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Zwanzig Schritte. Weiter darf sich Taugenichts Dashan nicht von Flint entfernen, sonst werden sie von ihren Giftarmreifen getötet. Dabei wollte Dashan doch nur einen Blick auf den Neuzugang in der Sammlung des Königs werfen: den Flamm Flint, heiß wie Feuer und exotisch wie eine Nacht unter östlichen Sternen. Dummerweise brannte besagte Sammlung dabei ab. Zur Strafe werden beiden tödliche Giftarmreife verpasst, die sie aneinander binden. Um seine Freiheit wieder zu erlangen, muss Dashan als Flints Bewacher den Hochzeitstross der Prinzessin begleiten. Als sie unterwegs von Sturmreitern überfallen werden, sieht er seine große Stunde gekommen. Endlich darf er zeigen, was in ihm steckt! Nämlich ein Held, der die Prinzessin rettet! Doch sein Plan wird von Flint vereitelt, der ihn zur Flucht zwingt. Denn wie heißt es so schön im Gesetz der Flamm: Besser ein lebender Feigling als ein toter Held. Band 1 der Flamm-Chroniken
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Seitenzahl: 478
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1. Auflage
ISBN 978-3-96089-301-1
ISBN 978-3-96089-302-8 (epub)
Zwanzig Schritte.
Weiter darf sich Taugenichts Dashan nicht von Flint entfernen, sonst werden sie von ihren Giftarmreifen getötet.
Dabei wollte Dashan doch nur einen Blick auf den Neuzugang in der Sammlung des Königs werfen: den Flamm Flint, heiß wie Feuer und exotisch wie eine Nacht unter östlichen Sternen. Dummerweise brannte besagte Sammlung dabei ab. Zur Strafe werden beiden tödliche Giftarmreife verpasst, die sie aneinander binden. Um seine Freiheit wieder zu erlangen, muss Dashan als Flints Bewacher den Hochzeitstross der Prinzessin begleiten.
Der Vorhang stank, als wäre er seit Aldabars Krönung nicht gewaschen worden. Dashan atmete flach durch den Mund. Thon stieß ein ersticktes Röcheln aus. »Das ist ein beschissenes Versteck«, zischte er.
Dashan verdrehte die Augen, obwohl Thon das im Dunkeln nicht sehen konnte. »Weißt du ein besseres?«, zischte er zurück.
»Die ganze Idee ist beschissen.«
Thon, der alte Miesmacher, musste aber auch an allem herumnörgeln. Dashan bereute bereits, dass er ihn mitgenommen hatte, und dabei hatten sie die Galerie der Wunder noch nicht betreten. »Niemand hat dich gezwungen, mitzukommen«, flüsterte er. »Und jetzt halt die Klappe!«
Thon gab ein schnaubendes Geräusch von sich, dann war er still. Gerade rechtzeitig, denn das gleichmäßige Hämmern hallender Schritte näherte sich. Dashan verkrampfte sich unwillkürlich und drückte sich enger an das Fenster hinter ihm. Der Vorhangmief schien noch schlimmer zu werden. Jetzt bloß nicht niesen! Schon der Gedanke daran ließ seine Nase kribbeln. Er hielt die Luft an und kniff die Augen zu. Die Schritte der beiden Wachtposten verharrten. Scheiße! Dashan biss die Zähne zusammen und suchte vorsichtshalber nach einer guten Ausrede für die Tatsache, dass er sich mitten in der Nacht hinter einem Vorhang versteckte.
»Ein guter Schluck«, hörte er einen der Wachtposten sagen. Der andere lachte verhalten. »Hat doch Vorteile, mit einer Küchenmagd anzubandeln. Von unserem Sold könnten wir uns diesen edlen Tropfen nicht leisten, das sage ich dir.«
Dashan unterdrückte einen Fluch. Mussten die ausgerechnet an dieser Stelle ihrem ergaunerten Wein zusprechen? Vermutlich war das sogar der Wein, mit dem er Richelsen bestochen hatte. Die Geschichte mit der Küchenmagd war bestimmt erstunken und erlogen. Endlich marschierten Richelsen und sein Kollege weiter. Nachdem ihre Schritte verhallt waren, wartete Dashan fünf angespannte Atemzüge, dann schlüpfte er hinter dem Vorhang hervor auf den Säulengang, der zur Galerie führte. Im Schein der Laternen huschte er an den Marmorstatuen vorbei, dicht gefolgt von Thon, der ausnahmsweise nichts zu meckern hatte. An der zweiflügligen Tür blieb er stehen. Nun würde es sich zeigen, ob Richelsen Wort gehalten und den Wein verdient hatte. Langsam drehte Dashan am Türgriff, der wie ein springender Delphin geformt war. Es klackte.
Thon sog scharf die Luft ein. Dashan grinste. »Nervös?«, raunte er und drückte gegen die Tür. Sie schwang lautlos nach innen auf. Einen Atemzug später schloss er sie hinter ihnen. Dunkelheit umfing sie. Dashan sog die Luft ein. Sie duftete süß und schwer nach Blumen und Kräutern und feuchtem Moos. Sein Herz pochte hart gegen seine Rippen. Triumph flutete seine Adern. Er hatte es geschafft! Er stand in der Galerie der Wunder.
Ein schrilles Kreischen ertönte. Thon krallte die Finger um Dashans Arm. »Lass uns abhauen«, krächzte er.
Ungeduldig schüttelte Dashan ihn ab. »Bist du verrückt? Wir haben doch noch gar nichts gesehen.«
Er erinnerte sich an Richelsens Hinweise und tastete rechts neben der Tür nach der Lampe. Wie versprochen hing sie in Schulterhöhe. Dashan strich mit den Fingern über den Sockel, fand den Hebel und drückte ihn nach unten. Blaues Licht flackerte auf, wurde allmählich heller und beleuchtete den Innenhof, in dem sie standen. Dashan hatte während der vergangenen Jahre ein paar Führungen durch die Galerie mitmachen dürfen, aber es war etwas völlig anderes, ob man in einer Horde schwatzender Gäste durch die Sammlung gescheucht wurde oder sie allein genießen durfte. Andächtig ließ Dashan den Blick über die Pflanzen gleiten, die den Innenhof in einen üppigen Garten verwandelten und ihn mit einem Durcheinander unterschiedlicher Düfte erfüllten, die sich zu einer berauschenden Mischung vereinten. Über dem Hof wölbte sich das kuppelförmige Glasdach, das tagsüber geöffnet wurde. Dashan konnte vereinzelte Sterne ausmachen.
»Wir könnten einfach verschwinden«, riss ihn Thons verzagte Stimme aus seiner Versunkenheit. »Noch ist nichts Schlimmes passiert.«
»Das wird es auch nicht. Ich sehe mir nur den Flamm an, dann gehen wir wieder. Niemand wird etwas bemerken.« Dashan nahm die Blaulampe vom Haken und marschierte los. »Du kannst an der Tür warten, wenn du willst«, sagte er, ohne sich nach Thon umzudrehen. Er hörte rasche Schritte hinter sich, als Thon sich beeilte, ihm zu folgen, und grinste in sich hinein. Er kannte Thon gut genug, um zu wissen, dass er um nichts in der Welt die Gelegenheit verpassen würde, den Flamm zu sehen, und sei es nur, um am nächsten Tag bei den Hofdamen damit anzugeben. Natürlich würde er es so hinstellen, als wäre es seine Idee gewesen, sich nachts in die Galerie zu schleichen.
Eine Fledermaus schoss dicht an Dashans Gesicht vorbei. Vermutlich handelte es sich um ein seltenes Exemplar aus einem fernen Land, wie alles, was sich in der Galerie befand. Erneut wurde die Luft von dem Kreischen zerrissen. Dashan hätte gerne herausgefunden, was für ein Tier diese Laute ausstieß, aber ihnen blieb nicht viel Zeit, bevor die Wachtposten ihren nächsten Kontrollgang durch die Galerie unternahmen.
Dashan erreichte die Glastür an der gegenüberliegenden Seite des Hofes und öffnete sie. Er wartete, bis Thon neben ihm in der Halle stand, und schloss sie leise hinter ihnen. Neugierig schwenkte er die Lampe in einem Halbkreis. Der bläuliche Schein fiel auf Vitrinen und freistehende Glaskästen, in denen König Aldabar seine liebsten Stücke der Sammlung auszustellen pflegte. Wie zum Beispiel einen ausgestopften Säbelzahnlöwen. Dashan erinnerte sich von der letzten Führung daran, dass diese Tierart mittlerweile ausgestorben war. Schade, er hätte den Löwen gerne lebend gesehen. Schon ausgestopft wirkte er respekteinflößend und seine Augen funkelten unternehmungslustig im Lampenlicht, als wollte er jeden Augenblick von seinem Podest hinunterspringen.
Neben dem Löwen stand ein mannshohes Aquarium, in dem buntschillernde Quallen umherschwebten wie in einen gemeinsamen Tanz versunken. Dashan trat näher heran, fasziniert von den eleganten Bewegungen der Nesselfäden.
Thon zog an seinem Ärmel. »Los, weiter, wir haben keine Zeit, um uns alles anzusehen!«
»Auch nicht dieses Gemälde? Du weißt schon. Wenn man es aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, sind die darauf abgebildeten Personen nackt und …«
»Nein!«
Dashan schmunzelte. »Na schön«, sagte er mit gespielter Enttäuschung. Er wusste schließlich genauso gut wie Thon, dass sie sich beeilen mussten. Leider. Wäre es nach ihm gegangen, hätte er die ganze Nacht in der Galerie verbringen können. Vom Innenhof aus gelangte man in Hallen und Räume, in denen König Aldabar seine über alles geliebte Sammlung aufbewahrte. Alle waren mit Gemälden, Teppichen und Stickereien geschmückt. Es gab Zimmer mit deckenhohen Bücherregalen und bequemen Sitzmöbeln, die zum Lesen einluden. Natürlich stellten die Bücher alle besonders interessante Raritäten dar und waren dummerweise oft in Sprachen verfasst, die niemand im Königreich übersetzen konnte. Aber es gab auch kostbare Bildbände, in denen der König oft nach neuen Wundern suchte, die er dann zu besitzen trachtete.
Wie zum Beispiel exotische Musikinstrumente, die in einem anderen Raum auf staunende Besucher warteten. Dashan verstand nichts von Musik, trotzdem juckte es ihn in den Fingern, diesem Raum einen kurzen Besuch abzustatten und einige der Instrumente auszuprobieren. Schade, dass es zu viel Lärm machen würde.
»Hast du überhaupt eine Ahnung, wo der Flamm ist?«, fragte Thon, als sie das zweite Mal an dem Glasbehälter mit Leuchtschnecken vorbeikamen. Die purpurnen Schleimspuren an den Wänden ihres Terrariums sahen aus wie geschwungene Buchstaben. Ob sie geheime Botschaften zu vermitteln versuchten?
»Ich hab dich was gefragt!«
Dashan riss sich von dem Anblick der Schneckenwörter los. »Ich schätze mal, er wird hier irgendwo sein. Dass der König ihn in der Bibliothek eingesperrt hat, kann ich mir nicht vorstellen. Was brennt besser als Bücher? Höchstens noch die Kleider im Raum nebenan. Nein, er muss hier irgendwo sein.«
»Dummkopf!«
Dashan fuhr herum und musterte Thon überrascht. Thon sah genauso erstaunt aus wie er und hob in einer Geste der Unschuld die Hände. »Das war ich nicht!«
»Dummkopf!«
Dashan trat näher an ein von einem Tuch bedecktes Gebilde heran und zog den Stoff mit einem Ruck herunter. Ein Vogel mit regenbogenfarbenem Gefieder blinzelte ihm zu und trat auf seiner Sitzstange von einem Fuß auf den anderen. »Trottel!«
Dashan lachte. »So einen hätte ich gerne. Dem würde ich phantasievollere Schimpfwörter beibringen.«
Thon grinste, sah sich aber gleich darauf mit wieder angespannter Miene um. »Lass uns verschwinden, der Flamm ist vielleicht gar nicht in der Galerie.«
»Wo soll er denn sonst sein?«
Dashan versuchte, sich in den König hineinzuversetzen. Wo würde er den Flamm in der Galerie unterbringen? Er würde ihn bestimmt nicht verstecken, sondern ihn stolz präsentieren. Natürlich!
»Ha, ich habe eine Idee«, rief Dashan aus.
Thon stöhnte. »Bitte nicht. Die letzten deiner grandiosen Ideen haben uns nur in Schwierigkeiten gebracht.«
Dashan rannte bereits los, zurück in den Garten. Die Wege liefen sternförmig auf ein Podest direkt unter dem höchsten Punkt der Kuppel zu. Dort spielten ab und zu Musikanten auf, während die Gäste durch die Gartenanlage flanieren durften. Jetzt war allerdings kein Platz für eine Kapelle. Auf dem Podest schimmerte ein filigraner Käfig silbrig im Licht von Dashans Blaulampe. Und in der Mitte kauerte eine Gestalt, bei der es sich nur um den Flamm handeln konnte.
Dashan blieb stehen und hielt die Lampe höher. Die Gitterstäbe bestanden tatsächlich aus Silber. Die Macht der Flamm konnte angeblich nur mit Silber gebannt werden. Mit angehaltenem Atem schlich Dashan näher an den Käfig heran, bis die Lampe in seiner ausgestreckten Hand die Silberstäbe beinahe berührte.
Enttäuschung überfiel ihn. Der sagenumwobene Flamm entsprach nicht im Geringsten seinen Vorstellungen. Er hatte etwas Exotisches erwartet, ein beeindruckendes Wesen, nicht diese zusammengekauerte Figur, ein hageres Etwas, das aussah wie ein ausgemergelter dunkelhäutiger Mensch und statt ehrfürchtigem Staunen höchstens Mitleid zu erregen vermochte.
Dashan räusperte sich. »He, bist du der Flamm?«
Das Wesen im Käfig rührte sich nicht.
»Vielleicht spricht er unsere Sprache nicht«, flüsterte Thon. »Vielleicht spricht er überhaupt keine menschliche Sprache«, fügte er noch leiser hinzu.
Dashan schnaubte. »Er sieht aus wie ein Mensch. Ich wette, er hat nur keine Lust, mit uns zu reden.«
Wut auf den verstockten Flamm stieg in ihm auf. Nicht nur, dass er überhaupt nichts hermachte, nun ignorierte er ihn auch noch, obwohl er Gefahren auf sich nahm, nur um ihn zu sehen. Er suchte die Umgebung nach etwas ab, das er nach ihm werfen konnte. Nicht, um ihn zu verletzen, das nicht, aber um ihn aufzuwecken. Kurzerhand griff er nach einem Stück Rinde, das auf einem der umliegenden Beete lag.
»Tu das nicht!«, zischte Thon, doch er holte bereits aus und schleuderte die Rinde durch die Gitterstäbe. Sie prallte von der Schulter des Flamms ab und fiel zu Boden. Der Flamm rührte sich nicht. Er hockte mit eng an den Körper gezogenen Beinen da, den Kopf auf die Knie gelegt. Schwarzes langes Haar fächerte vor sein Gesicht. Wenigstens das wollte Dashan sehen. Wenn der Flamm hübsch war, würde er sich womöglich nicht ganz so betrogen fühlen.
»He, Flamm, du alter Langweiler!«, rief er und warf noch ein Stück Rinde. Es blieb im Haar des Flamms hängen.
Thon griff nach seinem Arm. »Ich finde, das reicht jetzt.«
Dashan schüttelte ihn ab. »All der Aufwand nur um einen mickrigen Kerl in einem Käfig zu sehen?«, fragte er mürrisch. Er musterte den Flamm aufmerksam, auf der Suche nach einem interessanten Detail, das ihm bisher entgangen war, und fand tatsächlich etwas. Die dunkle Haut des Flamms war von schwarzen Tätowierungen überzogen. Sie rankten sich über seine Schultern und Arme wie Efeu.
»Thon, hast du das gesehen?«
Thon antwortete nicht. Dashan drehte sich zu ihm um, aber die Stelle, an der Thon eben noch gestanden hatte, war leer.
»Ich verschwinde«, hörte er Thons gedämpfte Stimme durch die Pflanzen zu seiner Rechten dringen. »Das ist mir zu öde.«
»Blödmann«, brummte Dashan. Insgeheim gab er ihm recht. Der Flamm hielt nicht, was sie sich von ihm versprochen hatten. Dennoch hinderte ihn ein unbestimmtes Gefühl daran, aufzugeben und Thon zu folgen. Er ging langsam um den Käfig herum, die Lampe erhoben, und verfolgte den Verlauf der Tätowierungen. Die floralen Muster schienen den Körper komplett zu bedecken. Dashan hatte sogar den Eindruck, dass sie sich im Schein des Blaulichts bewegten. Das war natürlich Unsinn. Nach der zweiten Umrundung des Käfigs hob der Flamm den Kopf. Dashan erstarrte.
Und wurde erneut enttäuscht. Der Flamm sah so gewöhnlich aus! Er hätte ebenso gut einer der Stallburschen sein können oder ein Küchenjunge. Sein schmales, altersloses Gesicht war ebenmäßig und gleichzeitig völlig nichtssagend. Eines dieser Gesichter, die man anschaute und sofort wieder vergaß, sobald man den Blick abwandte. Das Einzige, was noch halbwegs interessant zu sein schien, waren die vollen, geschwungenen Lippen. Die mandelförmigen Augen lagen weit auseinander, die Iriden hatten die Farbe kalter Asche.
Dashan grinste. »Bist ja doch wach.«
Der Flamm gab mit keiner Regung zu erkennen, dass er ihn verstand. Mit ausdrucksloser Miene beobachtete er ihn, als handelte es sich bei Dashan um eines der Sammlungsartefakte und nicht umgekehrt. Dashan widerstand der Versuchung, sich nervös nach Thon umzusehen. Nun wäre er froh gewesen, wenn sein Freund sich nicht vorzeitig aus dem Staub gemacht hätte. Der Flamm war eingesperrt und durch das Silber gebannt, warum fühlte er sich dermaßen unwohl? Vielleicht, weil er sich das erste Mal Gedanken darüber machte, wie es sein mochte, in einen Käfig gesperrt und neugierigen Blicken ausgesetzt zu sein? Kein sonderlich angenehmes Gefühl.
Dashans Nacken kribbelte warnend. Er trat einen Schritt von dem Käfig zurück, ohne den Flamm aus den Augen zu lassen. Der wirkte immer noch harmlos, doch auf schwer zu beschreibende Art trügerisch, als wollte er ihn in Sicherheit wiegen. Er rührte sich nicht, aber irgendetwas war anders. Dashan kniff die Augen zusammen. Die Tätowierungen traten deutlicher hervor. Sie schienen heller geworden zu sein. Während Dashan sich noch einzureden versuchte, dass es sich nur um Einbildung handeln konnte, hervorgerufen durch seine unerklärliche Nervosität, fingen sie an zu glühen. In roten mäandernden Streifen flackerten sie auf der Haut des Flamms wie mit heißer Kohle in die Nacht gemalte Muster. Dashan konnte den Blick nicht von ihnen abwenden. Fasziniert beobachtete er, wie die Tätowierungen schlingpflanzengleich über die Arme des Flamms krochen, über seine Beine und Füße und schließlich über den Boden des Käfigs. Wie ein besonders rasch wachsendes Blattwerk breiteten sich die glühenden Linien weiter aus, immer schneller.
Dashan begriff zu spät. Als er sich zur Flucht wandte, hatte das Feuerefeu ihn bereits erreicht und züngelte nach seinen Stiefelspitzen. Gleißender Schmerz durchfuhr ihn. Die Lampe entglitt seinen Fingern und polterte zu Boden. Neben ihm fing ein Beet mit Staudenpflanzen Feuer. Aus dem Augenwinkel sah er, wie die Flammen emporschlugen. Er konnte sich nicht rühren. Hitze flutete ihn und erfüllte ihn von Kopf bis Fuß. Der Gestank von versengtem Leder stieg ihm in die Nase, dann erst spürte er den Schmerz an seinem Nacken, als die Schnur Feuer fing, an der er seinen Anhänger trug. Die sengende Pein durchbrach die Lähmung. Mit einem Aufschrei riss er sich den Baum vom Hals. Er brannte sich in seine Handfläche, bevor er ihn fortschleuderte. Ohne noch einen Blick auf den Flamm zu werfen, rannte Dashan los. Das Feuer breitete sich rasch aus. Statt durch einen Dschungel grüner Vegetation zu laufen, kämpfte er sich durch einen Waldbrand. Mit jedem Atemzug drang erstickender Qualm in seine Lungen und seine Augen tränten so heftig, dass er kaum sehen konnte. Nur mit viel Glück gelang es ihm, die Tür zu finden. Er riss sie mit letzter Kraft auf und taumelte hustend in den Flur.
»Feuer«, wollte er brüllen, doch aus seiner Kehle kam nur ein Krächzen. Er stützte sich an der Wand ab und krümmte sich unter einem Hustenanfall. Hinter sich in der Galerie hörte er das Prasseln der Flammen, die gierig die Pflanzensammlung des Königs verschlangen. Das würde Ärger geben. Dashan holte tief Luft und unterdrückte den Hustenreiz. »Feuer!«, schrie er. »Feuer!«
Er hörte Rufe in der Ferne, das Geräusch sich nähernder Schritte. Bevor die Wächter ihn sehen konnten, rannte er in die entgegengesetzte Richtung los, den Flur entlang, und bog um die nächste Ecke. Er konnte ohnehin nichts mehr tun, der Schaden war angerichtet. Und war das etwa seine Schuld? Der Flamm hatte das getan. Das hätte nicht passieren dürfen, schließlich hockte er in einem Silberkäfig. Aber auch das war nicht Dashans Problem.
Zwei Schritte einatmen, fünf Schritte ausatmen. Dashan trabte gleichmäßig zwischen seinen Kameraden um den Hof. Die Schwertscheide schlug bei jedem Schritt gegen seinen Oberschenkel und die Lederrüstung, die er viel zu hastig angelegt hatte, scheuerte an mehreren Stellen. Er unterdrückte einen Fluch. Warum war er überhaupt aufgestanden? Sein Kopf dröhnte und seine Lungen schmerzten von dem Rauch, den er während seiner nächtlichen Eskapade eingeatmet hatte. Aber er hatte es für sinnvoll gehalten, gerade an diesem Morgen kein unnötiges Aufsehen zu erregen und halbwegs pünktlich zum Training zu erscheinen. Vermutlich fiel er damit erst recht auf, da er sich bisher nicht durch übermäßigen Eifer hervorgetan hatte, was seine Ausbildung zum Ritter anging. Er hätte ausschlafen sollen. Sehnsüchtig dachte er an sein warmes Bett.
»He, Dash!« Thon schob sich neben ihn. Er lief wie immer locker und entspannt, als kostete es ihn nicht die geringste Anstrengung. »Was hast du getan?«, zischte er.
Dashan warf ihm einen flüchtigen Seitenblick zu. Der Kerl schwitzte nicht mal. Statt zu antworten, wozu Dashan ohnehin die Luft fehlte, hob er nur in einer Geste der Unschuld die Schultern.
»Die halbe Galerie ist abgebrannt«, flüsterte Thon. »Der König tobt!«
Dashan zuckte zusammen und geriet aus dem Tritt. Zur Strafe trat ihm sein Hintermann in die Hacken und pampte ihn an. Dashan sah sich nach ihm um und schenkte ihm ein entschuldigendes Grinsen. Verdammt, doch so schlimm. Damit hatte er nicht gerechnet. Wieso hatten die Wachen denn das Feuer nicht schneller gelöscht?
»Was ist da passiert?«, klang Thons wütend zischelnde Stimme an sein Ohr. »Wenn rauskommt, dass wir was damit zu tun haben, sind wir tot!«
»Halt die Klappe«, keuchte Dashan. Er sah Thon an und verdrehte vielsagend die Augen nach rechts und links. Zu viele Zuhörer. Es sah zwar so aus, als wären ihre Kameraden mit Laufen beschäftigt, aber Dashan spürte förmlich, wie sie bereits die Ohren spitzten. Die lauerten doch darauf, zu erfahren, was er wieder angestellt hatte. Dabei konnte er diesmal wirklich nichts dafür.
Nach einer Ewigkeit bellte Hauptmann Arrak, ihr Ausbilder, den Befehl zum Stehenbleiben über den Platz. Dashan beugte sich keuchend nach vorn und stützte sich auf den Knien ab. Peinlich, aber seine Lungen brannten und stachen, als bohrten sich glühende Messer hinein.
»Hat da jemand zu wenig trainiert?«, raunte Dashans Nebenmann schadenfroh. Er knurrte unwillig und richtete sich schwankend auf, als der Hauptmann an ihnen vorbeimarschierte und ihnen den Plan für den Vormittag mitteilte. Arrak würdigte ihn keines Blickes. Die Zeiten, in denen Dashan sich gegen tägliche Anschisse wappnen musste, waren lange vorbei. Meistens war er froh darüber. Zugegeben, er nahm sowieso nicht oft am Training teil. Nur manchmal versetzte es ihm einen Stich, dass Arrak ihn aufgegeben hatte. Verdenken konnte er es ihm nicht. Er taugte nicht zum Ritter, wie er für überhaupt nichts taugte. Außer dazu, sich zu amüsieren, zu feiern und das Leben zu genießen. War das etwa nichts?
Falls die angehenden Ritter darauf gehofft hatten, von Arrak Näheres über die Gerüchte über den Brand in der Galerie zu erfahren, wurden die Erwartungen rasch zerstört. Arrak machte keine Anstalten, über die nächtlichen Ereignisse zu reden. Ohne Umschweife teilte er sie in Gruppen ein, damit sie sich in Übungszweikämpfen messen konnten. Dashan kam in eine Gruppe mit Thon und baute sich vor ihm auf.
Thon funkelte ihn an. Er sah ernsthaft böse aus. »Du hast mich ganz schön in die Scheiße geritten«, knurrte er und zog sein Schwert. Die Geräuschkulisse aus singenden Schwerthieben und Kritik von Arrak gab ihnen die Möglichkeit, sich ungestört zu unterhalten.
»Nur die Ruhe«, erwiderte Dashan gelassen und täuschte einen Angriff an. »Niemand wird herausfinden, dass wir in der Galerie waren.« Er wirbelte herum und parierte Thons Schwerthieb. »Falls du es nicht rausplapperst«, fügte er hinzu.
Thon schnaubte. »Und dieser Wachtposten, den du bestochen hast?«
»Ach, der, der sagt nichts.«
Dashan machte sich keine Sorgen. Schließlich würde auf den Wachmann eine schwere Strafe warten, wenn er zugab, dass er die Tür geöffnet hatte.
Thon sah nicht sonderlich beruhigt aus. Um seine Lippen lag ein angespannter Zug. Mit zusammengekniffenen Augen schlug er Dashans Schwert zur Seite und stoppte seinen Streich nur wenige Fingerbreit von seiner linken Seite. »Du bist tot«, sagte er kühl. »Also, sagst du mir jetzt, was du für Scheiße gebaut hast, dass die Galerie in Flammen aufgegangen ist?«
Dashan sah sich unbehaglich um. Die anderen waren zwar beschäftigt, aber er hielt es nicht für klug, weiter in der Öffentlichkeit über diese Sache zu diskutieren. Schließlich mussten sie das Schicksal nicht herausfordern. Er ließ sein Schwert sinken und schüttelte den Kopf. »Später.«
Thon hob resigniert die Schultern. Hauptmann Arrak rettete Dashan vor weiteren Fragen, da er den Wechsel der Kampfpartner befahl. Mittags war Dashan schweißgebadet und wusste wieder genau, warum er sich sonst vor dem Training drückte. Das war einfach nichts für ihn. Zu viel Anstrengung, und für was? Nur, um eine fragwürdige Ritterwürde zu erlangen, an der ihm rein gar nichts lag. Wenn er so weitermachte, würde er ohnehin durchfallen. Das war ihm ganz recht, denn der Ritterstand brachte nur lästige Pflichten und Aufgaben mit sich, auf die er gut verzichten konnte. Er befreite sich von der klebrigen Lederrüstung und wusch sich an dem Wassertrog in der Ecke des Hofs. Zu seiner Genugtuung war das harte Training auch an seinen Kameraden nicht spurlos vorübergegangen. Sie wirkten zwar nicht ganz so erschöpft, wie er sich fühlte, aber sie waren ebenfalls ins Schwitzen geraten und schöpften sich schwer atmend das kalte Wasser in die geröteten Gesichter.
»He, Dash, kommst du heute Abend in die Taverne? Es sind ein paar Fässer Galvaner Hopfenglück eingetroffen, wie ich aus sicherer Quelle erfahren habe«, rief ihm Melvin zu und spritzte Wasser in seine Richtung.
»Was, wirklich?«
»Da bin ich dabei!«
»Ich auch!«
Die Aussicht auf das beliebte Bier lief kurzfristig sogar dem Brand den Rang ab. Dashan fühlte sich mit dem unangenehmen Training versöhnt. Er mochte die Geselligkeit unter den Kameraden. Mit den meisten verstand er sich gut, und die Sticheleien wegen seines mangelnden Ehrgeizes nahm er achselzuckend zur Kenntnis. Die waren doch nur neidisch, weil sie sich abplagten wie die Idioten, während er das Leben leichtnahm und damit durchkam. Er freute sich auf ein paar Krüge Hopfenglück und das eine oder andere Würfelspiel. Vorher wollte er noch die Thermen besuchen, um die letzten Schweißreste loszuwerden. Er sah sich nach Thon um, der ihn sicher gern begleiten würde. Sein Blick fiel auf zwei Blauröcke, die Leibwache des Königs. Was wollten die denn hier?
Sie redeten mit Arrak, der ihnen mit unbewegter Miene lauschte. Dann wandte er den Kopf in Dashans Richtung. Sein stechender Blick traf ihn und ließ ihn zusammenzucken. Verdammt. War er etwa doch aufgeflogen? Hatte der Trottel von Wachtposten gequatscht? Nein, es musste etwas anderes sein. Dashan durchsuchte sein Gedächtnis nach möglichen Verfehlungen der letzten Wochen, die die Leibwache auf den Plan rufen konnten. Ihm fielen gleich mehrere ein. Na schön. Das war nichts Neues. Er machte sich auf einen endlosen, gähnend langweiligen Vortrag gefasst, gespickt mit Drohungen und Vorhaltungen, und eine zwar unangenehme, aber erträgliche Strafe, wie zum Beispiel mehrwöchiges Reit- und Jagdverbot oder die Auflage, sich von den nächsten drei Feiern in der Großen Halle fernzuhalten. Ärgerlich, aber nichts Wildes. Er fand schon andere Möglichkeiten, sich zu amüsieren. Das war eben der Vorteil, als adelige Geisel am Königshof zu leben. Niemand durfte ihm ernsthaften Schaden zufügen.
Hauptmann Arraks Bass dröhnte über den Hof. »Anwärter Dashan, vortreten!«
Dashan schlenderte über den Hof auf die Wartenden zu, mit freiem Oberkörper, ein Handtuch lässig in der Hand. Arraks selbst für dessen Verhältnisse finsterer Blick veranlasste ihn, zumindest ein wenig Haltung anzunehmen.
Die Blauröcke musterten ihn verächtlich. »Bist du Dashan von Sculvere?«
»Der bin ich.« Dashan erwiderte den Blick fest. So leicht ließ er sich nicht einschüchtern. Die Blauröcke wussten genau, wer er war, also, was sollte das Spielchen? Einer der Männer zog etwas aus der Tasche. Dashan erstarrte. Kalter Schweiß brach ihm aus. Er stierte auf den nur zu vertrauten Anhänger in Form eines Baumes, den der Blaurock ihm vor die Augen hielt.
»Gehört das dir?«
Einen heftigen Herzschlag lang spielte Dashan mit dem Gedanken, es zu leugnen. Aber das war sinnlos. Jeder wusste, dass der Baum für die Familie von Birkenhell aus Sculvere stand und ein Symbol in ihrem Wappen darstellte. Und zu viele wussten ebenso, dass er den Anhänger an einer Lederschnur um den Hals zu tragen pflegte. Bis er ihn sich abgerissen und wie ein Volltrottel in die brennende Galerie geschleudert hatte. Was hatte ihn nur dazu gebracht? Das Ding war glühend heiß geworden, daran erinnerte er sich nun wieder. Doch er hatte völlig verdrängt, dass er den Anhänger von sich geschleudert hatte.
»Ja«, krächzte er.
»Was? Sprich lauter!«, fuhr der Blaurock ihn ungehalten an.
»Ja, das ist mein Anhänger«, sagte Dashan mit bemüht fester Stimme.
Die Blauröcke wechselten einen Blick. »Mitkommen!«
Dashan sah, dass Arrak ihn mit einer Mischung aus Sorge und Ärger musterte und wusste, dass er von ihm keine Hilfe erwarten durfte. Er saß in der Scheiße, aber so richtig. Und diesmal würde er nicht mit einer lächerlichen Strafe davonkommen.
Balor, Kommandant der königlichen Garde, stand mit hinter dem Rücken verschränkten Armen hinter seinem Nussbaumholzschreibtisch. Einer der Blauröcke gab Dashan einen Stoß in den Rücken, der ihn nach vorn taumeln und würdelos auf die Knie stürzen ließ.
»Hier ist er, Kommandant«, hörte Dashan die kalte Stimme des Blaurocks hinter sich. Er biss die Zähne zusammen.
»Steh auf«, befahl Balor.
Dashan erhob sich, drückte den Rücken durch und reckte das Kinn. Na schön, er hatte vielleicht einen Fehler gemacht, als er unerlaubterweise die Galerie betreten hatte, aber das war kein Verbrechen. Und der Brand war nicht sein Verschulden.
»Ihr könnt gehen«, wies Balor die Blauröcke an. Mit einem dumpfen Schlag schloss sich die Tür hinter ihnen. Balor musterte Dashan schweigend. Er war von hagerer Gestalt, das graue Haar militärisch kurz geschnitten, mit markanten Gesichtszügen und einer Adlernase. »So schnell sehen wir uns also wieder«, bemerkte er wie nebenbei.
Dashan schluckte. Tatsächlich hatte er zuletzt vor einer Woche vor Balor strammstehen müssen. Wegen einer Lappalie. Wie schlimm konnte es schon sein, wenn er sich ein Pferd aus den Ställen ausborgte und einen kleinen Ausritt unternahm? Gut, es mochte keine seiner schlausten Ideen gewesen sein, ausgerechnet das Lieblingspferd von Prinzessin Via zu wählen, aber wer konnte auch ahnen, dass sie gerade zu der Zeit ebenfalls Lust auf einen Ritt verspürte? Sonst hockte sie doch auch nur von Hofdamen umzingelt in ihrer Kemenate und stickte oder tat das, was langweilige Frauen eben machten. Jedenfalls hatte sie ihn sogleich verpetzt und Balor war gezwungen gewesen, ihm vier Wochen Reitverbot aufzuerlegen.
»Der König ist außer sich«, fuhr Balor fort. »Danke den Göttern dafür, dass ich dich mag, Dashan Unruhestifter, sonst lägst du längst im Burggraben, und zwar getrennt von deinem Kopf.«
Dashan widerstand dem Drang, sich den Nacken zu reiben. Davon, dass Balor ihn mochte, hatte er bisher nichts mitbekommen. Balor runzelte die Stirn, als erwartete er eine Reaktion von ihm, also zog er ein reumütiges Gesicht.
Balor schüttelte missmutig den Kopf. »Die wertvollen Pflanzen im Innenhof der Galerie sind vollständig zerstört worden. Die Flammen haben außerdem auf die Nebenräume übergegriffen. Zur Zeit sind die Hüter der Sammlung damit beschäftigt, das Ausmaß des Schadens festzustellen. Es ist jedoch schon klar, dass er immens ausfällt. Einzigartige Artefakte, unwiederbringlich zerstört.«
Balors letzte Worte schwebten unheilvoll im Raum.
»Na ja, jetzt ist wieder Platz für neuen Kram«, rutschte es Dashan heraus. Er biss sich sogleich auf die Zunge, aber gesagt, war gesagt, leider. Balor starrte ihn an. Wie üblich war seine Miene reglos, aber das erste Mal nahm Dashan einen Hauch von Fassungslosigkeit in seinen beherrschten Zügen wahr. Nicht gut. Er hätte seine große Klappe halten sollen.
»Mut hast du ja«, sagte Balor schließlich, als das Schweigen anfing, wie ein Sack Ziegel auf Dashans Schultern zu lasten. »Gut für dich, den wirst du nämlich sehr bald brauchen.«
Dashan setzte zu einer Verteidigungsrede an, doch er brachte nur wenige einleitende Worte heraus, bevor Balor ihn mit einer rüden Handbewegung zum Verstummen brachte.
»Spar dir deine Ausreden. Wir haben deinen Anhänger in der Galerie gefunden. Du hast dich dort eingeschlichen, wie, werden wir noch herausfinden, aber darauf kommt es nicht an. Du bist schuld an dem Feuer, wissen die Götter, wie du das wieder hinbekommen hast. Der König wollte dich auf der Stelle köpfen lassen. Nur meiner Fürsprache verdankst du es, dass er von einer Bestrafung absehen wird.«
Dashan schwankte zwischen dem Bedürfnis, seine Unschuld zu beteuern, und der Neugier darauf, was ihm statt der Strafe blühte. Denn dass er ungeschoren davon kam, schloss er aus. »Keine Strafe?«, fragte er.
Balor hob die Brauen. »Nein. Es ist mir gelungen, den König davon zu überzeugen, dass du der am besten geeignete Mann für eine wichtige Aufgabe bist.«
Dashans Misstrauen war sofort geweckt. Nicht nur, dass er sich für überhaupt keine wie auch immer geartete Aufgabe eignete, jedenfalls keine, die für den König von Nutzen sein könnte, es sei denn, er hätte plötzlich Interesse daran entwickelt, seine Bier- und Weinvorräte zu dezimieren, oder bräuchte jemanden, der ihm die neusten Trinklieder beibrachte. Nein, ihn irritierte, dass ausgerechnet Balor ihn für eine wichtige Aufgabe vorschlug. Balor, der nie einen Hehl daraus machte, wie sehr ihm Dashan auf den Sack ging. Nun zuckten Balors Mundwinkel verräterisch. Grinste der Kerl etwa hämisch?
»Du bist mir zu großem Dank verpflichtet, Dashan Schmarotzergesicht.«
»Was ist das denn für eine Aufgabe?«, wagte Dashan zu fragen.
»Sie ist dermaßen wichtig, dass der König sie dir persönlich mitteilen wird.« Die Andeutung des Grinsens verschwand von Balors Gesicht. Mit ernster Miene blickte er Dashan in die Augen. »Dashan, ich gebe dir einen guten Rat.«
Mehr als alles andere erschreckte Dashan die Tatsache, dass Balor ihm diesmal keinen hämischen Spitznamen verpasste. Angespannt lauschte er seinen eindringlichen Worten.
»Ich weiß, dass du noch nie einen befolgt hast, aber diesmal wird es über Leben und Tod entscheiden, ob du ihn beherzigst. Dein Leben und deinen Tod, wohlgemerkt. Es ist mir zwar gelungen, den König zu beruhigen, aber das wird nicht lange anhalten. Sobald er anfängt, über die Zerstörung seiner Sammlung nachzudenken, wird der Zorn wieder in ihm hochkochen und dann kann ich nicht garantieren, dass ich dich schützen kann. Du erhältst die Gelegenheit, für geraume Zeit von hier zu verschwinden, also nutze sie oder sieh deiner baldigen Hinrichtung entgegen. Wenn wir gleich beim König sind, sag kein Wort. Ich will nichts von dir hören. Keinen Laut. Und schon gar keinen von deinen überflüssigen Sprüchen. Egal, was du siehst oder hörst, du hältst die Klappe. Ist das klar?«
Dashan schluckte gegen das Würgen in seiner Kehle an.
»Jawohl, Kommandant«, brachte er mühsam hervor. Diesmal war es wirklich ernst, das begriff er, als er in Balors Augen sah. Er saß nicht nur in der Scheiße, er saß in dampfender Scheiße auf dem Grund seines eigenen Grabes. Wahrhaftig ein beschissenes Gefühl.
Schweigend trottete Dashan neben Balor her durch die weitläufigen Gänge des Schlosses. Je näher sie dem Thronsaal kamen, desto schwerer wurden seine Beine. Er wollte Balor erklären, dass er auf den Auftrag verzichtete, wie immer der auch aussehen mochte, doch ein Seitenblick auf dessen Gesicht reichte, um ihn die Worte ungesagt hinunterschlucken zu lassen. Sie erreichten die zweiflüglige Tür, neben der zwei Blauröcke mit aufgepflanzten Hellebarden standen, die Mienen steinern. Als Balor stehenblieb, nahmen sie Haltung an und schlugen die Fersen gegeneinander. Gleichzeitig stießen sie die Hellebarden auf den Boden und die Türflügel schwangen lautlos nach innen. Dashan beeindruckte das nicht. Er wusste, dass der Zeremonienmeister dahintersteckte, der die Tür auf das Zeichen der Blauröcke öffnete und sie nun mit tragender Stimme ankündigte:
»Gardekommandant Balor von Tresperent und Ritteranwärter Dashan von Sculvere.«
Dashan biss die Zähne zusammen. Dass der Zeremonienmeister seinen Familiennamen nicht nannte, war ein Seitenhieb auf seine Stellung als Geisel. Unerwünschte Geisel, wohlgemerkt, denn er hätte schon vor drei Wintern ausgelöst und in seine Heimat zurückkehren sollen. Da aber niemand erschienen war, um ihn abzuholen, wurde er weiterhin am Königshof geduldet. Anfangs hatte ihm jeder, der ihm begegnete, ihm vorgebetet, wie dankbar er doch dafür sein könnte. Mittlerweile schienen die meisten zum Glück vergessen zu haben, warum er da war. Er war für sie nur ein Ritteranwärter unter vielen. Also nicht gerade die erste Wahl für besondere Aufträge des Königs. Dahinter konnte nur eine Falle stecken. Wenn er nur wüsste, ob Balor oder der König selbst sie gestellt hatte.
König Aldabar thronte hinter einem Tisch, der mit Tellern und Schalen überladen war. Mit wulstigen Fingern steckte er eine rötliche Frucht, die wie eine Pflaume aussah, in den Mund, spie sie jedoch sogleich wieder aus.
»Was ist das?«, brüllte er. »Wollt ihr mich vergiften?«
Der schmächtige Mann, der bisher in geduckter Haltung mit gebührendem Abstand vor dem Tisch gewartet hatte, schlich einen Schritt vor. »Vergebt mir, Majestät«, fing er mit Fistelstimme zu sprechen an. »Es handelt sich um die seltene Eierfrucht, die nur in …«
Eine unwirsche Handbewegung von Aldabar brachte ihn zum Schweigen. »Frucht, sagst du? Warum schmeckt das Ding dann nicht süß?«
Der Mann, den die blaurotgestreifte Schärpe um den langen Mantel und das um seinen Kopf gewundene blaue Tuch als Händler der Meere auswies, verharrte in einer tiefen Verbeugung, bis Aldabar ihn anherrschte: »Sprich!«
»Oh Majestät, es ist eine Frucht, die mit Salz, Pfeffer und weißem Käse ihren Geschmack entfaltet«, stammelte er. Aldabar musterte die Schale vor sich, die bis zum Rand mit den Eierfrüchten gefüllt war und runzelte nachdenklich die Stirn. »Worauf wartet ihr«, rief er aus. »Holt weißen Käse! Holt Salz und Pfeffer!«
Ein Blaurock löste sich von seinem Platz an der Wand neben dem Thron und marschierte zielstrebig durch eine Seitentür davon. Aldabar wandte sich der nächsten Schüssel zu. Dashan unterdrückte ein unwilliges Schnauben. Sollte er etwa warten, bis Aldabar sich durch das gesamte Angebot des Händlers gefressen hatte? Unerwartet kam ihm der Zeremonienmeister zur Hilfe, der die Ankündigung wiederholte. Aldabar hob den Kopf und schien Dashan und Balor erst jetzt zu bemerken.
»Ah, Balor, da seid Ihr ja«, rief er aus. Sein Doppelkinn wackelte, als sich sein rundes Gesicht zu einem Lächeln verzog. Dashan atmete auf. Der König wirkte nicht sonderlich erzürnt über das Feuer in der Galerie. Neue Hoffnung keimte in ihm auf. Vielleicht hatte Aldabar längst vergessen, dass er ihn mit einem vorgeschobenen Auftrag loswerden wollte. Doch dann richtete der König den Blick auf ihn und sein Mut sank. Unter den schweren Lidern hinweg betrachtete Aldabar ihn mit berechnender Kälte. »Und Dashan von Deldenbrück.«
»Sculvere«, rutschte es Dashan heraus. Er hörte Balor scharf einatmen und hätte sich beinahe gegen die Stirn geschlagen und konnte ihn förmlich denken hören: Was an ›Halt die Klappe‹ hast du nicht verstanden, Dashan Taubnuss?
Der König überhörte seine Berichtigung und klaubte eine Handvoll Nüsse von einem Teller. Kauend musterte er Dashan. »Und Ihr seid sicher, er eignet sich für diesen wichtigen Auftrag?«
»Ja, Majestät«, versicherte Balor. »Sein bisheriges Verhalten in der Anwärtertruppe hat mehr als deutlich gezeigt, dass er der beste Mann für die Aufgabe ist.«
… nämlich der, den Balor am dringendsten loswerden wollte. Dashan fühlte sich wider Willen verletzt. Er war nie mit ganzem Herzen bei den Anwärtern gewesen, hatte die Übungen immer nur als lästige Pflicht betrachtet, vor der es sich so oft wie möglich zu drücken galt, aber dass Balor so wenig von ihm hielt, gefiel ihm auch wieder nicht.
»Gut. Sehr gut.« Aldabar gab dem rechts von ihm stehenden Blaurock einen Wink. »Bringt die Streuner.«
Dashan warf Balor einen fragenden Blick zu, doch sein Kommandant schaute stur geradeaus. Aldabar schaufelte sich mehr Nüsse in den Mund. »Er wird den Tross begleiten, der meine Tochter nach Radosyr geleitet«, erklärte er mit vollem Mund. »Er wird für den Flamm verantwortlich sein.«
War das ein fieses Aufflackern in seinen Augen? »Das ist eine passende Aufgabe für ihn, da er sich bereits überaus interessiert an dem Flamm zeigte.«
Na schön, diesen Seitenhieb hatte Dashan verdient. Er unterdrückte ein Grinsen. Diesen Auftrag nahm er gerne an, gab er ihm doch die lang erwartete Gelegenheit, endlich mehr von der Welt zu sehen als nur das Schloss von Moscary und die umliegenden Wälder und stinklangweiligen Dörfer. Die Reise mit dem Hochzeitstross der Prinzessin versprach Kurzweil und vielleicht sogar das eine oder andere Abenteuer, auf jeden Fall aber Freiheit von dem täglichen öden Drill unter der Fuchtel von Arrak. Er hatte nicht gewusst, dass der Flamm zu den Geschenken zählen sollte, die Via mit auf den Weg gegeben wurden, aber bei näherer Überlegung wunderte es ihn nicht. Auf diese Weise konnte der König das Wesen loswerden, das seine geliebte Galerie in Schutt und Asche gelegt hatte, und gleichzeitig dem zukünftigen Ehemann der Prinzessin ein wertvolles Geschenk darbieten.
»Um die erfolgreiche Erledigung des Auftrags sicherzustellen, wird er mit einem Haltreif versehen«, hörte Dashan den König sagen und stutzte. Was war denn das? Sollte er an den Flamm gefesselt werden? Dafür war der doch viel zu gefährlich, das hatte er unter Beweis gestellt, als er trotz des Silberbanns Feuer legte. Ihm blieb keine Zeit, sich zu wundern, denn ehe er sich versah, traten zwei Blauröcke an ihn heran. Mit einem satten Klacken schloss sich ein breiter Reif um sein linkes Handgelenk. Dashan betrachtete ihn und suchte vergeblich nach einer Vorrichtung, um eine Kette daran zu befestigen. Er sah völlig glatt aus, Dashan konnte nicht einmal erkennen, an welcher Stelle er sich geschlossen hatte.
Die Seitentür flog auf und der Blaurock, den der König nach den Streunern geschickt hatte, wurde von zwei Hunden in den Saal gezerrt. Mit gerötetem Kopf nahm er Haltung an, während die Hunde an ihren Leinen zerrten, die er sich um die Handgelenke gewunden hatte. Es waren die üblichen armen Viecher, die auf der Suche nach Futter um das Schloss streiften. Einige der Soldaten nutzten sie für Schießübungen. Dashan hatte da nie mitgetan. Er mochte die verlausten Tiere zwar nicht besonders, aber er schätzte es nicht, grundlos zu töten. Die Hunde waren harmlos und verschwanden sofort, wenn man ein paar Steine nach ihnen warf. Erneut sah Dashan Balor fragend an. Der Kommandant presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.
»Der Haltreif sorgt dafür, dass er seiner Pflicht nachkommt und den Flamm gut bewacht.« Die Stimme des Königs hatte einen lauernden Unterton angenommen. »Denn wenn er sich mehr als zwanzig Schritte von dem Flamm entfernt, wird der Flamm dank des Bannreifs nicht mehr zur Flucht in der Lage sein.«
Er deutete auf die Hunde. »Die Reifen.«
Dashan beobachtete verwirrt, wie zwei Blauröcke den Hunden Reifen wie den, den er um das Handgelenk trug, um die dürren Hälse legten. Die Hunde winselten erbärmlich.
Der König nickte zufrieden. »Diese Bannreifen sind auf zehn Schritte eingestellt. Lass einen los!«
Der Blaurock, der mit den Leinen kämpfte, gab einen der Hunde frei. Ein anderer Blaurock warf ein Stück Fleisch quer durch den Saal. Es landete weit entfernt vom Thron an der gegenüberliegenden Wand. Der Hund hatte sich zunächst geduckt, als er keinen Zug mehr am Hals spürte, und stürmte nun los, an Dashan und Balor vorbei auf das Fleisch zu. Der andere Streuner riss wie verrückt an der Leine. Der Reif um seinen Hals färbte sich rot. Einer bösen Ahnung folgend wandte sich Dashan zu dem anderen Hund um, der nun auch einen roten Reifen um den Hals trug. Als er die Zähne in das Fleisch versenkte, ertönte ein singender Laut. Im nächsten Moment krümmte das Tier sich jaulend auf dem Boden. Schaum trat ihm vor das Maul. Auch der andere Hund wälzte sich zuckend.
»Giftstacheln«, erklärte der König und schob sich traubenartige Früchte in den Mund. »Nach wenigen Herzschlägen tritt die Atemlähmung ein, die zum Tode führt.«
Dashan sank in das warme Wasser wie in die Umarmung eines anschmiegsamen Geliebten. Mit einem zufriedenen Seufzen lehnte er sich zurück und schloss die Augen. Die Anspannung in seinem Körper machte einer trägen Schwere Platz. So übel der Tag sich bisher entwickelt hatte, konnte er nur besser werden. Die Seifenmagd, die Dashan den Weg zu dem Becken gewiesen hatte, hatte ihm ein Lächeln und ein vielversprechendes Augenzwinkern geschenkt, das in Dashan die Hoffnung auf eine persönliche Behandlung nach dem Bad aufkeimen ließ. Gedankenverloren rieb er sich das Handgelenk, an dem sich glücklicherweise kein Giftreif mehr befand, und versuchte, nicht daran zu denken, dass er den nur für kurze Zeit losgeworden war.
»Verdammt, Dash, was ist das?«, riss ihn Thons Stimme aus der eben einsetzenden Entspannung. Wasser plätscherte, als er sich aufsetzte und ihn anblinzelte. »Was meinst du?«
Thon starrte ihn mit aufgerissenen Augen an und zeigte mit bebendem Zeigefinger auf seine Brust. Ärgerlich verzog Dashan den Mund. »Hast du noch nie eine nackte Männerbrust gesehen? Oder spielst du auf meine ausgeprägten Muskeln an? Na gut, ich verstehe, dass du neidisch bist, aber …«
»Nein«, unterbrach Thon ihn. »D… der Baum.«
Ach so. »Den Anhänger habe ich nicht mehr«, gab Dashan widerstrebend zu. »Das blöde Ding ist schuld daran, dass der Verdacht auf mich gefallen ist. Muss ihn irgendwie in der Galerie verloren haben.«
Da sie allein in diesem von den anderen abgetrennten Becken des Badehauses waren, konnte er offen reden.
Thon schüttelte heftig den Kopf. »Sieh doch hin! Spürst du das denn nicht?«
Nun senkte Dashan den Blick auf die Stelle auf seiner Brust, an der sonst der silberne Baum gelegen hatte. Scharf sog er Luft durch die Zähne ein. Was war das denn? Statt des Anhängers waren die Umrisse des Baumes in seine Haut gebrannt. Einige seiner krausen Brusthaare waren auch weggeflämmt worden. Mit den Fingerspitzen berührte Dashan das rote Mal und zuckte zusammen, als ein scharfer Schmerz ihn durchfuhr. Warum war ihm das nicht gleich morgens aufgefallen?
Die Frage konnte er sich rasch beantworten: Weil er mal wieder viel zu spät dran gewesen war, zudem noch benommen von dem Rauch, den er eingeatmet hatte. Für eine Untersuchung seines Körpers oder ein Nachspüren irgendwelcher Befindlichkeiten war keine Zeit geblieben. Und später hatten die schmerzenden Muskeln des harten Trainings alles andere überlagert.
»Sieht wie ein Brandmal aus«, stellte Thon fest und beugte sich vor. Dashan rutschte tiefer in das Becken, bis das Wasser die verräterische Stelle verdeckte.
»Das war der Flamm.« Grimmig erwiderte er Thons für seinen Geschmack zu wenig anteilnehmenden und dafür viel zu schadenfrohen Blick. »Der hat den Anhänger erhitzt. Darum musste ich ihn überhaupt erst von mir schleudern. Sonst hätte nie jemand herausgefunden, dass ich in der Galerie gewesen bin.«
Thon schien endlich zu begreifen, dass Dashan nicht vorhatte, das Brandmal in absehbarer Zeit zur Schau zu stellen, und ließ sich ebenfalls wieder zurück ins Wasser sinken. »Das kann nicht sein. Der Flamm ist gebannt. Er saß in seinem Silberkäfig und trug dazu noch die Bannreifen. Auch aus reinem Silber. Hätte er seine Feuermagie benutzen können, dann wäre er doch längst geflohen.«
»Natürlich, dann hätte er seinen Silberkäfig verbrannt, oder was meinst du?«
Dashan widerstand der Versuchung, erneut das Mal zu betasten. Nun, da er wusste, dass es da war, brannte es deutlich. Na ja, es brannte vielleicht nicht gerade, aber die Haut an der Stelle fühlte sich wärmer an. Das erinnerte ihn daran, dass eigentlich der Anhänger dort hängen sollte. Den hatte er noch nie abgenommen, seit seine Mutter ihm das Lederband zum Abschied über den Kopf gestreift hatte. Viele Jahre hatte er nicht mehr darüber nachgedacht, doch nun hörte er ihre Stimme so deutlich, als stünde sie neben ihm: »Du darfst diesen Anhänger niemals abnehmen, hörst du? Trage ihn Tag und Nacht. Versprich es mir!«
Ein Versprechen, gegeben von einem verängstigten kleinen Jungen, der fortgeschickt wurde, um fern von seinen Eltern, Geschwistern und allem, was er kannte, in einem fremden Land aufzuwachsen. Er hatte dieses Versprechen vergessen, es aber dennoch nie gebrochen.
Bis zu der Nacht in der Galerie.
Und hatte seine Mutter nicht recht gehabt? Mit dem Verlust des Anhängers hatte seine Pechsträhne begonnen. Er musste ihn sich unbedingt zurückholen. Hoffentlich hatten die Blauröcke ihn nicht weggeworfen. Nein, das durften sie nicht. Trotz allem war er sein Eigentum. Vermutlich hatten sie ihn Arrak zur Aufbewahrung überlassen.
»Dein Glück möchte ich haben«, sagte Thon mit mehr als nur ein wenig Neid in der Stimme. »Du fackelst die Galerie ab und statt einer Strafe bekommst du eine Belohnung. Was würde ich darum geben, wenn ich die Eskorte begleiten dürfte.«
Wenn der wüsste. Von der Giftfessel hatte Dashan ihm noch nichts erzählt. Zu seiner Erleichterung war er das Ding zunächst los. Die Garde hatte es ihm auf Befehl des Königs wieder abgenommen.
»Der König weiß eben, auf wen er sich verlassen kann«, murmelte er gedankenverloren und achtete nicht auf Thons respektloses Prusten. Zwanzig Schritte … das war nicht sonderlich weit, oder? Ob es eine Warnung gab, wenn diese Entfernung erreicht wäre? Und wie könnte er den Flamm daran hindern, sich von ihm zu entfernen, für den Fall, dass der den Ernst der Lage nicht einsah? Verstand er überhaupt seine Sprache? Er dachte an die Augen des Flamms, die zunächst grau wie kalte Asche gewesen waren, doch dann hatten sie anders ausgesehen. Ein hellgrüner, durchdringender Schimmer war von ihnen ausgegangen. Der ganze Mann hatte anders ausgesehen, sobald die Tätowierungen zum Leben erwacht waren. Größer, massiger, dunkle Haut über schwellenden Muskeln …
Dashans Mund wurde trocken. Er streckte die Hand nach dem Becher Wein aus, der auf dem Rand des Beckens stand, und nahm einen großen Schluck. Der Flamm trug zwar die Schuld daran, dass er in diesen Schlamassel geraten war, aber, verdammt, er war heiß. Und das nicht nur, weil er Feuermagie besaß.
Nach dem in jeder Hinsicht körperlich befriedigenden Aufenthalt im Badehaus hatte sich Dashan noch ausgiebig in der Taverne vergnügt. Jede Sekunde war er sich bewusst gewesen, dass dies das letzte Mal sein konnte. Gut möglich, dass es für ihn keine feuchtfröhlichen Abende mit Freunden, Gesang und jeder Menge Wein und Bier mehr geben würde. Stattdessen könnte es passieren, dass er mit Schaum vor dem Mund auf einer Straße zwischen Moscary und Radosyr krepierte. Der Alkohol legte einen Schleier der Gleichgültigkeit über diese Aussicht. Nachlässig ließ Dashan seine Kleidung auf den Boden seiner Kammer fallen. Im Schein der Blaulichtlaterne nahm er aus dem Augenwinkel ein Funkeln wahr und fuhr herum. Aus irgendeinem Grund schwankte daraufhin alles um ihn und er fand sich auf dem Hintern sitzend wieder. Fluchend stolperte er auf die Füße. An seiner Bettstatt hing etwas.
Der Anhänger.
Beim dritten Versuch schaffte Dashan es, ihn über den Pfosten zu streifen. Er schloss die Finger um die vertraute Form des Baums. Sogar das Lederband hatte jemand erneuert. Dashan zog es sich über den Kopf. Es war kürzer als das vorherige, zerstörte, sodass der silberne Baum nicht auf, sondern knapp über der Brandwunde zu hängen kam. Besser so. Dashan ließ sich auf sein Lager fallen, eine Hand legte er über den Anhänger. Er versuchte, sich das Gesicht seiner Mutter in Erinnerung zu rufen, aber wie bei allem, was mit seiner Kindheit zu tun hatte, huschten ihm nur schattenhafte Eindrücke durch den Kopf, zu flüchtig, um sie greifen zu können. Selbst die Namen seiner Geschwister fielen ihm nicht mehr ein. Seinen Eltern ging es mit ihm sicher ebenso. Sie hatten ihn vergessen. Umso stärker würde ihre Reue ausfallen, wenn er als Held nach Moscary zurückkehrte. Sein Ruhm würde ihm vorauseilen und bald würde man auch in den Tavernen von Sculvere Lieder über seine mutigen Taten singen. Denn auf dem Weg nach Radosyr, als wichtigster Mann in der Eskorte, gab es bestimmt genug Möglichkeiten für ihn, endlich zu zeigen, was er konnte.
In dieser Nacht träumte er, dass er auf einem schwarzen Ross durch die Straßen der Burgstadt ritt. Er blickte hinunter in die strahlenden Gesichter von Männern, Frauen und Kindern. Alle jubelten ihm zu. Er war ihr Held.
Zumindest erhielt er am folgenden Tag die passende Kleidung für sein zukünftiges Heldentum. In Grau und einem etwas dunkleren Blau als das der königlichen Garde unterstrichen die Farben von Tunika und Mantel seine kühnen Gesichtszüge und hoben den türkisfarbenen Schimmer in seinen grauen Augen hervor. Er konnte sich an seinem Anblick im Spiegel gar nicht sattsehen. Nach gebührender Zeit zum Überlegen fand er mehr und mehr Gefallen an seiner Aufgabe, die eigentlich eine Strafe darstellen sollte. Wenn nur die Giftfessel nicht wäre … Vielleicht vergaß man die in der Aufbruchstimmung. Jedenfalls würde sich Dashan die Laune an diesem vorletzten Abend am guten alten Hof von Moscary nicht von sinnlosen Ängsten verderben lassen. Bei dem großen Abschiedsbankett wollte er feiern bis zum Morgen. Wohlweislich hatte der König den Aufbruch der Eskorte erst für den übernächsten Tag festgelegt. Genug Zeit für alle Festgäste, sich zu erholen.
Beschwingt eilte Dashan mit Thon und einigen anderen Ritteranwärtern durch die Flure des Palastes bis zum Großen Festsaal. Schon von weitem hörten sie Musik, Gesang und lautes, fröhliches Stimmengewirr. Dashans Herz schlug schneller, als er mit seinen Freunden den vor Leben berstenden Saal betrat. Tische bogen sich unter Platten mit Speisen, umso erlesener, je näher die Plätze sich am königlichen Tisch befanden.
König Aldabar thronte am Kopf dieses Tischs und war hinter dem Berg von Speisen kaum auszumachen. Neben ihm saß der Anlass der Feier: Prinzessin Via, bleich, nichtssagend und stinklangweilig wie immer. Dashan spürte einen Hauch Mitgefühl in sich aufsteigen. Er wusste, wie es sich anfühlte, wenn der König einen loswerden wollte. Obschon Via den Weg nach Radosyr bestimmt nicht mit einer Giftfessel am Arm antreten würde.
Dashan war dank seines neuen Ranges als Mitglied der königlichen Eskorte einige Tische aufgestiegen. Statt der hölzernen Bänke gab es an denen sogar Stühle. Seine Freude wurde nur unwesentlich durch die mürrischen Blicke getrübt, die ihm seine neuen Kameraden zuwarfen. Niemand erwiderte seinen Gruß oder machte Anstalten, ihm die Fleischplatten zu reichen. Davon ließ sich Dashan nicht einschüchtern. Die wollten doch nur, dass er klein beigab und sich an den Tisch mit den anderen Ritteranwärtern verzog. Vermutlich hätte er da mehr Spaß, aber er wollte den eingebildeten Blödmännern diese Genugtuung nicht gönnen. Ungehemmt bediente er sich selbst an den reichlich vorhandenen Gerichten und ließ sich von den um die Tische eilenden Schankmägden und Schankjungen Wein eingießen. Einer von ihnen, der mit den blonden Locken und dem schelmischen Grinsen, streifte wie zufällig Dashans Finger, als er ihm Wein nachschenkte. Unter gesenkten Wimpern schenkte er Dashan einen einladenden Blick. Oh ja, Dashan erinnerte sich an ihn, besonders an die herrlichen Dinge, die er mit seiner Zunge anstellen konnte. Wie als kleine Gedächtnisstütze schoss ebendiese Zunge ein Stückchen zwischen den geschwungenen Lippen hervor, fuhr rasch über die Unterlippe und zog sich zurück. Warum nicht? Aber später, erst wollte Dashan feiern.
Das Essen mochte hier zwar nicht ganz so edel sein wie an der Königstafel, mundete Dashan aber hervorragend. Er nagte vergnügt an einem Fasanenschenkel und genoss die Tanzdarbietung einer Gruppe nur mit dünnen Schleiern bekleideter Damen, die auf dem geschmückten Podest vor dem König auftraten. Sein Nebenmann griff an ihm vorbei nach der Schüssel mit überbackenem Kurtnatz und stieß dabei sein Weinglas um. Der rote Trunk ergoss sich über den Tisch. Dashan konnte gerade noch sein Bein zurückziehen und verhindern, dass seine neuen Hosen sofort am ersten Tag beschmutzt wurden. Statt einer Entschuldigung gab der Kerl nur ein Grunzen von sich, das eindeutig enttäuscht klang.
»Hast du ein Problem mit mir?«, fragte Dashan ihn scharf. Wie auf Kommando sahen alle an dem Tisch zur Seite, zur Bühne, überall hin, nur nicht zu ihm und seinem Sitznachbarn, der eine Stange Kurtnatz zwischen seine schmalen Lippen schob und tat, als hätte er Dashan nicht gehört. Dashan wusste, er sollte den Mund halten. Es war abzusehen gewesen, dass seine Kameraden wider Willen zunächst Vorurteile gegen ihn haben würden. Vermutlich hielten sie ihn für einen Nichtsnutz, der nur dafür taugte, in der Taverne für Stimmung zu sorgen. Zu Recht. Noch ein Grund mehr, sie nicht herauszufordern, noch bevor ihr gemeinsames Abenteuer begonnen hatte. Aber gute Gründe hatten Dashan noch nie davon abgehalten, eine Dummheit zu begehen. Im Gegenteil.
»Jetzt hör mal zu, du …«, fing er an, doch was er als Nächstes sagen wollte, ging in einem begeisterten Aufschrei der Gäste unter. Alle Köpfe drehten sich Richtung des zweiflügligen Haupttores, durch das ein von Samttüchern verhülltes Gebilde geschoben wurde. Acht Gardisten lenkten es über eine rasch herbeigeschaffte Rampe auf das Podest, auf dem noch ein vergessener Schleier der Tänzerinnen lag.
Diener eilten durch den Saal und dimmten die Laternen, bis der Saal abgedunkelt war und nur noch die Bühne von einem rötlichen Schein beleuchtet wurde. Das Raunen der Zuschauer wurde leiser. Der Schlag einer Trommel erklang, langsam und schleppend zunächst, dann schneller werdend, bis die dumpfen Töne den Rhythmus eines Herzschlages erreicht hatten. Die Samttücher glitten zur Seite und gaben den Blick auf einen silbernen Käfig frei. Den Käfig des Flamms.
Es war nicht der kleine Zwinger, den Dashan in der Galerie gesehen hatte. Dieser sah größer aus und filigran genug, dass er eine gute Sicht auf den Flamm ermöglichte, fast so, als befände der sich gar nicht hinter Gittern. Er stand in der Mitte seines Gefängnisses neben einer dünnen Silberstange, die vom Boden des Käfigs bis zu dessen Decke reichte. Die breiten Reife an seinen Handgelenken warfen das Licht zurück. Den Kopf hielt er gesenkt. Sein schwarzes Haar hing wie ein Vorhang vor seinem Gesicht. Er trug nichts als einen Lendenschurz. Dashan konnte den Blick nicht von ihm wenden.
Die Trommel verhallte. Im Festsaal herrschte vollkommene Stille. Nicht mal das Geräusch von Atem oder ein Husten waren zu hören. Auch Dashan hielt die Luft an. Die Gerüchte, dass der Flamm an diesem Abend auftreten sollte, waren ihm zu Ohren gekommen. Doch niemand ahnte, was der Flamm tun würde. Eine Kostprobe seiner Flammenmagie liefern wohl kaum, denn er war gleich mehrfach mit den Silberreifen und dem Käfig gebannt. Nicht, dass ihn das davon abgehalten hatte, die Galerie abzufackeln. Aber das wusste ja niemand außer Dashan.
Musik erklang. Zunächst leise, kaum mehr als ein Zwitschern in der Dämmerung. Die Trommel setzte wieder ein. Die zirpenden Zimbelklänge und die tiefen Schläge vereinten sich zu einem mitreißenden Takt, der es Dashan schwer machte, ruhig auf seinem Stuhl sitzen zu bleiben. Ein besonders lauter Trommelschlag ertönte, erneut gefolgt von Stille, in der Dashan seinen eigenen Herzschlag unnatürlich laut zu hören glaubte. Langsam hob der Flamm erst den Kopf, dann die Arme. Der Blick seiner hellen Augen schien sich genau auf Dashan zu richten. Er warf sein Haar zurück und als wäre das ein Zeichen, setzte die Musik wieder ein. Der Flamm tanzte.
Obwohl der Begriff tanzen nicht annähernd wiederzugeben vermochte, was Dashan sah. In einem Wirbel aus funkensprühendem Haar und geschmeidigen, langen Gliedern bewegte sich der Flamm, als bestünde er nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Musik. Aus Farben und Tönen. Aus Feuer.
Die Tätowierungen an seinem Körper glühten, woben verschlungene Muster und verschmolzen mit der Dunkelheit wie Funkenflug. Die Gesetze der Schwerkraft verloren ihre Bedeutung, als er sich um die Stange wandt und drehte, sein Körper pulsierend vor kraftvoller Anmut. Er war eins mit der Musik und die Musik war eins mit ihm.
Es gab kein Feuer, konnte keines geben, da das Silber die Magie des Flamms im Zaum hielt, und doch schien die Luft um den Käfig herum zu brennen. Dashan brach Schweiß aus. Konnte nur er das sehen? Spürte nur er die leuchtenden Augen des Flamms auf sich gerichtet? Es mochte keine sichtbaren Flammen geben, doch in diesen Augen loderte eindeutig Feuer. Und zwar keines der zahmen Sorte, über dem das Essen in der Palastküche gebrutzelt wurde, sondern eines von der Art, das ganze Wälder mit seinem heißen Atem verschlang, wild und gierig und unbarmherzig in seiner Leidenschaft.
Stille.
Kälte.
Jubel brach los. Um Dashan sprangen alle auf, stellten sich auf Stühle und Bänke und klatschten, verlangten nach einer Zugabe. Benommen blinzelte Dashan zu dem Käfig, der nun wieder von den Tüchern bedeckt war. Seine Erektion drückte hart gegen den Stoff seiner neuen Hose und er hatte das Gefühl, betrogen worden zu sein. Das war doch nicht etwa alles gewesen? Und warum hatte er nicht mitbekommen, dass der Flamm zu tanzen aufgehört hatte? Er erinnerte sich lediglich an einen Rausch aus Hitze und sinnlicher Nähe und eine unbestimmte Sehnsucht zog seinen Unterleib zusammen. Ohne dass er es gemerkt hatte, hatten ihn seine Füße an den Tischen vorbeigetragen.