Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Der schüchterne Tristan himmelt Marco an - den jungen Boxer, der mit seinen Freunden regelmäßig in das Bistro seiner Cousine kommt, in dem Tristan kellnert. Marco weiß von seiner Schwärmerei, zieht ihn gutmütig auf, nennt ihn "Fleckenteufel", wegen eines Feuermals in seinem Gesicht. Doch dann bekommt Tristan die Chance seines Lebens: eine Woche zusammen mit Marco zu verbringen. Als Gegenleistung muss er das vermeintlich gestohlene Auto seines Schwarms zurückholen. Aber der Dieb ist ausgerechnet Lance vom rivalisierenden Boxclub. Ein geheimnisvoller Typ, der Tristan Angst einjagt. Und plötzlich sitzt Tristan zwischen allen Stühlen, denn Lance macht ihm ein unfassbares Angebot.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 341
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Leann Porter
© dead soft verlag, Mettingen 2015
http://www.deadsoft.de
© the author
Cover: Irene Repp
http://www.daylinart.webnode.com
Bildrechte:
© Stokkete – shutterstock.com
1. Auflage
ISBN 978-3-945934-47-0
Tristan konzentrierte sich auf die äußerst anregende Tätigkeit des Gläserpolierens. Immer wieder schweifte sein Blick jedoch von dem fusselfreien Tuch in seiner Hand quer durch den Raum zu dem Ecktisch, an dem wie jeden Donnerstag Marco Hof hielt.
Marco, lebhaft und laut, dominierte die Gruppe junger Leute. Seine Präsenz füllte nicht nur die Szene-Kneipe aus, sondern auch Tristans Herz. Allein Marcos Anwesenheit ließ seinen Puls nach oben schnellen und seinen Atem stocken. Marcos Lachen erklang, unbekümmert und fröhlich. Musik in Tristans Ohren. Er schielte doch kurz zu dem Tisch hinüber.
Marco und fünf Jungs und Mädels aus seinem Fanclub steckten die Köpfe über ihren Apfelschorlen zusammen. Sie amüsierten sich über einen Kommentar, den Marco von sich gegeben hatte. Bestimmt etwas Geistreiches, wirklich Witziges. Marco vermochte sein Publikum mühelos zu fesseln, es hing an seinen Lippen und gierte nach mehr.
So wie Tristan. Aus der Ferne.
Jeden Donnerstag fieberte er dem Moment entgegen, in dem Marco und seine Freunde durch die Tür stürmten, lärmend und fröhlich, sich gegenseitig freundschaftlich anrempelnd, Sporttaschen in der Hand. Jeden Donnerstag konnte er den Blick nicht von Marco wenden. Kein Wunder, dass der es längst gemerkt hatte. Es geschah Tristan Recht, dass er sich über sein schmachtendes Starren lustig machte. Ändern konnte er es trotzdem nicht.
Nur mit äußerster Selbstbeherrschung gelang es ihm, das fertig polierte Glas ins Regal zu stellen und nach dem nächsten zu greifen, ohne zwischendurch Marco anzustarren. Eine erneute Lachsalve ertönte. Tristan gab sich nicht der Illusion hin, dass sie über ihn lachten. Dazu war er zu unbedeutend. Zu Anfang, vor Wochen, als Marco aufgefallen war, dass Tristan ihm sehnsüchtige Blicke zuwarf, hatten Marco und seine Fans sich für eine Weile gemeinsam über den armen kleinen Kellner amüsiert, der allzu offensichtlich verknallt war. Doch der Reiz des Neuen verflog schnell, und schon bei ihrem nächsten Besuch war sein peinliches Benehmen ihnen nur noch ein flüchtiges Schmunzeln wert.
„Hey, Fleckenteufel!“
Tristan ließ fast das Glas fallen. Seine Wangen glühten. Jetzt hatte er einen Grund, Marco anzusehen.
„Flecki, bring mir ein alkoholfreies Weizen, bitte!“
Tristan nahm eine Flasche aus dem Kühlschrank. Mit zitternden Händen füllte er ein Weizenbierglas. Caro drängte sich an ihm vorbei zur Kasse.
„Lass dir von denen nichts gefallen“, flüsterte sie. Tristan lächelte. Es störte ihn nicht, dass sie ihm einen Spitznamen gegeben hatten. Fleckenteufel. Der war natürlich auf Marcos Mist gewachsen. Er meinte es nicht böse. So war er eben. Vermutlich war ihm nicht einmal der Gedanke gekommen, dass Tristan sich verletzt fühlen könnte.
Auf wunderbare Weise gelang es Tristan, das Weizenbier an den Tisch zu bringen, ohne es zu verschütten. Er stellte es vor Marco hin. Dies war einer der wenigen wundervollen Momente, in denen er Marco nahe sein durfte. Unauffällig sog er die Luft durch die Nase. Sie kamen alle vom Sport und waren frisch geduscht. Tristan bildete sich ein, dass er Marcos Duft herausriechen konnte. Völliger Quatsch, natürlich.
„Danke, Flecki.“
Marco schenkte Tristan ein Lächeln, das dessen Knie in Pudding verwandelte. Nur die Routine versetzte ihn in die Lage, den Kugelschreiber zu zücken und den Strich auf Marcos Bierdeckel zu ziehen. So gerne er noch länger an dem Tisch stehengeblieben wäre, er wusste, wo sein Platz war. Ein letztes Mal atmete er tief ein, um eine Prise vom Marco-Duft zu erhaschen.
„Flecki, können wir hier bei euch ein Plakat anbringen?“
Wie, was? Marco sprach zu ihm. Es dauerte, bis der Sinn seiner Worte zu Tristan durchdrang.
„Plakat?“, wiederholte er dumm. Im selben Moment hätte er sich am liebsten geohrfeigt. Jetzt hielt Marco ihn nicht nur für einen Stalker, sondern auch noch für begriffsstutzig. Doch Marco sah ihn nur erwartungsvoll an.
„Ja, ein Plakat, von unserem Verein.“ Ein Mädchen aus der Gruppe mischte sich ein. „Zeig es ihm doch mal!“
Marco beugte sich zur Seite und zog eine der Sporttaschen zu sich heran. Dabei streifte seine Hand unabsichtlich Tristans Bein. Die flüchtige, kaum spürbare Berührung genügte, um Tristan an den Rand eines Herzinfarkts zu bringen. Schwer atmend sah er zu, wie Marco eine Papierrolle aus der Tasche nahm und auseinanderzog. Tristan war nicht in der Lage, zu lesen, was auf dem Plakat stand. Irgendwas mit Party und Wettkampf. Er musste sich darauf konzentrieren, nicht auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen. Das war so armselig.
„Ihr könnt das im Gang zu den Toiletten aufhängen.“
Caros Stimme erklang so unvermittelt dicht neben Tristans Ohr, dass er zusammenzuckte. Wo war die denn plötzlich hergekommen?
„Danke.“ Marco belohnte Caro mit seinem unvergleichlichen Lächeln. Verschwendung. Caro nickte lediglich hoheitsvoll. „Schon okay.“
Marco gab nicht so schnell auf. Immer noch lächelte er Caro charmant an.
„Du bekommst natürlich Freikarten für den Wettkampf und die anschließende Feier. Wird eine super Party.“
„Kein Interesse.“
Was? Sprachlos sah Tristan Caro hinterher, die sich bereits abgewandt hatte und zu einem anderen Tisch schlenderte, um dort Bestellungen aufzunehmen. Marco zuckte scheinbar gleichmütig die Achseln.
„Wer nicht will, der hat schon. Du kriegst aber Karten, Flecki.“
Tristan konnte nur stumm nicken.
Erst als Marco und Konsorten verschwunden waren, wagte er es, einen Blick auf das Plakat zu werfen. Es hing in Augenhöhe zwischen einer Konzertankündigung und einem Bild mit Bierdeckeln und informierte Interessierte darüber, dass der Boxclub „Lucky Punch“ seinen jährlichen freundschaftlichen Wettkampf mit dem Boxclub Nord abhielt, gefolgt von einer gemeinsamen Party. Kartenvorverkauf im Boxclub. Tristan betrachtete das Foto eines grimmig dreinschauenden Kerls mit roten Boxhandschuhen. Ob Marco daran dachte, ihm eine Karte zu schenken? Oder hatte er das nur so dahergesagt?
„Der Typ ist ein arroganter Arsch.“
Tristan fuhr das zweite Mal an diesem Abend zusammen.
„Mensch, Caro! Schleich dich doch nicht immer so an!“
„Ich schleiche nicht, du kriegst nur nichts mit, weil du nur Augen und Ohren für Marco hast.“
„Er ist kein Arsch.“
„Aha, also gibst du zu, dass er arrogant ist.“
Tristan schluckte. Na schön, Bescheidenheit gehörte sicher nicht zu Marcos Tugenden.
„Er ist selbstbewusst.“
„Darum hat er es auch nötig, andere runterzumachen.“
Tristan verdrehte die Augen. Er wusste, was jetzt kam. Caro stemmte die Fäuste in die Hüften. „Es ist eine Sauerei, dass er dich Fleckenteufel nennt. Und bescheuert, dass du dir das einfach so gefallen lässt.“
„Mir macht das nichts aus. Lass ihn doch.“
Tristan wiederholte, was er schon gefühlte tausend Mal gesagt hatte. Caro gab ein unwilliges Schnauben von sich. „Ist ja deine Sache. Ich mag den Typ nicht.“
„Ach nein. Wär ich jetzt gar nicht drauf gekommen.“
Tristan grinste. Caro versuchte, genauso grimmig zu gucken wie der Boxer von dem Plakat, schaffte es aber nicht und schmunzelte widerwillig. „Blödi. Mach Feierabend, der letzte Gast ist gerade abgehauen.“
Tristan freute sich besonders auf Donnerstag. Marco würde ihm eine Karte zu der Boxveranstaltung geben, das bedeutete, er würde mit ihm sprechen, ihn ansehen, zumindest für kurze Zeit in seiner Nähe sein. Immer wieder blickte er aufgeregt zu der großen Uhr im Bahnhofstil, die über der Tür hing. Die Zeiger schienen über das Zifferblatt zu kriechen. Meist kamen Marco und seine Freunde gegen halb acht. Tristan vermutete, dass das Training bis sieben Uhr dauerte. An diesem Donnerstag jedoch wurde es halb acht und Viertel vor acht, und kein Marco war zu sehen. Tristan wollte die Hoffnung schon aufgeben, da flog die Tür endlich auf. Wie immer redeten Marco und Co. wild durcheinander, mit dem Unterschied, dass sie sich diesmal eher verärgert als fröhlich anhörten.
Tristans Blick flog sofort zu Marco. Der pfefferte die Sporttasche in die Ecke. Seine eigentlich so verführerisch geschwungenen Lippen hatte er zu einem schmalen Strich zusammengepresst, die dunklen Brauen zusammengezogen.
„Das wird ihm noch leidtun.“
Seine Begleiter beeilten sich, ihm eifrig zuzustimmen.
„Und wie!“
„Der wird sich noch umgucken!“
„Das kann er echt nicht bringen!“
Tristan spitzte die Ohren. Er hatte keine Ahnung, von wem sie redeten. Hörte sich nach Ärger an. Er hasste unbesehen jeden, der es wagte, Marco Schwierigkeiten zu bereiten. Während er auf den Tisch zuging, konnte er weitere Details aufschnappen.
„Kannst du ihn nicht anzeigen? Der ist doch schneller wieder im Bau, als er gucken kann.“
„Weswegen denn? Er wird behaupten, der Wagen gehört ihm. Er hat noch den Fahrzeugbrief und den Schein.“
„Wie, hast du das Auto nicht umgemeldet?“
„Wie denn ohne Papiere?“
„Trotzdem, er hat den Wagen aufgebrochen, das muss man sehen können.“
„Ich wette, er hatte noch einen Schlüssel. Verdammter Mist!“ Marco bemerkte Tristan, der ruhig dastand.
„Belauschst du uns, Fleckenteufel?“ Mit gerunzelter Stirn musterte er ihn. Ja, genau das tat er.
„Was möchtet ihr trinken?“, fragte er automatisch.
Er nahm die Bestellung auf. Zurück zur Theke ging er extra langsam in der Hoffnung, mehr Informationen aufzuschnappen, aber das Gespräch drehte sich ums Training, also versuchte er, sich aus den bisher gehörten Äußerungen zusammenzureimen, was Marco so sauer machte.
Sein Auto war gestohlen worden. Das musste es sein. Tristan wusste, dass Marco einen Oldtimer fuhr, einen Opel Kapitän. Ein echter Traumwagen, den er heiß und innig liebte, wie Tristan aus seinen Schwärmereien für das Auto unschwer schließen konnte. So, wie es sich anhörte, kannte er den Autodieb. Doch aus welchem Grund hatte der Täter denn die Autopapiere?
Ratlos machte Tristan Bestellungen fertig, zapfte gedankenverloren Bier und betätigte die Espressomaschine. Es dauerte nicht lange, bis er sich einen Rüffel von Caro einfing, weil er die falschen Getränke auf das Tablett gestellt hatte.
„Und, hat er dir die Freikarte gegeben?“
Spöttisch lächelnd schnappte sie sich ein paar Bierdeckel. Ach ja, die Karte. An die hatte Tristan gar nicht mehr gedacht. Marco offenbar auch nicht. Er steckte mit seinen Freunden die Köpfe zusammen und diskutierte bestimmt, wie sie den Dieb bestrafen könnten. Sonst war Tristan immer zu schüchtern, um sich dem Tisch öfter als nötig zu nähern, doch an diesem Tag überwog die Neugier seine Scheu. Kaum sah er das erste leere Glas, stürzte er schon los, um es abzuholen. Er kam gerade richtig, um Marco seufzen zu hören.
„Ich liebe dieses Auto. Verdammt, wer mir den Wagen zurückholt, hat echt was gut bei mir.“
Das stellte vermutlich eine subtile Aufforderung an seine Begleiter dar, sich um die Wiederbeschaffung des Autos zu kümmern, stieß jedoch auf wenig Resonanz. Eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren zog die Augenbrauen hoch.
„Du bist ja lustig, wie soll das denn gehen? Mit diesem Irren legt sich niemand freiwillig an.“
„Ich sag ja nur, wer das schafft, der hat sich eine ordentliche Belohnung verdient.“
Marco lehnte sich in seinem Stuhl zurück, dabei fiel ihm Tristan auf.
„Hast du Interesse, Flecki?“
Tristan sah ihn entgeistert an. „Was?“
„Wenn du mir mein Auto zurückholst, kriegst du einen Kuss von mir.“
Tristans Herz fing an zu rasen. Er starrte Marco stumm an, nicht fähig, auch nur einen Ton herauszubringen. Meinte er das ernst?
Seine Freunde lachten. Einer sagte: „Da musst du schon etwas mehr bieten, Marco. Zum Beispiel ...“
„Eine heiße Nacht mit dir! Das wär was“, unterbrach ihn die blonde Frau. Marco grinste selbstgefällig. Seine Augen hefteten sich amüsiert auf Tristan.
„Würde dich das reizen?“
Tristans Körper stand in Flammen. Garantiert war sein Gesicht rot, nicht nur das Feuermal, das sich glühend in seine Wange fraß. Endlich wandte Marco den Blick ab.
„Wisst ihr was, ich habe heute meinen spendablen Tag. Wer mir mein Auto wiederbringt, der hat sich was ganz Besonderes verdient. Eine Woche mit mir. Tag und Nacht.“
„Wuhuuu!“
Marcos Freunde nahmen das Angebot mit ausgelassenem Johlen auf. „Du lässt dich echt nicht lumpen.“
„Fragt sich nur, wo da die Belohnung sein soll, das ist doch eine Strafe!“
„Für dich vielleicht, aber sieh dir mal unseren Freund hier an, dem läuft schon der Sabber.“
Wie von weither hörte Tristan sie lachen, ihn verspotten, sah ihre Zähne aufblitzen wie Raubtiergebisse. Irgendwie schaffte er es zurück zur Theke. Sein Herz raste und seine Wange brannte immer noch. Mit zitternden Händen spülte er das Glas. Caro zapfte Bier. Er hoffte, dass sie es nicht mitbekommen hatte, doch ihre Miene sprach Bände.
Sie kniff die Augen zusammen. „Was für ein eitler, aufgeblasener Sack. Mit dem würde ich nicht mal eine halbe Stunde verbringen wollen. Wie kann man nur so selbstverliebt sein.“
Tristan konnte Marco keinen Vorwurf machen. Wenn er Marco wäre, dann wäre er auch selbstverliebt bis zum Gehtnichtmehr, und das zu Recht. Marco war nun mal toll. Nur seine Freunde, das waren fiese Arschlöcher.
Caro übernahm den Tisch, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Dafür war Tristan ihr dankbar. Ihm klang immer noch das schadenfrohe Gelächter in den Ohren. Aber ihm war aufgefallen, dass Marco nicht gelacht hatte.
Ausnahmsweise nahm er es mit Erleichterung statt Enttäuschung auf, als die Gruppe sich später aufmachte. Erst als die Tür hinter ihnen zufiel und seine Schultern wie auf ein geheimes Kommando herabsanken, merkte er, wie sehr er sich die ganze Zeit verkrampft hatte. Er atmete tief durch und wollte gerade die Spülmaschine ausräumen, da ließ ihn eine bekannte Stimme innehalten.
„Hey, Flecki.“
Marco war zurückgekommen. Er stand vor der Theke und lächelte Tristan beinahe verlegen an.
„Tut mir leid, das von vorhin. Manchmal sind die ... bescheuert. Hier, deine Freikarten. Zwei Stück, damit du jemanden mitnehmen kannst.“
Sprachlos starrte Tristan auf die bunten Tickets, die Marco ihm hinhielt. Da er keine Anstalten machte, sie anzunehmen, legte Marco sie auf den Tresen.
„Okay. Man sieht sich.“
Tristan schaffte es endlich, sich aus seiner Erstarrung zu lösen.
„Wer hat denn dein Auto gestohlen?“
Marco grinste schief. „Kennst du nicht. Ein Typ aus einem anderen Boxclub. Lance.“
In seinem Blick glomm Verstehen auf. „He, mach keinen Scheiß, Kleiner. Halte dich fern von dem, der Typ ist gefährlich. Er ist eben erst aus dem Knast gekommen.“
Tristan betrachtete das Graffiti an der Wand des Fabrikgebäudes. Zwei Boxer, über ihnen prangte der Schriftzug: Boxclub Nord. Der nüchterne Name sollte vermutlich zeigen, dass es in diesem Club um schnörkelloses Boxen ging, nicht mehr und nicht weniger. Verbeulte Getränkedosen lagen im Rinnstein. Neben dem Eingang stand ein leeres Ölfass. Davor reihten sich Motorräder und einige Autos. Die Motorräder waren in der Überzahl. Das alte Industriegebiet hatte den Ruf, ein beliebter Ort für Bandenkämpfe, illegale Autorennen und Drogendeals zu sein.
Unbehaglich zog Tristan die Schultern hoch. Auf der Fahrt hatte er kaum auf die Umgebung geachtet, sondern sich unrealistischen Träumen hingegeben, die alle davon handelten, wie dankbar und überrascht Marco sein würde, wenn er ihm das Auto zurückbrachte. Jede seiner Fantasien endete mit einem leidenschaftlichen Kuss. Er hätte sich besser einen Plan zurechtlegen sollen. Jedenfalls einen besseren als den, in den Boxclub zu latschen und nach Lance zu fragen. Die Idee kam Tristan immer dämlicher vor, je länger er darüber nachdachte.
Er wischte sich die schweißfeuchten Handflächen hinten an der Jeans ab und schluckte. Reingehen oder feige abhauen? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, denn die zerkratzte Stahltür vor ihm wurde aufgestoßen. Ein bulliger Kerl in Trainingsanzug warf ihm einen flüchtigen Blick zu und hielt ihm die Tür auf. Tristan blieb nichts anderes übrig, als an ihm vorbei in das Gebäude zu gehen, wenn er sich nicht verdächtig machen wollte. Das alte Industriegebiet war keine Gegend, in der man ungestraft vor Boxclubs herumlungern durfte. Es war die Sorte Gegend, in der die Polizei nachts Streife fuhr, um Drogendealer aufzuspüren.
Statt zu einer Rezeption oder Ähnlichem führte die Tür direkt in die Trainingshalle, die sich genauso schnörkellos wie der Clubname präsentierte. Sie machte den Eindruck, als habe man die Fabrik nach der Stilllegung leergeräumt und danach sofort Trainingsgeräte hineingestellt. Ohne vorher durchzufegen. In der Hallenmitte befanden sich drei mit Seilen umspannte Podeste, die Ringe. Darum herum standen diverse Maschinen für Krafttraining, die Tristan aus dem Fitnessstudio kannte. Die meisten waren in Gebrauch. Muskulöse Typen rackerten sich daran ab, schwitzend und stöhnend, und entlockten ihnen rhythmisches Quietschen, Klackern und Klirren. Mehr noch als dieser Sound der kraftvollen Quälerei, dessen archaisches Scheppern Tristans Haare zu Berge stehen ließ, traf ihn der Gestank. Der betäubende Duft von Testosteron und Schweiß war beinahe mehr, als er ertragen konnte. Er schwankte zwischen Ekel und Faszination.
„Willst du boxen?“
Die tiefe Stimme riss ihn aus seiner Erstarrung. Er blickte auf den Schriftzug „Boxclub Nord“ auf einem T-Shirt, das sich über eine breite Brust spannte. Langsam hob er den Kopf und blinzelte in das Gesicht eines glatzköpfigen Mannes um die Vierzig.
„Äh, was?“, stammelte er. Der Mann grinste.
„Willst du boxen, Kleiner? Oder hast du dich verlaufen?“
„Ich ...“
Tristan zermarterte sich das Hirn nach einem triftigen Grund für seinen Besuch, doch ihm fiel nichts Besseres ein als die Wahrheit.
„Ich suche jemanden. Lance. Ist er hier?“
Hoffentlich nicht. Hoffentlich war er überhaupt nicht Mitglied in diesem Club und Tristan konnte schnell wieder verschwinden.
„Was willst du von Lance?“
Mr. Boxclub Nord musterte Tristan misstrauisch. Er streifte das Feuermal nur mit einem flüchtigen Blick. Dafür betrachtete er genau seinen Körper, sicher, um seine Boxtauglichkeit abzuschätzen. Nachdem er Tristans wenig ausgeprägte Muskeln in Augenschein genommen hatte, entspannte er sich. Offenbar hatte er entschieden, dass von einem Hänfling wie ihm keine Gefahr für Lance ausging und es sich zudem nicht lohnte, ihn als Kunden anzuwerben.
„Ja, er ist da. Dahinten in Ring zwei beim Sparring. Vielleicht redet er mit dir, wenn er fertig ist, aber drauf wetten würde ich nicht.“
Er warf Tristan einen entmutigend mitleidigen Blick zu und marschierte zu einem Sandsack, an dem sich ein junger Mann austobte.
„He, Shaggy, du sollst keinen Klammerblues mit dem Sack tanzen, sondern deine Linke trainieren!“, brüllte er. Tristan zuckte zusammen und spähte unsicher in Richtung des Boxrings, in dem zwei nur mit weiten Shorts bekleidete Kerle aufeinander eindroschen. Einer von ihnen musste Lance sein.
Unsicher bewegte Tristan sich auf den Ring zu. Niemand nahm Notiz von ihm, sie schienen alle völlig in ihrem Training aufzugehen. Er schlich so nahe an den Ring heran, wie er sich traute. Ohne auch nur das Geringste vom Boxen zu verstehen, erkannte er sofort, dass es sich um einen äußerst ungleichen Sparringskampf handelte. Der große, hagere Typ, dessen linke Seite und Schulterblatt von einer Tätowierung bedeckt war, vermöbelte seinen Gegner nach Strich und Faden, oder nannte man den in diesem Fall Trainingspartner? Er hieb auf den armen blonden Kerl ein, als gäbe es kein Morgen. Der Blonde machte gar nicht den Versuch, zurückzuschlagen, er versuchte lediglich, seine Deckung oben zu halten. Jedenfalls sah es für Tristans Laienaugen so aus.
Das dumpfe Klatschen, mit dem die Boxhandschuhe auf nackte Haut trafen, bereitete ihm Übelkeit. Das musste verdammt wehtun. Der Blonde wich tänzelnd immer weiter zurück und landete schließlich in den Seilen. Das kümmerte den Hageren nicht. Wieder und wieder schnellte seine Rechte vor. Auf eine abwechslungsreiche Schlagkombination kam es ihm offenbar nicht an. Als der Blonde sich zur Seite drehte, vermutlich um von den Seilen wegzukommen, rammte der Hagere ihm die Faust in die Rippen, mehrmals. Tristan glaubte es knacken zu hören und wandte sich ab.
„Hey, Lance, das reicht jetzt!“
Mr. Boxclub Nord tauchte neben dem Ring auf. Also war der Hagere Lance. Tristan hatte es befürchtet. Noch konnte er fliehen, aber er blieb wie angewurzelt stehen und beobachtete, wie Lance dem Blonden noch ein paar Schläge verpasste und dann sichtlich widerwillig zurückwich. Der Blonde, der schon in die Knie gegangen war, richtete sich taumelnd auf und spuckte etwas in seinen rechten Handschuh. Einen Moment fürchtete Tristan, dass es sich dabei um seine Zähne handelte, bis er erkannte, dass es ein Mundschutz war.
„Bist du bescheuert? Denk mal über den Sinn von Sparring nach, du Mistkerl!“
Der Blonde spie auf den Ringboden. Mr. Boxclub Nord hob mahnend die Hand.
„Spuck du mir nicht in meinen Ring! Lance, was sollte das?“
Lance tänzelte provozierend vor dem Blonden hin und her, die Fäuste erhoben. Er zog die Oberlippe hoch, was entweder ein hämisches Grinsen oder ein Zähnefletschen darstellen sollte, jedenfalls wirkte es auf Tristan äußerst bedrohlich. Der Kerl hatte kein Gramm Fett am Leib, er bestand nur aus Muskeln, Sehnen und Knochen. Er sah aus wie ein ausgemergelter Windhund. Mit Räude, denn sein schwarzes Haar stand ihm in kurzen Büscheln vom Kopf ab, als hätte sich jemand mit einer defekten Haarschneidemaschine daran versucht. Er knurrte etwas, das ebenso gut „leck mich“ wie „tut mir leid“ bedeuten konnte. Tristan tippte auf Ersteres, aber Lance ließ die Fäuste sinken und blieb endlich ruhig stehen.
Der Blonde murrte ein bisschen, hielt ihm dann jedoch auf einen ungeduldigen Wink von Mr. Boxclub Nord die Faust hin. Lance schlug dagegen und wandte sich ab. Geschmeidig glitt er unter den Seilen hindurch aus dem Ring und landete genau vor Tristan. Nach einem flüchtigen Blick ging er an ihm vorbei.
Noch war es nicht zu spät. Es wäre leicht, unverrichteter Dinge abzuziehen. Tristan sah Marcos Gesicht vor sich, sein spöttisches Lächeln, die blitzenden Augen ...
„Lance!“
Vom eigenen Mut erschrocken wich Tristan ein paar Schritte zurück. Lance blieb stehen und drehte sich um. Er hatte immer noch den Schutz im Mund und machte keine Anstalten, ihn herauszunehmen. Mit einer herrischen Kopfbewegung forderte er Tristan auf, weiterzureden.
„Kann ich dich mal sprechen?“, würgte der heraus.
Lance kam langsam auf ihn zu. Er war viel größer, als er im Ring gewirkt hatte. Seine Haut glänzte vor Schweiß. Alles an ihm war kantig, muskulös und hart. Betäubender Moschusduft ging von ihm aus. Tristan schluckte trocken. Aus der Nähe erkannte er, was die Tätowierung darstellte: einen Drachen, dessen schuppiger Leib sich aus dem Bund der Shorts über die linke Flanke an den unteren Rippen vorbei schlängelte und hinter Lance breiter Schulter verschwand. Tristan hätte gerne einen Blick auf den Kopf geworfen, der auf das Schulterblatt tätowiert war.
Lance sah ihn abwartend an. Er musste was sagen, irgendetwas. Mist, er hätte vorher üben sollen. Sich die passenden Worte zurechtlegen. Dann müsste er jetzt nicht so blöd herumstammeln.
„Es geht um Marco. Um sein Auto.“
Böser Fehler. Lance spuckte den Mundschutz aus und funkelte ihn an.
„Wenn der Wichser mir was zu sagen hat, soll er selbst kommen.“
Er wandte sich ab und ging. Tristan sah ihm verblüfft nach. Das lief überhaupt nicht gut, aber so schnell konnte er nicht aufgeben. Mit dem Mut der Verzweiflung rannte er hinter ihm her und stellte sich ihm in den Weg.
„Warte ... bitte. Hast du das Auto noch?“
Ein paar Infos musste er wenigstens aus diesem Desaster herausschlagen. Schlagen ... kein gutes Stichwort. Lance sah aus, als wollte er ihm am liebsten eine verpassen. Dann grinste er und schüttelte den Kopf.
„Wie tief will der schöne Marco noch sinken? Muss er jetzt schon seine Lakaien schicken?“
Er setzte sich in Bewegung und ging langsam um Tristan herum, wobei er ihn unverwandt musterte. Wie ein Raubtier, das seine Beute umkreist, schoss es ihm durch den Kopf. Kein sehr ermutigender Gedanke.
„Das kleine Arschloch hat wohl Schiss, dass er was auf die Fresse kriegt.“
Lance befand sich nun genau hinter Tristan. Seine Wirbelsäule kribbelte. Da er nicht mehr durch Lance’ Anblick abgelenkt war, fiel ihm auf, dass er eine angenehme Stimme hatte, tief und ein wenig rau. Sexy. Verdammt! Wie kam er denn auf solche Ideen? Das musste an der testosteronhaltigen Luft liegen. Lance tauchte wieder in seinem Blickfeld auf. Er schlenderte lässig weiter.
„Was bietest du mir denn an für den Wagen?“
Um seine Lippen spielte ein amüsiertes Lächeln.
Ganz schön dreist, ein Auto zu klauen und dann Geld für die Rückgabe zu verlangen. Aber Tristan hatte keine andere Wahl. Er wollte dieses Auto. Das hieß, eigentlich wollte er Marco, so sehr, wie er noch nie etwas gewollt hatte, und dazu brauchte er es. Hastig überschlug er sein Barvermögen.
„Fünfhundert Euro?“
Das klang viel zu unsicher. Nicht gut. Lance schnaubte. Er hatte wieder eine Runde um Tristan vollendet und blieb vor ihm stehen.
„Ist das alles, was du zu bieten hast?“
Der Blick, mit dem er ihn bedachte, war anzüglich. Tristan wurde heiß. Ein Schweißtropfen rann über seinen Rücken. Es kostete ihn seine gesamte Selbstbeherrschung, nicht einfach wegzulaufen. Trotzig hob er das Kinn. Lance schüchterte ihn ein, zugegeben, aber er würde nicht weichen, bis er eine Antwort bekam. Mittlerweile hatte Lance das genaue Studium seines Körpers abgeschlossen und wandte sich seinem Gesicht zu. Er starrte ungeniert das Feuermal an.
„Hast du das nur im Gesicht oder noch woanders?“
Obwohl er überhaupt nicht angewidert klang, nur interessiert, kochte Wut in Tristan hoch. Er biss sich auf die Lippe, um nicht mit einer unbedachten Bemerkung jede Chance zu verlieren, das Auto zu bekommen. So direkt hatte ihn tatsächlich noch niemand nach dem Mal gefragt, zumindest niemand, der ihn erst seit wenigen Minuten kannte. Lance betrachtete es immer noch mit fasziniertem Gesichtsausdruck.
„Okay, Kleiner, du kriegst die Karre, wenn du dich von mir ficken lässt.“
Was? Wie? Tristan traute seinen Ohren nicht. Das konnte Lance nicht gesagt haben, er hatte sich bestimmt verhört. Bisher hatte er jeden direkten Blickkontakt vermieden, da er irgendwo gelesen hatte, dass Leute, die im Gefängnis gewesen waren, das als Angriff werteten. Nun forschte er in Lance’ Miene nach Anzeichen dafür, ob er das ernst meinte. Sein hageres Gesicht war völlig ausdruckslos. Die Wangenknochen traten deutlich hervor, noch betont durch den Bartschatten darauf. Die Nase war schmal, groß und so krumm, als wäre sie mehrmals gebrochen und nicht ärztlich versorgt worden. Unter düster zusammengezogenen Brauen ...
Tristans Knie wurden weich. Was für ein Blau! Der Kerl hatte die wundervollsten Augen, die er je gesehen hatte. Tiefblau, klar und leuchtend. Tristan ertrank in diesen Augen, sank hinein wie in einen kühlen Bergsee.
„Kannst es dir ja überlegen.“
Lance’ Stimme riss ihn abrupt aus der Trance. Überlegen? Ach so. Nahm er tatsächlich an, dass Tristan diesen Deal in Erwägung zog?
„Warte draußen auf mich, ich geb dir meine Nummer.“
Ohne eine Erwiderung abzuwarten, ließ er Tristan einfach stehen. Der sah ihm verwirrt nach. Allmählich nahm er die Umgebung wieder wahr. Während des Gesprächs mit Lance hatte er überhaupt nicht darauf geachtet, was um ihn herum passierte. Jetzt fiel ihm auf, dass die meisten aufgehört hatten zu trainieren und ihn anstarrten. Einige grinsten breit. Tristan schoss glühende Hitze ins Gesicht. Wie peinlich war das denn!
Diesmal siegte der Fluchtinstinkt. Innerhalb von Sekunden verließ er den Ort der Demütigung. Draußen musste er sich an die Backsteinwand lehnen, so weich waren seine Knie.
Bleiben oder fliehen? Tristan sah sich nervös um, als könnte die trostlose Umgebung ihm Entscheidungshilfe liefern. Sah alles sehr nach „Fliehen“ aus. Trotzdem blieb er wie angewurzelt stehen, den Rücken an die raue Mauer gedrückt. Vor die frische Erinnerung an das höhnische Funkeln in Lance’ Augen schob sich Marcos ebenmäßiges Gesicht, von einem dankbaren Lächeln erhellt. Sehr wahrscheinlich war die Auto-Aktion Tristans einzige Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass dieses Lächeln jemals ihm galt. Und nicht nur das, immerhin ging es um eine ganze Woche mit Marco. War doch klar, dass ihm das nicht einfach in den Schoß fallen würde. Darum musste jemand wie er kämpfen.
Kämpfen, schon wieder dieses Wort. Was wäre schlimmer, sich von Lance verdreschen oder ficken zu lassen? Tristan war weder auf das eine noch das andere sonderlich scharf. Was würde denn wohl länger dauern?
„Hey.“
Lance’ Stimme riss ihn aus den mehr als albernen Überlegungen. Für eine Flucht war es jetzt zu spät, also setzte er eine möglichst coole Miene auf und musterte Lance, der in verblichenen Jeans, einem schwarzen T-Shirt und Lederjacke nicht ganz so ausgemergelt wirkte wie in Trainingskluft. Er duftete nun statt nach Schweiß nach Duschgel. Eigentlich hätte das den Testosteroneffekt mildern müssen, doch Tristans Herz stolperte schon wieder. Er vermied jeden Blick in Lance’ Augen und streckte die Hand aus.
„Gib mir die Nummer, ich überlege es mir.“
Erst mal Zeit schinden. Lance reichte ihm den schräg abgerissenen Fetzen eines Bierdeckels. Tristan starrte auf die hingekritzelten Zahlen und blickte dann auf, in Lance’ Gesicht, das sich zu einem schiefen Grinsen verzog, eher überrascht als spöttisch.
„Ich gebe dir drei Tage. Und keine Sorge, ich mache es safe.“
Er wandte sich zum Gehen. Tristan sah sprachlos zu, wie er zu einem der Motorräder schlenderte und Anstalten machte, einen Helm aufzusetzen. Rasch trat er einen Schritt vor.
„He, warte mal!“
Lance ließ den Helm sinken und grinste.
„Schon entschieden? Cool, steig auf!“
Tristan spürte, dass ihm die Röte ins Gesicht schoss. Er musste sich räuspern, bevor er sprechen konnte, trotzdem klang seine Stimme belegt.
„Du gibst mir Marcos Auto dafür?“
Lance zog die Brauen nach oben.
„Habe ich doch schon gesagt. Fick gegen Auto.“
Das hörte sich so simpel an. Tristan versuchte zu schlucken. Sein Mund war staubtrocken. Wozu es hinauszögern? Er hatte sowieso keine Wahl.
„Okay“, krächzte er. Vom eigenen Mut schockiert stand er reglos da. Auch Lance rührte sich nicht. Mit so einer schnellen Zustimmung hatte er vermutlich nicht gerechnet. Sehr wahrscheinlich hatte er überhaupt nicht angenommen, dass Tristan auf den Vorschlag einging. Jedenfalls starrte er Tristan an, als nähme er ihn das erste Mal richtig wahr. Schließlich hob er die Schultern.
„Gut. Bist du mit dem Auto hier?“
Tristan schüttelte den Kopf. „Fahrrad.“
Er zeigte überflüssigerweise auf das Rad, das neben dem Ölfass an der Wand lehnte. Da es das einzige Rad weit und breit war, konnte Lance sich ja wohl denken, dass es seins war.
„Das kannst du nicht hier stehen lassen“, knurrte der. „Wundert mich sowieso, dass es noch da ist.“
Mit wenigen schnellen Schritten war er bei Tristan, der überrumpelt zurückwich. Lance zog einen Mundwinkel nach oben und drückte ihm den Motorradhelm vor die Brust.
„Warte hier.“
Er hob das abgeschlossene Fahrrad hoch, als wäre es federleicht, und verschwand damit durch die Tür in den Club. Wenig später kam er ohne Rad zurück.
„Ich bringe es dir später nach Hause. Worauf wartest du?“
Er wies auf den Helm. „Setz den auf!“
Tristan dachte nur flüchtig darüber nach, wie er sein Fahrrad zurückbekommen sollte. Gegen die Vorstellung von dem, was Lance mit ihm vorhatte, nahm sich das Problem wie eine Lappalie aus. Zögernd folgte er ihm zum Motorrad. Seine Knie hatten sich in Watte verwandelt. Er fuhr oft auf Caros Motorrad mit, aber dies war etwas völlig anderes. Lance gehörte nicht zu den Menschen, denen er sein Leben anvertrauen wollte.
„Vielleicht sagst du mir einfach, wo du wohnst und ich komme mit dem Fahrrad nach.“
Lance startete den Motor und runzelte die Stirn.
„Vielleicht schwingst du jetzt endlich deinen Arsch auf den Bock, bevor ich es mir anders überlege.“
Bevor ... was? Tristan hätte fast gelacht. Lance tat, als wollte er ihm einen Gefallen tun. Na ja, in gewisser Weise war es so. Er biss die Zähne zusammen und stieg auf, wobei er versuchte, möglichst viel Abstand zwischen sich und Lance zu bringen, aber der Sitz war dermaßen ungünstig geformt, dass er sofort gegen ihn rutschte. Bevor er es verhindern konnte, packte Lance hinter sich, erwischte zielsicher seine Handgelenke und zog sie um seine Taille herum.
„Halt dich fest.“
Er gab Gas und Tristan konnte nichts anderes tun, als die Arme fest um ihn zu schlingen und die Augen zu schließen, bei dem Tempo, mit dem er losschoss. Tristan hatte Caro bisher für eine irre Raserin gehalten und leistete im Geiste Abbitte, denn gegen Lance’ Fahrstil war sie eine Heilige. Lance heizte in einem Affenzahn um die Kurven, dass er sich fragte, ob er möglicherweise diese Knieschoner trug, wie Rennfahrer sie benutzten. Hoffentlich dachte er daran, dass Tristan keine hatte. Trotz des Helms pfiff ihm der Fahrtwind um die Ohren und zerrte an seinem Hoodie. Sein Magen hob sich wie bei einer Achterbahnfahrt.
„Scheiße!“, brüllte er.
Lance lachte und nahm das zum Anlass, noch schneller zu fahren. Der Kerl musste völlig verrückt sein. Wieder legte er sich in die Kurve und Tristan mit ihm. Seine langjährige Soziuserfahrung half dabei, ohne die wären sie längst abgeschmiert. Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen und er schnappte nach Luft, als Lance auf der nächsten Geraden noch mehr beschleunigte. Der Motor röhrte auf und übertönte Tristans entsetzten Schrei. Und dann war es vorbei.
Sie wurden langsamer, bis Lance abbremste und die Maschine butterweich zum Stehen brachte. Tristan öffnete die Augen. Er keuchte. Verdammt, was für ein Höllenritt!
„Wir sind da, du kannst loslassen.“
Lance’ amüsierte Stimme riss ihn aus der Erstarrung. Verlegen merkte er, dass er ihn immer noch umklammerte wie ein Ertrinkender und löste so schnell er konnte die unfreiwillige Umarmung. Lance drehte sich zu ihm um.
„Spaß gehabt?“
Tristan konnte es nicht fassen.
„Spaß?“, schrie er. „Wolltest du uns umbringen? Du hast sie doch nicht mehr alle!“
Lance lachte. „No risk, no fun. Los, runter mit dir.“
Das musste er Tristan nicht zwei Mal sagen. Er sprang so hastig vom Motorrad, als wäre es glühend heiß. Sofort gaben seine Beine unter ihm nach und er landete auf dem Hintern. Lance stieg ebenfalls ab, wesentlich eleganter, warf ihm einen flüchtigen Blick zu und wandte sich ab, um auf das Rolltor zuzumarschieren, vor dem er geparkt hatte. Immerhin lachte er nicht.
Während er an der Kette mit dem Vorhängeschloss herumhantierte, kämpfte sich Tristan auf die Füße. Er zitterte, von dem ausgestanden Schreck genauso sehr wie aus Nervosität vor den weiteren Schrecken, die noch auf ihn warteten. Mit gemischten Gefühlen beobachtete er, wie Lance das Tor zur Seite schob. Der wollte ihn doch nicht etwa in Marcos Auto ficken? Denn da stand er, der Opel Kapitän in seiner kantigen Pracht. Die weiße Lackierung glänzte frisch gewaschen.
Lance betrachtete das Auto und drehte sich dann zu Tristan um.
„Kannst du so einen Wagen fahren?“
Tristan begriff nicht, worauf er hinauswollte.
„Soll ich dir meinen Führerschein zeigen?“
Lance verzog das Gesicht. „Ich meine, kannst du ein Auto fahren, das weder Bremskraftverstärker, Servolenkung noch sonstigen Schnickschnack hat?“
Tristan nickte. So schwer konnte das nicht sein. Er hatte seit drei Jahren den Führerschein und bisher mit keinem Auto Probleme gehabt. Allerdings war keines davon älter als fünfzehn Jahre gewesen. Der Opel mochte an die dreißig auf dem Buckel haben. Lance hob zweifelnd die Brauen. Er zuckte mit den Achseln und beugte sich hinunter zu dem rechten Vorderreifen. Im nächsten Moment hielt er einen Schlüssel in der Hand und warf ihn Tristan zu. Der war geistesgegenwärtig genug, um ihn aufzufangen.
„Dann versuch dein Glück! Soll nicht meine Sorge sein, ob du das Ding heil zu deinem Marco schaffst.“
Er nannte den Wagen zwar Ding, doch der Blick, mit dem er ihn bedachte, war beinahe liebevoll. Tristan schluckte. Am liebsten wäre er sofort eingestiegen und losgefahren. Aber so einfach war es nicht. Schließlich gab es eine Vereinbarung.
„Wann willst du denn ... äh ...“
Tristan merkte verlegen, dass er schon wieder rot anlief. Er wusste, wie schlimm er dann aussah, und widerstand mühsam der Versuchung, das Gesicht abzuwenden. Lance machte eine wegwerfende Handbewegung.
„Später. Ich bin jetzt nicht in Stimmung. Ruf mich morgen an und wir machen einen Termin aus.“
Tristan atmete auf. Aufgeschoben war nicht aufgehoben, aber er war trotzdem froh. Er war nämlich auch nicht in Stimmung. Beinahe hätte er sich bei Lance bedankt, verkniff es sich gerade noch und schloss wortlos die Fahrertür auf. Lance beobachtete mit verschränkten Armen und stoischer Miene, wie er umständlich den Sitz zurechtrückte, am Rückspiegel kippelte und probeweise die Kupplung durchtrat. Behutsam drehte er den Schlüssel in der Zündung. Der Wagen sprang sofort an. Er klang beruhigend vertraut wie ein richtiges Auto. Tristan ließ die Kupplung kommen und gab Gas. Nach einem ruckelnden Bocken verstummte der Opel. Abgewürgt. Lance verzog keine Miene. Beim zweiten Versuch klappte es. Gehorsam rollte der Wagen durch das Tor.
Erst nachdem er ein paar Hundert Meter die Straße entlanggefahren war, merkte Tristan, dass er die Luft anhielt, und stieß sie prustend aus. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte es geschafft! Er hatte Marcos Auto zurückerobert!
„Wo hast du denn das Prachtstück her?“ Caro ging ein Mal um den Opel herum und strich mit den Fingerspitzen über die Motorhaube. Tristan war es gar nicht recht, dass sie ausgerechnet in dem Moment aus ihrem Fiat ausgestiegen war, als er mit äußerster Vorsicht dahinter einparkte. Auf keinen Fall durfte eine Macke Marcos Liebling verschandeln.
„Ist das deins?“
Tristan wich Caros Blick aus. „Nee. Das ist Marcos Auto. Ich habe es nur ... für ihn geholt.“
„Geholt? Seit wann bist du denn so dicke mit dem, dass du sein Auto fahren darfst? Ist mir etwas entgangen?“
Tristan gefiel der spöttische Unterton in Caros Stimme nicht. Er wusste, sie würde so lange weiterbohren, bis sie die Wahrheit aus ihm herausgequetscht hätte. Er konnte es ihr genauso gut sofort erzählen.
„Jemand hat Marcos Auto gestohlen, und ich habe es zurückgeholt.“
Caro starrte ihn an. „Was? Jetzt mal ganz von vorne. Ist das nicht Sache der Polizei? Woher weißt du, wer der Dieb war? Und wie hast du es von ihm zurückbekommen? Etwa auch geklaut? Tris, fang erst gar nicht mit so einem Mist an!“
„Nein, Quatsch. Ich habe es nicht gestohlen! Ich habe den Dieb überredet.“
„Aha. Klar. Du bist schließlich der Meister der Überredungskunst. Verdammt, Tristan, ich finde, jetzt geht deine Verliebtheit in diesen arroganten Schnösel zu weit. Du hast es gekauft, stimmt’s? Und ich wette, dass Marco dir keinen müden Euro zurückzahlen wird.“
Caro schlug mit der flachen Hand auf das Autodach und Tristan zuckte zusammen.
„Hör auf, Caro! Ich verlange überhaupt nicht, dass Marco mir irgendwas zurückzahlt.“
Ihm war es lieber, dass sie glaubte, er hätte den Wagen mit Geld gekauft und nicht, wie es der Wahrheit entsprach, mit seinem Körper. Auf Kredit, wenn er es recht bedachte. Der Gedanke brachte ihn zum Grinsen. Vermutlich Galgenhumor. Caro boxte ihm fest gegen die Schulter.
„Findest du das lustig, dich von dem kleinen Mr. Ich-bin-ja-so-toll ausnutzen zu lassen?“
„Lass gut sein. Ich musste kein Geld bezahlen, okay?“
Caro runzelte die Stirn. „Ach so, verstehe. Umso schlimmer. Du hast also mit deiner unsterblichen Seele bezahlt.“
Tristan nahm nicht an, dass sie ahnte, wie nahe sie der Wahrheit mit dieser sarkastischen Bemerkung kam. Kopfschüttelnd wandte Caro sich ab und öffnete den Kofferraum des Fiats, der vollgestopft mit Einkaufstüten war.
„Du hast Glück, du kannst was für dein Karma tun. Hilf mir mal, das Zeug raufzubringen.“
Ohne Widerrede schnappte Tristan zwei Tüten und rannte im Eiltempo damit die drei Treppen bis zu der Altbauwohnung hoch, die er sich mit Caro teilte. Er konnte es kaum abwarten, Marco den Opel zu präsentieren. Doch halt, wann und wie sollte er das tun?
„He, bist du deine Seele schon los oder warum stehst du hier herum wie ein Zombie?“
Caro rempelte ihn an. Tatsächlich stand er reglos mitten in der Küche, in jedem Arm eine Einkaufstüte. Hastig deponierte er die Einkäufe auf dem Tisch, während er weiter über das Übergabeproblem grübelte. Er hatte sich alles so schön vorgestellt, doch nun packten ihn Zweifel. Wenn er Marco nach dem Training auflauerte, würden all seine Freunde beobachten, wie er ihm das Auto zurückbrachte. Womöglich war ihm das peinlich.
„Da sind noch zwei Tüten im Wagen.“
Wieder riss Caros Stimme ihn aus den Überlegungen. Nachdenklich trottete er die Treppe hinunter. Er musste Marco allein abfangen. Gar nicht so einfach, er war ständig von Bewunderern umgeben. Zurück in der Küche half er Caro, die Tüten auszupacken und die Sachen zu verstauen.
„Wann willst du deinen Marco denn mit dem Auto beglücken?“
Caro gestikulierte auffordernd mit einer Porreestange in seine Richtung. Er beugte sich rasch über eine Tüte. Musste Caro eigentlich immer den Nagel auf den Kopf treffen?
„Später. Weiß noch nicht.“
„Na, auf jeden Fall vor Zeugen. Der soll dir das Geld zurückzahlen! Wenn niemand sieht, dass du der Retter seines Oldtimers bist, behauptet er hinterher noch, dass du es ihm gar nicht gebracht hast.“
„Er muss mir nichts zurückzahlen. Mensch, Caro, musst du dich eigentlich immer in alles einmischen?“
Erst als Caro einen Schritt zurückwich und ihn mit großen Augen ansah, fiel ihm auf, wie schroff er sich angehört hatte. Es tat ihm schon leid, sie so angefahren zu haben, doch bevor er sich entschuldigen konnte, trat sie dicht an ihn heran, schlang die Arme um ihn und pflanzte ihm einen Kuss auf die Wange. Die mit dem Feuermal.
„Tris, ich bin deine Cousine. Deine große Cousine. Es ist mein Job, mich einzumischen. Versuch mal, mich davon abzubringen.“
Tristan musste lachen. Er drückte Caro an sich und schob sie dann sanft weg. „Mach dir keine Sorgen.“
Sie sah ihn ungewohnt ernst an.
„Doch, das tu ich. Du bist Marco nicht gewachsen. Der ist ein skrupelloser Mistkerl, nur auf seinen Vorteil bedacht. Also, was hat er dir versprochen, wenn es kein Geld war? Einen Kuss?“
Tristan sank auf einen Küchenstuhl und fuhr mit dem Finger über die buntlackierte Armlehne. Caro konnte er einfach nichts vormachen.
„Nein, keinen Kuss.“ Er seufzte. „Er hat dem, der ihm das Auto bringt, eine Woche mit ihm versprochen. Aber das hat er nur so dahergesagt. Das war Quatsch.“