Flintenweiber - Helga Bürster - E-Book

Flintenweiber E-Book

Helga Bürster

4,4

Beschreibung

Privatdetektivin Thea Thading hat ihren ersten Auftrag: Sie soll herausfinden, welcher Hund sich am Zaun ihres Nachbarn erleichtert. Doch dann kommt ihre alte Bekannte, die Wittmunder Kommissarin Wilma Menkens, ins Oldenburger Land, gemeinsam mit den Damen ihres Schützenvereins. Nur wenig später liegt Wilma angeschossen im Maisfeld - nicht weit entfernt von einer Leiche mit einem Sack voller Cannabis ...

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Helga Bürster wurde 1961 in einem oldenburgischen Dorf geboren. Später verschlug es sie nach Süddeutschland, wo sie Theaterwissenschaft, Literaturwissenschaft und Geschichte studierte. Seitdem lebt sie vom Schreiben und Geschichtenerzählen. Mit ihrer Familie wohnt sie seit 1995 wieder in einem niedersächsischen Dorf und schreibt Kriminal- und historische Romane, Hörspiele, Theaterstücke und Reiseliteratur. Mit Norddeutschland verbinden sie der Wind, die Weite, das Meer, die wilde Geest, Grünkohl und der überaus trockene Humor.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2014 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/regulus56 Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Gestaltung Innenteil: César Satz & Grafik GmbH, Köln Lektorat: Lisa Bitzer eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-583-9 Niedersachsen Krimi Originalausgabe

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1

Thea wickelte die Strickjacke fester um sich. Der scharfe Novemberwind fuhr ihr trotzdem bis unter die Haut. Durch den Filz ihrer Hausschuhe drang Feuchtigkeit. Gefühlte Stunden stand sie schon mit ihrem neuen Parzellennachbarn in dieser Affenkälte herum. Bernd Sielmann hielt gerade einen seiner Lieblingsvorträge, nämlich über Hundekacke auf dem Grünstreifen vor seinem frisch gestrichenen Bonanzazaun.

»Das da«, er zeigte auf ein beigefarbenes Häufchen, das direkt neben dem Tor lag, »ist in den zwei Wochen, seitdem ich hier wohne, die neunzehnte Tretmine auf meinem Grundstück. Ich habe Buch geführt.« Er hielt Thea einen Ringordner unter die Nase und blätterte die Seiten wie ein Daumenkino durch. »Da steckt doch System dahinter, meinst du nicht? Das ist kein Zufall.«

Thea stöhnte innerlich auf. Eine Parzelle im Wildweststil stieß nicht bei allen auf Gegenliebe, vielleicht war das Bernd Sielmann nicht klar. Der eine oder andere Hundebesitzer unter den Altpächtern revanchierte sich möglicherweise mit kleinen Hinterlassenschaften für die exotische Ausgestaltung der Laube, vermutete Thea. Vielleicht hatten sich die Kleingärtner sogar zusammengetan, ohne dass sie es wusste, um es dem Neuling zu zeigen? Dann wäre das hinter Kubelkas Rücken geschehen, denn der verstand sich anscheinend prächtig mit dem Neuen. Thea verstand nicht, warum der Platzwart ausgerechnet Sielmanns Spleen duldete, ja sogar begrüßte. Aber vielleicht war Kubelka ein heimlicher Westernfan.

»Sieht die Scheiße denn immer gleich aus?«, fragte Thea.

Sielmann warf ihr einen irritierten Blick zu.

»Ich frage das«, fuhr sie fort, und es kostete sie einige Anstrengung, nicht genervt zu klingen, »weil ich herausfinden will, ob es immer derselbe Hund ist, der sein Geschäft hier hinmacht.«

Sielmann hob die Augenbrauen und lächelte hintergründig. »Ah! Verstehe. Eine ermittlungstechnische Frage. Moment.« Er schlug seinen Ringordner auf und blätterte fieberhaft darin herum.

Thea schloss kurz die Augen. Sie hätte nicht für möglich gehalten, dass es einen Moment geben könnte, in dem sie sich wünschte, wieder am Telefon Fußdeo zu verkaufen, für fünf Euro die Stunde im Callcenter um die Ecke. Dieser Moment war nun gekommen.

»Hallo?«

Thea schreckte auf.

»Nicht ganz bei der Sache heute, was?« Sielmann hob mahnend den Zeigefinger und erinnerte sie in diesem Moment stark an Lehrer Lempel aus »Max und Moritz«. Ihr Nachbar war in der Tat genauso hager wie Buschs Figur. Nur der Cowboyhut und die Westernstiefel passten nicht ins Bild, seine gebückte Haltung dafür umso mehr.

Bernd Sielmann machte den Eindruck eines Mannes, der sich ständig verfolgt fühlte. Von Menschen, die ihre Hunde an seinen Zaun kacken ließen, oder von der Menschheit im Allgemeinen, denn er war ein Opfer der Gesellschaft. Gerade hatte er seinen Onlineversandhandel »Little Joe« schließen müssen, weil die Kundschaft für Lassos, Bowiemesser und Stiefelsporen eher rar gesät war, was er anscheinend nur schwer akzeptieren und erst recht nicht verstehen konnte. Sein altes Ladenschild vom Lagerverkauf baumelte wie eine Anklage am Rosenbogen über seinem Eingangstor.

»Zweimal war Durchfall dabei!«, rief er triumphierend.

»Bitte was?«

Sielmann hielt Thea den Ringordner unter die Nase. »Da steht es. Letzte Woche Montag und vorgestern.«

»Was war am Montag?«

»Durchfall. Gleich neben dem Tor. Beige Färbung, längliche Kotspuren, zwischen zehn und zwölf Zentimeter lang, mit Spritzflecken am Zaun. Zähflüssige Konsistenz. Ich hab es fotografiert.«

»Hast du es auch in die Hand genommen und daran gerochen?«

»Nein.« Sielmann runzelte irritiert die Stirn. »Hätte ich das tun sollen?«

Thea seufzte und warf einen flüchtigen Blick auf das Foto, das neben dem Eintrag klebte. Es war zum Mäusemelken. Sie war Ermittlerin und verstand ihr Handwerk. Erst vor wenigen Monaten hatte sie auf Spiekeroog einen kniffligen Mord aufgeklärt und war dann mit dem Plan nach Oldenburg zurückgekehrt, eine eigene Detektei zu eröffnen. Auf ihrer Parzelle unter der A28, wo sie seit ihrer Suspendierung lebte. Es sollte der Start in ein halbwegs geordnetes Leben werden, nachdem diese Sache mit ihrem Bruder passiert war. Er hatte sich mit ihrer Dienstwaffe das Leben genommen. Eine Katastrophe, in jeglicher Beziehung. Aber nun hatte sie ihr Leben wieder in die Hand genommen, indem sie sich von einer Arbeitsloseninitiative einen gebrauchten Computer besorgt und bei eBay einen Drucker mit Fax und Kopierer ersteigert hatte. Dann erstellte sie eine Seite bei Facebook: »Detektei Thading – Ermittlungen aller Art«. Das kostete nichts und wirkte irgendwie professioneller als das Pappschild über ihrer Klingel. Ihr Büro war einsatzbereit – und es passierte nichts. Niemand meldete sich, bis auf Little Joe, der mit einem Hundehaufenproblem zu ihr kam. Sie hätte ihn liebend gern abgewiesen, aber zwanzig Euro Vorschuss und ein knurrender Magen waren ein gutes Argument, den Auftrag anzunehmen.

»Hörst du mir eigentlich zu?«, fragte Sielmann empört.

Thea sah auf. »Ja, klar. Zähflüssige Konsistenz. Interessant. Hab nur gerade überlegt, wie ich diesen Fall anfasse. Also, im übertragenen Sinne, wenn du weißt, was ich meine.«

Thea verstummte. Sie trat von einem Fuß auf den anderen. Die Filzpuschen hatten sich inzwischen vollgesogen mit Nässe, und sie spürte ihre Zehen kaum noch vor Kälte.

»Ich mach mir jetzt einen schönen warmen Tee«, beschloss sie, »und dann lege ich mich auf die Lauer.«

Sielmann nickte zufrieden und wandte sich zum Gehen.

»Deine Aufzeichnungen. Könntest du sie mir überlassen?«, rief Thea ihm nach.

Er blieb stehen und betrachtete skeptisch den Ordner in seinen Händen. »Na ja. Ich geb das ungern weg. Ist schließlich wichtiges Beweismaterial.«

»Ich weiß, wie man mit so was umgeht, Bernd. Ich war mal Kriminalkommissarin.«

Sielmann riss die Augen auf. »Echt jetzt?« Er klang plötzlich heiser, als schnürte ihm etwas die Kehle zu.

»Ganz echt.«

Thea musterte ihn. War er nur überrascht oder erschrocken darüber, dass sie sich als ehemalige Gesetzeshüterin geoutet hatte? Wahrscheinlich Letzteres. Dass Sielmanns Weste nicht rein war, sah ein Blinder mit Krückstock.

»Also, wenn das so ist …« Er räusperte sich und reichte ihr den Ordner.

Thea nahm ihn an sich. »Danke, Bernd. Sobald ich etwas herausgefunden habe, sag ich dir Bescheid.«

Sie ging in ihr Parzellenhäuschen zurück, zog die Tür hinter sich ins Schloss und atmete tief durch. Den Ringordner warf sie auf den Tisch. Dann schlüpfte sie aus den nassen Hausschuhen und rückte den schäbigen Sessel vor den kleinen Werkstattofen, in dem die Kohlen glühten und eine wohlige Wärme abstrahlten. Sie ließ sich in den Sessel fallen, streckte die Füße aus und schloss die Augen. Auf dem Ofen stand ein Wasserkessel, der leise summte. Wäre sie eine Katze, sie hätte augenblicklich zu schnurren angefangen.

Es hatte sie einige Anläufe gekostet, den Ofen genehmigt zu bekommen. Olaf Kubelka, der neue Platzwart, liebte es, die Pächter mit ihrer eigenen Vereinssatzung zu drangsalieren. Vielleicht war das seine Art, Rache an der Gesellschaft zu nehmen. Er achtete sehr sorgfältig auf die Einhaltung der Vorschriften: Outdoor-Öfen waren erlaubt in der Kleingartenkolonie »Kleines Glück«. Indoor waren sie verboten. Kubelka kontrollierte das. Er kontrollierte alles. Die Pächter murrten, allerdings verhalten, denn er tat nur das, was sie von ihm erwarteten. Eigentlich.

Dabei sah er ganz und gar nicht aus wie ein Prinzipienreiter mit seinem langen Zopf und den vielen Tätowierungen. Thea hatte ihn schon dabei beobachtet, wie er mit dem Zollstock die Beete nachgemessen hatte. Laut Satzung durfte nur ein Drittel der Grundstücke mit Gemüse bepflanzt sein, ein weiteres Drittel mit Blumen, der Rest blieb dem Rasen vorbehalten. Thea hatte nur Rasen, besser gesagt Moos, zwischen dem sich hier und da ein Grashalm mühsam an die Oberfläche kämpfte. Im Sommer blühte alles gelb vom Löwenzahn. Auf der letzten Mitgliederversammlung hatte Kubelka das zur Sprache gebracht, wobei Thea darauf bestanden hatte, dass Löwenzahn laut botanischem Lehrbuch als Blume und Wildgemüse galt. Kubelka hatte sie seitdem beobachtet, bis Thea ihn beim Kiffen erwischt hatte.

Die Genehmigung für ihren Indoor-Ofen war da kein Problem mehr gewesen. Kubelka persönlich hatte die Satzungsänderung befürwortet.

Sie rieb ihre erfrorenen Hände über der aufsteigenden Wärme des Ofens, und langsam kehrte das Gefühl in die Finger zurück. Dann stand sie vom Sessel auf, um sich einen Becher aus dem Küchenschrank zu holen und Tee aufzugießen. Ihr Blick streifte die friesische Hummel, die an der Wand lehnte, und ließ sie innehalten. Auf dem Instrument hatte der Windmann gespielt, bevor er umgekommen war auf Spiekeroog. Sie hatte die Hummel von ihm geerbt. Thea seufzte und strich über die Saiten. Der Klang jagte ihr eine Gänsehaut über den Rücken.

Draußen bewegte sich etwas.

Sie hob den Kopf und sah aus dem Fenster. Sielmann war wieder aus seiner Hütte herausgekommen. Mit gezücktem Smartphone schritt er den Bretterzaun seines Grundstücks ab, auf der Suche nach einem weiteren Corpus Delicti, das er fotografieren konnte, um es anschließend zu archivieren. Hin und wieder sah er auf und blickte zu ihr hinüber. Offenbar wollte er kontrollieren, ob sie auf der Lauer lag. Thea ging zum Fenster und winkte ihm zu. Er winkte zurück und verschwand wieder in seinem Saloon.

In diesem Moment klingelte Theas Handy. Ihr Herz schlug schneller. Vielleicht war das ein neuer Kunde? Sie klappte das vorsintflutliche Ding von einem Mobiltelefon auf und meldete sich, wie sie es geübt hatte: »Detektei Thading, was kann ich für Sie tun?«

»Mensch, Thea, du bist ja vollkommen bekloppt! Detektei Thading, wie sich das anhört!«, schrie jemand in den Hörer.

Theas Herz tat einen Hüpfer. »Wilma. Dass du dich mal meldest. Mensch, ich freu mich. Du glaubst nicht, wie ich dein zartes Stimmchen vermisst habe.«

»Und ich erst. Wie läuft’s?«

»Na ja«, Thea holte tief Luft, »ich fange gerade erst an. Aber ich bin an was dran.«

»Du hast einen Fall? Erzähl.«

»Also … Eigentlich ist das … Wie soll ich sagen …« Sie blies verlegen Luft aus.

»Nun rück es schon raus, Mädchen!«

»Na ja. Es ist ein ziemlich verkackter Fall, um ehrlich zu sein.«

Ihre Freundin am anderen Ende der Leitung seufzte tief. »Ja, das kenn ich. Nichts geht voran, die Zeugen schweigen, der Täter ist unauffindbar, und der Geschädigte sitzt dir im Nacken.«

»So ist es.« Bevor Wilma weiterfragen konnte, drehte Thea den Spieß um. »Jetzt erzähl du mal. Wie geht es dir? Was treibst du? Jagst du Verbrecher?«

»Ich überführe fleißig Verkehrssünder und muss nicht in Supermarktcontainern nach alten Brötchen wühlen.«

Wilma Menkens lachte laut, und Thea hörte, wie sie sich auf die Schenkel schlug.

»Sag mal, Miss Marple, hast du an diesem Wochenende schon was vor?«, fragte Wilma, als sie sich wieder eingekriegt hatte.

»Nein. Doch. Wie gesagt, ich bin an diesem Fall dran«, stammelte Thea, der heiß wurde bei dem Gedanken, Wilma könnte auf die Idee kommen, sie zu besuchen. Sie würde sehen, wie sie hier hauste: in einer schäbigen Holzhütte mit einem altersschwachen Computer auf dem Küchentisch. Thea kam sich plötzlich vor wie eine Hochstaplerin.

»Ist der Fall so dringend?«, hakte ihre Freundin nach.

»Warum fragst du?«

»Na ja, ich bin Damenkönigin in meinem Schützenverein.«

»Du bist im Schützenverein? So richtig mit Schießen und Pokalen und Königswürde?«

»Höre ich da Überraschung?«

»Nein!« Thea schluckte. »Glückwunsch. Das ist toll. Aber was hat das mit mir zu tun?«

»Ich muss in diesem Jahr den Jahresausflug für unsere Damenschießgruppe organisieren und hab ein Erlebniswochenende im Gasthof ›Wilder Eber‹ in Bruchbäke gebucht. Das Kaff liegt doch ganz in deiner Nähe, oder? Bei der Gelegenheit hab ich gedacht, wir gucken mal bei dir rein. Die Flintenweiber sind ganz heiß darauf, eine echte Detektivin kennenzulernen.«

»Welche Flintenweiber?«

Wilma lachte verlegen. »Na ja, so nennen wir uns eben. Also, die Damengruppe. Wir wollten uns einen unverfänglichen Namen geben. Schützenvereine haben ja irgendwie kein gutes Image.«

»Da ist euch ja ’ne echt tolle Tarnung eingefallen.«

»Findest du? Wir haben lange überlegt, was Passendes zu finden.«

Thea ging nicht darauf ein.

»Also, was ist jetzt?«, fragte Wilma. »Wir kommen morgen so gegen Mittag und könnten vor dem Einchecken bei dir einen Kaffee trinken.«

»Ähm, ja. Das ist …« Thea rang nach Worten. Sie würde Wilma Menkens zu gern treffen. Sie mochte die ruppige Kommissarin, die ihr immerhin das Leben gerettet hatte. Aber außer ihr noch eine ganze Truppe Schützenfrauen zu empfangen, die sich unter einer Detektivin eine Art Lara Croft in einem coolen Büro vorstellten, das war zu viel des Guten.

Eine Weile war es still in der Leitung.

»Bist nicht gerade begeistert, was?«

Thea registrierte, dass Wilma enttäuscht klang. Sie gab sich einen Ruck. »Blödsinn. Natürlich habe ich Lust auf deinen Besuch. Was denkst du denn? Es ist nur … wegen dem Fall.«

Wilma brummte etwas in den Hörer. »Na ja, wenn das so ist. Ich will dich nicht stören.«

Thea schluckte und gab sich einen Ruck. »Ach was! Sollen doch alle Hunde dieser Welt vor Little Joes Ponderosa kacken, mir soll’s egal sein. Ich freu mich riesig, dich zu sehen. Allerdings ist meine Hütte ein bisschen zu klein für einen ganzen Trupp Flintenweiber.«

2

Als Thea einen Tag später ihr Fahrrad aus dem Schuppen holte, wartete Sielmann bereits am Zaun. »Na? Gibt es schon Erkenntnisse?«

Der hatte ihr gerade noch gefehlt. Sie wollte sich eben auf den Weg nach Bruchbäke machen, denn sie war mit Wilma übereingekommen, dass sie sich besser im Gasthof trafen.

»Nein«, antwortete sie knapp, stieg auf und ließ ihren Nachbarn einfach stehen.

»He! Warte doch mal! Wohin fährst du? Hat das mit meinem Fall zu tun?«, rief er ihr nach.

Sie bremste hart, kam schlingernd zum Stehen und drehte sich zu ihm um. »Entschuldige mal, aber es geht dich nichts an, wo ich in meiner Freizeit hinfahre.«

Sielmann joggte zu ihr hin. »Das geht mich sehr wohl was an«, motzte er. »Wie kommst du darauf, dass du Freizeit hast? Ich hab dir einen Vorschuss gezahlt. Da kannst du nicht einfach alles stehen und liegen lassen am helllichten Tag und blaumachen.«

»Vielleicht muss ich mal was einkaufen?«

»Und wenn in dieser Zeit der Täter vorbeikommt?«

»Dann gibst du ihm was zu fressen und bindest ihn so lange an, bis ich zurück bin, um ihn zu verhaften.« Thea stieg wieder auf und trat so wütend in die Pedale, dass der Kies spritzte.

Sie schätzte, dass sie bis nach Bruchbäke eine gute halbe Stunde brauchte. Eigentlich musste sie nur an der Autobahn entlangfahren, denn die führte direkt durch das ehemalige Bauerndorf am Rande der Stadt hindurch. Als Kind war Thea des Öfteren im Bruchbäker See baden gegangen, zusammen mit Friedjof, ihrem missratenen Zwillingsbruder, der in die rechte Szene abgedriftet war, während sie Polizistin wurde. Das Leben schlug manchmal seltsame Kapriolen. Aber das war alles lange her. Von ihrer Familie lebte niemand mehr.

Sie ließ die Stadt hinter sich und fuhr über Feldwege an Weiden und Waldstücken vorbei. Zwischen den Bäumen entdeckte sie den See. Um diese Jahreszeit war er verlassen. Ohne den Autobahnlärm wäre es hier fast idyllisch gewesen. Hier und da tauchten alte Bauernhäuser auf, einige mit Reet gedeckt, andere halb verfallen und unbewohnt. Tiefe Gräben, die das feuchte Gelände entwässerten, säumten die Wege. Schlaglöcher so tief wie der Grand Canyon zwangen Thea zu wilden Slaloms, und einige Male wäre sie fast gestürzt. Das Oldenburger Land war eine Sache für sich, und Bruchbäke war einer der vielen vergessenen Orte, von denen eigentlich nur noch der Name existierte. Thea wunderte sich, was Wilma Menkens bewogen hatte, einen Ausflug ausgerechnet in diese Einöde zu machen. Sie hatte sogar von einem Erlebniswochenende gesprochen. Was um Himmels willen gab es zwischen Maisfeldern, Kuhweiden und Autobahn zu erleben?

Als Thea vor dem Gasthof vom Rad stieg, verstand sie jedoch, was die Flintenweiber hierhergeführt hatte. Mitten in der Pampa, zwischen alten Eichen und Buchen, stand ein auf den ersten Blick gepflegtes Gasthaus. Die weiß verputzte Fassade konnte jedoch, wenn man genau hinsah, dringend frische Farbe gebrauchen. Den Eingang säumten zwei riesige Blumenkübel, in denen Koniferen wuchsen, dazwischen ein Standaschenbecher, stiller Zeuge davon, dass sich Gäste in diese gottverlassene Gegend verirrten. Eine riesige Werbeplane, die am Balkon im ersten Stock angebracht war, verriet, warum das so war. Sie zeigte einen Kerl, grobschlächtig und mit Jägerhut und Kochschürze bekleidet. In der einen Hand hielt er eine Flinte, in der anderen einen toten Fasan. Er lächelte wie Hans Albers, spöttisch und ein wenig überheblich.

Thea las, was daneben geschrieben stand:

Der wilde Willi

Wirt und Alleinunterhalter im Gasthof »Wilder Eber«

Wildgerichte aus eigener Jagd

Erlebniswochenenden während der kulinarischen Wildwochen

vom 15. Oktober bis zum 30. November

Noch während Thea den wilden Willi betrachtete, wurde die Eingangstür aufgerissen, und jemand stürzte auf sie zu. Thea ließ das Rad los, es fiel auf den Boden, denn sie fand sich in einer Umarmung wieder, die ihr sämtliche Luft aus den Lungen quetschte.

»Wilma«, keuchte sie, nachdem die große Frau sie losgelassen hatte.

»Mensch, Thading!« Ihre Freundin schlug ihr so heftig auf die Schulter, dass Thea fast in die Knie ging. »Pünktlich wie die Bahn. Ich freu mich so, dich zu sehen.« Sie grinste über das ganze Gesicht.

»Darum musst du mich nicht gleich zermalmen und in den Boden stampfen«, keuchte Thea und richtete ihre Jacke.

»Du bist einfach zu spiddelig. Hast nix auf den Rippen, Mensch!«

»Kannst mir ja was von dir abgeben.« Thea wusste, dass Wilma ihr die Bemerkung nicht verübelte, denn die Kommissarin gehörte zu der Sorte von Frauen, die ihre Leibesfülle mit Stolz trugen.

»Du siehst tatsächlich aus, als könntest du eine richtige Mahlzeit gebrauchen«, bemerkte Wilma und musterte Thea von oben bis unten. Die bückte sich etwas beschämt und hob ihr Fahrrad auf.

»Du bist mager wie eine verhungerte Katze.«

»So bin ich eben.«

»Und ich bin Queen Mum. Sei ehrlich. Die Detektei läuft nicht so, wie du gehofft hast, oder?«

Thea zuckte nur mit den Schultern.

»Brauchst du Geld?«

»Nein«, log sie und sah dabei zu Boden. »Ich komme klar.«

»Weißt du was?«, sagte Wilma. »Wir laden dich zum Essen ein. Die Flintenweiber sind schon ganz gespannt auf dich. Du magst doch Wildschwein?«

»Ja, schon …«, murmelte Thea und deutete auf die Werbeplane über ihren Köpfen. »Hat der Willi da das Wildschwein erlegt?«

»Natürlich.«

»Ziemlich wilde Angelegenheit hier, was?«

»Deshalb sind wir gekommen. Je wilder, desto besser.«

Vielleicht hätte ich die Flintenweiber doch zu mir einladen sollen, schoss es Thea durch den Kopf. Schließlich wohnte sie gleich neben Little Joes Ponderosa, die hätte ihnen sicher gefallen. Zumindest denjenigen, die »Bonanza« noch aus dem Fernsehen kannten. Thea vermutete, dass die Flintenweiber allesamt in diesem Alter waren, also um die fünfzig. Thea seufzte. In zwei Jahren würde sie das halbe Jahrhundert auch voll haben.

Ohne weiter zu fragen, zog Wilma sie in die Gaststätte hinein und schob sie durch einen langen, düsteren Flur in Richtung Clubzimmer. Sie kamen an der Küche vorbei, aus der ein Duft von Rotkohl und Braten drang. Theas Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und ihr wurde kurz schwindlig. Sie blieb stehen, um sich zu sammeln.

»He! Passen Sie doch auf!«, blaffte sie jemand an.

Thea sprang erschrocken zur Seite und ließ einen Schrank von Kerl vorbei, der ein Bierfass schleppte.

»Ist das der wilde Willi?«, flüsterte sie.

Wilma nickte. »Ja, das ist der Inhaber hier. Willi Kieske. Moment mal. He, Chef!«, rief sie ihm nach. »Bei uns kommt noch ’ne Portion mehr dazu. Für die Flintenweiber aus Wittmund. Sie wissen schon.«

Der Wirt brummte etwas in seinen Bart, nickte und verschwand dann eilig mit dem Fass in der Gaststube.

»Der alte Bruddelpott will Alleinunterhalter sein?«, fragte Thea skeptisch.

»Er war immerhin schon im Fernsehen mit seinen Döntjes. Beim NDR. Hast du das nicht gesehen?«

»Nein. Ich hab nur Radio.«

Wilma öffnete die Tür zum Clubraum. Lautes Frauenlachen brandete ihnen entgegen. An einem festlich gedeckten Tisch saßen die Flintenweiber aus Wittmund. Dem Lärm nach mussten es mindestens hundert sein, aber es waren nur zehn, wie Thea zählte. Sie amüsierten sich offenbar gerade köstlich. Als Wilma mit Thea hereinkam, blickten sie auf und sahen ihnen erwartungsvoll entgegen.

»Das hier«, sagte Wilma stolz und schob Thea vor sich her, »ist Thea. Ich hab euch von ihr erzählt. Ihr wisst schon. Die Meisterdetektivin.«

Thea spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie hob beschämt die Hand. »Na ja, das mit der Detektivin kommt hin, aber der Meister davor, der ist ein bisschen übertrieben.«

Wilma legte den Arm um sie, was Thea fast zu Boden warf. »Sie ist immer so bescheiden. Was ist, Mädels? Ich hab sie eingeladen, mit uns zu essen. Seid ihr einverstanden? Gibt unsere Kasse das her?«

Eine der Frauen stand auf. Sie überragte Wilma, die nicht eben klein war, um einen Kopf. Thea fiel auf, dass die übrigen Frauen ebenfalls nicht gerade zierlich waren. »Club der Walküren« hätte auch als Deckname gepasst, dachte sie.

»Wilmas Freunde sind auch unsere Freunde«, dröhnte die Stimme der Riesin durch den Raum. »Die Flintenweiber aus Wittmund begrüßen Thea mit einem dreifachen«, an dieser Stelle stimmten die Übrigen schmetternd in den Schlachtruf der Schützen ein, »gut Schuss! Gut Schuss! Gut Schuss!«

Bevor sich Thea versah, hatte Wilma sie auf einen freien Stuhl gedrückt und an den Tisch geschoben. Sie wollte protestieren, aber Wilma ließ ihr keine Zeit.

»Wir brauchen noch ein Gedeck!«, rief sie der Bedienung zu.

»Kommt sofort«, antwortete die junge Frau, die mit ihrem Outfit genauso wenig in das rustikale Ambiente vom »Wilden Eber« passte wie Kubelka in einen Kleingartenverein. Zwar trug sie Gesundheitsschuhe und eine Kellnerschürze, aber auch Piercings im Gesicht und ein Tattoo am Hals. Es war eine rote Rose. Sie hatte anscheinend versucht, ihre dünnen Haare blau zu färben, was irgendwie misslungen war, jedenfalls schillerten an vielen Stellen grüngräuliche Flecken durch. Ihre Augen hatte sie mit Kajal dick umrandet, doch sie lächelte schelmisch, was Thea gefiel. Als sie aus dem Raum hinauseilte, um noch ein Gedeck zu holen, wäre sie fast gegen den Türrahmen gerannt. Die Frauen kicherten.

»Ist die auch Alleinunterhalterin?«, fragte Wilma.

»Ne. Die übt noch«, sagte die Riesin, »ich glaub, das ist die Tochter vom Chef.«

»Scheint ’n bisschen Stress zu haben gerade.«

»Nebenan ist noch ’ne Wildgesellschaft.«

»Läuft wohl gut, der Laden«, mischte Thea sich ein.

»Kennst du den ›Eber‹ nicht?«, fragte Wilma überrascht. »Du wohnst doch ganz in der Nähe.«

»Ich gehe selten essen.«

Die Bedienung kam zurück und schob ihr einen Teller unter die Nase. »Gläser kommen gleich.«

»Messer und Gabel wären auch hilfreich.«

»Oh, ja! Sorry.«

Thea lächelte ihr mütterlich zu. »Tut mir leid, dass ich hier einfach so reingeschneit bin.«

»Ist schon okay.«

»Nun erzähl mal. Wie ist das so als Detektivin?«, fragte eine Stimme, als die Bedienung wieder fort war.

Thea zuckte zusammen. Es war die Riesin, die sie das fragte. Als sie in die Runde blickte, bemerkte sie, dass auch die anderen Flintenweiber erwartungsvoll zu ihr herschauten. Sie sollte jetzt etwas Cooles sagen. Dass sie an einem Entführungsfall dran war oder einen VIP beschattete, weil seine Frau vermutete, dass er fremdging. So was in der Art. Thea spürte, wie ihr die Luft wegblieb. Wahrscheinlich war es tausendmal spannender, auf dem Schießstand auf Pappschildchen zu zielen, als auf die Halter kackender Hunde zu warten. Sie lachte amüsiert auf und wusste selbst nicht genau, warum.

Die Flintenweiber deuteten ihre Zurückhaltung falsch. »Du brauchst keine Angst zu haben, dass wir es irgendjemanden weitererzählen.«

»Nein. Wir schweigen wie ein Grab.«

Als ob sie dies beweisen wollten, fingen sie schon mal damit an. Stumm und voller Erwartung saßen sie da und warteten auf Theas spektakulären Bericht.

Die Sekunden verrannen, und ihr fiel rein gar nichts ein, was sie ihnen erzählen konnte. Kalter Schweiß trat ihr aus den Poren. Nach langer Zeit rührte sich wieder das Angsttier. Die alte Panik hob den Kopf und brüllte. Wenn Thea zuließ, dass es sich befreite, würde es sie vor aller Augen in ein Häufchen Elend verwandeln. Und das vor einer Truppe Flintenweiber, die eine Heldengeschichte von ihr hören wollten.

»Scheiße. Ich glaub … ich muss mal«, würgte sie hervor und stemmte sich vom Stuhl hoch.

In diesem Moment kam die Bedienung mit einem Glas und dem Besteck. Thea war so schnell auf den Füßen, dass sie es ihr aus der Hand schlug.

»Pass doch auf!«, rief die Blauhaarige, als Messer und Gabel zu Boden fielen.

»Entschuldigung«, nuschelte Thea und rannte hinaus.

»Bringen Sie uns eine Runde Jägermeister«, hörte sie Wilma sagen. Sicher ahnte die, was mit ihr los war. Sie hatte die Panikattacken schon auf Spiekeroog miterlebt.

Thea lief den düsteren Flur entlang und entdeckte am Ende die beiden Türen mit den Zeichen für Männlein und Weiblein. Sie stürzte in die Damentoilette und beugte sich über eines der Waschbecken. Gott sei Dank war sie allein hier. Ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht, das würde das Tier besänftigen.

Sie atmete ein paarmal tief durch und suchte den Wasserhahn. Eigentlich war es eher ein einsames Rohr, ohne Drehknauf und Hebel. Wo zum Henker stellte man hier das Wasser an? Hektisch suchte Thea das Becken und die Umgebung nach einer Vorrichtung ab, die Wasser zum Fließen bringen konnte, aber da war nichts.

Sie kniete sich auf den Boden. Vielleicht gab es ein Pedal, wie früher in der Bahntoilette, auf das man treten musste? Fehlanzeige. Sie stand wieder auf und beugte sich tief in das Becken, um den Wasserhahn von unten abzusuchen. Der Strahl traf sie mitten ins Gesicht.

»Das funktioniert mit Sensor. Du musst nur die Hand drunterhalten, dann läuft’s«, erklärte jemand.

Thea richtete sich langsam auf. Die Haare klebten ihr nass im Gesicht, und sie triefte. Aber das Tier war in seinen Käfig zurückgeflohen. Dafür sah sie jetzt aus wie eine Vogelscheuche.

Wilma reichte ihr einen Streifen Kaugummi. »Hier. Das hilft doch, oder? Hab ich so in Erinnerung.«

»Danke. Nicht mehr nötig.«

Wilma schob ihr dennoch die Packung in die Hosentasche. »Fürs nächste Mal.«

Thea rieb sich mit dem Ärmel notdürftig das Gesicht trocken, denn der Handtuchspender sah ebenfalls sehr modern aus, und sie wollte sich nicht noch einmal blamieren. Aber Wilma hielt ihre Hand für sie schon vor einen unsichtbaren Sensor. Der Spender begann zu summen und spuckte ein winziges Papiertuch aus. Thea nahm es vorsichtig an sich. Wie sollte sie sich damit abtrocknen?

»Ich glaub, ich werde zu alt für diese Welt«, seufzte sie und wischte sich damit über das Gesicht. Das Tüchlein schrumpfte sofort zu einem Pappmascheeklumpen zusammen.

Wilma zog einen Kamm aus ihrer Hosentasche. Sie reichte ihn Thea. »Hier. Mach dich hübsch. Die Suppe ist im Anmarsch, und die Damen warten auf uns.«

»Tut mir leid, dass ich dir den Nachmittag versaut habe.«

Wilma Menkens lachte auf. »Da gehört schon mehr dazu als ein kleiner Schwächeanfall. Und jetzt komm. Nach dem Hauptgang tritt der wilde Willi auf. Das musst du sehen. Du machst dich nass vor Lachen, das verspreche ich dir.«

»Schon erledigt«, knurrte Thea leise und kämmte sich die Strähnen aus dem Gesicht.

Die Suppe stand in einer riesigen Terrine mitten auf dem Tisch und dampfte. Neben den Tellern fand sich jeweils ein Schnapsglas, das mit einer dunkelbraunen Flüssigkeit gefüllt war, die nach Kräutern duftete.

»Wir haben auf euch gewartet«, empfingen die Flintenweiber sie ungeduldig.

»Bist du ins Klo gefallen?«, fragte die Riesin und musterte Thea ausgiebig.

»Lass gut sein, Gisela«, unterbrach Wilma sie und hob ihr Schnapsglas, »wir wollen endlich anstoßen.«

»Nicht lang schnacken, Kopp in ’n Nacken!«, kam es wie aus einer Kehle. Alle kippten den Likör hinunter. Als das erledigt war, taten sich die Frauen Suppe auf.

Thea zögerte. Der Geruch von fetter Brühe und Fleisch drang ihr in die Nase. Ihr ausgehungerter Magen knurrte laut.

»Nun mach schon, wird ja alles kalt«, sagte Wilma, die sich gerade den eigenen Teller füllte. »Lang zu!«

Sie tat, wie ihr geheißen. Die Gespräche erstarben. Löffel klapperten auf Porzellan. Thea blickte unentschlossen auf ihren Teller. In der Brühe schwammen Fleisch, Porree und Eierstich. Sie tunkte den Löffel hinein und nippte vorsichtig daran. Sie war so hungrig, dass sie Angst hatte, sich übergeben zu müssen, wenn sie jetzt aß, aber es schmeckte herrlich. Und was noch besser war: Mit jedem Bissen hob sich ihre Laune. Ihre anfängliche Zurückhaltung schmolz dahin. Der eine oder andere Likör tat sein Übriges, und schließlich beteiligte sich Thea ausgiebig an dem Gespräch der Frauen.

Nach der Suppe gestand sie den anderen, dass sie verbotenerweise auf einer Parzelle im Kleingartenverein lebte, und beim köstlichen Wildgulasch mit Pfifferlingen berichtete sie von ihrem Nachbarn Little Joe und seiner Ponderosa. Als sie beim Herrenpudding angekommen waren, gab sie einige Details aus dem Hundekotfall zum Besten. Die Flintenweiber fanden das urkomisch und amüsierten sich prächtig. Als schließlich der wilde Willi auf die Bühne trat, waren sie fast ein wenig enttäuscht. Er würde es schwer haben, Theas Geschichten zu toppen.

Vielleicht griff er deswegen gleich zu Beginn seiner Darbietung zu drastischen Maßnahmen und warf einen toten Fasan auf den Tisch. Einige Frauen kreischten auf, die Übrigen nahmen es eher gelassen, so wie Thea, die mit derlei Scherzen wenig anfangen konnte. Er trug einen grünen Jägerhut mit Gamsbart und altmodische Kniebundhose mit Gamaschen, was wohl komisch sein sollte, und die Flintenweiber fassten es auch so auf.

»Habt ihr alle schön aufgegessen?«, fragte er in die Runde.

Thea fühlte sich unangenehm berührt von dieser Ansprache. Sie war kein Kindergartenkind mehr.

»Dann habt ihr jetzt alle gute Laune?«, fuhr der wilde Willi fort.

Die Frauen bejahten.

»Ich hab auch gute Laune«, bestätigte der Wirt, »und wisst ihr, warum? Weil ihr brav die Teller leer gegessen habt.«

»Deshalb scheint morgen die Sonne!«, rief Gisela laut.

»Wisst ihr denn, warum euer Braten keine Federn hatte?«

»Ist das hier ein Quiz?«, warf Wilma ein.

Der wilde Willi überging den Einwurf. »Na? Weiß es jemand von den Damen?«

»Weil du das Wildschwein vorher gerupft hast?«

»Nein, weil ich kurzsichtig bin.«

Die Frauen hielt es kaum auf den Stühlen, aber Thea verstand den Witz nicht. Dennoch lachte sie mit und trank ausgiebig vom Korn, der im Kreis herumgereicht wurde, und mit jedem Schluck wurde der wilde Willi lustiger. Ganz unvermittelt griff er nach seiner Flinte und legte an. Die Frauen juchzten, und er nahm sie ins Visier.

»Hier scheinen mir ein paar schöne Mastputen dabei zu sein, wenn ich das richtig sehe.«

»Setz deine Brille auf«, gluckste Wilma.

»Jetzt sag schon! Warum hatte das Schwein keine Federn?«, wollte Gisela wissen.

Der wilde Willi ließ das Gewehr sinken. »Na gut. Ich will’s euch erzählen, Mädels. Ich hab heute einen Fasan geschossen. Bei der Treibjagd. Was soll ich euch sagen? Als ich die Beute einsammeln will, ist der Fasan nackig, stellt euch das vor.«

»Haste wohl den Vogel beim Vögeln erwischt!«, rief eine.

Die Frauen kreischten auf, und Thea machte mit.

Gisela schob ihr eine frisch geöffnete Schnapsflasche hin. »Trink, damit du locker bleibst!«

Thea tat es.

In diesem Moment warf sich der wilde Willi in die Brust und setzte zur Pointe an: »Ich hab gedacht, ich hab dem Fasan wohl die Federn weggeschossen. Aber als ich ihn meiner Frau auf den Tisch lege, sagt sie: ›Wusste gar nicht, dass wir Froschschenkel auf der Speisekarte haben!‹«

Mehrere Sekunden lang war es still, dann fiel der Groschen, und das Gekreische war ohrenbetäubend. Thea liefen die Tränen über die Wange.

In dieser Art ging es weiter. Auf dem Höhepunkt des Programms führte der wilde Willi vor, dass er wie ein Hirsch röhren konnte. Einige der Flintenweiber waren kurz davor, ihm ohnmächtig in die Arme zu sinken, aber bevor das geschah, verabschiedete er sich mit einer weiteren Runde Schnaps und eilte zur nächsten Gruppe, um sie in ähnlicher Weise zu bespaßen. Das Haus war schließlich voll.

Wenn Thea richtig gezählt hatte, war es ihr sechster Kurzer, den sie in sich hineinkippte. Sie hatte innerhalb kürzester Zeit zwei Jägermeister und mehrere Gläschen Korn getrunken. Zwischendrin hatte sie überlegt, wie sie nach Hause kommen sollte, den Gedanken aber schnell beiseitegeschoben, denn so langsam fühlte sie sich hier richtig wohl.

Allerdings wurde es bald Zeit, aufzubrechen, denn der Nachmittag war fortgeschritten, und es war schon fast dunkel. Im November waren die Tage kurz. Und in der Dunkelheit würde sie die Schlaglochpiste mit dem Fahrrad kaum heil überstehen.

Thea sah aus dem Wirtshausfenster, das mit allerlei Dekoration zugestellt war. Hin und wieder knallte draußen ein Schuss, denn es war Treibjagd. Auf dem Weg zum »Wilden Eber« hatte sie die Warnschilder am Weg gesehen. Sie lehnte sich zurück. Vielleicht war es vernünftiger, das Ende der Jagd abzuwarten und dann erst loszuradeln, bevor sie ein Jäger in der Dämmerung noch mit einem Wildschwein verwechselte. Das kam immer mal wieder vor. Zur Not muss ich mir hier ein Zimmer nehmen und es dann abarbeiten. Ich könnte Wildschweine rupfen, dachte sie und kicherte.

Wilma unterbrach ihren Gedankenfluss, indem sie den Stuhl geräuschvoll nach hinten schob und sich hochstemmte. Sie blieb eine Weile so stehen, auf die Tischkante gestützt, als müsste sie ihre Standfestigkeit prüfen. Sie wirkte angestrengt und sah blass aus.

»Is was?«, fragte Thea.

»Ne. Ich muss nur mal kurz an die Luft.«

Thea musterte sie besorgt. »Soll ich mitkommen?«

Wilma schüttelte den Kopf, stieß sich von der Tischkante ab und ging mit schweren Schritten zum Ausgang.

Thea lehnte sich zurück und ließ sich treiben. Der Raum war überheizt und dampfig. Vollkommen entspannt und ordentlich angeschickert blickte sie in die Runde. Die Frauen erzählten sich ausgelassen die Witze nach, die der wilde Willi gerade von sich gegeben hatte. Sie hörte nur mit einem Ohr hin, denn ihr fielen ständig die Augen zu. Wenn sie ihren Kopf doch nur einen kleinen Moment lang auf die Tischplatte legen könnte …

Jemand rüttelte sie an der Schulter. Thea schoss hoch. Im ersten Augenblick wusste sie nicht, wo sie war.

»Weißt du, wo Wilma hingegangen ist?« Gisela hatte sich über sie gebeugt und blickte ihr ins Gesicht.

»Wilma? Warum? Was ist mit ihr?«

»Die ist schon eine ganze Zeit weg. Über eine Stunde. Wir haben gerade beschlossen, dass wir gemeinsam noch einen Absacker trinken und dann auf unsere Zimmer gehen. Morgen früh ist doch der Waldspaziergang mit dem Jägermeister.«

»Mit wem?«

»Mit irgend so einem hohen Tier von den Jägern.« Sie rollte mit den Augen. »Gehört zum Programm vom Erlebniswochenende dazu. Um vier Uhr, in aller Herrgottsfrühe, müssen wir raus.«

Thea streckte sich. »Wird bestimmt gut«, sagte sie und gähnte. Ihr Mund fühlte sich pelzig an. »Wie spät ist es?«

Gisela sah auf ihre Armbanduhr. »Kurz nach sechs.«

»Was?« Thea warf einen panischen Blick aus dem Fenster. Es war stockduster draußen. »Scheiße!«

»Was ist denn?«

»Es ist dunkel.«

Die Schützenfrau sah sie verwirrt an. »Ja, und? Im November wird es immer früh dunkel. Also, was ist? Hast du eine Ahnung, wo Wilma hinwollte? Hat sie dir was gesagt?«

Thea schüttelte den Kopf. Sie hatte andere Sorgen, als sich darüber Gedanken zu machen, wo ihre Freundin sich herumtrieb, sie war schließlich erwachsen. »Die wollte mal vor die Tür«, sagte sie, »’n bisschen frische Luft schnappen.«

»Draußen isse aber nicht.«

»Dann vielleicht aufm Klo.«

»Da haben wir auch schon gesucht.«

»Na ja, vielleicht ist sie spazieren gegangen?«

Die Flintenweiber, die ihr am nächsten saßen, lachten auf. »Wilma und spazieren gehen? Eher wird sie zur Elfe.«

Die Frauen hefteten ihre Blicke erwartungsvoll auf Thea. Wie sie es hasste.

»Du bist doch Detektivin«, sagte Gisela und spielte mit dem Salzfässchen, das auf dem Tisch stand.

»Na und?« Theas Hals schnürte sich zu, und sie spürte, wie sie rot wurde. »Ich löse Fälle von illegalem Hundekotabwurf.«

»Aber du hast doch bestimmt eine Idee, wie wir Wilma finden, oder?«

»Hat sie kein Handy dabei?«

»Sie geht nicht ran, und langsam machen wir uns Sorgen.«

Thea seufzte ergeben und erhob sich. Immerhin hatten die Damen ihr das Essen und die Getränke spendiert. »Also gut«, stöhnte sie, »ich geh ja schon.«

3

Die kühle Abendluft traf sie wie ein Faustschlag. Der Himmel war glasklar und die Luft schneidend. Es würde Frost geben. Der Mond stand tief hinter den kahlen Baumkronen. Thea schlang ihre Jacke fester um sich und sah sich um.

Der Platz vor dem Gasthof war hell erleuchtet. Etwas abseits stand eine einsame Raucherin vor dem Standaschenbecher. Sie ging auf sie zu. »Entschuldigung. Darf ich Sie etwas fragen?«

»Nur zu«, sagte die Frau bibbernd. Sie stand ohne Jacke in einer Dampfwolke und nahm einen weiteren tiefen Zug von ihrer Zigarette, als könnte der Dunst sie wärmen.

»Haben Sie hier draußen eine Frau gesehen, ungefähr ein Meter achtzig groß, kräftig gebaut, dunkelblaue Jeans?«

Die Frau sog an ihrer Zigarette und dachte nach, dann schüttelte sie den Kopf. »Ne. Hier nicht. Aber da drinnen im Clubraum, da laufen ein paar Damen rum, die auf die Beschreibung passen.«

»Ja, ich weiß. Ich gehöre zu der Gruppe.«

Die Frau musterte Thea. »Da müssen Sie aber noch ein bisschen zulegen. Wir hatten Sauerbraten von der heimischen Wildsau. Total lecker!«

»Danke, ich bin satt. Wir hatten Wildschwein in Rotweinsoße.«

»Auch nicht schlecht.«

»Hier draußen ist also keine Frau rumgelaufen, die auf die Beschreibung passt?«

Die Frau inhalierte und zuckte bedauernd mit den Schultern.

Thea ließ sie stehen. Sie ging ein paar Schritte vom Gasthaus weg und sah sich um. Wilma war nirgends zu entdecken. Es war auch kaum anzunehmen, dass sie über eine Stunde lang einfach nur in der Kälte herumstehen würde. Dennoch suchte Thea die nähere Umgebung ab. Die Frau beobachtete sie frierend, schließlich drückte sie die Kippe aus und ging in den Gasthof zurück.

Thea blieb allein draußen. Sie fühlte sich nun bleischwer, denn sie war so viele Schnäpse nicht gewohnt. Außerdem hatte sie einen unangenehmen Geschmack im Mund. Anscheinend hatte sie eine ganze Weile mit dem Kopf auf dem Tisch geschlafen. Was mussten die anderen von ihr gedacht haben? Ihr fehlte eine ganze Stunde. Was war in dieser Zeit passiert? Lag Wilma am Ende längst in ihrem Bett? Das war eine plausible Erklärung. Warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Erleichtert eilte Thea in den Clubraum zurück.

»Hat jemand auf dem Zimmer nachgeschaut?«, fragte sie Gisela, die ihr als Erste über den Weg lief.

»Beate guckt gerade«, erklärte die, »sie teilt sich das Zimmer mit ihr.«

Als besagte Beate kam, schüttelte sie jedoch den Kopf. »Hab alles durchsucht, sogar die Schränke und die Besenkammer auf dem Flur. Keine Spur von Wilma.«

»Sie wird doch nicht am Ende mit dem wilden Willi durchgebrannt sein?«, fragte Gisela.

Einige Frauen lachten verhalten, die meisten sahen aber eher besorgt aus.

»Was ist mit ihren Sachen? Sind die noch da?«, fragte Thea.

Beate nickte. Und dann sahen sie wieder alle erwartungsvoll an. Hab einen coolen Plan, dachte Thea, lass dir etwas Intelligentes einfallen! Sie klappte den Mund auf. »Also … ich geh noch mal suchen. Sie kann ja nicht weit sein.«

Was hatte sie sich da nur wieder eingebrockt? Thea umrundete fröstelnd das Gasthaus. Irgendwo musste Wilma ja stecken, wenn sie nicht entführt worden war, aber dieser Gedanke war so absurd wie ein Pferd, das Tango tanzte.

Auf der Rückseite des Gebäudes war es so dunkel, dass sie kurzzeitig fürchtete, blind geworden zu sein. Hierher hatte sich Wilma sicher nicht verkrümelt. Oder doch? Es war noch halbwegs hell gewesen, als sie nach draußen gegangen war. Vielleicht war sie, wie Thea, irgendwo eingeschlafen? Sie hatte auch viel getrunken.

Etwas quietschte.

»Wilma?«, flüsterte Thea in die Dunkelheit und tastete sich vorwärts. Sie wäre fast gegen eine Mülltonne gelaufen, wenn nicht plötzlich ein Halogenscheinwerfer aufgeflammt wäre und sie geblendet hätte. Ein Hund begann zu kläffen. Thea blieb wie angewurzelt stehen. In einem Zwinger, nur wenige Meter von ihr entfernt, tobte ein Jagdhund und sprang gegen die Gitterstäbe.

Vor dem Zwinger war jemand.

»Sitz, Caesar!«

Thea erkannte die Stimme des Wirtes sofort. Willi Kieske stand im Schatten des Hundekäfigs, in der Hand ein Gewehr. Er trug immer noch die dunkelgrüne Jagdkleidung. Nur die Knickerbocker hatte er gegen lange Hosen eingetauscht. Offenbar war er mit dem Hund unterwegs gewesen, denn er schloss gerade die Gittertür.

»Darf ich fragen, was Sie hier machen?«, blaffte er Thea an. »Das ist Privatgrundstück hier hinten.«

»Entschuldigung, ich bin auf der Suche nach –«

»Die Toiletten sind auf dem Flur.«

»Ja. Ich weiß. Ich suche auch nicht das Klo, sondern jemanden.«

»Hinter dem Haus?« Der Wirt kam auf sie zu. »Wen denn, wenn ich fragen darf?«

»Wilma Menkens.«

Er rieb sich das Kinn. »Die Chefin von den Flintenweibern da drinnen?«

»Genau die. Haben Sie sie gesehen? Sie ist schon seit über einer Stunde verschwunden.«

Der Wirt schulterte sein Gewehr und steckte die Daumen in den Hosenbund. »Hier verschwindet doch keiner«, sagte er und klang dabei ein wenig angespannt, wie Thea meinte.

In diesem Moment ging das Licht wieder aus, und Caesar begann zu kläffen. Thea wedelte mit dem Arm, und der Scheinwerfer sprang wieder an.

»Könnte sogar sein, dass ich sie gesehen hab«, bemerkte der Wirt nachdenklich.

»Wo denn?«

Er nickte in eine Richtung weg vom Hof. »Dahinten, im Maisfeld. Da hat jemand drin gesessen und gepinkelt.«

»Eine Frau?«

»Männer hocken sich nicht hin, oder?«

»Und Frauen pinkeln nicht freiwillig in die Natur, schon gar nicht bei diesen Temperaturen.«

Der Wirt verzog den Mund zu einem spöttischen Grinsen. »Die Toiletten waren wohl besetzt. Das Haus ist voll. Und wenn bei euch die Blase drückt, dann seid ihr doch nicht mehr zu halten. War schon mal mit einer Gruppe unterwegs im Reisebus nach Zwischenahn. Eine hatte so mächtig Druck«, er lachte auf, »da musste der ganze Bus von der Autobahn runter und einen Wald für sie suchen. Die Weiber sind dann alle raus und hinter den Bäumen verschwunden.« Er lachte noch lauter. »Mein lieber Herr Gesangsverein …«

»War die Frau, die Sie gesehen haben, groß und kräftig?«

»Die im Bus?«

»Nein! Die im Maisfeld.«

Der Wirt dachte einen Moment nach. »Könnte hinkommen. So genau hab ich nicht hingesehen. Man ist ja diskret.«

Der Scheinwerfer erlosch erneut. Diesmal wedelte der Wirt mit dem Arm, und es wurde wieder Licht. Er drehte sich um und stapfte in Richtung Hintereingang. »Ich muss hinter die Theke«, brummte er, ohne Thea weiter zu beachten.

»Wo waren Sie denn gerade?«, rief sie ihm nach.

»Caesar musste raus.«

»Und da nehmen Sie ein Gewehr mit? Wollten Sie Frösche schießen?«

Kieske hatte die Klinke der Tür schon in der Hand, drehte sich aber noch einmal zu Thea um. »Im Mais treibt sich ein Keiler rum, der ist gefährlich. Sie sollten auch besser reingehen.«

Thea registrierte, dass er seine Stimme erhoben hatte.

»Es ist also gefährlich hier draußen?«, hakte sie nach.

Kieske schwieg. Dann schüttelte er den Kopf und verschwand durch den Hintereingang.

Thea war mehr als mulmig zumute, wie sie da stand, allein in der Dunkelheit. Sie hatte in einem Fernsehbericht gesehen, dass Wildschweine in Berlin bis an die Häuser kamen, um in den Tonnen nach Essbarem zu wühlen. Wenn man sie reizte, konnten sie durchaus ungemütlich werden.

Es knackte, und Thea fuhr herum. Doch es war nur ein Vogel, der aus einem Busch aufgeflogen war, ein Käuzchen vielleicht. Sie sollte ins Gasthaus zurückgehen, aber die Flintenweiber erwarteten Ergebnisse. Die Auskunft, sie sei kurz hinter das Haus gegangen, ohne eine Spur von Wilma zu finden, machte sicher keinen Eindruck. Ihr blieb keine Wahl. Wenn sie sich nicht lächerlich machen wollte, musste sie zumindest noch am Maisfeld entlanggehen, dort, wo der Wirt angeblich jemanden gesehen hatte. Ihr wurde ganz flau bei dem Gedanken, dem Keiler über den Weg zu laufen. Schliefen Schweine eigentlich in der Nacht? Thea hoffte es, obwohl sie sich dunkel entsinnen konnte, irgendwo einmal gelesen zu haben, dass diese Tiere nachtaktiv und zudem äußerst intelligent waren.

Sie tastete sich vorsichtig um das Haus herum und stand schließlich wieder auf dem erleuchteten Platz vor dem Standaschenbecher. Die einsame Frau war auch wieder da und dampfte vor sich hin. Wie es schien, rauchte sie Kette, oder es war ihr einfach nur langweilig. Die Temperaturen waren inzwischen unter den Nullpunkt gesunken, und so dampfte sie bibbernd den Aschenbecher an, als müsste sie ihm ein Rauchopfer bringen.

»Na? Ist sie wieder aufgetaucht?«, fragte die Frau und inhalierte tief.

»Nein.«

»Wenn ich jemanden sehe, der verloren herumirrt, sag ich Bescheid.«

»Danke.«