Raue Nächte & (be-)sinnliche Zeit - Leann Porter - E-Book

Raue Nächte & (be-)sinnliche Zeit E-Book

Leann Porter

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Beschreibung

Sucht Euch einen gemütlichen Ort, holt Euch ein feines Getränk und lehnt Euch mit diesem Buch zurück, um alte Freunde und Bekannte wiederzutreffen. Diese Anthologie ist eine Art Geschenk – ein Jubiläumsgeschenk an Euch, liebe Lesende, die Ihr uns schon so lange begleitet. Ein Geschenk an alle neuen Leser und Leserinnen, die uns vielleicht durch diese Geschichtensammlung entdecken. Eine Anthologie mit Geschichten zum Wohlfühlen. Mysteriöse, spannende, lustige, romantische und (be-)sinnliche Winter- und Weihnachts-Geschichten erwarten Euch – von Leann Porter, Beth MacLean, Orlando Stein, Simon Rhys Beck, J.L. Carlton, Sandra Busch, Barbara Corsten, Justin C. Skylark, L. Mattis, Sandra Gernt, Lili B. Wilms, Bianca Nias und Andy D. Thomas.

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Seitenzahl: 475

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Hrsg. Simon Rhys Beck

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2024

http://www.deadsoft.de

© the authors

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte: © Mia Stendal – stock.adobe.com

1. Auflage

ISBN 978-3-96089-729-3

ISBN 978-3-96089-730-9 (ebook)

Inhalt:

Sucht Euch einen gemütlichen Ort, holt Euch ein feines Getränk und lehnt Euch mit diesem Buch zurück, um alte Freunde und Bekannte wiederzutreffen.

Diese Anthologie ist eine Art Geschenk – ein Jubiläumsgeschenk an Euch, liebe Lesende, die Ihr uns schon so lange begleitet. Ein Geschenk an alle neuen Leser und Leserinnen, die uns vielleicht durch diese Geschichtensammlung entdecken.

Eine Anthologie mit Geschichten zum Wohlfühlen.

Mysteriöse, spannende, lustige, romantische und (be)sinnliche Winter- und Weihnachts-Geschichten erwarten Euch – von Leann Porter, Beth MacLean, Orlando Stein, Simon Rhys Beck, J.L. Carlton, Sandra Busch, Barbara Corsten, Justin C. Skylark, L. Mattis, Sandra Gernt, Lili B. Wilms, Bianca Nias und Andy D. Thomas.

Leann Porter

Ein Irrlicht im Schnee

Eine fantastische Geschichte über Angus und Bekir aus »Wünschelbräu Premium«

Nichts auf der Welt weckt mich zuverlässiger auf als der Duft von frisch aufgebrühtem Kaffee.

Noch im Halbschlaf räkele ich mich wohlig und genieße das Gefühl einer brandneuen Matratze unter mir, mit der wir gestern das klumpige Ding ersetzt haben, das seit der Erbauung von Greystone Manor in dem Himmelbett herumgemodert sein muss. Das Herrenhaus gehört zwar jetzt offiziell Connor Macbride, dem Alphawolf eines Werwolfrudels, doch Angus, der es vor einigen Monaten von seiner verstorbenen Tante geerbt hat, darf es jederzeit als Feriendomizil nutzen. Wie zum Beispiel für dieses Wochenende. Wie lange habe ich mich darauf gefreut!

Voller Tatendrang springe ich aus dem Bett und laufe im Pyjama die Treppe hinunter, direkt in die Küche, der ein verführerischer Duft nach dem magischen Morgenelixier entströmt. Mit dem großen Holztisch, den Schränken, gefüllt mit liebevoll altmodischem Geschirr, und den Sprossenfenstern mit Aussicht in den Garten ist die Küche mein Lieblingsraum. Ich bin froh, dass ihre vertraute Gemütlichkeit noch nicht den Renovierungsbemühungen des Macbride-Clans zum Opfer gefallen ist. Bevor ich eintrete, höre ich Stimmengemurmel und das brummelnde Lachen von Angus, und mein Herz schlägt schneller. Angus sitzt am Tisch, eine dampfende Tasse vor sich, die dunklen Locken schlafzerzaust und die Augen verquollen, ein Kissenabdruck ziert seine unrasierte Wange und er ist der schönste Mann aller Zeiten. Besonders, als er den Kopf hebt und sich sein müdes Gesicht bei meinem Anblick zu einem liebevollen Lächeln erhellt. »Hey! Wusste ich doch, dass die Kaffeemagie funktioniert.«

Ich mag seine morgenheisere Stimme und wie sein Hals duftet, gegen den ich nun meine Nase drücke, bevor ich ihm einen ausführlichen Guten-Morgen-Kuss gebe, bis uns ein subtiles Räuspern unterbricht.

»Darf ich Master Bekir einen Kaffee kredenzen?«

George, der Hausgeist von Greystone Manor, stellt bereits eine gefüllte Tasse vor mir ab, ohne auf eine Antwort zu warten, und vollführt mit der gesammelten Eleganz seiner fünfzig Zentimeter Körpergröße eine Verbeugung, die mich in Kombination mit dem schelmischen Grinsen zum Lächeln bringt.

»Morgen, George. Vielen Dank. Ihr habt ja schon richtig gute Laune heute Morgen. Hab euch bis in den ersten Stock lachen hören.«

»Sieh mal aus dem Fenster«, raunt mir Angus ins Ohr und nutzt die Gelegenheit, mir einen Kuss hinters Ohrläppchen zu geben. Mir läuft ein wohliger Schauer über den Rücken. Es spricht zum Glück nichts dagegen, wenn wir nach dem Frühstück direkt wieder ins Bett gehen, oder? Gehorsam drehe ich mich um und versuche gar nicht erst, das triumphierende »Ha« zu unterdrücken. »Hab ich es dir nicht gesagt? Es war gut, dass wir gestern Abend noch losgefahren sind.«

»Ja, hast du«, gibt Angus zu und zwinkert mir zu. »Aber hast du wirklich mit so viel gerechnet?«

»Natürlich«, behaupte ich und schaue versonnen in das dichte Schneetreiben vor dem Fenster. »Ich bin schießlich eine Halbnymphe. Ein besonders naturverbundener Naturgeist und so.« Zugegeben, an einem Wintertag wie diesem genieße ich die Natur lieber aus beheizten Räumlichkeiten. Der Plan mit der Rückkehr ins Bett erscheint mir nun noch verlockender. Und danach setzen wir uns mit Kakao vor den prasselnden Kamin im frisch renovierten grünen Salon, dessen Name sich nicht länger auf die Farbe der schimmeligen Wände bezieht, sondern auf vom Rudel liebevoll angebrachte Tapeten und die von George genähten Vorhänge. »Bei dem Wetter hätten wir es kaum aus Edinburgh rausgeschafft, geschweige denn bis hierher zum Herrenhaus.« Ich seufze verzückt. Was gibt es Romantischeres, als allein mit dem Liebsten eingeschneit zu sein? George und Lucy, die Hausgeister, zähle ich mal nicht mit.

Der Türgong bringt die Gläser im Regal zum Scheppern. Wir starren uns an, als wollten wir einen Wettbewerb mit dem Thema »Wer guckt am verwirrtesten« ausfechten.

»Wer kann das denn sein?«, quiekt George. »Von Gästen hat mir Mr. Macbride nichts gesagt!«

»Sind wir keine Gäste?«, frage ich, schon auf dem Weg in die Eingangshalle.

George wieselt neben mir her. »Aber nein, du und der ehemalige Hausherr Angus seid doch hier zu Hause!«

Mich rührt, dass er das so sieht. Leider sehen auch mindestens vierzig Werwölfe Greystone Manor als ihr Zuhause an. Zwar hat uns Macbride versichert, dass wir an diesem Wochenende ungestört sein werden, aber womöglich haben einige Rudelmitglieder sich spontan zu einem Abstecher in die Highlands entschieden. Haben die denn keinen Schlüssel?

Einen flapsigen Spruch über Vergesslichkeit auf den Lippen öffne ich die mit Schnitzereien verzierte Eichenholztür und erwarte, mich einem bekannten Gesicht gegenüberzusehen. Da Angus und ich mehrmals bei der Renovierung des Hauses geholfen haben, kennen wir mittlerweile die meisten aus dem Rudel. Doch die beiden schneebedeckten Gestalten, die vor der Tür stehen, sind definitiv keine Macbride-Werwölfe.

Der Größere trägt einen langen schwarzen Ledermantel, der seine breiten Schultern betont. Sein kantiges Gesicht zeigt keinerlei Regung. Er mustert mich über eine schmale Adlernase hinweg, sein Blick so durchdringend, dass ich den Kopf einziehe und einen Schritt zurücktrete.

»Hallo!«, sagt der Mann neben ihm und schenkt mir ein entwaffnendes Lächeln. Schneeflocken glitzern in seinen Locken und seine grünen Augen strahlen. Er sieht unglaublich gut aus und dabei so sympathisch, dass ich sein Lächeln spontan erwidere. »Dürfen wir hier um Obdach während des Schneesturms bitten? Auf der Straße Richtung Stadt ist eine Schneelawine niedergegangen, da schafft es selbst der Volvo nicht durch.«

»Klar«, kommt es über meine Lippen, noch bevor ich darüber nachgedacht habe. Ich sollte das wohl erst mit Angus besprechen, aber andererseits kann ich die Leute kaum in den Schnee jagen. Wie zur Bestätigung tritt Angus neben mich und legt mir die Hand auf die Schulter.

»Immer herein. Willkommen in Greystone Manor.« Er klingt so herzlich, dass sich trotz des eisigen Windes, der von draußen hereinweht, Wärme in meinem Bauch ausbreitet. Kein Vergleich mehr zu dem mürrischen Mann, der mich bei unserer ersten Begegnung nicht ins Haus lassen wollte.

»Danke«, erwidert der Große im Mantel mit tiefer Stimme. Er streckt die Hand aus. »Mein Name ist Jericho March und …«

Was er noch sagt, geht in dem Quietschen unter, das sowohl George als auch ich ausstoßen. Verlegen schlage ich mir die Hand vor den Mund. Mein Gesicht wird heiß. Was für eine peinliche Reaktion ist das denn bitte! Zu meiner Verteidigung sei gesagt, dass ich nicht jeden Tag dem berühmtesten Dämonenjäger Schottlands gegenüberstehe. Jerichos Mundwinkel zucken kaum merklich, während ich am liebsten im Boden versinken möchte.

»Und ich bin Islay Macgregor.« Der Lockenkopf grinst mich verschwörerisch an, als würde er komplett verstehen, dass Jerichos Anblick zu beschämenden Lautäußerungen führen kann. »Wir haben noch jemanden dabei, allerdings sind wir uns nicht sicher, ob wir einen Hund mit ins Haus bringen dürfen und ohne ihren Junior bleibt Kira auch lieber im Auto.«

»Was für ein Unsinn«, brummt Angus. »Herein mit dem Hund, und mit Kira natürlich auch.«

Islay dreht sich um und winkt. Auf dem schneebedeckten Platz vor dem Haus parkt neben einem weißen Haufen, bei dem es sich entweder um eine missglückte Schneeskulptur oder Angus’ Taxi handelt, ein uralter Volvo aus der Zeit vor dem Wandel. Je älter ein Fahrzeug, desto weniger moderne Technik ist darin verbaut, und da diese im Bereich der seit dem Wandel auftretenden Dimensionslöcher nicht funktioniert, ist es umso zuverlässiger. Der Volvo stellt also eine gute Wahl dar. Die hintere Tür fliegt auf und eine in einen schlafsackähnlichen Daunenmantel gehüllte Gestalt steigt aus. Auf ihre auffordernde Geste springt ein schwarzes, zotteliges Tier aus dem Wagen in den Schnee, gibt ein erfreut klingendes Heulen von sich und beginnt sogleich, sich im frischen Weiß zu wälzen. Das sieht so wohltuend aus, dass ich fast Lust bekomme, mitzumachen, bis mir siedendheiß bewusst wird, dass ich nichts weiter als meinen Schlafanzug anhabe, ein besonders schickes, mit tanzenden Dinosauriern bedrucktes Stück. Großartig, dass ich Jericho March angemessen bekleidet gegenübertrete.

»Äh, ich zieh mich mal um«, murmele ich, froh darüber, dass die anderen alle lachen, und das nicht über mich, sondern über die Freude des riesigen Hundes, der mittlerweile eher einem Yeti ähnelt.

Etwas später, in Jeans, Shirt und Hoodie, kehre ich in die Küche zurück, in der eifrig durcheinandergeredet wird. Es duftet nach Tee, Kaffee, Aufbackbrötchen und ein bisschen nach nassem Hund. Auch wenn ich die romantische Zweisamkeit mit meinem Liebsten in den Schneemassen versinken sehe, freue ich mich viel zu sehr über die unerwarteten Gäste, um mich darüber zu ärgern.

»… und dann waren das gleich zwei Offene Türen«, erzählt Islay und gestikuliert mit seiner angebissenen Brötchenhälfte. »Aber Kira und Jericho hatten alles im Griff.«

Geschichten aus dem Alltag eines Dämonenjägers – das ist wesentlich spannender als ein Krimi am Kamin. Ich setze mich und nehme ein Brötchen aus dem Korb, den mir Angus reicht. Mir gegenüber sitzt eine Frau mit blauem Haar, das eng an ihrem Kopf anliegt wie dichtes Katzenfell. Das muss Kira sein. Neben ihr hat der Hund Platz genommen und ist so groß, dass sein Kopf bis über die Tischplatte reicht. Hinter den schwarzen Zotteln glaube ich, seine Augen rot glühen zu sehen, aber das bilde ich mir sicher nur ein.

»Ja, war cool«, sagt Kira und grinst mich unerwartet schüchtern an. Eine Badass-Türschließerin, die mit Jericho March zusammenarbeitet, habe ich mir irgendwie anders vorgestellt. Einschüchternder. Sie sieht aus wie eine typische Studierende, die ich an der Magischen Akademie treffen könnte.

»Weiß nicht, was daran cool sein soll, mitten in der Nacht im Schneesturm zu einem Einsatz gerufen zu werden«, sagt Jericho mürrisch, und ich unterdrücke mühsam ein erneutes Fanboy-Quietschen. Ihn habe ich mir genauso vorgestellt! Grummelig, unnahbar, abgebrüht. Schlechtgelaunt.

Doch halt, Letzteres trifft zumindest jetzt nicht zu, als er Islay ein ebenso müdes wie amüsiertes Lächeln schenkt. »Tja, Islay, dein Wunsch, mal einen Tag aus Edinburgh rauszukommen, ist in Erfüllung gegangen.«

»Ja, aber so war das nicht geplant.« Islay verzieht das Gesicht. »Tut uns echt leid, dass wir hier hereingeschneit sind, im wahrsten Sinne des Wortes, aber außer eurem Haus gibt es in der Nähe keinen erreichbaren Schutz. Sobald es draußen besser wird, sind wir wieder weg.«

»Das kann dauern«, sagt Angus trocken. Ich hebe die Brauen und er fügt hinzu: »Ihr könnt natürlich bleiben, solange ihr wollt. Sieht so aus, als müsstet ihr die Nacht hier verbringen.«

»Gibt Schlimmeres.« In Jericho hat Angus offenbar seinen Meister in Sachen trockene Kommentare gefunden.

Islay lacht. »Ach komm schon!« Er sieht erst Angus an, dann mich. »Danke, das ist supernett von euch. Wohnt ihr immer hier oder ist das eine Art Wochenendhaus?«

»Immer? Bloß nicht!« Angus sieht dermaßen entsetzt aus, dass ich nun auch lachen muss. Abwechselnd erzählen wir, wie Angus an das Herrenhaus gekommen ist und dass es nun dem Werwolfclan gehört, der es zurzeit renoviert.

Angus reibt sich das Kinn. »Hm, mal sehen, ob es genug bewohnbare Zimmer gibt.«

Islay winkt ab. »Kein Problem, uns reichen ein paar Decken und eventuell Isomatten in irgendeinem Raum.«

»Sprich für dich selbst«, grummelt Jericho.

Wie aufs Stichwort kommt George in die Küche und erklärt mit einer Verbeugung, dass die Zimmer für die hochwillkommenen Gäste bereit sind.

Es hat aufgehört zu schneien, nur ein paar vereinzelte Flocken tanzen durch die klare Luft. Hand in Hand mit Angus schlendere ich durch den winterlichen Garten von Greystone Manor und lasse mir von den ersten, und wahrscheinlich auch letzten, Sonnenstrahlen des Tages die Nase kitzeln. Sacht stoße ich Angus mit der Schulter an. »Was ist, sollen wir einen Schneemann bauen?«

»Ich dachte schon, du fragst nie.«

Während unsere Gäste sich in den von George in Windeseile vorbereiteten Gemächern von ihrem nächtlichen Einsatz erholen, tollen Angus und ich im Schnee herum. Wir bauen keinen Schneemann, sondern zwei Schneekatzen und bekommen prompt Gesellschaft von Hausgeist Nummer zwei, Lucy, die in der von ihr bevorzugten Katzengestalt unsere Werke mit kritischem Blick begutachtet.

»Na ja, sieht ganz gut aus«, fällt sie das gnädige Urteil und kehrt pfotenschüttelnd auf die Terrasse zurück, die wir zuvor von Schnee befreit haben, damit wir später den bereits angeheizten Pizzaofen nutzen können.

Wagemutige Pixies schwirren um unsere Schneekatzen und geben klimpernde, klingelnde Laute von sich, die ich mal als Lob deute. Als sich eins der winzigen Geschöpfe kurz auf den Schnurrhaarzweigen der Katze niederlässt, sehe ich, dass die Pixie in einen Wintermantel im Schottenkaromuster gehüllt ist, die Kapuze ins Gesicht gezogen. Das sieht so niedlich aus, dass ich unwillkürlich nach Angus Hand greife, um ihn auf den seltenen Anblick aufmerksam zu machen. Er hat die Pixie bereits bemerkt und beobachtet sie mit der ehrfürchtigen Faszination, die ich immer an ihm bemerke, wenn er rund um das Herrenhaus magische Wesen entdeckt. Viel zu lange konnte er sie nicht sehen.

»Na sowas. Hab nicht gewusst, dass die bei Kälte und Schnee überhaupt rauskommen.«

»Hm, ich glaub, die haben Spaß.« Ich zeige auf einen Schwarm Pixies, die neben den Rosenbüschen eine wilde Schneeballschlacht veranstalten und dabei melodisch zirpen und zwitschern. Ein winziger Schneeball trifft mich auf die Nase, gefolgt vom Kichern der Pixies.

»Hey!«, rufe ich gespielt empört, forme meinerseits einen Schneeball und tue so, als wollte ich ihn auf sie werfen. Quietschend schwirren sie davon. Ich laufe ihnen nach, bis ein helles Licht vor meinen Augen aufflackert. Mit rudernden Armen schlittere ich noch ein paar Meter weiter und lande auf dem Hintern. Zu meinem Glück ist der Schnee hoch genug, um den Sturz abzupolstern. Verdattert kneife ich die Augen zusammen. »Was war das denn? Ein Glühwürmchen?«

Angus setzt sich netterweise neben mich in den Schnee und erkundigt sich, ob ich in Ordnung bin.

»Ja, alles klar, aber das Licht da, hast du das gesehen?«

»Ja, für ein Glühwürmchen nicht die richtige Jahreszeit und zu hell.« Angus deutet in Richtung Wald. »Dahinten ist es noch zu sehen.«

Zwischen den Bäumen blitzt es mehrmals an unterschiedlichen Stellen, als würde ein agiler Fotograf in den Ästen herumturnen. »Das ist ein Irrlicht!«, rufe ich aus. »Hast du das schon mal hier gesehen?«

Angus gibt ein unterdrücktes Prusten von sich. »Das fragst du den Mann, der bis vor ein paar Monaten nicht mal die Pixies sehen konnte?«

»Oh. Ja.« Ich streiche mir das Haar aus dem Gesicht und rufe mir ins Gedächtnis, was ich über Irrlichter weiß. Nicht viel. »Das wird doch nicht die Pixies ins Verderben locken?«

»Glaube ich nicht. Es sind magische Wesen. Anderweltler, genau wie Irrlichter. Die lassen sich nicht so leicht irreführen.«

Besonders überzeugt klingt er aber nicht. Am Rande meines Sichtfelds flackert es und ich fahre herum. In der im Winter kahlen Fuchsienhecke taucht ein weiteres Licht auf, dann zwei, umschwirrt von einer Pixie. Sie leuchten immer nur kurz, verschwinden, und blitzen an einer anderen Stelle, bis sie im Boden eintauchen. Neugierig rappele ich mich auf und stapfe auf die Hecke zu.

»Pass auf, lass dich nicht zu weit weglocken!«, ruft mir Angus belustigt nach.

»Als ob«, kommentiere ich nur und spähe in die ineinander verhakten Äste und Zweige. Die Pixie ist nicht mehr zu sehen. Über dem Boden befindet sich ein höhlenartiges Loch. »Angus! Das musst du dir ansehen! Ich habe einen Irrlicht-Bau gefunden.«

Angus betrachtet die dunkle Öffnung mit gerunzelter Stirn. »Wusste gar nicht, dass Irrlichter in solchen Baus leben. Ich hab gedacht, die flitzen einfach über dem Moor herum und locken unbedarfte Wanderer an.«

»Vielleicht ist das ihr Winterquartier.«

»Wenn wir später Zeit haben, können wir Tante Millis Bibliothek zu Rate ziehen. Könnte sein, dass es dort ein Buch über Irrlichter gibt.«

Gute Idee. Arm in Arm gehen wir zurück zum Haus, um den Pizzateig zu machen.

Der Gong, den Angus vor einigen Wochen ganz hinten in einem Küchenschrank entdeckt hat, funktioniert, und ruft, enthusiastisch geschlagen von George, wie in alten Herrenhauszeiten die Gäste zum Essen. Gähnend tappt am späten Nachmittag zuerst Islay in die Küche, gefolgt von Junior. George hat irgendwo Hundefutter aufgetrieben. Ich hoffe, er hat viel davon gefunden, denn das Zotteltier verschlingt den Inhalt des gefüllten Napfs mit einem Haps.

»Wir haben Futter für Junior im Auto«, teilt uns die ebenfalls in die Küche trottende Kira mit. Auch sie gähnt. »Ich hole das gleich.« Sie legt den Kopf schief und schließt die Augen halb.

Jericho March schlendert durch die Tür und sieht eindeutig am ausgeschlafensten aus. Mit scharfem Blick scannt er den Raum, hebt das Kinn und schnuppert, geht näher zur Terrassentür.

»Es ist Pizzaduft«, verkünde ich. »Wir können gleich essen. Was möchtet ihr denn dazu trinken?«

»OT«, sagt er.

Auf meinen fragenden Blick reagiert er nicht, sondern dreht sich zu Kira um, die nickt. »Ja, eine kleine.«

Beide sehen Angus und mich an, als warteten sie auf etwas.

»OT?«, wiederholt Angus.

»Offene Tür«, übersetzt Islay. »Habt ihr hier schon länger ein Dimensionsloch auf dem Grundstück oder ist das neu?«

Die Haare in meinem Nacken stellen sich kribbelnd auf. »Häwas?«, stottere ich alarmiert. Klar, ich bin mit der Gefahr von sich öffnenden Portalen aufgewachsen, aber ich lebe von klein auf in Edinburgh, das zum einen durch einen magischen Schild angeblich vor großen Löchern geschützt ist und es zum anderen genug Dämonenjägertrupps gibt, die sich um Offene Türen kümmern, falls doch mal eine aufploppt.

»Nicht, dass ich wüsste«, sagt Angus langsam und beneidenswert ruhig. »Wie kommst du darauf?«

»Ich riech das«, brummt Jericho, gleichzeitig sagt Kira: »Ich kann es hören.«

Verwirrt schaue ich von einem zur anderen.

Erneut spring Islay ein. »Das nennt man olfaktorische und akustische Türortung. Lest ihr denn keine AWsome?«

Das Magazin rund um Außerdimensionale Wesenheiten, kurz AWs oder umgangssprachlich Dämonen genannt, und alles, was damit zusammenhängt, ist mir durchaus bekannt. Allerdings muss ich zugeben, dass mich da eher die Berichte über die Jagd auf die in unsere Welt eingedrungene AWs interessieren als die über das Aufspüren der Offenen Türen.

»Doch«, sage ich hastig. »Ähm, ist das gefährlich?«

»Kommt drauf an«, sagt Kira und Jericho March in derselben Sekunde: »Nein.«

Sie fechten ein stummes Blickduell aus und schließlich hebt Jericho die Schultern. »Können uns das ja mal ansehen.«

Er macht den Eindruck, als wollte er keine große Sache daraus machen, was mich zunächst beruhigt. Trotzdem möchte ich das abklären lassen. Außerdem bin ich neugierig. Es eröffnet sich schließlich nicht jeden Tag die Gelegenheit, Jericho March in Aktion zu erleben.

»Aber nach dem Essen, ja? Ich komme um vor Hunger«, erklärt Islay. »Und die Pizza riecht super.« Er zwinkert mir zu. »Ich kann OTs übrigens weder hören noch sehen, aber ich werde demnächst für die AWsome schreiben.«

»Ach, das ist ja toll.« Ehrlich beeindruckt vergesse ich fast mein Unbehagen, angesichts der Möglichkeit, dass im nächsten Moment eine Horde Dämonen über uns herfallen könnte, mit der Pizza als Nachspeise. Islay berichtet von seiner Bewerbung bei dem Magazin, während ich mit Angus den Tisch decke und sich Kira leise mit Jericho berät.

»Bek«, raunt mir Angus ins Ohr. »Es ist alles gut. Wir haben doch die Gargoyles.«

»Ah, ja, klar.« Mein Lachen fällt reichlich kläglich aus. »Super. Stimmt.« Mache ich so einen furchtsamen Eindruck?

Flower und Muffin, die tagsüber als steinerne Statuen die Pfosten an der Einfahrt zum Herrenhaus zieren, erwachen bei Einbruch der Dunkelheit zum Leben und beschützen seit je her Greystone Manor und die Menschen und magischen Wesen, die hier leben, sei es vor Werwolfangriffen oder aus ihren Dimensionen entfleuchten Dämonen. Da die Gegend für gewöhnlich ruhig ist, vertreiben sie sich in den meisten Nächten die Zeit mit Kartenspielen. Seit die Jungwölfe des Rudels zwei Kickertische in einem noch zu renovierenden Zimmer aufgebaut haben, nutzen sie auch die gerne, und ab und zu können Angus und ich sie zu einer Partie Cluedo überreden, was Spaß macht, obwohl ich Muffin schon mehrmals beim Mogeln erwischt habe.

In beschützender Aktion habe ich sie bisher erst ein Mal erlebt, als besagte Jungwölfe auf die Idee gekommen sind, das Herrenhaus anzugreifen. Das ist mittlerweile geklärt und falls es Ärger mit Dämonen gegeben haben sollte, ist mir das entgangen.

»Es ist höchstens eine kleine OT«, reißt mich Jerichos ruhige, tiefe Stimme aus meinen Grübeleien. Er ist neben mich getreten und sieht mich forschend an, nickt mir zu. »Wir kümmern uns darum.«

Ich unterdrücke ein erleichtertes Seufzen. Bin ich feige, weil mich diese OT nervös macht? Die anderen benehmen sich, als wenn gar nichts wäre. Klar, für Jericho, Islay und Kira gehören Dimensionslöcher zum Alltag, aber auch Angus verteilt gelassen die Pizzen auf großen Tellern und unterhält sich mit George über die Vorräte im Weinkeller. Mir ist der Appetit vor Aufregung ziemlich vergangen, doch nur, bis ich den ersten Bissen vertilgt habe. Angus macht einfach die beste Pizza der Welt. Darin sind sich auch unsere Gäste einig und nach Kiras Erlaubnis bekommt auch Junior ein Stück.

»Was ist das für eine Rasse?«, frage ich, hauptsächlich, um mich abzulenken.

»Ein Barghest«, sagt Kira, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ah.« Ich schlucke. Bisher dachte ich, dass Barghests Höllenhunde sind. Hobby: Menschen töten. Doch Junior mampft friedlich Pizza und schaut treuherzig durch seinen Fellvorhang zu mir auf. »Das ist ja ungewöhnlich.«

Kira grinst. »Stimmt schon. Aber das ist in Ordnung. Junior ist ein Diensthund.«

Mehr sagt sie nicht, und ich frage lieber nicht weiter nach.

Von der Pizza bleibt kein Krümel übrig. Zu meinem Schreck bietet Angus Nachtisch an. »George hat Tiramisu gemacht.«

So sehr ich Georges Dessertkünste liebe, schieße ich wütende Blicke auf Angus ab. Der hat echt die Ruhe weg!

Jericho fängt meinen Blick auf. »Gerne. Nachdem wir uns um die OT gekümmert haben.«

Er steht auf und ich bin ihm so dankbar, dass ich ihn am liebsten umarmen möchte. Die Berichte über ihn haben verschwiegen, was für ein einfühlsamer Mensch er ist, denn mir ist schon klar, dass er meine mit Neugier gepaarte Unruhe spürt und mir zuliebe so zügig handelt.

Kiras Augen funkeln und sie reibt sich die Hände. »Dann mal los!«

Schön, wenn man Spaß an der Arbeit hat. Ihre sichtliche Vorfreude ist ansteckend und mein Herz schlägt schneller.

Angus zaust mir das Haar. »Du kannst hier im Haus warten«, flüstert er. Offenbar deutet er mein hibbeliges Verhalten falsch.

»Als ob«, bringe ich hervor. »Ich werde doch so etwas Spannendes wie eine Türschließung nicht verpassen.«

»Ach, das wird ein Routinejob«, meint Islay. »Aber klar, wenn du noch nie bei einer dabei warst, schau es dir ruhig an.«

Ruhig! Das soll wohl ein Witz sein. Alles andere als ruhig schlüpfe ich in meine Winterjacke und folge den anderen in den Garten. Angus nimmt meine Hand und drückt sie. Sofort schwindet der letzte Rest Furcht und macht Platz für ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch. Was soll passieren? Der beste Dämonenjäger Schottlands ist hier, dazu unsere Gargoyles, und falls doch etwas schiefgeht, erscheint dank Islay zumindest ein Bericht in der AWsome. Falls er es überlebt.

Großartige Aussichten!

Fast so toll wie die auf den Garten, der sich im Mondlicht wie ein märchenhaftes Winterwunderland vor uns erstreckt. Nicht auszudenken, wenn hier wirklich ein Betonklotz von Luxushotel hochgezogen worden wäre. Diesmal drücke ich Angus’ Finger und als ich seinem Blick begegne, lese ich in seiner zufriedenen Miene, dass er auch daran denkt, wie gut sich alles gefügt hat.

Jericho March macht nicht den Eindruck, als würde er die Schönheit des Gartens genießen. Er stapft zügig durch den Schnee. Kira dagegen bleibt stehen, um den Brunnen zu betrachten. Ich schließe zu Islay auf. »Sollte Jericho nicht seine Schwerter dabei haben?«, flüstere ich.

Islay hebt die Schultern. »Die sind im Auto. Wenn es nötig ist, wird er sie holen. Wie ich ihn kenne, hat er die Manteltaschen voller Rauchbomben und so. Falls Dämonen auftauchen, kommt er schon mit denen klar.«

Daran zweifle ich keine Sekunde. Jericho macht einen äußerst kompetenten Eindruck, sogar, als er mit dem Ärmel an einem dornigen Strauch hängenbleibt und sich fluchend befreit.

»Hab es!«, ruft Kira und geht neben besagtem Strauch in die Hocke. »Sehr klein.«

Sie klingt definitiv enttäuscht.

»Das ist der Irrlichtbau«, entfährt es mir.

Wie, um meine Worte zu bestätigen, schießt eines der Lichter aus dem Loch und saust zwischen den Beeten davon.

»Hm«, macht Jericho und vollführt eine auffordernde Geste Richtung Kira. Sie gibt zuerst Junior ein Zeichen. Der Hund hat angefangen, vor sich hin zu brummeln, schweigt jedoch sofort und schaut sie abwartend an.

»Tja, Leute«, beginnt Kira. »Dies hier ist kein Irrlichtbau, sondern die Offene Tür. Und das, was ihr für Irrlichter haltet …«

Islay strahlt. »Das sind Dämonen aus der fünfundfünzigsten Dimension!«

Bamm.

Ein paar Atemzüge lang sagt niemand etwas. Aus dem nahen Wald erklingt der Ruf einer Eule. Links von mir rauscht eine kleine Schneelawine von einem Zweig und ich glaube, eine Pixie davonhuschen zu sehen.

Angus räuspert sich. »Nun. Also. Können die Schaden anrichten?«

»Die fünfundfünzigste Dimension ist weitgehend unerforscht«, doziert Islay, als würde er aus der AWsome vorlesen. »Bekannt sind kleinere Echsenwesen, die Feuer speien, sowie die Erscheinungen, die ihr mit Irrlichtern verwechselt habt. Die können schon mal etwas in Brand setzen.«

Ich würde zu gerne die Echsenwesen sehen. Angus’ besorgt zusammengezogene Brauen deute ich dahingehend, dass er wenig Lust auf eine solche Begegnung verspürt. Er hüstelt erneut und reibt sich das Kinn. »Kann dieses Dimensionsloch geschlossen werden?«

Jericho sieht ihn an, als hätte er gefragt, ob ein Leben ohne Pizza möglich ist. Alles, was er von sich gibt, ist ein Schnauben, was ebenso gut Belustigung wie Fassungslosigkeit ausdrücken könnte.

»Ja«, sagt Kira gedehnt. »Klar.«

»Aber?«, spreche ich aus, was ungesagt in der Luft hängt.

»Ich glaube, jemand hat etwas dagegen.« Sie deutet auf das Loch.

Davor hat sich eine Pixie aufgebaut, die winzigen Hände in die Hüften gestemmt. Sie ist zu klein, als dass ich ihren Gesichtsausdruck aus der Entfernung erkennen kann. Zum Ausgleich nehme ich die Wellen aus Wut und Sorge wahr, die von ihr ausgehen. Sie zwitschert und zirpt in den höchsten Tönen und hüpft auf und ab.

Ein Verdacht keimt in mir auf. »Ich habe sie zusammen mit den Irrlichtern, äh, ich meine, den außerdimensionalen Wesenheiten, gesehen, und ich glaube, sie hat sich mit ihnen angefreundet.«

»Ich will keine Dämonen in meinem Garten«, erklärt Angus und verschränkt die Arme. »Die Pixie kann sich von mir aus gerne andere Freunde suchen.«

Zur Antwort schleudert sie eine Handvoll rötlich glitzernden Feenstaub Richtung Angus, ohne ihn jedoch zu treffen.

»Angus, kann ich kurz mit dir reden?« Ich nehme ihn am Arm und ziehe ihn ein paar Schritte fort, außer Hörweite der Pixie, wie ich hoffe. »Es ist keine gute Idee, die Pixies gegen uns aufzubringen«, wispere ich. »Sich mit magischen Wesen anzulegen, kann nach hinten losgehen. Denk daran, was die Naturgeister mir angetan haben.«

»Die werden schon keinen Flaschengeist aus mir machen«, brummt Angus, doch Zweifel graben eine Falte zwischen seine Brauen. »Ist es dir lieber, wenn hier ein Dimensionsloch im Garten ist, aus dem jederzeit feuerspeiende Dämonen hervorbrechen können? Da habe ich lieber Stress mit ein paar Minifeen.«

»Hm, wenn du es so ausdrückst …«

Angus seufzt und fährt sich durch das Haar. »Ich verstehe deinen Einwand. Lass uns eine Nacht darüber schlafen, ja?«

Guter Vorschlag. Ich mag es, dass Angus nie etwas überstürzt, na ja, fast nie, und über alles gründlich nachdenkt. Auch wenn es mich manchmal nervt, da ich eher der ungeduldige Typ bin.

»Was ist?«, ruft Jericho zu uns herüber. »Sollen wir das Ding schließen und die Dämonen plattmachen oder … was zur Hölle und …«

Was er noch sagen will, geht in einem Niesanfall unter. Völlig uncool um sich schlagend versucht der berühmte Dämonenjäger, einer glitzernden Wolke Feenstaub zu entkommen.

»Schluss damit«, sagt Angus streng. »Lass Jericho March in Ruhe.«

Zu meiner Überraschung hört die Pixie auf, hektische Kreise um Jerichos Kopf zu ziehen und landet auf Angus’ auffordernd ausgestreckter Hand, auf der sie wild gestikulierend auf ihn einzwitschert. Seine Gesichtszüge werden weich. »Also hast du dich wirklich mit ihnen angefreundet, ja?«

Sie nickt eifrig.

Mir fällt etwas ein, das ich tatsächlich in der AWsome gelesen habe. »Jericho, du hast doch im Sommer eine OT am Loch Katrine verschlossen.«

»Das war Kira.«

»Aber zwei Wasserdämonen sind im Loch geblieben, oder?«

»Das stimmt. Neue Touriattraktion dort.«

»Vielleicht ist das hier auch möglich?« Ich wende mich an die Pixie. »Wie wäre es, wenn du deinen Freunden vorschlägst, dass sie hier im Garten bleiben, wenn sie möchten? Allerdings wird die Tür verschlossen und sie können nicht in ihre Welt zurückkehren.«

Eine Weile sitzt die Pixie ungewohnt ruhig auf Angus’ Hand. Schließlich zirpt sie, verneigt sich und fliegt davon.

»Sie hat gesagt, dass sie mit ihren Freunden reden wird«, übersetzt George, der sich bisher im Hintergrund gehalten hat.

Angus sieht Jericho und Kira fragend an. »Wärt ihr bereit, bis morgen mit der Türschließung zu warten?«

Beide heben gleichzeitig die Schultern. »Klar«, sagt Kira nach einem kurzen Blickwechsel mit Jericho. »Hat da vorhin jemand Tiramisu erwähnt?«

Ein Hagelschauer prasselt gegen die Fensterscheibe. Verwirrt setze ich mich im Bett auf, begreife nach einer Schrecksekunde, dass ich nicht in unserer Wohnung in Edinburgh bin, sondern im Herrenhaus. Angus schnarcht leise neben mir. Mit einem bedauernden Seufzen schlüpfe ich unter der warmen Decke hervor. Der eiskalte Holzboden jagt einen Schauer von meinen Fußsohlen bis zu den Schultern, die ich fröstelnd hochziehe. In dem vorhanglosen helleren Rechteck des Fensters zeichnet sich eine gedrungene Gestalt ab. Vor einem halben Jahr hätte mich das beunruhigt, jetzt beeile ich mich, das Fenster zu öffnen, sodass sich Flower, einer der hier lebenden Gargoyles, nicht länger die Nase an der Scheibe plattdrücken muss. Prompt bekomme ich eine Ladung Schotter vor die Brust.

»Ich hoffe, das war für das Fenster bestimmt«, zische ich.

»Huch! Tschuldigung.« Flower schlägt mit den Flügeln und versucht gleichzeitig, mit den krallenbewehrten Pfoten die Steinchen von meinem Pyjama zu entfernen. Unser Handgemenge weckt Angus, der verschlafen neben mir auftaucht. »Hey, Flower. Stimmt was nicht?«

»Wollte nur Bescheid geben, dass wir eure Offene Tür im Garten unter Kontrolle haben.« Flowers Stimme klingt wie Kieselsteinchen, die in einem Bachbett aneinanderreiben.

Etwas Graues schießt durch das Fenster zwischen uns hindurch und landet mit einem dumpfen Laut hinter uns. Kaum haben wir uns umgedreht, hat sich Muffin, Gargoyle Nummer zwei, aufgerappelt und verbeugt sich, als hätte er diese Einlage geplant. Aus seinem breiten Mund hängt etwas Längliches. Fasziniert beuge ich mich vor. »He, ist das etwa ein …«

»… Echsenschwanz«, beendet Angus meinen Satz, seufzt tief und zerzaust sich das Haar noch mehr, indem er mit beiden Händen hindurchfährt. »So leid es mir um die wunderbare Freundschaft der Pixie mit den Irrlichtern auch tut, diese Offene Tür muss dringend geschlossen werden.«

»Mit ein paar Feuerechsen werden wir fertig«, behauptet Flower.

Muffin rülpst zur Bekräftigung. »Die Sonne geht gleich auf. Wünsche noch wohl zu ruhen, und keine Sorge wegen der Dämonen. Die haben keine Chance gegen uns.«

Die Gargoyles winken uns zu und springen mit angelegten Flügeln vom Fensterbrett. Mir stockt der Atem. Ich bekomme erst wieder Luft, als ich ihr fröhliches »Weeeeh!« höre und sie wie überdimensionale Fledermäuse am Nachthimmel ihre Kreise ziehen.

»Würde das funktionieren?«, frage ich. »Das Loch so lassen und darauf vertrauen, dass Flower und Muffin sich um die Dämonen kümmern, bevor sie Schaden anrichten?«

Angus legt einen Arm um mich. »Ich fürchte, nein. Die Wesen könnten auch tagsüber durch die OT kommen und dann können uns die Gargoyles nicht helfen. Außerdem, wer weiß, wie viele das noch werden. Flower und Muffin sind großartige Wächter, aber ich finde, wir sollten sie nicht mit so einer Aufgabe belasten.«

»Seh ich auch so«, gebe ich zu. »Hab kein gutes Gefühl bei dieser Offenen Tür.«

»Hab ich gemerkt.« Angus hält mich einen Moment fester. »So unruhig, wie du geschlafen hast.«

»Ich bin wohl doch ein Feigling.«

»Unsinn. Du bist der mutigste Mann, den ich kenne. Wir sind Städter, Dimensionslöcher begegnen uns nicht jeden Tag. Für einen Dämonenjäger wie Jericho March ist das Alltagsgeschäft. Was nicht heißt, dass er nicht trotzdem eine coole Socke ist.«

Ich muss grinsen. »Weil er dich gestern Abend drei Mal beim Billard und zwei Mal beim Kickern geschlagen hat?«

Angus lacht leise. »Du hast ja gut mitgezählt.« Er gähnt. »Komm, lass uns noch etwas Schlaf bekommen.«

Mir ist nicht wirklich nach Schlaf, aber ich begleite Angus gerne zurück ins Bett und lasse mich in eine Umarmung ziehen.

»Es ist schön, dass mittlerweile Anderweltler und Menschen friedlich zusammenleben«, sagt er nachdenklich.

»Meistens«, gebe ich zu bedenken. »Denk mal an deinen Kollegen, der keine magischen Wesen in seinem Taxi mitnehmen wollte.«

»Ex-Kollege. Aus genau dem Grund. Ich hoffe wirklich, dass die Pixies die Entscheidung, die Tür zu schließen, mittragen werden. Sie leben weitaus länger hier als wir und wir haben kein Recht, sie zu bevormunden. Es ist eigentlich sowieso ihr Garten.« Nach kurzem Zögern sagt er: »Weißt du was, lass uns mit ihnen beraten und abstimmen.«

Ich schlucke schwer. Und das von dem Mann, der gestern noch das Loch schließen lassen wollte, ohne sich um die Wünsche der Pixies zu scheren. Er hat sich Gedanken gemacht und seine Meinung geändert, wie es aussieht. So sehr ich genau das an Angus liebe, ich weiß nicht, ob ich sein Vertrauen zu den magischen Wesen von Greystone Manor bewundern oder daran verzweifeln soll. Pixies sind nicht bekannt dafür, gut durchdachte Entscheidungen zu treffen. Aber ok, ich halte es ebenfalls für eine gute Idee, mit ihnen zu beraten, um sie bestenfalls von der Türschließung zu überzeugen. Müsste doch auch in ihrem Interesse sein, feuerspeiende Echsenwesen aus dem Garten auszusperren.

»Müde?«, frage ich und lasse meine Hand über Angus’ Hüfte in tiefere Regionen gleiten.

Er lacht rau. »Ich dachte schon, du fragst nie.«

Schneeflocken tanzen mit den Pixies um die Wette und führen zumindest bei mir zu erheblichen Zweifeln, ob sie unserem Gespräch überhaupt folgen. Doch sie zirpen im Morgengrauen munter vor sich hin und George übersetzt, dass sie sehr für eine Türschließung sind und keineswegs einverstanden damit, dass sich Nila und Spot mit den Lichtdämonen, wie sie sie nennen, abgeben.

Nila und Spot sitzen mit hängenden Köpfen und Flügeln auf der Terrassenmauer, nahe und vor allem ruhig genug, dass ich ihre unglücklichen Gesichter gut erkennen kann.

»Die Dinger sind harmlos«, erklärt Jericho in sachlichem Ton.

»Nur, dass sie ab und zu mal versehentlich was abfackeln«, murmelt Kira. Sie krault Junior, der neben ihr sitzt, wofür sie sich nicht mal bücken muss.

Angus hebt bedeutungsvoll seinen Kaffeebecher, auf dessen Rand sich ein Pixie niedergelassen hat und versucht, einen Kekskrümel einzutauchen. »Kommen wir zur Abstimmung. Alle Pixies, die für die Türschließung sind, setzen sich auf die Mauer und wer dagegen ist, auf den Blumenkübel.«

Aufgeregt zwitschernd landen schließlich alle für eine Sekunde auf der Mauer, bevor sie wieder davonschwirren. Nur Nila und Spot bleiben sitzen. Bin mir nicht sicher, ob sie damit ihre Zustimmung andeuten oder sich einfach geschlagen geben.

»George?«, wendet sich Angus an den Brownie. Der richtet sich stolz auf. »Lucy und ich haben mit den meisten Anderweltlern von Greystone Manor Kontakt aufnehmen können und vermelden, dass sich alle einstimmig für die Türschließung ausgesprochen haben.« Er schenkt Angus ein strahlendes Lächeln. »Im Übrigen bist du der erste Hausherr …« Er unterbricht sich und hüstelt. »Ehemalige Hausherr, der eine solche Entscheidung nach Absprache mit allen hier Lebenden triffst. Damit hast du sogar das Herz von Horst Klawunkel gewonnen.«

Fragend sehe ich Angus an, der nur die Schultern hebt. Um die Frage, wer Horst Klawunkel ist, werden wir uns später kümmern müssen, denn Jericho marschiert bereits zur Offenen Tür, die mir größer vorkommt als gestern. Kira und Junior nehmen vor der Hecke Aufstellung. Weder von Echsenwesen noch Irrlichtern ist etwas zu sehen, als Kira einen metallisch glänzenden Stab aus der Tasche zieht und auf das Loch richtet. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, jedenfalls nicht, dass sie eine Art Rapgesang anstimmt, den Junior mit Brummlauten begleitet.

Islay tritt neben mich. »Kira und Junior stimmen sich auf die Klangfrequenz der Tür ein, um sie zu beeinflussen«, flüstert er mir zu.

Klingt irgendwie logisch. Trotzdem beunruhigt es mich, dass sich das Loch zusammenzieht und wieder weitet, rhythmisch pulsiert und plötzlich viel furchteinflößender aussieht und gar nicht mehr wie ein harmloser Bau. Ich schiele zu Jericho, ob der eine Waffe zückt, doch der steht mit verschränkten Armen und stoischer Miene da und rührt sich nicht.

Kiras Gesang und Juniors Gebrummel werden lauter. Mit einem abrupt hervorgestoßenen, mir unbekannten Wort rammt Kira ihren Bündler Richtung Offene Tür, die sich ebenso zackig schließt.

Das Loch ist verschwunden, als wäre da nie etwas unter dem Busch gewesen.

»Ha«, mache ich bewundernd. »Das war cool!«

Kira lächelt bescheiden und steckt den Bündler ein. Junior bekommt ein Leckerli von ihr.

Schön, das Problem wäre also gelöst. Denke ich zumindest, bis das aufgeregte Schnattern von Pixies ertönt. Ein Schwarm von ihnen kreist um zwei der blinkenden Irrlichtdämonen.

»Sie wollen, dass Jericho March die Außerdimensionalen Wesenheiten vernichtet«, übersetzt George händeringend.

»Kann ich nicht.« Jericho wendet sich direkt an die Pixies, die nun ihn umschwirren. »Diese Lichtdinger sind zu schnell, dafür brauche ich Spezialausrüstung, die ich nicht dabei habe. Man kann nicht alle Probleme mit dem Schwert lösen.«

Islay bekommt einen Hustenanfall und läuft rot an. Ich fürchte, dass die Pixies Jericho erneut mit fiesem Feenstaub bewerfen, der Juckreiz oder was auch immer auslöst, doch sie fliegen nur noch eine Weile in höchsten Tönen murrend um ihn herum und verschwinden dann.

»O Jericho«, sagt Islay kopfschüttelnd. »Ich fürchte, du hast dir diese Pixies zu Feinden gemacht.«

»Hab eh schon genug«, erwidert er ungerührt. »Da kommt es auf die auch nicht mehr an.«

»Wohl wahr.« Islay hakt sich bei ihm ein. »Noch jemand Lust auf Frühstück?«

Wir machen uns alle auf den Weg zurück zum Haus.

»Vielen Dank für die Hilfe, Kira, Jericho und Junior.« Angus streichelt Junior sichtlich erleichtert über den Kopf, als der sich bei der Nennung seines Namens fröhlich winselnd an ihn drängt. »Natürlich bezahle ich den Einsatz.«

»Nicht nötig.« Jericho winkt ab. »Das gute Essen und die bequemen Betten sind Bezahlung genug, oder was meinst du, Kira?«

»Auf jeden Fall. Das waren doch Croissants, die du eben aus dem Ofen geholt hast, George?«

»Ja, und dazu habe ich ein wunderbares Brombeergelee, das ich letztes Jahr …«

Angeregt plaudernd gehen unsere rettenden Engel weiter. Angus hält mich zurück und zeigt in den Garten. »Sieh mal!«

Zwischen den Zweigen des winterkahlen Apfelbaums blinken die Lichtdämonen auf. Nila und Spot wirbeln Hand in Hand um sie herum, in einem ausgelassenen gemeinsamen Tanz der Freude.

»Nicht nur wir hier haben eine Entscheidung getroffen«, sagt Angus, ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen. Äußerst küssenswerten Lippen, wie ich finde, und daher kommen wir vielleicht ein wenig zu spät zum Frühstück. Einem perfekten Frühstück, denn was gibt es morgens Schöneres, als spannende Geschichten von der Dämonenjagd und frisch aufgebrühten Kaffee?

Beth MacLean

Ein kleines Weihnachtswunder für Tom und Jake

Trefft Jake und Tom aus der spannend-romantischen »Homestory«-Trilogie wieder.

»Nun komm endlich!«, rief Jake über die Schulter und steuerte das Haus der Cunninghams an, während er seinen Rollkoffer ruckartig über den gefrorenen Kies zog.

»Du kannst es ja gar nicht erwarten, von der Rasselbande in Beschlag genommen zu werden.« Tom hatte ihn an der Tür eingeholt, stellte seine Reisetasche ab und hauchte ihm lächelnd einen Kuss auf die Lippen. Normalerweise hielt er sich mit Zärtlichkeiten zurück, solang sie irgendwo unterwegs waren, aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie in dem abgelegenen Küstenörtchen von einem Paparazzo abgelichtet wurden, war gleich null. Jakes Assistentin Janine hatte wie immer einen unauffälligen Wagen gemietet und Tom war sicher, dass niemand den langen Weg von London durch die winterliche Landschaft Schottlands auf sich genommen hatte, nur um sie zu verfolgen und dann doch kein Foto schießen zu können. Inzwischen hatte es sich herumgesprochen, dass sie die Zeit bei Toms Schwester Lynette sehr zurückgezogen verbrachten. Auch keine der Nachbarn, Bewohner des Ortes oder Tagestouristen, die sich möglicherweise als übereifrige Fans entpuppt hätten, schienen ihre Ankunft bemerkt zu haben. Es herrschte friedliche Stille.

Jake griff nach dem Metallring, um an die Tür zu klopfen. Er rieb seine Hände, während sein Atem in der eisigen Luft Wölkchen bildete.

Tom trat von einem Bein auf das andere und fröstelte trotz der Daunenjacke. Bis vor kurzem hatte er noch im warmen Auto gesessen, den Regler für die Heizung in den oberen Bereich gedreht, und nun stand er hier in der Kälte neben einem hüfthohen Schneemann aus Kunststoff, während ihm eine Böe die Tränen in die Augen trieb. Tom betrachtete die kitschige Figur und sah Jake an, ohne einen Kommentar abzugeben. Der schien die gleichen Gedanken zu haben. Auch seine Mundwinkel umspielte ein Lächeln. Der lustige Geselle mit den Kulleraugen, der Rübe im Gesicht und dem Zylinder auf dem Kopf begrüßte alle Besucher, war ein Vorbote der Weihnachtszeit und wurde von den Mädchen, allen voran der kleinen Anny, innig geliebt.

Tom sah sich um. Anfang Dezember war es bereits am frühen Abend dunkel. Lediglich die wenigen weißen Flecken, die vom letzten Schneefall übrig waren, warfen das warme Licht zurück, das aus ein paar Fenstern in die Nacht drang.

»Meinst du, sie haben das Klopfen gehört?« Jake streifte Tom mit einem Blick und wollte sich erneut bemerkbar machen, als drinnen Stimmen zu hören waren.

»Ja, bestimmt. Lynnie braucht wahrscheinlich einen Moment, bis sie sich zur Tür bewegt hat. Bin gespannt, wie es ihr geht. Immerhin ist der errechnete Geburtstermin schon einige Tage überschritten.«

Jake kaute auf seiner Unterlippe. »Hoffentlich ist alles in Ordnung.« In seiner Stimme schwang Sorge mit. »Wir hätten eher anreisen sollen.«

»Es ging nicht früher. Das weißt du genau. Wie hättest du sonst deine Termine schaffen sollen?« Tom sah Jake an und atmete tief ein. »Hey, ich mache mir auch Gedanken … aber das ist nicht Lynnies erste Geburt. Ich bin sicher, dass sie ihren Körper gut genug kennt, um rechtzeitig die richtigen Entscheidungen zu treffen.« Sanft stupste er ihn mit dem Ellenbogen. »Und außerdem ist Marc da. Er hat Urlaub und ist rund um die Uhr zu Hause.«

Wie zum Beweis wurden die Stimmen lauter und nur wenig später öffnete Toms Schwager die Tür. Ein breiter Lichtstrahl fiel auf den Hof, der Geruch von Plätzchen hüllte sie ein und Anny verkündete drinnen im Wohnzimmer mit weinerlicher Stimme, dass sie bei ihrer Mama bleiben wolle.

»Tom! Jake!« Marcs Miene hellte sich schlagartig auf. »Ihr seid da … genau im richtigen Moment.«

Ungeduldig trat er beiseite und winkte die beiden in den Flur.

»Hey, schön, dich zu sehen«, begann Tom und duckte sich unter dem überdimensionalen Mistelzweig, der an einer roten Schleife aus Samt von der Decke hing. Er war jedoch nicht sicher, ob Marc die Begrüßung registrierte. Anscheinend ganz in Gedanken drehte der sich um und lief den Gang entlang, um kurz darauf in der Garage zu verschwinden. Jake und Tom warfen sich einen kurzen Blick zu, ehe sie den Rollkoffer und die Reisetasche an die Garderobe schoben. Irgendetwas lag in der Luft. Aber er kam nicht dazu, den Gedanken zu verfolgen, denn in diesem Moment hörte er die Stimme seiner Schwester aus dem angrenzenden Raum.

»Tom, Jake, wir sind hier!«

Einen Moment später hatten sich die beiden ihrer Jacken und Schuhe entledigt und betraten das Esszimmer. Tom blieb abrupt stehen. Mit »wir« hatte Lynette offenbar nicht nur sich und die kleine Anny, sondern auch ihre Nachbarin gemeint, die mit am Tisch saß, in ihrem Kaffee rührte und sich ein Plätzchen aus einer der Gebäckdosen nahm.

»Guten Abend, Bridget. Hallo, Lynnie, na?« Jake hatte die Überraschung offensichtlich schneller verdaut als Tom. Er schloss Lynette in die Arme, strich Anny liebevoll über ihr Haar und rückte zwei Stühle für sich und Tom zurecht.

Ein heißes Gefühl durchzuckte Tom, als er sich daran erinnerte, wie Jake sich bei seiner ersten Begegnung mit Bridget einen Spaß erlaubt und sich provokant bis auf die Unterwäsche vor ihr ausgezogen hatte. Erfolgreich kämpfte er das Lachen nieder, das in seiner Kehle kitzelte, und beschränkte sich darauf, ihr freundlich zuzunicken. Diesmal hielt sie sich mit ihren Flirtversuchen zurück, da sie (ja)wusste, dass Jake vergeben war. Wobei diese Tatsache sie vielleicht auch nicht ewig abhalten würde, schoss es ihm durch den Kopf.

»Lynnie, geht es dir gut?« Tom beugte sich zu seiner Schwester hinab und küsste sie auf die Stirn. Sie saß auf einem Stuhl und versuchte trotz ihrer Körperfülle Anny Halt zu geben, die auf ihrem Schoß hockte und sich mit tränennassem Gesicht an ihre Mutter schmiegte.

»Eigentlich schon«, antwortete sie erschöpft und prustete ihren Atem aus.

»Wir haben uns ein wenig Sorgen gemacht, weil du dich seit gestern nicht mehr bei Tom gemeldet hast«, warf Jake ein.

»Tut mir leid. Ich musste noch einige Dinge organisieren.«

»Was kann denn wichtiger sein, als euer Kind zu bekommen?« Tom schüttelte mit gespielter Strenge den Kopf.

»Dank der Werbekampagne mit Jake werden unsere Zimmer … die zum Glück alle rechtzeitig renoviert und bezugsfertig waren … sehr gut gebucht. Natürlich habe ich den letzten Schwangerschaftsmonat geblockt … aber Anfragen gehen trotzdem ein. Die leite ich momentan … an andere B&Bs weiter.« Lynette verstummte und konzentrierte sich auf ihre Atmung.

»Also … das sieht verdächtig nach einer Wehe aus«, diagnostizierte Jake.

»Ja, der Kleine macht sich so langsam auf den Weg«, murmelte sie mit verzerrtem Gesicht

»Deswegen habe ich Bridget gebeten, auf Anny aufzupassen, wenn Marc und ich ins Krankenhaus fahren. Wir wussten ja nicht genau, wann ihr kommt. Cate und Susan übernachten bei Freundinnen … die Telefonnummern hängen am Kühlschrank.«

»Lynnie, Jake und ich sind jetzt da … mach dir keine Gedanken, okay?« Sanft aber bestimmt löste Tom den Griff seiner Nichte und nahm sie auf den Arm, während Jake Lynette beim Aufstehen half. Auf seinen Arm gestützt schlurfte sie durch das Esszimmer und hielt sich den Bauch.

Im Flur waren energische Schritte zu hören. »Wir können los … im Wagen ist es warm, weich und bequem.« Marc blieb kurz in der Tür stehen, den Autoschlüssel in der einen und die gepackte Tasche für seine Frau in der anderen Hand. Dann eilte er fürsorglich an ihre Seite.

»Geht schon wieder … die Schmerzen lassen nach«, beruhigte sie ihn und entspannte sich sichtlich. »Es dauert bestimmt noch Stunden, bis es richtig losgeht. Wir können noch warten. Krankenhäuser sind nicht so mein Ding. Zu früh will ich da nicht aufkreuzen.«

»Zu spät aber auch nicht … wir fahren!«, sprach Marc ein Machtwort und sah sie streng an.

Im Hintergrund machte sich Bridget mit einem Räuspern bemerkbar. Ihr schien klar zu sein, dass sie überflüssig war.

»Also … wie es aussieht, ist Anny in den besten Händen. Falls ihr doch Hilfe braucht …« Bridget hielt ihre Hand ans Ohr und spreizte den kleinen Finger und den Daumen ab. »… einfach anrufen.« Sie hatte Tom zwar einbezogen, jedoch nur Jake ihr Lächeln geschenkt.

»Vielen Dank für deine Hilfe«, wandte sich Lynette an Bridget und winkte ihr zum Abschied kurz zu, bevor Jake die Nachbarin zur Tür brachte.

»Hör zu, Süße«, flüsterte Lynette in die rotbraunen Haare ihrer Jüngsten. »Ich muss mich jetzt um deinen kleinen Bruder kümmern, aber Tom und Jake bleiben bei dir. Ihr könnt Geschichten lesen und dabei Plätzchen essen. Soll Tom dir eine heiße Milch machen?« Anny schüttelte den Kopf und schniefte. Sie streckte Lynette ihre Händchen entgegen, doch Tom behielt sie auf dem Arm. Auch wenn es ihm beinahe das Herz brach, machte es keinen Sinn, die Trennung hinauszuzögern. »Ich hab dich lieb.« Mit einem letzten Kuss verabschiedete Lynette sich, zog ihre Pudelmütze über und ließ sich von Marc zum Auto begleiten.

Tom sah der Kleinen an, dass sie kurz davor war, wieder in Tränen auszubrechen, als sie sich an ihn schmiegte.

»Das sind die schönsten Weihnachtsstrümpfe, die ich je gesehen habe!« Jake spielte seine Begeisterung so überzeugend, dass Anny ihn zunächst mit großen Augen ansah und dann seinem Blick folgte. Am Kamin hingen sechs Stück. Sogar für ihr Baby hatte Lynette schon einen Strumpf aufgehängt. Alle waren aus rotem Stoff genäht und hatten einen flauschigen Abschluss aus weißer Watte. »Sollen wir mal nachsehen, ob sie schon gefüllt sind?« Er lächelte Anny geheimnisvoll an und als sie sich nach kurzem Zögern doch von Tom löste, um auf Jakes Arm zu klettern, schien der Abschied von ihrer Mutter nicht mehr ganz so schwer zu wiegen. Tom folgte den beiden und war selbst ein wenig gespannt, ob sie eine kleine Überraschung finden würden. Mit Jakes Hilfe lugte Anny in jeden der Strümpfe und wurde beim letzten tatsächlich fündig. Lächelnd griff sie hinein und zog eine Packung Filzstifte heraus. »Wow! Jetzt brauchen wir nur noch Blätter oder ein Malbuch. Magst du eins holen?« Anny nickte, stapfte zum Wohnzimmerschrank und zog die unterste Schublade auf. Jake zwinkerte Tom verschmitzt zu und dieser fragte sich, wie sein Freund das so schnell und vor allem unbemerkt bewerkstelligt hatte.

Tom lümmelte sich aufs Sofa und ließ seinen Blick schweifen. Wie auch die Jahre zuvor hatte Lynette die Wohnräume für das Fest geschmückt und eine wohlige Atmosphäre geschaffen. An jedem Fenster hingen Girlanden aus grünen Zweigen und roten Kugeln. Auch ein Tannenbaum mit Strohsternen stand in der Ecke neben dem Kamin und verströmte seinen harzigen Duft. Auf den Simsen luden unzählige Figürchen dazu ein, die vielen Details zu betrachten.

Ihm wurde warm ums Herz, als er Jake ansah. Interessiert stellte dieser Fragen zu dem Bild, das Anny gerade erschuf, während er selbst sich an einem bunten Schmetterling versuchte. Die Kleine hatte vor Eifer rote Wangen bekommen und war ganz in ihr Werk versunken.

»Du machst das wirklich toll«, murmelte Tom.

Jake blickte ihn von der Seite an. »Was meinst du? Das Malen?«

»Wie du mit Anny umgehst … und natürlich auch mit Cate und Susan.« Tom stützte sich auf seinen Ellenbogen, um besser sehen zu können. »Na ja, und der Schmetterling ist eigentlich auch ganz passabel«, neckte er.

Jakes Miene wurde ernst. »So würde ich auch mit meinen eigenen Kindern umgehen … und ganz nebenbei … du wärst auch ein toller Vater.«

Sofort spürte Tom einen Druck im Magen. Er wusste, was in Jakes scheinbar harmloser Äußerung noch alles mitschwang. »Wollten wir die Themen Hochzeit und Kinder nicht langsam angehen?«

Jake zuckte mit den Schultern. »Das war vielleicht mal vor einem dreiviertel Jahr so. Wir hatten doch genug Zeit, uns kennenzulernen und zu sehen, wie es läuft, oder?«

»Ich weiß nicht … das kommt überraschend … hatten wir?«

»Zweifelst du etwa?«

»Nein! Es ist nur … ich habe in den letzten Monaten viel Neues gewagt … ich liebe einen Mann … durch deinen Promistatus stehe ich gefühlt unter ständiger Beobachtung … ab und zu mal ein roter Teppich … und ich habe mich immer noch nicht daran gewöhnt, mein Gesicht in einem Boulevardmagazin zu sehen.« Um seine Aufzählung zu verdeutlichen, hatte er an seine Finger getippt. »Lass mich doch erst einmal das verarbeiten, ehe es in Lichtgeschwindigkeit weitergeht. Ich dachte, wir sind uns einig und warten noch.«

»Okay. Wie lange möchtest du denn warten?« Im Grunde sagten die Worte aus, dass Jake Verständnis hatte, aber Tom hörte seine Enttäuschung.

»Ich … das … also …«, stotterte er, ohne den Satz zu vollenden.

Wortlos erhob sich Jake und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken.

Das Herz schlug Tom bis zum Hals. Bis gerade eben war die Welt noch in Ordnung gewesen und nun fühlte er sich irgendwie schuldig. Es war zum Verrücktwerden! Voller Ironie ging er einige Möglichkeiten durch. Lag es an der frischen Luft? Oder gar an irgendwelchen Erdstrahlen? Wirkten verborgene Wasseradern? Was war es, das Jake gerade hier bei den Cunninghams immer so emotional werden ließ?

Nach dem letzten Besuch hier hatte Tom einen Ring am Finger getragen! Der Gedanke wühlte ihn auf und er fragte sich unweigerlich, wie es wohl diesmal enden würde.

Aber bevor sie ihr Gespräch fortsetzen konnten, begann Anny herzhaft zu gähnen und erlangte damit Jakes volle Aufmerksamkeit. Er schlenderte zum Sofa zurück und begann, die Deckel auf die Filzstifte zu drücken.

»Ich glaube, es ist Zeit für eine Gutenachtgeschichte, Mäuschen.« Jake lächelte, als die Kleine sich die Augen rieb und auf seinen Schoß kletterte. »Wer soll dir etwas vorlesen?« Wortlos stupste Anny mit ihrem Finger auf seine Brust. »Okay … und los geht’s. Abflug ins Märchenland.« Sie breitete mit einem Strahlen auf dem Gesicht die Arme aus und Jake trug sie waagerecht durch das Wohnzimmer, als würde sie schweben. Den ganzen Weg bis nach oben in ihr Kinderzimmer hörte Tom sie kichern.

Tom hatte alle Lampen gelöscht. Lediglich die Beleuchtung am Tannenbaum sorgte im Wohnbereich für Licht und Schatten. Angespannt verfolgte er, wie die Minuten verstrichen, bis endlich eine der Stufen knarzte. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass Jake die Kleine ins Bett gebracht hatte und auf dem Weg nach unten war. Tom stemmte sich aus dem Sessel und ging ihm entgegen. Unter dem Mistelzweig im Flur trafen sie schließlich aufeinander.

»Na?«, murmelte Jake versöhnlich und unterbrach damit das Schweigen.

»Ich wusste nicht, dass du darüber nachdenkst, zu heiraten und eine Familie zu gründen.« Tom verbesserte sich hastig. »Natürlich wusste ich es … aber so schnell? Versteh mich nicht falsch … ich kann mir ein Leben ohne dich nicht vorstellen. Ich will mit dir zusammen sein. Wir haben nur noch nie ernsthaft darüber gesprochen.«

»Wir könnten es jetzt tun«, schlug Jake leise vor und zog Tom an sich, als dieser nichts erwiderte. »Tut mir leid, wenn ich dich überrumpelt habe, aber genau genommen hast du mich vorhin auf dieses Thema / das Thema Kinder gebracht.«

»Stimmt irgendwie«, gab Tom zu.

Jake widersprach schmunzelnd. »Nein, nicht nur irgendwie … es war so. Vielleicht arbeitet da dein Unterbewusstsein und offenbart deine geheimen Wünsche. Du solltest dieses Zeichen nicht ignorieren.«

»Ich kann dir genau sagen, welches Zeichen ich nicht ignorieren werde.« Tom deutete nach oben zum Mistelzweig und küsste Jake innig.

Benommen nahm Jake wahr, dass Anny zu ihnen ins Zimmer schlich. Wenig später klackte der Schalter für die Deckenleuchte und grelles Licht erhellte den Raum. Schützend hielt er seine Hand vor die Augen, während Tom seinen Kopf unter dem Kissen vergrub.

Müde blinzelte er die Kleine an. »Es ist noch früh. Kannst du nicht mehr schlafen, Mäuschen?«

Anny stand auf Toms Seite, hielt einen Teddy im Arm und strich sich eine Strähne ihrer ungekämmten Haare aus der Stirn. »Bobby hat Hunger«, teilte sie ohne Umschweife mit und zupfte an der Decke, bis Tom ein Brummen von sich gab.

»Und was machen wir da?«, tat Jake unwissend.

»Frühstück!«, piepste Anny und machte sich hüpfend auf den Weg zur Küche.

»Du meine Güte, ich hab geschlafen wie ein Stein.« Jake rieb sich die Augen und küsste Tom auf den Nacken.

»Ich auch«, erklang es dumpf unter dem Kissen. »Würde mich nicht wundern, wenn wir letzte Nacht eine Nachricht von Marc verpasst hätten.«

Wie elektrisiert fuhren beide plötzlich auf und griffen nach ihren Handys, um ihre Kurznachrichten zu checken.

»Ich bin wieder Onkel geworden!«, rief Tom lachend.

»Glückwunsch!« Jake erwiderte sein Strahlen und umarmte ihn. Er freute sich von Herzen für ihn und für die ganze Familie. Gleichzeitig spürte er Erleichterung; aber es war Tom, der das Gefühl in Worte fasste.

»Es ist alles gut gegangen.«

Jake sah sich noch einmal das Foto an, das Marc geschickt hatte. Es zeigte den übernächtigten, aber stolzen Vater, wie er seinen neugeborenen Sohn im Arm hielt.

Für einen Augenblick fragte Jake sich, ob er irgendwann in seinem Leben ebenfalls ein Vater sein würde. Er verdrängte diesen Gedanken und biss sich auf die Zunge. Es war sicher nicht der beste Zeitpunkt, um schon wieder mit diesem Thema anzufangen. Er wollte Tom den Morgen nicht verderben.

»To-hom!«, quäkte Anny ungeduldig ein Stockwerk tiefer.

»Bleib doch noch liegen. Ich kümmere mich sofort um die Kleine. Lass mich nur noch schnell …«

Mit flinken Fingern tippte Jake seine Glückwünsche an Marc und Lynette in das Textfeld und drückte auf Senden. Dann schwang er die Beine aus dem Bett, während Tom sein Angebot ignorierte und im Bad verschwand.

»Warte, Anny, nicht so viel. Jetzt passt die Milch nicht mehr rein.« Lachend nahm er ihr die Packung mit den Cerealien aus den Händen und schüttete die Hälfte der Frühstücksflocken in eine zweite Schüssel, ehe er lauwarme Milch darüber goss.

Tom gesellte sich zu ihnen und genehmigte sich erst einmal einen Kaffee.

»Ich habe vorhin kurz mit Janine telefoniert und sie gebeten, sich darum zu kümmern, dass Lynette ein Einzelzimmer und auch sonst alles bekommt, was sie sich wünscht.« Niemand hatte Jake darum gebeten, aber er sah es als selbstverständlich an, ihr ein wenig Komfort zu verschaffen.

»Danke, das weiß sie sicher zu schätzen.« Tom sah kurz zu Anny. »Hast du ihr schon das Foto von ihrem kleinen Bruder gezeigt?«

»Nein, ich wollte nicht vorgreifen. Du bist der frischgebackene Onkel. Ich dachte, dass du die Neuigkeit verkünden möchtest, sobald Cate und Susan zu Hause sind.«

Kaum hatte Jake den Satz beendet, bog ein Auto in die Einfahrt

»Das werden sie sein.« Tom stand auf, um seine Nichten an der Haustür in Empfang zu nehmen. Begeistert begrüßten sie ihn und stürmten dann ins Esszimmer.

»Hallo, Jake!«, riefen sie im Chor, während ihre Rucksäcke neben dem Sofa landeten.