Die Sturmfalken von Olbian - Leann Porter - E-Book

Die Sturmfalken von Olbian E-Book

Leann Porter

0,0

Beschreibung

Die Sankanischen Spiele werfen ihre Schatten voraus und locken Kämpfer und Zuschauer aus der ganzen Welt in die Goldene Stadt. Unter ihnen der Sidhe Jawed, der unfreiwillig den Kämpfer Caron begleiten muss, und die abenteuerlustige Kaylin, die sich als Junge verkleidet einschleichen konnte. Während Kaylin sich als Knappe eines Kämpferfavoriten verdingt, hängt Jawed seinen Träumen vom Falkenmann nach, den er als Kind aus der Gefangenschaft rettete und seitdem nie wiedergesehen hat. Doch auch der undurchschaubare Caron weckt verwirrende Gefühle in ihm. Als Kaylin über die Leiche eines Kämpfers stolpert, ahnt niemand, dass das erst der Anfang einer Mordserie ist, die sie und Jawed in einen Strudel aus Gewalt und Hass ziehen wird …

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 793

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Leann Porter

Impressum

© dead soft verlag, Mettingen 2016

http://www.deadsoft.de

© the author

Cover: Irene Repp

http://www.daylinart.webnode.com

Bildrechte

© oxa – shutterstock.com

© Fxquadro – fotolia.com

© Steve Oehlenschlager – fotolia.com

1. Auflage

ISBN 978-3-945934-71-5

ISBN 978-3-945934-72-2 (epub)

Prolog

Dieser Ort gehörte nur ihm. Er hörte sie rufen. Sie würden ihn nicht finden. Nicht an diesem Ort, seiner Zuflucht hoch über dem Burghof. Er beugte sich leicht nach vorn und sah sie, aus der Entfernung so klein wie die hölzernen Spielzeugfiguren seiner Schwestern. Sie vermochten ihm nichts anzuhaben. Ein Windstoß trug das gedämpfte Echo ihrer Stimmen zu ihm empor. „Mädchenjunge! Mädchenjunge!“

Er schmiegte sich enger an das raue Mauerwerk. Wenn er wollte, konnte er für immer hier oben bleiben. Sein knurrender Magen belehrte ihn sofort eines Besseren. Nun gut, nicht für immer, aber eine Zeit lang hielt er es noch aus. Lang genug, bis sie die Lust verloren und sich interessanteren Tätigkeiten, als nach ihm zu suchen, zuwandten. Er konnte warten. Er lehnte den Kopf an und blinzelte in den grauen Himmel, der ihm näher schien als der Burghof, näher als seine Peiniger. Tiefhängende Wolken formten Muster und Figuren, erzählten Geschichten, nur für ihn, den Mädchenjungen. Er atmete gegen den schmerzenden Klumpen in seiner Brust an. Der rechte Fuß fing an zu kribbeln. Vorsichtig veränderte er die Sitzhaltung. Der Sims, auf dem er hockte, war gerade ausreichend breit für ihn, um mit angezogenen Knien darauf zu kauern. Die Höhe machte ihm keine Angst. Er würde nicht fallen.

Eine Handbreit über seinem Scheitel befand sich die Luke, durch die er geklettert war. Selbst wenn eines Tages jemand die winzige Kammer oben im Nordturm finden sollte, war niemand schmal genug, um durch die enge Scharte zu passen. Bis auf Kaylin vielleicht. Kaylin kannte einige seiner Verstecke, doch dieses gehörte ihm allein. Es war eines der wenigen Geheimnisse, die er nicht mit Kaylin teilte. Kaylin hatte es sowieso nicht nötig, sich zu verkriechen.

„Jawed!“ Das war ihre Stimme, klar und deutlich klang sie vom Hof zu ihm herauf. „Jawed! Komm raus, sie sind weg!“

Jawed stützte sich mit der rechten Hand auf dem Sims ab und reckte den Hals. Der kleine Innenhof war leer, bis auf den Zwinger in der Ecke und eine zierliche Gestalt, die sich mit erhobenen Armen um sich selbst drehte. „Jawed! Jawed! Ich gehe jetzt! Hörst du? Wenn du nicht endlich rauskommst, bin ich weg!“

In ihrer rechten Hand blitzte etwas auf. Jawed wusste, dass es eine Spiegelscherbe war, mit der Kaylin die Sonnenstrahlen einfing und in einem bestimmten Rhythmus reflektieren ließ. Dieses Geheimnis gehörte ihnen gemeinsam. „Sturkopf. Gehe jetzt in den Wald“, entschlüsselte Jawed die Blinkzeichen. Seine Lippen verzogen sich zu einem widerwilligen Grinsen. Sollte er die Zuflucht verlassen? Er dachte einen Augenblick ernsthaft darüber nach. Manchmal war es gut, mit Kaylin zusammen zu sein. Aber nicht an diesem Tag. Er wollte lieber allein sein. Es war auch gut, die Wahl zu haben. Bevor er Kaylin kennenlernte, war er immer allein gewesen. Niemand scherte sich um ihn, den Mädchenjungen, bis auf die Gelegenheiten, zu denen sie ihn beschimpften und verhöhnten. Anfangs wusste er nicht, was er von Kaylin halten sollte. Sie redete mit ihm, als sei nichts Besonderes oder gar Abstoßendes an ihm. Sie redete sogar ziemlich viel, das hatte sich in den sieben Jahren ihrer Freundschaft nicht geändert. Jedenfalls hatte sie sich weder von der Tatsache, dass er ein Monster war, noch dem Umstand, dass er zunächst selbst kein Wort sprach, abschrecken lassen.

Er spähte wieder in den Hof hinunter. Kaylin war gegangen. Geduld gehörte nicht zu ihren Stärken. Jaweds Blick glitt zu dem Zwinger. Früher einmal hatten angeblich die Jagdhunde des Magoden darin auf ihren Einsatz gewartet. Jawed erinnerte sich nicht daran. Die Hunde liefen frei in der Burg herum, seit er denken konnte. Er mochte sie, obwohl sie nie auf ihn hörten. Im Zwinger regte sich etwas. Jawed kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können. Er wusste natürlich, was seit fünf Zehnttagen in dem Zwinger eingesperrt war. Alle anderen hatten sich daran gewöhnt, doch ihm schnürte sich jedes Mal die Kehle zu, wenn er an den riesigen Sturmfalken dachte, der ein elendes Dasein in dem Käfig fristete. Sie hatten ihn hoffentlich gefüttert? Manchmal vergaßen sie es. Dann schallten die schrillen Klagelaute des Falken durch die ganze Burg.

Jawed verlagerte das Gewicht und blickte in den Himmel. Wolkenfetzen jagten über das bleierne Grau wie ein Spiegel von Jaweds Gedanken, zu schnell, zu vergänglich, als dass er einen hätte greifen können. Nun prickelte auch der linke Fuß. Zeit, das Versteck zu verlassen. Jawed stemmte sich hoch. Der Innenhof lag immer noch menschenleer da. Aus einer Laune heraus breitete er die Arme aus, wie Vogelschwingen. Was für ein Gefühl mochte es sein, zu fliegen? Er schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken.

  „Nein!“

Er zuckte zusammen, riss die Augen auf und ließ ertappt die Arme sinken. Kaylin stand wieder auf dem Hof, direkt unter ihm, und spähte zu ihm hinauf. Eine Hand hielt sie waagrecht über die Augen.

„Bist du jetzt endgültig verrückt geworden?“

Jawed seufzte. Wie war Kaylin auf die Idee gekommen, nach oben zu sehen? Das bedeutete das Ende des Geheimverstecks. Er winkte Kaylin kurz zu, bevor er sich durch die Luke zwängte. Wenig später stand er neben ihr auf dem Hof. Sie stemmte die Fäuste in die Hüften. „Du wolltest nicht springen, oder? Sag, dass du nicht springen wolltest!“

Ihr Körper schien vor angestauter Energie zu vibrieren. „Wenn du das nämlich vorhattest, bist du noch ein viel größerer Dummkopf, als ich dachte. Obwohl das kaum möglich ist, sollte man meinen.“

Jawed hob beschwichtigend die Hände. „Nein, ich wollte nicht springen. Wie kommst du denn darauf?“

Kaylin zog die Brauen zusammen. „Sie haben dich wieder Mädchenjunge genannt.“

„Na und? Das bin ich doch auch.“ Jawed probierte ein gleichmütiges Achselzucken. Kaylin verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. Tu doch nicht so, sagte ihr Blick. Sie kannte ihn einfach zu gut.

Jawed wandte sich ab. Der Zwinger, oder vielmehr sein Bewohner, zog ihn magisch an. „Hat er schon Futter gekriegt?“

„Ja, hat er.“ Kaylin schnaubte. „Er wird trotzdem sterben. Er gibt auf.“

„Nein, tut er nicht.“ Jawed ging langsam auf den Zwinger zu. Der Sturmfalke war sogar für ein Tier seiner Gattung groß. Der Zwinger bot ihm nicht annähernd genug Platz, um die Flügel auszubreiten, selbst wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Der linke Flügel hing schlaff wie ein Stück Segel an dem mageren Körper herab, als gehörte er nicht zu ihm. Jawed wagte einen weiteren Schritt, bis der kurze Warnschrei des Falken ihn innehalten ließ.

„Versuche es noch einmal“, flüsterte er. „Bitte!“

Kaylins Hand legte sich mit leichtem Druck auf seine Schulter. „Es hat keinen Sinn, Jay. Ich hab dir doch gesagt, er ist nicht wie andere Tiere. Ich kann nicht zu ihm durchdringen.“

„Und wenn du es noch einmal versuchst?“ Jawed sah Kaylin ins Gesicht, forschte nach Hoffnung und fand nur Resignation und Trauer. Wut stieg in ihm auf. Er schüttelte ihre Hand ab. „Wie ist denn das möglich? Das kann nicht sein! Du hast es bei jedem Tier geschafft. Bei jedem!“

„Nicht bei diesem. Ich weiß doch auch nicht, woran das liegt. Irgendetwas an ihm ist anders.“

„Du müsstest ihn doch nur kurz ruhigstellen, nur so lange, bis ich … bis …“

Jawed merkte, dass er Unsinn redete. So funktionierte das nicht. Es genügte nicht, den Falken bewegungsunfähig zu machen. Kaylin müsste eine Verbindung zu ihm aufbauen, ihn beruhigen, und das nicht nur für einen kurzen Moment, sondern lange genug, um Jawed zu ermöglichen, ihn zu heilen. Das konnte dauern. Jawed knirschte mit den Zähnen. Wenn er nur nicht so unfähig wäre! Wenn er es schneller schaffen würde, dann könnte Kaylin …

„Hör auf damit.“ Kaylin stieß ihn leicht an. „Hör auf zu grübeln und dir die Schuld zu geben.“

„Ich müsste ihn heilen können.“ Jawed schielte erneut zu dem Zwinger. Der Falke schien seinen Blick aus grauen Augen zu erwidern. Auch das war ungewöhnlich an ihm, neben der Größe. Normalerweise hatten Sturmfalken gelbe Augen. Normalerweise hockten Sturmfalken nicht in einem Hundezwinger, sondern zogen hoch oben am Himmel ihre Kreise. Unerreichbar. Wie hatte das bloß passieren können? Ein Sturmfalke, der sich mit einer Armbrust abschießen ließ? Wo gab es denn so was?

„Jay, vielleicht wäre es besser, wenn …“

Jawed ballte die Hände zu Fäusten. „Sag das nicht! Es wäre nicht besser, wenn er tot wäre!“

Kaylins überraschter Blick ließ seine Wangen heiß werden.

„Das wollte ich gar nicht sagen. Vielleicht wäre es besser, wenn er mal ein paar Tage hungert. Könnte sein, dass er dann geschwächt genug ist für einen neuen Versuch.“

Es gab Momente, in denen Jawed Kaylin am liebsten fest an sich gedrückt hätte. Dies war einer der Momente. Sie gab nicht auf. Er schämte sich, das überhaupt von ihr gedacht zu haben. Der Begriff „aufgeben“ war in Kaylins Wortschatz nicht vorhanden. Jawed nickte. „Ja, gut. Wir müssen nur dafür sorgen, dass er nichts mehr zu Fressen bekommt.“

Es widerstrebte ihm, den Falken hungern zu lassen, aber möglicherweise war das die einzige Möglichkeit, ihn zu retten.

„Das kriege ich schon hin.“ Kaylin schob das Kinn vor. „Lass mich nur machen.“

Jawed vertraute Kaylin. Trotzdem fand er an diesem Abend keinen Schlaf. Sobald ihm die Lider schwer wurden, sah er wieder die durchdringenden Augen des Falken vor sich. Sie schienen sich durch die Dunkelheit der Schlafkammer direkt in seine Gedanken zu bohren. Stöhnend wälzte Jawed sich auf dem Bett hin und her. Die Matratze, erst kürzlich mit frischem Stroh gefüllt, bohrte sich klumpig in seinen Rücken. Er zwang sich, ruhig zu liegen, gleichmäßig zu atmen und an nichts zu denken.

Da! Jawed fuhr hoch. Hatte der Falke geschrien? Nein, Unsinn. Selbst wenn, er konnte das nicht bis in die Kammer hören. Es musste ein Traum gewesen sein. Jawed nagte an seinem rechten Daumen. Der Mond schien genau auf das Bett, malte silbrige Streifen, von dem winzigen Fenster gefiltert, auf die Decke. Sie sahen aus wie Gitterstäbe. Jawed gab auf. Er konnte sowieso nicht schlafen, da konnte er genauso gut aufstehen.

Wie in vielen Nächten zuvor glitt er leise aus der Kammer, die von wenigen Fackeln erhellten Gänge der Burg entlang. Kein Laut war zu vernehmen, bis auf das Tappen seiner bloßen Füße auf kaltem Stein. Seine Schritte trugen ihn wie von selbst durch einen der schmalen Gänge, die außer ihm niemand kannte, zu einer Geheimtür. Von Efeu bewachsen und somit für unbedarfte Augen unsichtbar, führte sie auf den Innenhof. Der Mond war noch nicht ganz voll. Sein Licht reichte jedoch aus, um den Hof in ein kühles Dämmerlicht zu tauchen, hell genug, dass Jawed den Falken erkannte. Er kauerte in der Ecke des Zwingers, den Kopf unter den gesunden Flügel geschoben.

Jawed zögerte. Er wollte den Falken nicht aufscheuchen. Eigentlich hätte er beruhigt wieder ins Bett gehen können. Es ging dem Tier gut, jedenfalls nicht schlechter als sonst. Alles in Ordnung. Stattdessen bewegte er sich langsam auf den Zwinger zu, bis er nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um die Gitterstäbe zu berühren. Der Falke hob den Kopf, gelassen, als habe er Jaweds Anwesenheit längst gespürt.

„Ich bin es.“ Jawed ließ sich auf dem Boden nieder. Kälte kroch unter die lange Tunika, die er als Nachtgewand trug. Anders als tagsüber gestattete der Falke reglos, dass er sich dicht neben dem Käfig aufhielt. Kot bedeckte den Boden. Aus der Nähe drang der Gestank beißend in Jaweds Nase. Er unterdrückte ein Würgen. Niemand wagte es, den Käfig zu reinigen. Ein besonders mutiger Stallbursche hatte es versucht. Der Falke war sofort wild auf ihn losgegangen und hatte mit dolchscharfen Klauen ein Stück Fleisch aus dem abwehrend erhobenen Unterarm gerissen.

Nun rührte er sich nicht. Ohne einen Laut von sich zu geben, sah er Jawed an. Jawed empfand bei dem Anblick die mittlerweile schmerzlich vertraute Mischung aus Ehrfurcht und Trauer. Selbst in seinem erbärmlichen Zustand wirkte der Falke stolz und unbeugsam, frei, obgleich gefangen.

„Du gibst nicht auf. Ich weiß es.“ Jawed zwang sich, den Falken genau zu betrachten, soweit das in dem Halbdunkel möglich war. Das einst prachtvolle, schimmernde Federkleid sah stumpf und zerrupft aus. Der verletzte Flügel hing nutzlos herab, ein stummer Vorwurf. Über dem gebogenen Schnabel jedoch glänzten die grauen Augen voller Leben. Jawed zählte längst nicht mehr, wie oft er die schlaflosen Nächte schon hier neben dem Zwinger verbracht hatte. Anfangs kam es ihm dumm vor, mit einem Tier zu reden. Richtig zu reden, nicht in der sinnfreien Sprache, die er gegenüber den Hunden oder Pferden benutzte. Doch das legte sich rasch. Nach seinen Monologen fühlte Jawed sich besser. Ab und an fand er nach den nächtlichen Zwingerbesuchen sogar ein wenig Schlaf.

„Sie haben mich wieder Mädchenjunge genannt.“ Jawed wunderte sich darüber, wie bitter seine Stimme klang. Warum tat es immer noch weh? „Und Kaylin hat mein Geheimversteck entdeckt. Ich war unvorsichtig.“

Jawed dachte an die Wolken. „Wie ist es, wenn man fliegen kann? Träumst du davon, durch die Lüfte zu gleiten, vom Wind getragen?“

Der Falke sah Jawed unverwandt an. Ab und an glaubte Jawed beinahe, dass er ihn verstand. So wie jetzt.

„Wenn du mich verstehst, dann lass mich deinen Flügel heilen.“

Jawed streckte langsam die Hand aus. Der Falke gab einen warnenden Laut von sich. Jawed zuckte zurück. Er nahm einen tiefen Atemzug. Was war er für ein elender Feigling!

„Ich tu dir nichts. Lass mich dir helfen.“

Die Abstände zwischen den Gitterstäben waren breit genug, dass er die Hand hindurchschieben konnte. Der Kopf des Falken stieß nach vorn. Im letzten Moment zog Jawed die Hand weg. Der mächtige Schnabel fuhr eine Winzigkeit neben seinen Fingern durch die Luft. Jaweds Herz hämmerte heftig gegen die Rippen.

„Alles gut.“ Er keuchte. „Alles gut. Tut mir leid. Entschuldige.“

Ein Geräusch, halb Lachen, halb Schluchzen, entfuhr ihm. „Wie blöd bin ich eigentlich, jetzt entschuldige ich mich schon bei einem Vogel.“

Der Falke schlurfte in die andere Ecke des Käfigs, so weit wie möglich fort von ihm.

„Du hast recht.“ Jaweds Augen fingen an zu brennen. „Du willst nichts mit mir zu tun haben. Wer will das schon? Ich bin ein verdammtes Monster. Es geht dir bestimmt auf die Nerven, dass ich dir ständig die Ohren volljammere. Du hast genug eigene Sorgen.“ Jawed wischte sich beschämt über die Augen. Seine Nase lief. Er hatte sich vor Jahren geschworen, dass niemand ihn mehr weinen sehen sollte. Auch kein Falke. Mit weichen Knien stand er auf und rannte quer über den Hof in Richtung der Geheimtür. Bevor er sie erreichte, ließ ihn ein Geräusch zusammenzucken. Kicherte da jemand?

Er drehte sich um und spähte in die Dunkelheit. Dummerweise war der Mond hinter einer Wolke verschwunden. Ein unterdrücktes Prusten ertönte, von links, dort, wo das Tor zum Großen Hof lag.

„Ist da jemand?“ Jaweds Stimme bebte. War der Tag nicht schon schlimm genug gewesen?

„Huuuuu …“ Ein klagendes Heulen erklang. Jawed schluckte. Er war nicht so dumm, zu glauben, dass ein Geist ihn heimsuchte. Das mussten welche von ihnen sein.

„Ich weiß, wer das ist!“, stieß er hervor. „Und ich hab keine Angst vor euch!“

Eine glatte Lüge. Jaweds Knie fühlten sich an wie Brei und er konnte kaum atmen. „Na los, zeigt euch, ihr Feiglinge!“

Das war das Zauberwort. Ein Schatten löste sich aus dem Schutz der Mauer, ein weiterer folgte. „Wen nennst du hier feige?“

Oh nein. Jawed erkannte die Stimme vom ältesten Sohn des Stallmeisters, Gordon. „Wer hat sich denn heute vor uns versteckt, he, Mädchenjunge?“

Jawed wich zurück. „Lasst mich in Ruhe!“

Sie waren zu dritt, groß und massig, Gordon und seine Freunde. Sie lachten. „Lasst mich in Ruhe!“, äffte Gordon ihn mit gekünstelt hoher Tonlage nach. Jawed verzog das Gesicht. Klang er so für sie? So redete er doch nicht. Aber als er sprach, hörte sich seine Stimme tatsächlich hoch und zittrig an.

„Haut ab! Ich hab euch nichts getan!“

„Das kannst du auch gar nicht, du Schlappschwanz.“

„Mädchenjunge.“

„Missgeburt.“

Jawed widerstand der Versuchung, sich die Ohren zuzuhalten. Er war kein kleines Kind mehr.

„Mädchenjunge, willst du den Falken klauen?“ Die Jungen krümmten sich vor Lachen. Hörte sie denn niemand? Kam keine der Wachen her, um nachzusehen, was los war? Nein, wohl kaum. Die Söhne des Stallmeisters und des Waffenmeisters gehörten zur Burg. Solange sie nicht allzu sehr über die Stränge schlugen, scherte sich niemand darum, wenn sie nachts auf dem Hof herumliefen.

Sie schlenderten auf Jawed zu. Er wich zurück, bis er die Mauer im Rücken spürte. Flucht war unmöglich. Sie standen genau zwischen ihm und dem einzigen Tor.

„Du Monster, zeig uns doch mal, was für ein widerliches Viech du bist!“

Sie hörten auf zu lachen. Kein gutes Zeichen.

„Volkan hat noch nie so eine Missgeburt gesehen. Und ich möchte meinem Vetter was bieten, wenn er schon hier zu Besuch ist. Los, zieh die Hose runter!“

Jawed schüttelte wild den Kopf. Das konnten sie in der Dunkelheit bestimmt nicht sehen, aber es hätte sowieso nichts genützt.

„Na los, jetzt zier dich nicht so!“ Der Schatten, der Gordon war, sprang vor und griff nach Jawed. Er tauchte unter den ausgebreiteten Armen hindurch und rannte los. Weit kam er nicht, ein ausgestrecktes Bein brachte ihn zu Fall. Hart prallte er auf dem Boden auf und bekam für einen endlosen Augenblick keine Luft mehr. Grobe Hände packten seine Schultern und rissen ihn hoch. Er schlug um sich, blind und taub vor Panik. Zufällig traf die rechte Faust ein Ziel. Ein Knirschen erklang, gefolgt von einem Wutschrei. „Verdammt, das Miststück hat mir die Nase gebrochen!“

„Das wirst du büßen, du Monster!“

Jawed trat und boxte, vergeblich. Sie zerrten ihn an Armen und Beinen über die Pflastersteine.

„Gordon, das können wir nicht machen!“

Trotz seiner Angst hörte Jawed den besorgten Unterton in der fremden Stimme. Das war dann wohl der Vetter. Was hatten sie vor? Wo schleppten sie ihn hin? Jawed musste nicht lange warten, um es herauszufinden. Der beißende Gestank von Vogelkot zeigte es ihm.

„Er hat es verdient! Sieh dir mal meine Nase an!“ Gordons Stimme klang seltsam gepresst.

„Aber … das Viech ist wild!“

Einen Moment glaubte Jawed tatsächlich, sie meinten ihn. Gordon schnaufte. „Na und?“

„Er wird ihn umbringen! Hast du vergessen, was der mit Rolfo gemacht hat?“

„Ist mir scheißegal. Los, rein mit ihm. Um den ist es nicht schade!“

Jawed wehrte sich noch verbissener. Sie versuchten nur, ihm Angst zu machen. Ganz bestimmt. Selbst Gordon würde nicht so weit gehen. Gordon war ein Rabauke, das ja, aber kein Mörder. Vielleicht wollten sie ihn betteln hören. Konnten sie haben.

„Bitte, nicht! Tut das nicht! Bitte!“ Jawed war egal, dass er sich wie ein winselnder Feigling anhörte. Sie sollten nur endlich mit dem grausamen Spiel aufhören. Es war doch ein Spiel! Sie würden ihm nicht ernsthaft etwas antun. „Schnauze! Und jetzt rein, schnell!“

Jawed hörte einen lauten Schrei. Verwirrt fragte er sich, ob er selbst so geschrien hatte. Er flog durch die Luft, etwas schlug hart gegen seine Stirn, dann versank alles um ihn herum in gnädiger Schwärze.

Gestank. Das war das erste, was Jawed wahrnahm. So beißend und unerträglich, dass er unwillkürlich die Luft anhielt. Der Gestank fraß sich in seinen Mund, lag scharf auf der Zunge, fand einen Weg seine Kehle hinunter und würgte ihn. Ein saurer Geschmack breitete sich in ihm aus. Jawed wälzte sich mühsam auf die Seite, gerade noch rechtzeitig, bevor der Schwall Kotze aus seinem Mund schoss. Rülpsend und stöhnend übergab er sich ein weiteres Mal. Danach ließ die Übelkeit nach. Verdammt, wo war er?

Gordon. Der Zwinger. Jawed stemmte sich mit zitternden Armen in eine sitzende Position und versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Ein Mondstrahl fiel durch die Wolken. Keine Armlänge von Jawed entfernt funkelten die Augen des Falken. Keuchend zuckte er zurück, wobei er mit dem Hinterkopf hart an die Gitterstäbe stieß. Er musste so schnell wie möglich aus dem Zwinger heraus. An der Tür war ein schwerer Riegel angebracht, den er durch das Gitter erreichen und zurückschieben konnte. Leider saß der Falke genau zwischen ihm und der Tür.

Wo waren überhaupt Gordon und seine Kumpane? Jawed konnte nicht fassen, was sie getan hatten. Sie wussten doch, wie gefährlich der Falke war. Ein Wunder, dass er Jawed nicht längst zerfleischt hatte. Vielleicht, weil Jawed ohnmächtig gewesen war? Der Falke hockte ruhig da, ohne Jawed aus den Augen zu lassen, aber auch ohne Anstalten zu machen, ihn anzugreifen.

„Ich tu dir nichts“, flüsterte Jawed. „Ich will nur hier raus.“

Der Falke rührte sich nicht. Jawed sah ihn das erste Mal, ohne dass Gitterstäbe sie trennten. Er war riesig. Er überragte den kauernden Jawed um Haupteslänge. Die gebogenen Krallen scharrten über den kotbedeckten Boden, als er einen Schritt auf Jawed zu machte. Jawed schnappte nach Luft. Er drückte den Rücken derart fest gegen die Gitterstäbe, dass es schmerzte. Der Gestank von Erbrochenem mischte sich mit dem der Exkremente und ließ Jawed fürchten, dass er erneut bewusstlos werden würde. Er atmete so flach wie möglich. Der Falke stand dicht vor ihm, sodass er auch seinen Duft wahrnahm. Wider Erwarten weniger beißend als der seiner Ausscheidungen, sondern herb und würzig, nach Wald, Sand und dem Meer.

So nah. Jawed brauchte nur die Hand auszustrecken … Die Fingerspitzen berührten das verklebte Gefieder auf der Brust des Falken. Jawed spürte ein Vibrieren. War er es, der zitterte? Raschelnd hob der Falke den gesunden Flügel an. Sofort zog Jawed die Hand zurück, als hätte er sich verbrannt. Der Falke saß schon wieder ruhig. Das war die Gelegenheit. Wenn Jawed es jetzt nicht versuchte, könnte er sich das niemals verzeihen. Wie von selbst fanden seine Finger den verletzten Flügel, legten sich sacht auf die Federn. Es war zu dunkel, um viel zu erkennen, doch das war auch nicht nötig. Für das, was Jawed vorhatte, benötigte er kein Licht.

Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Kraft. Es war schwer, weil er Angst hatte. Immer wieder drängte das Bild des schreienden Stallburschen mit dem zerfetzten Arm in seine Gedanken. Er musste entspannen, den Geist leeren. Aber wie, wenn er jederzeit darauf gefasst war, dass der Falke ihm die Klauen in die Hand schlug? Jawed kämpfte die Befürchtungen zurück, in den hintersten Winkel des Seins. Der Atem strömte gleichmäßig und vermischte sich mit dem des Falken. Die Federn unter den Fingern wurden erst warm, dann heiß. Jawed konnte die gebrochenen und schief zusammengewachsenen Knochen unter der Haut fühlen. Auch den pulsierenden Schmerz nahm er wahr. Eine Woge Hass, Angst und Trauer überflutete ihn, als er für einen Wimpernschlag die Gefühle des Falken teilte. Er durfte sich davon nicht ablenken lassen. Die Kraft rauschte durch seinen Körper, bündelte sich in der Hand und floss in die filigranen, gleichwohl starken Knochen des Falken. Elegant geschwungen, dazu gemacht, ihm das Fliegen zu ermöglichen. Unter Jaweds Zugriff bogen und schoben sie sich zurück an die richtigen Stellen, wurden wieder zu dem Kunstwerk, das sie waren.

Der schrille Schrei des Falken brach den Bann. Jawed zog die Hand weg, keuchend und zitternd wie nach einem langen Lauf. Erst jetzt merkte er, dass ihm Schweiß an der Wirbelsäule entlang rann. Er wischte sich die Stirn und verteilte damit Vogelkot im Gesicht, doch das war ihm egal. Er hatte nur Augen für den Falken, ein dunkler Haufen zerzauster Federn im Mondschein, leblos.

Oh nein. Das durfte nicht sein. Jawed vergaß den kümmerlichen Rest von Furcht und beugte sich über den seitlich hingestreckten Vogel.

„Falke, Falke, wach auf! Bitte!“ Seine Hände fuhren bebend, auf der Suche nach Leben, über den ausgemergelten Körper, der einst kraftstrotzend in den Winden gesegelt war und nun wie ein Bündel Lumpen im Dreck lag. Eine Klaue des Falken zuckte, ein Schauer lief durch den Körper. Jawed wurde schwach vor Erleichterung. Vorsichtshalber wich er zurück, als der Falke sich aufrichtete, weniger aus Angst, denn um ihm ausreichend Raum zu geben. Der Falke breitete die Flügel aus, beide, so weit es ging. Sie stießen gegen die Zwingerwände, trotzdem war das der schönste Anblick, den Jawed seit Langem gesehen hatte. Der Falke schrie wieder, ein triumphierender Laut der Freude. Jawed lachte atemlos. Verlegen wischte er Tränen von seinen Wangen und verschmierte dabei noch mehr Mist im Gesicht. Unwichtig. Er hatte den Falken geheilt, das allein zählte.

„Ich lasse uns hier raus.“ Bedenkenlos schob er sich an dem Falken vorbei, der jede seiner Bewegungen aufmerksam beobachtete, und streckte den Arm durch die Stäbe. Er brauchte etwas Zeit, bis es ihm gelang, den Riegel zurückzuschieben. Der Falke wartete geduldig. Endlich stieß Jawed die Tür auf und kroch aus dem Zwinger. Er stand auf und trat zurück, um dem Falken Platz zu machen. „Du bist frei!“

Ohne zu zögern, sprang der Falke aus dem Zwinger. Nun konnte er die Flügel strecken. Sie erhoben sich wie zwei gefiederte Fächer, mit einer Spannweite von mindestens drei Schritten. Jawed grinste begeistert. Der Falke schüttelte sich, wie um die Reste der Gefangenschaft loszuwerden. Er schlug mit den Flügeln und erzeugte ein rauschendes Geräusch, das Jawed eine wohlige Gänsehaut bereitete. Er hatte es wirklich geschafft! Der Falke war frei und würde fliegen.

Nach dem dritten missglückten Startversuch hörte Jawed auf zu zählen. Wieder und wieder rannte der Falke los, mit den Flügeln schlagend, doch es gelang ihm nicht, sich mehr als für wenige Handbreit über den Boden zu erheben. Jawed versuchte anfangs, sich einzureden, dass es an dem zu kleinen Hof lag. Dabei wusste er es besser. Die lange Zeit im Zwinger hatte den Falken zu sehr geschwächt. Die Beine konnten ihn kaum tragen und den Flügeln fehlte die nötige Kraft, um ihn in die Luft zu heben. Es hatte keinen Sinn. Jawed blickte unruhig zum Himmel. Der Mond war untergegangen, es dämmerte bald. Im ersten Morgenlicht würde sich der Große Hof mit Menschen füllen und später auch der Innenhof. Bis dahin musste der Falke weg sein. Jawed spielte kurz mit dem Gedanken, ihn in seiner Kammer zu verbergen. Aber sobald jemand bemerkte, dass der Falke fort war, würden sie die gesamte Burg nach ihm durchstöbern. Suchend ließ Jawed den Blick über den Hof schweifen, die Mauern entlang. Natürlich, sein Versteck! Von dort oben konnte der Falke bestimmt besser starten. Jawed hatte wenig Ahnung von Vögeln, wusste allerdings genug, um sich vorzustellen, dass der Falke von einer erhöhten Position die Winde nutzen konnte.

„Falke, ich habe eine Idee.“ Jaweds Stimme ließ den Falken bei einem erneuten Anlaufversuch innehalten. Mit grauen Augen musterte er ihn erwartungsvoll, als verstünde er. Jawed überlegte, ob er ihn auf dem Unterarm die Turmtreppe hochtragen könnte. Nein, das ging nicht. Der Falke reichte Jawed bis zur Hüfte, und obwohl er schwach und mager war, wog er zu viel, als dass Jawed ihn sicher hätte tragen können. Er musste ihn irgendwie dazu bringen, ihm zu folgen. Probeweise schritt er rückwärts auf den Turmeingang zu. „Komm mit!“ Er erwartete nicht ernsthaft, dass der Falke ihm folgte, doch zu seiner Verwunderung hüpfte der Falke ihm nach. Die Krallen klickten über den Steinboden.

„Wir müssen da rauf. Schaffst du das?“ Zweifelnd betrachtete Jawed die von einer blakenden Fackel dürftig erhellte Wendeltreppe im Innern des Turms. Der Falke gab einen Laut von sich, den er als Zustimmung deutete. Tatsächlich sprang er Stufe um Stufe hinauf, wobei er jedes Mal versuchte, mit den Flügeln zu schlagen, jedoch immer an der Enge der gewundenen Stiege scheiterte. Es schmerzte Jawed, den Kampf mit anzusehen. Der Falke war sichtlich am Ende seiner Kräfte. Die vergeblichen Startversuche im Hof hatten ihn noch mehr geschwächt, und nun musste er sich eine Treppe hinauf quälen. Es schien Jawed wie eine Ewigkeit, bis sie den Treppenabsatz erreichten, an dem der staubige, alte Wandteppich eine Geheimtür verbarg, die direkt in das winzige Turmzimmer führte. Jawed ging zuerst und zwängte sich ohne zu Zögern durch die Luke auf das schmale Sims, um Platz für den Falken zu machen. Zu zweit passten sie kaum in das Zimmer hinein. Siedend heiß durchfuhr ihn ein schrecklicher Gedanke: Schaffte der Falke es überhaupt durch das Fenster?

Er spähte zurück in den dunklen Raum, aus dem das Rascheln und Scharren erklang, das der Falke auf seinem Weg verursachte. Jawed hatte sich umsonst gesorgt. Der Falke sprang flügelschlagend in die Luke und blieb dort leicht schwankend sitzen. Er drehte den Kopf hin und her, mit wachem Blick. Die Sonne ging bald auf, am Horizont über dem Meer zeigte sich ein blassvioletter Streifen und die Dunkelheit der Nacht wich dem fahlen Grau des frühen Morgens.

Jawed stand auf dem Sims, den Rücken gegen die Mauer gelehnt, und warf dem Falken einen scheuen Seitenblick zu. Er sah völlig anders aus als in dem Zwinger. Größer, wilder und ja, majestätischer. Ein König der Lüfte. Jawed wollte sich etwas weiter zu ihm umdrehen. Mehr verblüfft als erschrocken merkte er, wie das Sims unter seinem rechten Fuß bröckelnd nachgab. Er verlor das Gleichgewicht. Mit rudernden Armen versuchte er, sich irgendwo festzuhalten. In einem blitzartig aufzuckenden Augenblick der Erkenntnis war ihm klar, dass er fallen und sterben würde. Das war es also. Er empfand keine Angst, dafür war zu wenig Zeit, lediglich ein flüchtiges Bedauern.

Im nächsten Moment schlossen sich kräftige Finger um sein Handgelenk. Der Sturz fand ein jähes Ende. Brennender Schmerz schoss durch seine Schulter. Jetzt hatte er Angst. Er hing am ausgestreckten Arm über dem entsetzlich weit entfernten Burghof. Keuchend hob er den Kopf und sah in das bärtige Gesicht eines Fremden. Erneut jagte ihm glühende Pein durch die Schulter, als sein unbekannter Retter ihn angestrengt ächzend zurück auf das Sims zog und durch die Luke in das Turmzimmer.

Jaweds Knie gaben nach, sobald der Mann ihn losließ. Er sank Luft schnappend zu Boden und sah am ganzen Leib zitternd zu ihm auf. Zuerst fiel sein Blick genau zwischen die Beine. Der Kerl war nackt. Jawed spürte, wie ihm heiße Röte in die Wangen schoss. Hastig wandte er den Blick von der beachtlichen Männlichkeit des Fremden ab und sah stattdessen in sein Gesicht, hager, von einem filzigen Bart bedeckt. Das Haar hing dem Mann in strähnigen Zotteln bis auf die breiten Schultern. Er war bis auf die Knochen abgemagert, trotzdem war ihm anzusehen, dass er ausgeprägte Muskeln besaß. Über einer schmalen, gebogenen Nase blickten graue Augen auf Jawed herunter. Jaweds Herz setzte einen Schlag aus und hämmerte dann schmerzhaft gegen die Rippen, als wäre es ebenfalls ein Falke, der seinem Gefängnis entfliehen wollte.

„Jawed.“ Die raue Stimme des Mannes klang, als habe er sie lange nicht benutzt. Ein Kichern stieg in Jaweds Kehle hoch bei dem Gedanken. So war es natürlich auch. Falken redeten nicht. Dieser Mann, er war der Falke. Wie war das möglich? Jawed bemerkte beschämt, dass er ihm schon wieder zwischen die Beine starrte, aber um ihm ins Gesicht sehen zu können, musste er den Kopf weit in den Nacken legen, wozu ihm die Energie fehlte. Der Mann schien seine Verlegenheit zu bemerken und hockte sich vor ihn hin. Die Kammer war so eng, dass ihre Knie sich berührten. Die Haut des Mannes war von einer dicken Schicht aus Schweiß und Dreck überzogen.

„Du … bist der Falke.“ Jawed brachte den Satz mit Mühe über die zitternden Lippen. Der Mann neigte kurz den Kopf. „Ja. Ich bin der Falke. Ich danke dir. Du hast mich geheilt. Du hast mir das Leben gerettet.“ Er sprach stockend, als müsse er die Worte erst wie verlorene Gegenstände suchen, und mit einem fremdartigen, weichen Akzent. Jawed sah gebannt in seine Augen. Die Augen des Falken und doch anders, grau und sanft, wie das Meer nach einem Sturm.

„Jawed.“

Jawed stockte der Atem. Die Art, wie der Mann seinen Namen aussprach, fuhr wie ein Blitzschlag durch seinen Körper und entfachte Feuer im Unterleib. Ein fremdes Gefühl, erschreckend und wundervoll gleichzeitig. Langsam streckte der Falkenmann die Hand aus. Jawed rührte sich nicht. Er ließ zu, dass der Mann behutsam Dreck von seiner Stirn und der Wange wischte.

„Lerne zu kämpfen, Jawed.“ Sein Blick war eindringlich. „Du musst kämpfen. Versprich mir das.“

Jaweds Gesicht glühte. Ihm fiel ein, was er dem Falken alles anvertraut hatte. Wie konnte er ahnen, dass er jedes Wort verstand?

„Versprich es mir!“

Jawed nickte schwach. Der Falkenmann sah ihn abwartend an.

„Ja“, krächzte Jawed. „Ja, ich werde lernen, zu kämpfen. Versprochen.“

Der Falkenmann schien zufrieden. Er hielt Jaweds Blick einen endlos scheinenden Moment fest, stand auf und hob die Arme in einem Wirbel aus Federn. Jawed blinzelte verblüfft. Der Falke hüpfte auf das Fenstersims, wandte noch ein Mal den Kopf zu ihm um, stieß einen Schrei aus und sprang.

Jawed taumelte so hastig auf die Füße, dass schwarze Flecken vor seinen Augen tanzten. Ohne sich davon aufhalten zu lassen, beugte er sich aus dem Fenster. Er widerstand der Versuchung, zuerst nach unten zu sehen, und lenkte den Blick gen Himmel. In den ersten Strahlen der aufgehenden Sonne segelte ein riesiger Vogel über das Meer, dem Horizont entgegen.

Kapitel 1

Kaylin sang. Sie traf nie den richtigen Ton, und die klangvolle Sprache der Sidhe hörte sich aus ihrem Mund an wie Hexenflüche. Aber darum ging es nicht. Das Lied, dessen Inhalt Kaylin sich nicht erschloss, da sie kein Wort sidhisch sprach, half ihr dabei, den Rhythmus zu finden. Sie duckte sich unter einem hochgezielten Tritt Jaweds und wirbelte im Takt des Liedes herum, riss das linke Bein hoch und zielte auf Jaweds Kinn. Mit einem Salto rückwärts rettete er sich aus der Gefahrenzone. Auch er sang, doch im Gegensatz zu Kaylin erkannte man bei ihm eine Melodie. Die fremdartigen Worte flossen ihm über die Lippen, als singe er in seiner Muttersprache. Kaylin wusste genau, dass er kein bisschen sidhisch konnte. Warum fiel es ihm so leicht, in dieser Sprache zu singen, während Kaylins Zunge sich bei jedem dritten Wort verknotete?

Katzengleich bewegte er sich in einem engen Bogen um sie herum, das schmale Gesicht ernst und konzentriert. Immer so ernst. Kaylin stieß die Silben mehr hervor, als dass sie sang, täuschte einen Schlag nach links an, nur um schnell nach rechts auszuweichen und über Jaweds gestrecktes Bein hinweg zu springen. Sie rollte ab, hörte Jawed mit klarer Stimme einen Teil des Liedes anstimmen, den sie für den Refrain hielt, und fiel schräg, dafür umso lauter ein.

Zwei Strophen später sanken sie schwer atmend ins Gras. Kaylin zog neckend an Jaweds zerzaustem Haar. „Du solltest Sänger werden.“

Jawed lachte. „Natürlich. Und du Marktschreierin.“

Kaylin stimmte in sein Gelächter ein. Es war gut, ihn fröhlich zu sehen. Kam selten genug vor. Meist war er in sich gekehrt, melancholisch bis trübsinnig. Das Kampftraining tat ihm nicht nur gut, er war gut. Kaylin gestand neidlos ein, dass er besser kämpfte als sie. Bei ihm sah alles leicht aus, anmutig, wie Kaylin es sich von einem Sidhe vorstellte. Lag es daran, dass er ein Halbsidhe war, dazu noch ein Sidhe Metra, ein Zwitterwesen mit sowohl männlichen als auch weiblichen Geschlechtsteilen? Aber sie war ebenfalls Halbsidhe und bei ihr sah ein Kampf genau nach dem aus, was er war: nach Kampf, nicht wie ein Tanz.

„Schon müde?“

Grinsers barsche Stimme ließ Kaylin hochfahren. „Nehmen wir heute die Schwerter?“

„Nein. Waffenlos.“ Grinsers Worte machte ihre Hoffnung zunichte. Sie warf einen letzten begehrlichen Blick zum Rand der Lichtung, an dem die Holzschwerter lagen, die sie für die Übungen benutzten. Kaylin mochte die Schwerter. Es gab ihr ein gutes Gefühl, mit dem Holzteil auf die Trainingspuppe aus Stroh einzudreschen. Stattdessen musste sie sich nun darauf konzentrieren, nicht sofort von Jawed zu Boden geworfen zu werden. Anders als beim Aufwärmen vollzogen sie diesmal keine vorher festgelegte und vom Takt des Liedes vorgegebene Schrittfolge. Kaylin passte genau auf, verfolgte jede von Jaweds Bewegungen, um herauszufinden, was er als Nächstes plante. Egal was es war, es sah gut aus. Sie dagegen hüpfte und stapfte herum wie ein wild gewordener Kobold. Grinsers Anweisungen galten meist ihr.

„Näher ran, Kay. Du musst näher an ihn ran, um zu hebeln! Nein, nicht so, von der anderen Seite!“

Mit einem dumpfen „Uff“ landete Kaylin auf dem Rücken, Jaweds Unterarm an der Kehle. Jawed gab sie sofort frei, sprang auf und streckte ihr die Hand hin. Kaylin ergriff sie und ließ sich auf die Füße ziehen.

„Reicht für heute.“ Grinser setzte sich ins Gras. Kaylin unterdrückte ein Stöhnen und suchte Jaweds Blick, verdrehte vielsagend die Augen. Theoriestunde. Was gab es Aufregenderes, als endlosen Ausführungen zur Anatomie und unterschiedlichen Kampfstilen zu lauschen. Die Kampfstile interessierten Kaylin ja noch, aber was ging es sie an, wie die Muskeln arbeiteten? Hauptsache sie funktionierten. Jawed schien ihre Meinung nicht zu teilen. Egal was Grinser für einen drögen Stuss von sich gab, er hing gebannt an seinen Lippen und merkte sich jedes einzelne Wort.

Kaylin setzte sich neben ihn und schenkte Grinser ein Lächeln, das sie für entwaffnend hielt. „Erzähl uns von Sanka.“

„Sanka ist ’ne große Stadt.“

„Ja und weiter?“

„Nichts weiter.“

„Aber Sanka ist die Goldene Stadt, die schönste der Welt, sagt man. Sie hat den größten Handelshafen, die beste Bibliothek und die Zitadelle, die muss wunderschön sein, sie soll …“ Kaylin verstummte unter Grinsers düsterem Blick. So ausführlich er über Kampftechniken sprechen konnte, so verschlossen war er, wenn es um seine Heimat ging. Trotzdem versuchte Kaylin immer wieder, ihn aus der Reserve zu locken. Sie musste alles über Sanka erfahren. Immerhin würde sie bald dort sein und wollte so gut vorbereitet wie möglich die Reise antreten. Grinser war der einzige Sankaner, den sie kannte. Er trainierte sie seit fünf Jahren fast täglich, doch sie wusste nicht mehr über ihn als an dem Tag, an dem sie all ihren Mut zusammengenommen und ihn gefragt hatte, ob er Jawed und ihr Kampfunterricht geben könnte. Man erzählte, dass er vor vielen Jahren mit einem Trupp sankanischer Soldaten nach Kronnor gekommen war, um Sidhesklaven zu befreien. Die Mission schlug fehl und er wurde bei der Gefangennahme schwer verwundet. Von den Verletzungen hatte er sich nie erholt. Er hinkte, und quer über das Gesicht zogen sich wulstige Narben, die seine Lippen zu einem ständigen ironischen Grinsen verzogen. Daher der Name Grinser. Kaylin hatte ihn noch nie richtig grinsen oder lächeln sehen. Konnte er das überhaupt? Wollte er?

Mit finsterer Miene sah er erst sie an, dann Jawed. „Bis morgen.“

Er überhörte Kaylins Protest und ging einfach. Kaylin sah ihm nach, wie er über die Lichtung humpelte, ein Bein nachziehend.

„Kay, du bist so was von unsensibel!“ Jawed sah sie kopfschüttelnd an. „Sanka ist seine Heimat. Er sehnt sich bestimmt nach ihr. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass es ihn quälen könnte, darüber zu reden? Warum versuchst du es immer wieder? Warum lässt du ihn nicht in Ruhe?“

„Hätte ich dich auch in Ruhe lassen sollen?“ Kaylin bereute die Worte sofort, nachdem sie ihr über die Lippen geschlüpft waren. Jawed sah zur Seite und rupfte an den Grashalmen herum. „Ja, wär besser gewesen.“

„Ach Jay, verdammt! Sei nicht so empfindlich. He. Ich hätte dich sowieso nie in Ruhe gelassen. Das weißt du doch. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, ziehe ich es durch, und ich hatte mir in den Kopf gesetzt, deine Freundin zu werden.“ Sie boxte ihm freundschaftlich in die Rippen. Jawed sah weg, aber sie konnte erkennen, dass seine Mundwinkel sich ein wenig nach oben bogen. Erleichtert knuffte sie ihn noch einmal. „Ich hab nun mal eine große Klappe. Tut mir leid. Und du hast völlig recht. Ich werde Grinser nicht mehr nach Sanka fragen. Ich sehe mir einfach alles mit eigenen Augen an.“

Jawed fuhr zu ihr herum. „Das ist kein Spiel, Kaylin! Niemand weiß, was mit den Zwanzig geschieht.“

„Hm, das werde ich dann eben herausfinden.“ Kaylin ließ sich hintenüber ins Gras fallen und breitete die Arme aus. Die Halme kitzelten ihren Nacken. Genau die Stelle, an der die Zwanzig gebrandmarkt wurden.

„Und wenn sie dich nicht nehmen?“

Jawed legte sich neben sie. Kaylin lachte. „Sie nehmen mich, verlass dich drauf.“

„Immer noch deine verrückte Theorie?“

„Die ist nicht verrückt. Sieh dir doch an, wen sie die letzten Male genommen haben. Das waren stets Sidhe, die sie loswerden wollten. Von wegen Zufallsprinzip! Und mich wollen sie loswerden, das ist sicher.“

„Kein Zweifel.“

Kaylin schätzte Jaweds trockenen Humor. Sie schmunzelte, aber nur kurz, denn ihr wurde bewusst, was sie am liebsten verdrängte, wenn sie über die bevorstehende Reise nach Sanka nachdachte. Sie würde Jawed nicht wiedersehen. Ihren allerbesten Freund. Ihren einzigen Freund. Wie sollte er ohne sie zurechtkommen? Als hätte Jawed ihre Gedanken erraten, spürte sie eine Berührung an der Hand. Sie verschränkten die Finger ineinander. Eine Weile sahen sie schweigend in den blauen Himmel.

„Geh nicht.“ Jawed klang wie der kleine Junge, den Kaylin damals vor den Söhnen des Stallmeisters verteidigt hatte. Ein mageres Kind mit riesigen, angstvollen Augen. Ganz anders als sie, die wilde Tochter der Köchin, die sich prügelte wie ein Junge, lauter fluchte als ein Fuhrmann und nichts und niemanden fürchtete. Jawed war immer noch anders als sie, aber die Zeiten, in denen sie ihn beschützen musste, waren lange vorbei. Er würde schon klarkommen.

„Ich muss gehen. Ich muss wissen, was mit Shara passiert ist.“ Kaylin lauschte den Worten, die selbst in ihren eigenen Ohren verlogen klangen. Shara, ihre Freundin, war zu den Sankanischen Spielen vor vier Jahren als eine der Zwanzig ausgewählt worden. Der Magode von Kronnor schickte anlässlich der Spiele alle zwei Jahre zwanzig Sidhe als Geschenk nach Sanka. Angeblich besiegelte er damit einen Nichtangriffspakt. Niemand wusste, was mit den Zwanzig geschah. Es kursierten Gerüchte, dass sie während der Sankanischen Spiele als lebende Ziele dienten. Kaylin glaubte das nicht. Es waren Sidhe! Die sankanische Bevölkerung bestand zum größten Teil aus Sidhe. Das Alte Volk war dort, im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, hoch angesehen. Die Sankaner würden Sidhe nichts antun, selbst wenn es sich um Halbsidhe handelte, die in ihrem Leben noch niemals sankanischen Boden betreten hatten und kein Wort sidhisch sprachen. Halbsidhe, die, als Spitzohren verspottet, im Inselstaat Kronnor ein Dasein als rechtlose Sklaven fristeten. Halbsidhe, wie Kaylin. Und Jawed.

Allerdings war er der Sohn des Magoden, unehelich zwar, jedoch sein anerkannter einziger Sohn. Obwohl der Magode das offenbar die meiste Zeit vergaß, würde Jawed auf keinen Fall zu den Ausgewählten gehören. Shara war aber nicht der Grund, warum Kaylin unbedingt nach Sanka wollte. Nicht der Hauptgrund, jedenfalls. Kaylin hielt es in Kronnor nicht mehr aus. Sie wollte nicht so enden wie ihre Mutter, die von Sonnenauf- bis lange nach Sonnenuntergang für den Magoden schuftete, ohne Lohn, ohne auch nur ein Wort des Dankes. Das war noch nicht das Schlimmste. Gegen harte Arbeit hatte Kaylin wenig einzuwenden, solange es sich um sinnvolle Tätigkeiten handelte. Was sie hasste, war die Tatsache, dass der Magode mit den Sidhesklaven machen konnte, was ihm in den Sinn kam. Wenn es ihm beliebte, konnte er ihre Mutter hinrichten lassen, nur weil die Suppe versalzen war. Nicht, dass er das tun würde. Der Magode war kein schlechter Mensch, aber er könnte es tun.

Dieser Gedanke schwebte immer über Kaylin und war mit ein Grund für ihre häufigen Wutanfälle. Sie wollte selbst bestimmen, was mit ihr passierte. Sie wollte mehr vom Leben als jeden Tag eine Portion Haferschleim, mochte die Portion auch großzügig ausfallen. Sie wollte die Welt sehen, Sanka, die Goldene Stadt, und noch viel mehr. Vor allem wollte sie bei den sankanischen Sidhe sein. Anders als Jawed war sie stolz darauf, dass sie sidhische Vorfahren hatte. Es gab keinen Grund, sich zu schämen, besondere Fähigkeiten zu besitzen. In Valnitien wurden Spitzohren mit Fähigkeiten getötet. In Kronnor war es nicht so schlimm. Falls jemand herausfand, was sie konnte, musste sie höchstens mit Peitschenhieben rechnen. Das war so falsch!

Jawed vermochte zu heilen und ihr gelang es, eine Verbindung zu Tieren herzustellen. Das machte sie außergewöhnlich, aber nicht schlechter, im Gegenteil. In einem gerechten Land würde man sie dafür bewundern. Auf Sanka. Kaylin ging es nicht um die Bewunderung. Naja, ein bisschen schon. Hauptsächlich wollte sie lernen, ihre Fähigkeit sinnvoll einzusetzen. Sie wusste zu wenig darüber. Wen hätte sie fragen können, wenn niemand erfahren durfte, wozu sie in der Lage war?

Jawed musste mit nach Sanka gehen. Seine Heilfähigkeit bot so viele Möglichkeiten. Er sollte nicht wie ein vergessener Geist in der Burg zurückbleiben.

„Du kannst mitkommen. Ja, komm mit nach Sanka. Du gehörst nicht hierher. Du bist auch ein Sidhe.“

Jawed zog die Hand weg und setzte sich auf. „Das geht nicht, wie stellst du dir das vor?“

Kaylin stemmte sich ebenfalls in eine sitzende Position. „Wenn du es willst, finde ich eine Lösung. Wir könnten dich als blinden Passagier auf eines der Schiffe schmuggeln. Versteckt in einem Branntweinfass.“

Jawed grinste. „In einem vollen Branntweinfass?“

„Bis Sanka kriegen wir dich wieder nüchtern.“ Kaylin grinste zurück. „Ich meine das ernst, Jay. Komm mit! Das wird großartig, wir beide in der Goldenen Stadt!“

Jaweds Grinsen verflog. „Was soll ich denn da? Die würden mich nicht wollen. Ich kann nichts. Was sollten die Sankaner mit jemandem wie mir anfangen?“

„Du kannst nichts? Da muss ich aber lachen. Du kannst zum Beispiel besser singen als ich.“ Kaylins Versuch, ihn aufzuheitern, schlug fehl. Jawed sah sie düster an. „Ja, singen. Und ich kann Laute spielen.“

„Du Trottel!“ Kaylin hätte ihn am liebsten geschüttelt. „Du weißt genau, was du kannst.“

Jawed wandte den Blick ab. „Darüber wollten wir nicht mehr sprechen.“

„Du wolltest nicht mehr darüber sprechen. Du hast eine wundervolle Fähigkeit. Lass sie nicht einfach verkümmern.“

„Auf Sanka wird es unzählige mit dieser Fähigkeit geben, die warten nicht auf mich.“

„Weißt du doch gar nicht. Wir wissen wenig über Sanka, aber das Wichtigste schon: Sidhe sind dort angesehen. Sie sind Heiler, sie sind Kämpfer, sie können alles sein. Und hier? Nur Sklaven!“ Kaylin schlug mit der flachen Hand auf die Wiese. Wie oft hatten sie ähnliche Unterhaltungen in den letzten Wochen, ja Monaten, geführt? Jawed konnte entsetzlich stur sein. Er murmelte etwas. Kaylin beugte sich vor. „Was?“

Jawed sprach derart leise, dass sie ihn kaum verstehen konnte. „Außerdem bin ich ein Monster.“

Kaylin warf sich schnell auf ihn, sodass er viel zu verblüfft war, um sich zu wehren. „Du sollst so was nicht einmal denken!“, keuchte sie und drückte seine Handgelenke auf den Boden. Ihre Gesichter waren nur einen Fingerbreit voneinander entfernt. Jaweds bernsteinfarbene Augen funkelten. „Es stimmt aber“, krächzte er. „Wer weiß, was sie auf Sanka mit solchen Missgeburten wie mir machen. Vielleicht gleich nach der Geburt töten, wie in Valnitien.“

„Du hast keine Ahnung.“ Kaylin umklammerte seine Handgelenke fester. In Valnitien wurden Sidhe Metra mit einem Brandzeichen, einem M, markiert. Nicht getötet, jedenfalls nicht offiziell. Darum ging es nicht. „Und du hörst jetzt sofort auf, so von dir zu denken, oder ich prügele es aus dir heraus!“

Jawed erwiderte ihren Blick trotzig. „Versuch’s doch mal.“ Mit einer schnellen Bewegung befreite er seine Handgelenke und schaffte es, auf die Füße zu springen. Kaylin atmete erleichtert auf. So gefiel ihr Jawed schon besser. Sie drückte sich mit den Händen ab und schnellte nach vorne, packte seine Beine in einem Grinser-Spezialgriff und riss ihn zu Boden. Sie kämpften, verbissen zuerst, dann halbherziger, bis sie schließlich lachend und grasfleckig halb neben-, halb aufeinander auf der Wiese lagen.

„Mir ist noch etwas eingefallen.“ Kaylin drehte sich auf den Bauch, atemlos. „Dein Vater …“

„Nenn ihn nicht so. Bitte.“

„Na schön. Der Magode. Der Magode will doch eine von deinen Schwestern mit dem olbianischen Kämpfer verbinden. Frag mal, ob du sie nach Sanka begleiten kannst.“

Jawed schnaubte. „Das könnte sogar funktionieren. Der Magode wäre wahrscheinlich froh, mich endlich loszuwerden. Aber ich glaube nicht, dass der Olbianer begeistert davon sein wird.“

„Muss er ja auch nicht. Wenn dein … der Magode ihn bittet, kann er das unmöglich abschlagen. Falls du dich nicht traust, den Magoden zu fragen, bitte deine Schwester darum.“

„Ich hab mit denen nichts zu tun.“

Kaylin seufzte. „Bei allen Göttern, Jawed! Spring über deinen Schatten! Willst du mit nach Sanka oder nicht?“

„Nein. Ich will nicht mit nach Sanka. Und jetzt Schluss damit.“ Jawed sprang auf und rannte los. Kaylin sah ihm verblüfft hinterher. Wie konnte jemand, der bei klarem Verstand war, nicht nach Sanka wollen? Bestimmt wollte Jawed dorthin, alles andere wäre lächerlich. Er hatte nur Schiss. Kaylin erhob sich, schlug mit den flachen Händen die gröbsten Grasbüschel von der Tunika und lief ebenfalls los. Jawed hatte sich nicht einmal von ihr verabschiedet. Er konnte so ein Sturkopf sein! Bestimmt würde er wieder ein paar Tage nicht mit ihr reden. Früher oder später vergaß er dann, dass er sauer auf sie war. So war es bisher immer gewesen.

Kaylin würde ihn schrecklich vermissen. War das der Hauptgrund, warum sie ihn überreden wollte, mit nach Sanka zu kommen? Das war selbstsüchtig. Aber sie wünschte ihm doch, dass er ein besseres Leben hatte. Was war, wenn er recht hatte? Wenn Sidhe Metra auf Sanka noch schlechter behandelt wurden als hier? Das musste Kaylin herausfinden. Es gab nur einen, den sie fragen konnte. Und der kriegte die Zähne nicht auseinander, wenn es nicht um Kampfkunst ging.

Kaylin war so vertieft darin, eine Strategie auszuarbeiten, den verstockten Grinser zum Reden zu bringen, dass sie nicht auf den Weg achtete. Ehe sie sich versah, gelangte sie an das Große Tor. Es war unbewacht, wie üblich. Nachts wurde es geschlossen, jedoch mehr, um wilde Tiere aus dem Dorf zu halten denn wegen möglicher Feinde. Die Insel Kronnor war viel zu unbedeutend, um Feinde zu haben. Sie stellte zwar den Magoden, der über den Inselverbund Kronnitien herrschte, konnte aber weder Bodenschätze noch andere Reichtümer bieten. So gab es keine Hauptstadt um die Burg, den Magodensitz, sondern nur ein paar winzige Dorfkaten, die sich an die innere Mauer schmiegten und den Burgbediensteten Obdach boten. Die Straßen waren um diese Tageszeit wie leergefegt. Alle gingen entweder ihrer Tätigkeit in der Burg nach oder arbeiteten vor den Toren auf den Feldern.

Kaylin sollte ebenfalls auf den Feldern sein. Sie hatte wie so oft geschwänzt. Sie hielt es für wichtiger, sich wehren zu können, als nach Kartoffeln zu buddeln. Auf Sanka gab es vermutlich gar keine Kartoffeln. Dafür jede Menge Kämpfer. Nicht umsonst stellte Sanka seit Jahrzehnten den Sieger der Sankanischen Spiele. Kaylin konzentrierte sich wieder auf Grinser. Sie wusste, wo sie ihn finden konnte. Flink huschte sie durch die schmale Gasse bis zur Schmiede. Grinser arbeitete dort als Helfer. Als Sklave. Kaylin hatte Glück. Grinser stand vor der Schmiede und untersuchte einen der Blasebälge. Bevor Kaylin auch nur den Mund aufmachen konnte, ließ er den Blasebalg fallen und machte einen Schritt auf sie zu. Sein Gesicht war selbst zu besten Zeiten kein angenehmer Anblick. Kaylin hatte sich längst daran gewöhnt. Aber jetzt sah es so verzerrt und bleich aus, dass Kaylin zusammenzuckte. „Kay … geh nach Hause. Schnell!“

„Wieso?“ Grinser packte sie, drehte sie grob um und gab ihr einen heftigen Stoß. „Geh nach Hause!“, schrie er. Kaylin rannte los. Was war denn in den gefahren? Konnte die Frage nach Sanka ihn dermaßen aufgewühlt haben?

Kay brauchte nicht lange, um die windschiefe Hütte zu erreichen, die sie mit ihrer Mutter und ihrem Zwillingsbruder Kimio teilte.

„Kimio! Ich bin zurück!“ Kaylin stieß die Tür auf und trat in die niedrige Kammer. „Kimio!“

Keine Antwort, von Kimio war nichts zu sehen. Seltsam, sonst lief er ihr immer entgegen und erzählte ihr in seinem eigenen Kauderwelsch, was er den Tag über erlebt hatte. Ein merkwürdiger Geruch hing in der Luft. Brandig. Kaylin beugte sich schnuppernd über die kalte Asche der Feuerstelle. „Kimio?“

Ein ersticktes Schluchzen drang an ihr Ohr. Es kam aus dem Alkoven, in dem sie ihre Schlafstatt hatte, von einem Vorhang von der Kammer abgetrennt. Kaylin riss den fadenscheinigen Stoff zurück. Kimio lag zusammengerollt an die Wand gepresst da. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen. Sein magerer Körper wurde von Krämpfen geschüttelt. Eine eisige Faust schloss sich um Kaylins Herz. Sie kauerte sich vor den Alkoven und streckte vorsichtig die Hand aus, legte sie auf Kimios Schulter. Kimio schrie auf und zitterte noch heftiger.

.„Kimio! Kimio! Ich bin es, Kay! Was ist los?“ Angst schlug ihre Krallen in Kaylins Eingeweide. So hatte sie Kimio nie zuvor gesehen. Es musste etwas Schreckliches geschehen sein.

„Kimio, ist was mit Mutter? Kimmi …“

Kimio richtete sich mit einem Mal auf und warf sich in Kaylins Arme. Er schluchzte wild. Kaylin drückte ihn fest an sich. Der Brandgeruch stieg ihr wieder in die Nase. Oh nein! Kimio presste das Gesicht gegen ihren Hals. Kaylin schob behutsam sein Haar zur Seite. Da war es. Links unten im Nacken, knapp über der Schulter. Das Brandzeichen. Das stilisierte Schiff, Symbol dafür, dass er ausgewählt worden war.

Das Erste, was Kaylin spürte, war das Gefühl, verraten worden zu sein. Das Brandzeichen stand ihr zu! Wie konnten sie es wagen, es jemand anderem zu verpassen, während sie leer ausging? Mit schmerzhafter Wucht wurde ihr klar, dass dieser andere ihr Bruder war, Kimio, der liebe, kindliche Kimio mit dem Verstand eines Dreijährigen. Das Brandzeichen, für sie ein Geschenk, bedeutete für ihn den sicheren Tod.

Kaylin merkte erst, wie gewaltsam sie Kimio drückte, als er einen empörten Laut von sich gab. Sie ließ ihn los und sah ihm ins Gesicht. Tränen zogen Spuren über die schmutzigen Wangen. „Au, au, heiß!“, jammerte er. Wenigstens hatte er aufgehört, zu zittern. Er wusste nicht, was das Brandzeichen für Auswirkungen auf sein Leben haben würde. Für ihn zählte nur der augenblickliche Schmerz. Die Männer des Magoden mussten ihn furchtbar erschreckt haben. Was für eine Schweinerei! Jeder wusste, was mit Kimio los war. Wie konnten sie derart grausam sein, ihm so etwas anzutun!

Kochende Wut stieg in Kaylin auf. Kimio spürte es und fing wieder an zu weinen. Sie riss sich zusammen und strich sanft über seinen zerzausten Schopf. „Ist schon gut. Ist gut, Kimmi. Es ist gleich besser.“

Dafür würde sie sorgen. Mit zusammengebissenen Zähnen stapfte Kaylin durch die Kammer und suchte Material für einen lindernden, kalten Umschlag. Wo war der verdammte Jawed, wenn man ihn brauchte? Der Wassereimer war leer. Wasserholen war eine von Kimmis Aufgaben, einfach genug. Aber dazu war er natürlich nicht mehr in der Lage gewesen, nachdem sie ihn in der Mangel gehabt hatten. Kaylin packte einen der Töpfe und schleuderte ihn gegen die Wand. Eine Pfanne folgte.

„Diese … verdammten … Schweine!“ Vor hilfloser Wut keuchend griff Kaylin nach allem, was ihr in die Finger kam. Erst, als die Kammer aussah wie ein Schlachtfeld, hielt sie inne. Sie blickte sich wild um, ob es noch etwas gab, das sie zerstören konnte. Dabei fiel ihr Blick auf Kimio, der sie mit offenem Mund anstarrte. Sie riss sich zusammen. „Alles in Ordnung, Kimio.“

Kaylin zwang sich, ihrer Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. „Alles gut. Ich regele das schon. Du musst nicht nach Sanka.“

Als ob ihm das irgendetwas sagen würde. Kaylin ging vor ihm in die Hocke und umfasste seine Oberarme. Neue Tränen strömten über sein Gesicht. „Au, heiß!“

„Ja, ich weiß. Das brennt. Ich laufe zum Brunnen und hole Wasser zum Kühlen.“

Kimio klammerte sich an sie. „Nein! Hierbleiben!“

„Ich beeile mich und bin ganz schnell wieder bei dir. Es ist alles gut.“

Kimio weinte hemmungslos. Niemand hatte ihm bisher wehgetan in seinem Leben, Kaylin hatte ihn stets beschützt. Bis zu diesem Tag. Da war sie nicht da gewesen.

Mit einiger Mühe und gutem Zureden gelang es ihr, sich aus der Umklammerung zu befreien. Sie schnappte den Eimer und rannte aus der Hütte. Sie war immer noch so wütend, dass sie am liebsten laut geschrien hätte. Auf dem Weg zum Brunnen kam sie an der Schmiede vorbei. Grinser! Der hatte gewusst, was mit Kimio passiert war. Er hatte es zugelassen! Kaylin ließ achtlos den Eimer fallen und trat an die Holztür der Schmiedehütte. Sie flog auf und knallte gegen die Wand. Grinser erhob sich langsam von einem Hocker und sah Kaylin ruhig entgegen. Erneut kochte Wut in ihr hoch.

„Grinser, du verdammtes Schwein!“, hörte sie sich brüllen. „Wie konntest du das zulassen! Wie konntest du …“

Grinser stand reglos da, das Gesicht die übliche verzerrte Maske, die nicht preisgab, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Das fachte Kaylins Zorn noch mehr an. Grinser waren sowieso alle anderen egal, es kümmerte ihn nicht, was mit Kimio oder ihr oder sonst wem passierte. Kimio. Kaylin stürzte sich mit erhobenen Fäusten auf Grinser. Vor ihren Augen flackerte es, ihr ganzer Körper loderte in einer Wut, die sie nicht länger kontrollieren konnte. Das Rote Tier war los und übernahm die Macht über sie.

Grinser versuchte nicht einmal ansatzweise, sich zu schützen. Er stand einfach da und ließ sich schlagen. Kaylin hieb auf seine Brust und die Schultern ein, bis ihre Fäuste schmerzten und ihre Kehle von ihren Schreien brannte. Das Rote Tier flog mit den schluchzenden Atemzügen davon und nahm so viel ihrer Kraft mit, dass die Beine sie nicht länger trugen.

Als sie zu sich kam, lag sie zusammengerollt auf dem Boden der Schmiede. „Kay.“ Grinsers raue Stimme drang in ihr Bewusstsein. Sie kniff die Augen fest zu. Sie wollte ihn nicht sehen. Sie wollte niemanden sehen, aber am wenigsten Grinser. Sie hatte zugelassen, dass das Rote Tier herauskam. Wie oft hatte Grinser ihr Techniken erklärt, die ihr helfen sollten, es unter Kontrolle zu behalten. Versagt. Sie hatte versagt. Es war ihr nicht gelungen, das Tier zu bändigen, und ihren Bruder konnte sie auch nicht beschützen. Sämtliche Muskeln schmerzten, als sie sich aufsetzte. Blutiger Rotz lief aus ihrer Nase. Ohne nachzudenken nahm sie den Lumpen, den Grinser ihr reichte, und wischte sich damit über das Gesicht. Wie von weit her hörte sie Grinser sagen: „Sie waren schon hier gewesen, als ich zurückkam.“ Seine Stimme klang sachlich, wie immer. Keine Entschuldigung. Wofür sollte er sich auch entschuldigen? Er hätte ohnehin nichts ausrichten können.

Kaylin atmete tief durch und ignorierte das Stechen in den Lungen. „Tut mir leid.“ Sie musste die Worte aus dem Mund quetschen wie unförmige Kiesel. Es tat ihr wirklich leid. Nicht, dass sie auf Grinser eingedroschen hatte, das tat sie fast täglich während des Trainings. Aber das Rote Tier hätte nicht herauskommen dürfen. Sie schämte sich. Grinser musste denken, dass die ganze Mühe vergeblich gewesen war, dass es sich bei ihr um einen hoffnungslosen Fall handelte. Vermutlich würde er sie nicht mehr unterrichten wollen und das geschah ihr Recht. Sie wagte nicht, ihn anzusehen. Stattdessen starrte sie auf den Lumpen, den sie in der Faust mit einer Heftigkeit zerknüllte, als sei er an allem schuld. Ergeben wartete sie auf Grinsers Donnerwetter. Doch als Grinser sprach, klang seine Stimme ungewohnt sanft.

„Sanka, die Goldene Stadt, ist wie das Leben selbst. Voller Wunder, so schön, dass es deine Seele erfüllt, so grausam, dass du dich abwenden willst, es aber nicht schaffen wirst, ebenso wenig, wie du aufhören kannst, zu atmen. Sanka ist alles, was du dir je erträumt hast und alles, was du am meisten fürchtest.“

Kaylin hob den Kopf. Grinser saß wieder auf dem Hocker und musterte sie forschend.

„Ich hab das Rote Tier rausgelassen.“ Kaylin rieb mit dem Lumpen über die Nase, um das Beben der Unterlippe zu verbergen. Grinser nickte.

„Nicht das letzte Mal. Hast du erwartet, dass du es für immer einsperren kannst?“

Kaylin schluckte. Ja, das hatte sie. Grinser schien tatsächlich zu grinsen diesmal, was sein Gesicht stärker verzerrte. „Das Rote Tier, wie du es nennst, ist nicht dein Feind. Es wird dir wahrscheinlich noch mehr als einmal das Leben retten.“

Kaylin ließ sich seine Worte durch den Kopf gehen. Sie musste darüber nachdenken. Aber nicht jetzt. Jetzt war Kimio wichtiger.

Vorsichtig stemmte sie sich hoch und stellte erleichtert fest, dass die Beine sie wieder trugen. „Heißt das, du wirst mich weiter trainieren?“

„Nein. Werde ich nicht.“

Kaylin schob das Kinn vor. Na schön. Es würde sie nicht umbringen. In ihrem Trotz überhörte sie fast Grinsers nächste Worte: „Ich werde nicht mehr hier sein.“

Statt einer Erklärung drehte er den Kopf. Das kurzgeschorene Haar verbarg das Brandzeichen im Nacken nicht. Das Schiff. Er wandte sich wieder zu Kaylin um und sah ihr in die Augen. „Ich passe auf Kimio auf. Ihm wird nichts passieren. Ich verspreche es dir.“

Kaylins Augen fingen an zu brennen. Wenn sie blieb, würde sie vor Grinser losheulen, also stürzte sie zur Tür und rannte.

Kapitel 2