau dermaßen durch den Wind sein?

»Sie sind aber keine Mörderin!«, sagte ich energisch.

»Ich hab die Pilze geschmort und sie ihm eigenhändig hingestellt! Jetzt glauben alle, dass die giftig waren. Dass ich schuld bin und sonst keiner!«

Es war zwecklos, sie drehte sich im Kreis.

»Inspektor, darf ich sie mitnehmen, damit sie sich ein bisschen hinlegt?«, fragte ich. »Nur so lange, bis ihr Mann eintrifft.«

Er runzelte leicht die Stirn, erwiderte aber: »­Meinetwe­gen. Das ist zwar nicht das übliche Vorgehen, aber ich wüsste nicht, was dagegenspricht.«

Ich hörte ihm an, dass er enttäuscht war. Er hatte gehofft, dass es aus Mrs Mullet nur so heraussprudeln würde, und jetzt stand er mit einem leeren Eimer da.

Dogger und ich hakten Mrs M ein, und wir gingen gemeinsam durch die Eingangshalle und die Treppe hoch. Oben angekommen, dirigierte ich sie in den Westflügel.

»Wir bringen sie in Feelys Zimmer«, sagte ich.

Ophelia war immer noch auf großer Europareise und begaffte mit ihrem Ehegespons Dieter alle möglichen Mozartdenkmäler. Erstaunlicherweise fehlte sie mir schrecklich – sogar ihre Bosheit. Feely konnte einen zum Lachen bringen, während sie einen fertigmachte. Das Leben mit ihr war eine süße Qual, und ich fragte mich oft, wie Dieter wohl damit zurechtkam.

Seit ihrer Abreise hatte sich in ihrem Zimmer eine traurige Leere breitgemacht. Tatsächlich fehlte es mir beinahe, von ihr hinausgeworfen zu werden. Es war eine sonderbar umgekehrte Heimsuchung.

Dogger und ich führten Mrs Mullet, die wie ein nasser Mehlsack zwischen uns hing, behutsam zum Bett und nötig­ten sie, sich hinzulegen. Dogger schloss die Tür.

Einen Augenblick lang war es still.

Dann schniefte Mrs Mullet laut und klappte ein Auge auf.

»Na schön«, sagte sie und setzte sich auf. »Der Kerl bringt mich auf die Palme, das sag ich freiraus. Ich lass mich doch nicht aufziehn wie ein alter Leierkasten! Mir war klar, dass wir ihn hinhalten müssen, und ich hoffe, es macht euch nix aus, dass ich ein bisschen aufgedreht hab.«

Dogger und ich wechselten einen Blick.

»Sie haben geschauspielert!«, rief ich dann aus.

»Und zwar ausgesprochen überzeugend, wenn ich das sagen darf«, setzte Dogger hinzu.

»Als ich jünger war, hab ich mal die Ophelia gespielt«, verkündete Mrs Mullet mit sichtlichem Stolz. »In Hamlet war das. Unsere Theatergruppe hat das Stück sogar zweimal aufgeführt, am Freitagabend und am Samstagnachmittag.«

Sie ließ sich wieder zurücksinken, stützte sich auf einen Arm, legte den anderen Handrücken an die Stirn und deklamierte nach einer Kunstpause: »Weh mir, wehe, dass ich sah, was ich sah, und sehe, was ich sehe.«

Das war nicht mehr Mrs Mullets Stimme. Sie klang so tief und hallend, war so voller Schmerz und Tragik, dass es mich eiskalt überlief. Die Worte schienen aus einer goldenen, mit violettem Samt ausgekleideten Trompete zu tönen. Hatte eine Fremde von unserer Köchin Besitz ergriffen?

Ich merkte, dass mir der Mund offen stand.

»Wahnsinn!«, entschlüpfte es mir.

»Großartig, Mrs Mullet!«, lobte Dogger lächelnd. »Die eindrucksvollste Ophelia, möchte ich sagen, die je eine Bühne geziert hat – oder ein Schlafgemach.«

»Ach, hört schon auf«, wehrte Mrs Mullet verlegen ab, aber ihr Hals lief rosig an, und sie zupfte an ihrer Frisur herum.

Doch wir durften keine Zeit verlieren. Schließlich wartete die Polizei auf uns.

»Erzählen Sie uns rasch von Ihrem letzten Zusammentreffen mit Major Greyleigh«, sagte ich. »Vielleicht bleiben uns nur ein paar Minuten.«

»Das war gestern«, erwiderte Mrs Mullet. »Wie ich dem Inspektor schon gesagt hab, hat der Major manchmal gern Pilze zum Frühstück gegessen. Also hab ich unterwegs ein paar eingesammelt. ›Egerlinge‹ heißen sie, hast du auch schon gegessen, Flavia. Einwandfrei sind die, und ich hab sie in Butter gebraten, so wie’s in Eliza Actons Kochbuch steht und wie ich’s immer mache, mit Salz, Muskat und Cayennepfeffer. Auf die Art mochte er sie am liebsten, weil seine alte Mutter sie immer so gemacht hat. Wollte sie nie anders haben. Hab sie vor ihn hingestellt und zugeschaut, wie er sie verputzt hat. Dann hab ich meinen Hut aufgesetzt und bin schnurstracks nach Buckshaw zurück. Hab euch Frühstück gemacht und nix mehr von ihm gehört – bis heute früh, als auf einmal der Inspektor vor der Tür gestanden ist.

›Zu wem wollen Sie?‹, frag ich ihn.

›Zu Ihnen‹, sagt er.

›Zu mir?‹, frag ich. Ich dachte, ich werd nicht wieder!«

»Hat er gleich gesagt, dass der Major tot ist?«, warf ich ein.

»Nicht gleich«, antwortete Mrs Mullet. »Er wollte wissen, wann ich ihn zuletzt gesehen hab, wie er aussah, wie er sich benommen hat und so was alles. Wie vorhin auch. Ob mir was an ihm aufgefallen ist … ob ich sonst noch wen dort gesehen hab. Und wer die Pilze zubereitet hat und so. Ich hab ihm gesagt, was ich euch jetzt auch gesagt hab.«

»Hat er erwähnt, wer die Leiche entdeckt hat?«

»Nein«, sagte sie nach kurzer Überlegung. »Ihr wisst ja, wie Polizisten sind. Verschlossen wie Austern im Kochtopf.«

»Allerdings«, bestätigte Dogger.

»Haben Sie denn noch jemanden gesehen?« War vielleicht noch jemand anders im Haus gewesen?

War es Einbildung oder verschleierte sich Mrs Mullets Blick? Jedenfalls suchte sie offenbar nach einer Antwort.

»Auf’m Weg zu ihm bin ich übern Kirchhof gegangen«, entgegnete sie schließlich. »Und was es auf Kirchhöfen zu sehen gibt, weiß jeder. Als ich ihm die Pilze gebracht hab, dachte ich, ich hätt in der Brambling Lane ein Automobil wegfahren gehört, aber ich war auf der anderen Seite vom Haus.«

Ich ließ nicht locker. »Haben Sie denn überhaupt nichts gesehen?«

Ihr Kinn verfestigte sich wie Gips.

»Mir war nicht gut«, antwortete sie ausweichend. »Mein Frühstücksei war wohl schlecht gewesen.«

Ich musste mich in Geduld üben. Mrs Mullet ließ sich nicht drängen und war nicht berechenbar.

»Lass uns wieder runtergehen, Dogger. Wir wollen den Inspektor nicht zu lange warten lassen. Sie bleiben hier und erholen sich von dem Schreck, Mrs Mullet.«

»Mir geht’s gut«, sagte sie entschlossen. »Ich hab heute alle Hände voll zu tun.«

»Warten Sie lieber noch ein bisschen«, gab Dogger zurück. »Nicht dass der Inspektor auf komische Gedanken kommt, oder?«

»Auch wieder wahr.« Mrs Mullet streifte die Schuhe ab und streckte sich mit einem wohligen Seufzer lang aus.

»Weh mir, wehe, dass ich sah, was ich sah, und sehe, was ich sehe«, wiederholte sie, und ich bekam eine Gänse­haut.

Dann verschränkte sie die Arme und schloss die Augen zum Zeichen, dass die Unterhaltung beendet war.

Was ging in der Frau vor? Hatte sie etwas zu verbergen? Gebärdete sie sich einfach nur gern theatralisch? Oder hatte der Druck der Befragung die Ärmste an den Rand des Wahnsinns getrieben?

Oder eher mich?

Wenn man wie ich einen schmerzlichen Verlust erlitten hat, lebt man in einer Welt aus Spiegelscherben. Nichts ist mehr, wie es scheint. Ich musste mich konzentrieren … meine unbestechlich scharfe Intelligenz wiedererlangen, und zwar schleunigst.

Den Inspektor würde ich mir als Ersten vorknöpfen.

Ich legte meine Fräulein-Sittsam-Rüstung an und ging wieder nach unten.

Inspektor Hewitt saß mit Undine am Küchentisch und spielte »Tod und Leben«. So hieß dieses Kartenspiel auf Buckshaw seit jeher, obwohl Undine immer »Bettelmann« dazu sagte.

»Tja, jetzt sind Sie an der Reihe und müssen meine Fragen beantworten!«, sagte sie gerade, als ich etwas ungestümer hereinplatzte, als es schicklich war.

»Was hat dich der Inspektor denn vorher gefragt?«, erkundigte ich mich.

»Nichts«, antwortete Undine. »Er hat ja noch nicht gewonnen.«

»Was wohl höchstwahrscheinlich auch nicht passieren wird.« Der Inspektor schob ihr seine Karten hin. »Geh doch mal raus zu Wachtmeister Roper und muntere ihn ein bisschen auf, hm? Er ist immer so schwermütig. Frag ihn, ob er dir seine Handschellen vorführt, da freut er sich immer.«

»Ha!«, machte Undine. »Jede Wette, dass ich aus den Dingern rausschlüpfen kann? Für mein Alter hab ich nämlich sehr schmale Handgelenke!«

Schon war sie draußen, um Wachtmeister Roper auf die Nerven zu gehen.

»Dann wollen wir mal«, sagte Inspektor Hewitt, sobald sie verschwunden war. »Eines möchte ich gleich zu Anfang klarstellen.«

Ich wusste jetzt schon, worauf er hinauswollte, und behielt natürlich recht.

»Ich möchte nicht, dass du dich einmischst. In keinster Weise. Ist das klar?«

»Jawohl, Sir!« Ich streckte ihm die rechte Hand hin, damit er einschlagen konnte, hielt aber die linke so hinter dem Rücken, dass er meine gekreuzten Finger nicht sah. »Son­nenklar.«

»Sehr schön. Also … was weißt du über die Sache?«

»Gar nichts. Als ich davon gehört habe, waren Sie schon hier.«

»Dann belasse es bitte dabei.« Er steckte das unvermeidliche Notizbuch ein und erhob sich mit amtlicher Miene.

Ha! Die gefürchtete spitze Bemerkung zum Abschied. Wie jeder, der große Schwestern hat, kannte ich so etwas nur allzu gut. Mein erster Impuls war, ihm ein halbes Dutzend Salaams zuzuwerfen, imaginäre Rosenblüten zu seinen Füßen zu verstreuen, anschließend auf die Knie zu fallen und seine schwarzen Türeintreter-Stiefel mit Küssen zu bedecken, aber ich beherrschte mich.

»Jawohl, Sir!« Ich schenkte ihm mein bewährtes, leicht augenzwinkerndes Lächeln (Nummer 22 N in meiner Lächel­kartei, wobei das »N« für »neckisch« stand).

Er sah mich durchbohrend an, nickte dann kaum merklich und ging hinaus.

Ich stieg unverzüglich von meinem hohen Ross und schmierte mir ein Marmeladenbrot.

Als ich mir gerade die Finger ableckte, kam Daffy hereingeschlendert.

»Du hast den ganzen Trubel verpasst. So ein Pech«, sagte sie.

Ich zuckte die Achseln.

»Tod eines kleinen Beamten. Klingt wie ein Kriminalroman von Ngaio Marsh oder Agatha Christie. Ein billiges Taschenbuch, das man im Zug schmökert.«

»Woher weißt du das mit dem kleinen Beamten?«

Mit den gleichen Worten hatte sich der Major gegenüber dem Vikar beschrieben.

»Lüftung.« Daffy zeigte an die Decke.

Früher hatten meine Schwestern und ich uns oft im ersten Stock auf den Boden gelegt und stundenlang einer Art Heißluftfunk gelauscht, der uns allerlei Klatsch und Tratsch aus einer beträchtlichen Anzahl von Räumen zutrug. Weil wir wussten, welche Luftklappen man öffnen oder schließen musste, konnten wir den Gesprächen in den abgelegensten Gästezimmern folgen.

»Womit feststeht, dass der Inspektor den Vikar bereits verständigt haben muss«, sagte ich im vollen Bewusstsein dessen, dass dies der erste Schritt in eine neue Ermittlung war. Ohne die Leiche gesehen oder den Tatort begutachtet zu haben, musste ich mich umgekehrt vortasten. Eine Aufgabe für einen Herkules auf einem Kunstrad.

Selbst wenn ich sonst nichts erreichte, würde ich Mrs Mullets Namen reinwaschen. Alles darüber hinaus wäre ein Sahnehäubchen.

Selbstverständlich musste ich mich auch mit Dogger beraten. Wir beide hatten eine Agentur gegründet: Arthur W. Dogger & Partner, Diskrete Ermittlungen. Das hat doch was, oder? Wir hätten uns auch »Schnüffler in Samthandschuhen« nennen können, aber das wäre irreführend gewesen. Wer unsere Dienste in Anspruch nahm, konnte zwischen den Zeilen lesen.

Aber vorher musste ich Daffy aushorchen. Mrs Mullet war immer noch oben in einer anderen Welt, welcher auch immer, und Dogger würde sie im Auge behalten.

»Also, was weißt du über ihn? Über Major Greyleigh, meine ich.«

Daffy zuckte die Achseln.

»Nicht mehr als du wahrscheinlich. Ich kenne ihn aus der Kirche. Glubschige Fischaugen, altmodischer, zu enger Anzug. Sitzt immer ganz hinten und kaut während der Predigt Hustenbonbons. Sieht abgesehen von der Kassenbrille ein bisschen wie Charles Dickens’ Mr Pickwick aus. Allgemein beliebt bei den Kindern der Gemeinde und ihren ergebenen Eltern.«

»Warum?«

»Weil er ihre Spielsachen repariert hat und so was. Er hat Nettie Tucks Springseil geflickt, als sie es auf dem Feld vergessen und der Pflug es zerfetzt hat. So gut wie neu, meinte der Vikar. Der Major muss mal zur See gefahren sein. Und auf dem Jahrmarkt hat er den kleinen Georgie Monday beim Sackhüpfen huckepack genommen.«

Klingt zu sympathisch, um wahr zu sein, ging es mir durch den Kopf, aber vielleicht wurde ich auch nur allmäh­lich zur Zynikerin.

»Wer will denn bitte so jemanden umbringen?«, fragte ich.

»Das ist in der Tat einigermaßen unerklärlich«, gab Daffy zurück.

Solche gewählten Formulierungen waren typisch für meine Schwester. Ich hätte eher gesagt: »Stimmt, da bleibt einem glatt die Spucke weg.«

Doch das ist vermutlich Geschmacksache.

»Um deine Frage zu beantworten«, fuhr Daffy fort, »niemand will so jemanden umbringen – jedenfalls niemand aus Bishop’s Lacey. Aber sperren Sie die Ohren auf, Holmes, und berücksichtigen Sie die unheilvollen Vorzeichen!«

Damit steckte sie sich den letzten Happen meines Marmeladenbrots in den Mund und verließ die Küche.

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Hintertür zum Garten. Alf Mullet trat sich die Schuhe ab und kam herein.

»Wo ist denn mein Frauchen? Ich hab Fische für sie.« Er hielt sich aufrecht wie ein Ladestock, Alf, der ewige Soldat.

»Sie hat sich oben aufs Ohr gelegt«, antwortete ich. »Hier gab es ein bisschen Aufregung. Inspektor Hewitt glaubt, dass Ihre Frau jemanden umgebracht hat. Sind Sie ihm nicht begegnet?«

»Ich bin durch den Garten gekommen, so wie immer. Und wen soll sie umgebracht haben, bittschön?«

»Ich mein’s ernst. Major Greyleigh wurde mit Pilzen vergiftet. Mrs Mullet hat sie gesammelt und für ihn zubereitet. Der Inspektor ist vor dem Haus an seinem Wagen. Sie können ihn selbst fragen.«

Was Alf daraufhin blaffte, möchte ich aus Furcht vor ewiger Verdammnis nicht wiederholen, aber er machte kehrt und marschierte wieder zur Hintertür hinaus. Nie im Leben hätte er die Abkürzung durchs Haus genommen. Als jemand, der seinen Platz kannte, ging er stets außen herum.

Trotzdem wollte ich jetzt nicht in der Haut des Inspektors stecken. Nicht für alle Reichtümer dieser Welt.

Schon in jungen Jahren hatte ich Flitzen gelernt, und jetzt flitzte ich: aus der Küche durch den kurzen dunklen Flur in die Eingangshalle und zur Haustür, an die ich sogleich das Ohr drückte. Weil das alte Holz wie ein großer Resonanzboden funktionierte, hörte ich alles so deutlich, als würde ich direkt im Mund des Inspektors sitzen.

»Sie sind Mr Mullet, nehme ich an?«

Mist! Ich hatte den Eröffnungssatz verpasst.

»Nehmen Sie an, was Sie wollen. Das hier ist ein freies Land«, erwiderte Alf.

»Sind wir uns nicht schon mal begegnet?«, fragte Inspektor Hewitt.

»Wenn, dann hier auf Buckshaw. Vor ein paar Jahren, als der Film gedreht wurde. Da sind Hinz und Kunz hier rumgeschwirrt.«

Nehmen Sie sich in Acht, Alf!, dachte ich. Nicht dass Sie selbst in Handschellen enden!

»Also, was soll der Blödsinn, dass meine Frau wen abgemurkst hat?«

»Niemand hat dergleichen behauptet«, entgegnete der Inspektor. »Ich habe lediglich ein paar Fragen an Ihre Frau, aber sie regt sich sehr darüber auf. Von daher würde ich Ihre Unterstützung begrüßen.«

»Dann fragen Sie doch einfach mich und ersparen ihr den Ärger.«

»Das geht leider nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil wir glauben, dass Ihre Frau über Informationen bezüglich einer gewissen Angelegenheit verfügt. Mehr darf ich Ihnen momentan nicht sagen.«

Alf grummelte etwas Unverständliches, dann knirschten Schritte im Kies.

Damit ich nicht beim Lauschen ertappt wurde, drehte ich mich rasch um und entfernte mich von der Tür.

Es klingelte. Der Inspektor bewies gute Manieren.

Es gibt zwar eine Zeitspanne, in der ein Fremder, nachdem er einmal ins Haus gelassen wurde, hinausgehen und, ohne zu klingeln, wieder hereinkommen darf, aber die ist sehr kurz.

Ich vollführte eine gekonnte Kehrtwende, zählte bis fünfzehn und öffnete. Auf der Schwelle stand der Inspektor, Alf lief erneut außen herum zur Hintertür.

»Ah!«, machte ich. Ein »Ah« genügt oft völlig.

»Bist du so gut und holst Mrs Mullet? Es dauert auch nicht lang.«

Ich machte die Tür weit auf und trat zurück.

»Da kommt sie ja schon.« Der Inspektor spähte über meine Schulter.

Mrs Mullet stand, gestützt von Dogger, oben auf dem Treppenabsatz. Ihr Gesicht war aschfahl. Hatte sie es gepudert?

Damit sich meine Augen wieder scharf stellten, schüttelte ich den Kopf.

Gemessen schritten die beiden die große Freitreppe hinab, als wären sie das Königspaar des Elfenvolkes. Gerade noch hatte sich Mrs Mullet im Rampenlicht ihrer Erinnerungen gesonnt, und jetzt sah sie auf einmal wie das aufgewärmte Frühstück des Todes aus.

Sie hatte eindeutig etwas zu verbergen.

Oje, Mrs M, dachte ich. Worauf haben Sie sich da bloß eingelassen?

Als sie unten ankamen, nahm der Inspektor Mrs Mullets Hand.

Wie nett, dachte ich, aber dann dämmerte es mir. Von wegen! Er fühlt ihr den Puls.

Ich weiß sehr gut, wie ein misstrauischer Verstand arbeitet, denn der meine arbeitet genauso. Mit überragender Intel­ligenz gesegnet zu sein, ist nicht immer leicht.

»Kommen Sie, ich mache uns Tee.« Ich vollführte eine zugleich schwungvolle und unterwürfige Geste in Richtung Küche.

Als einer der engsten Freunde meines verstorbenen Vaters konnte der Vikar im vertrauten Gespräch erfrischend direkt sein. »Tee und Glauben«, hatte er mal gesagt, »obsiegen immer.«

Dass er den Tee zuerst genannt hatte, war mir nicht entgangen.