Der letzte Weihnachtsmann - Helga Bürster - E-Book

Der letzte Weihnachtsmann E-Book

Helga Bürster

4,8

  • Herausgeber: Emons Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Polizist Elmar Windig darf endlich der Gilde der Weihnachtsmänner beitreten und tauscht überglücklich die Polizeiuniform gegen einen roten Mantel. Doch schon am ersten Abend stirbt ein Gilden-Mitglied gewaltsam, und jeden Tag folgt ein weiterer Mord. Steckt der Verein der Christkinder dahinter, mit dem die Gilde seit Langem verfeindet ist? Elmar Windig muss es herausfinden, bevor die Weihnachtsmänner komplett ausgerottet sind.

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Seitenzahl: 321

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Helga Bürster, Jahrgang 1961, kommt aus Dötlingen. Nach dem Studium verschlug es sie nach Süddeutschland, wo sie Theaterwissenschaft, Literaturwissenschaft und Geschichte studierte. Seitdem lebt sie vom Schreiben und Geschichtenerzählen. Mit ihrer Familie wohnt sie seit 1995 wieder im Norden und schreibt Kriminalromane, historische Romane, Hörspiele, Theaterstücke und Reiseliteratur.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2015 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/bit.it Umschlaggestaltung: Nina Schäfer Lektorat: Jutta Schneider eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-902-8 Ein Weihnachtskrimi Originalausgabe

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Dieses Buch ist meiner Mutter und Susanne gewidmet.Danke für die tollen Plätzchenrezepte.

Personenverzeichnis

Elmar Wind: Kontaktbereichsbeamter in Neuburg und Gildeweihnachtsmann

Julia Herrmann: Elmars Dienststellenleiterin

Fredo Petter: Kommissar, Mordkommission

Dr.Karl: Rechtsmediziner

Volker Brunn: Polizeipräsident

Dr.Heiner Klardorf: Inhaber des Kaufhauses Klardorf

Dr.Maschmann: Psychologe

Victor Heinissen: Vorsitzender des Verbandes der Bestatter

Die Gilde

Ingo Addicks: Redakteur beim Neuburger Boten

Paul Bellermann: Museumsleiter in Rente

Bernd Brammstede: Wirt vom Neuburger »Ochsen«

Luigi Caletti: Inhaber des Eissalons »Venedig«

Antonio di Silva alias Eugen Schaf: ehemaliger Schauspieler

Klaus Eilers: Tierarzt

Dr.Ulf Fangmann: Urologe

Odo Fokken: Kapitän aus Friesland

Joseph Frommel: Marketingbeauftragter

Noah Grantler: Meibachs Partner, Werbedesigner

Friedhelm Hammberger: Callcenterchef

Erhard Hilfers: Stadtarchivar

Herbert Janssen: dienstältester Weihnachtsmann der Gilde

Jürgen Koops: Bauamtsleiter

Martin Kranzler: ehemaliger Schulleiter am Gymnasium

Hans-Georg Kühling: Bäckermeister

Professor Dr.Franz Lehr: Richter in Rente

Christian Meibach: Werbefachmann

Albert Tiedjohanns: ehemaliger Pastor

Konstantin von Leuchtenberg: alter Adel

Leander von Ohmstedt: Opernsänger

René Wagner: Inhaber des Neuburger Weihnachtshauses

Fabian Zimpel: Zooleiter

Verein der Christkinder

Vanillekipferl

Zutaten:

300 g Mehl

50 g gemahlene Mandeln

50 g gemahlene Haselnüsse

100 g Zucker

1Prise Salz

200 g kalte Butter

2Eigelbe

5Päckchen Vanillinzucker oder 40g selbst gemachter Zucker(Eine Vanilleschote aufschneiden, ausschaben und Vanillemark mit Schote in circa 200g weißen Zucker legen– als Gefäß eignet sich gut ein leeres Marmeladenglas–, drei Tage durchziehen lassen, fertig. Der Zucker hält sich sehr lange.)

½Tasse Puderzucker

Zubereitung:

1. Das Mehl mit den Mandeln, den Haselnüssen, Zucker und Salz vermischen. Mit der Butter(in Flöckchen) und den Eigelben gleichmäßig verkneten. Den Teig in Folie eingewickelt zwei Stunden im Kühlschrank ruhen lassen.

2. Den Backofen auf 180Grad (Ober-/Unterhitze) vorheizen. Das Backblech mit Backpapier auslegen. Den Teig zu fingerdicken Röllchen formen, diese in circa 4Zentimeter lange Stücke schneiden und zu Hörnchen formen.

3. Im vorgeheizten Ofen 10 bis 12Minuten goldgelb backen. In der Zwischenzeit Vanillinzucker und Puderzucker vermischen. Die noch warmen Kipferl darin wälzen und abkühlen lassen.

1.Dezember

Als draußen der 1.Dezember heraufdämmerte, schaltete Elmar Wind den elektrischen Minikamin ein. Er rieb die klammen Hände vor dem künstlichen Feuer. Wieder einmal funktionierte die Heizung nicht.

Er sah aus dem Fenster. In der Fußgängerzone hasteten die Leute mit hochgezogenen Schultern und aufgeschlagenen Kragen zur Arbeit. Kalter Nieselregen, vermischt mit einzelnen Schneeflocken, trieb die Menschen in ihre warmen Büros. Aber Elmar konnte heute nichts die gute Laune verderben. Er pfiff ein fröhliches »Alle Jahre wieder« vor sich hin.

Die Geschäfte würden erst in einer halben Stunde öffnen, doch Elmar war heute extra früh gekommen. Seit Wochen hatte er auf diesen Moment hingearbeitet, und nun war– so hoffte er– endlich alles perfekt. Er legte den Zeigefinger auf den roten Schalter der voll belegten Mehrfachsteckdose, dann holte er tief Luft und drückte. Es wurde Licht.

Wohlige Schauer erfassten ihn. Langsam drehte er sich einmal um seine eigene Achse, um sein Werk zu betrachten. Eine Krippe mit dem üblichen Personal samt Ochs’ und Esel, drei Lichterbögen mit verschiedenen Motiven, fünf Kunststoffsterne in unterschiedlichen Größen, von denen zwei die Farbe wechseln konnten, ein künstlicher Weihnachtsbaum, in dessen Zweigen winzige LED-Leuchten steckten, und unzählige Lichterketten, -netze und -schläuche, von milde schimmernd bis schrill blinkend, verwandelten das Büro des Kontaktbereichsbeamten Elmar Wind in ein bunt leuchtendes Weihnachtszimmer.

Die Krönung all dessen war Rudi: ein künstlicher Elchkopf in Originalgröße, dessen Augen und Geweih in verschiedenen Farben erstrahlten. Elmar hatte ihn bei eBay ersteigert. Rudi hing an der Wand direkt hinter dem Schreibtischstuhl und ragte, wenn Elmar dort saß, über seinen Kopf hinweg. Das hatte den Vorteil, dass er nur den Arm heben musste, um Rudis Maul zu kraulen, denn dann begann der Elch zu singen: »Rudolph, the red-nosed reindeer«. Leider beherrschte der Tierkopf nur dieses eine Lied, aber Elmar liebte es, und deshalb setzte er sich jetzt feierlich auf seinen Stuhl und streichelte Rudi.

Während der sang, zog Elmar eine der Schreibtischschubladen auf, nahm einen Schuhkarton heraus, der schon leicht vergilbt war, stellte ihn vor sich hin und hob behutsam den Deckel. Etwas aus rotem Stoff lag darin, in Seidenpapier gewickelt. Elmar nahm es heraus, entfaltete es und strich den Stoff glatt. Es war eine Weihnachtsmannmütze, allerdings nicht irgendeine, sondern eine ganz besondere. Sie war aus rotem Filz gewirkt, mit einem Rand aus weißem Kaninchenfell, und an der Spitze hing ein goldenes Glöckchen. Die Mütze hatte einst seinem Vater gehört, der früher Mitglied in der ehrenwerten Gilde der Weihnachtsmänner gewesen war, was in Neuburg als ganz besondere Ehre galt, die nur wenigen honorigen Bürgern zuteilwurde.

Elmar wäre selbst gern ein Mitglied der Gilde und brachte fast alle Voraussetzungen mit, bis auf die Honorigkeit. Im Gegensatz zu seinem Vater, der stellvertretender Bürgermeister gewesen war, hatte Elmar es nur bis zum einfachen Polizeimeister gebracht. Um genau zu sein, zum Kontaktbereichsbeamten in der Neuburger Geschäftsmeile. Sein Büro befand sich in einem ausrangierten und eigens für diese Zwecke hergerichteten Schaufenster des Kaufhauses Klardorf, gleich neben der neuen Winterkollektion. Hier nahm Elmar Vermisstenmeldungen für Portemonnaies, Handys, Hunde, Omas, Ehemänner und Kinder entgegen.

Seine Dienststellenleiterin Julia Herrmann hatte als Begründung für seine Verbannung hierher irgendetwas von Bürgernähe gefaselt, aber Elmar wusste sehr wohl, dass sie ihn schrullig fand. Ein Kerl von Anfang fünfzig, der noch im Jugendzimmer seines Elternhauses wohnte, ein Weichei eben. Dabei gab es viele Gründe dafür, dass er niemals weggezogen war. Einer davon war die lange Krankheit seiner Mutter gewesen. Ein zweiter, dass er es gern überschaubar und gemütlich hatte. Ein dritter und wahrscheinlich alles entscheidender Grund war die Tatsache, dass er nichts mehr liebte als das Neuburger Weihnachtsfest. Wo sonst gab es so einen schnuckeligen Markt mit vierundzwanzig echten Weihnachtsmännern? Auf der ganzen Welt nicht. Seine Begeisterung ging so weit, dass er sich äußerlich schon dem Aussehen eines Weihnachtsmanns angepasst hatte– mit seinem langen Bart und dem runden Bauch. Außerdem hoffte er insgeheim immer noch, irgendwann in die Gilde der Weihnachtsmänner aufgenommen zu werden.

In den Wochen, die nun vor ihm lagen, würde Elmar es seiner Chefin nicht nachtragen, dass sie ihn in ein Schaufenster ausgelagert hatte. Im Gegenteil: Hier konnte er seiner Weihnachtsleidenschaft freien Lauf lassen, ohne den Hohn und Spott seiner Kollegen ertragen zu müssen.

»Ho, ho, ho«, flüsterte Elmar zufrieden, setzte die Mütze auf und stellte die leere Schachtel zurück. Ob mit oder ohne Gilde, Elmar Wind war bereit. Weihnachten konnte kommen.

Er winkte einem Jungen zu, der vor der Scheibe stehen geblieben war und sich die Nase daran platt drückte.

»Mama, guck mal, der Weihnachtsmann«, rief der Kleine aufgeregt.

Seine Mutter schüttelte genervt den Kopf. »Das ist doch nur ein Polizist mit roter Mütze. Und jetzt komm endlich.«

Elmars Lächeln verblasste. Die Eltern von heute waren so nüchtern. Aber er würde allen beweisen, dass es den Weihnachtsmann und den Zauber der Weihnachtszeit sehr wohl noch gab. Vorher hatte er jedoch noch ein, zwei Dinge zu erledigen. Als Erstes schloss er seine Dienstwaffe im Schreibtisch ein, denn ein Weihnachtsmann war höchstens mit einer Rute bewaffnet. Dann hob er seine Arbeitstasche auf den Schoß und öffnete sie. Ein intensiver Duft nach Vanille und Butter strömte daraus hervor, stieg ihm in die Nase und ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Feierlich holte er die Plätzchendose heraus.

Elmar nahm ein butteriges Vanillekipferl und schob es sich in den Mund. Mit geschlossenen Augen ließ er das Gebäck auf der Zunge zergehen. Seine Geschmacksnerven explodierten. Er meinte sogar, die Zutaten einzeln herausschmecken zu können: feines Weizenmehl, viel gute Butter, Eier von glücklichen Hühnern, Vanillezucker, selbst gemacht natürlich, und dann, als Krönung, einen Hauch von Puderzucker. Er seufzte leise. Das war besser als jeder Sex– wobei Elmar sich hier nur marginal auskannte, denn seine Erfahrungen auf diesem Gebiet reichten nicht sehr weit. Wie auch immer: Die Plätzchen waren ihm nie besser gelungen.

Gestern Abend hatte er das erste Mal in diesem Winter in seiner Küche gestanden und gebacken. Das würde in den nächsten Wochen seine allabendliche Beschäftigung sein, und zwar zu weihnachtlicher Musik. Wie auf Kommando stimmte gerade ein Kinderchor das schöne Lied »Süßer die Glocken nie klingen« an. Elmar warf einen leicht genervten Blick zur Decke und zu dem Lautsprecher, der fälschlicherweise noch hier verblieben war. Zwar mochte er Weihnachtslieder, aber nicht in dieser Lautstärke und vermischt mit Durchsagen von »Emma sucht ihre Mutti« bis hin zu den neuesten Rabattaktionen.

Elmar schob sich ein weiteres Kipferl in den Mund, schloss die Dose und schob sie weit von sich. Diese Ration musste schließlich für den ganzen Tag reichen, und das Kaufhaus öffnete gerade erst seine Tore.

»’s ist, als ob Engelein siiingen«, krähte es aus hundert jungen, hoffnungsvollen Kehlen, die Elmar für den Moment mit der Lautsprechermisere versöhnten. Er lächelte und verstaute seine Tasche wieder unter dem Schreibtisch. Alles in allem begann der Advent recht verheißungsvoll, und nur eines musste noch getan werden, damit alles perfekt war. Noch fehlte nämlich das i-Tüpfelchen, der Schnee. Er kramte aus seiner Arbeitstasche eine Sprühflasche hervor, die er kräftig schüttelte. Im Inneren klackte es metallisch. Er stand auf, wobei er darauf achtete, Rudi nicht zu rammen. Dann trat er ans Fenster, bückte sich und sprühte weißen Kunstschnee auf die untere Hälfte, sodass es aussah, als hätten sich Flöckchen dort abgesetzt.

Als er zufrieden mit seinem Werk war, kehrte Elmar hinter den Schreibtisch zurück und bereitete sich innerlich auf den ersten Arbeitstag im Dezember vor. Erfahrungsgemäß gab es viel zu tun, denn der Neuburger Weihnachtsmarkt öffnete heute mit einem ganz besonderen Ereignis seine Pforten: Die Gilde berief einen neuen Weihnachtsmann, denn im Laufe des Jahres war ein Mitglied verstorben. Es würde eine Menge Trubel geben, ideale Bedingungen für Taschendiebe und Trickbetrüger also. Hoffentlich reichten die Plätzchen für all seine Kunden aus.

Elmar konnte nicht widerstehen und naschte ein weiteres Kipferl. Es war jetzt kurz nach zehn. Frank Sinatra hatte den Kinderchor abgelöst mit »Santa Claus is coming to town«. Elmar summte mit, aber sein Schwelgen währte nur kurz, denn plötzlich riss jemand die Tür auf. Erschrocken fuhr Elmar hoch, stieß mit dem Kopf gegen Rudis Schnauze, der prompt zu singen begann und Franky übertönte.

»Ho, ho, ho«, schmetterte es Elmar entgegen, der nicht wusste, wie ihm geschah. Dann fiel der Groschen.

»Die Gilde der Weihnachtsmänner«, flüsterte er, reckte die Brust und antwortete nun seinerseits mit einem tief aus der Brust kommenden »Ho, ho, ho!«.

Elmar konnte sein Glück kaum fassen. Er war tatsächlich als der neue Weihnachtsmann für die Gilde auserwählt worden! Dreiundzwanzig Weihnachtsmänner nahmen ihn in ihre Mitte und geleiteten ihn aus dem Büro, um ihn in einer feierlichen Prozession die Fußgängerzone hinaufzuführen bis zum Weihnachtszelt im Zentrum des Marktes. Es erinnerte an die Miniaturausgabe eines Zirkuszeltes und war leuchtend rot wie ein Weihnachtsstern.

Die Passanten blieben stehen, um sich das Schauspiel anzusehen. Manche klatschten sogar, denn die Ernennung eines neuen Weihnachtsmanns kam nicht jeden Tag vor. Es war ein Amt auf Lebenszeit. Elmar kniff sich heimlich in den Arm, um zu prüfen, ob er träumte, aber das hier war sehr real.

Leider war der Weg zum Neuburger Weihnachtsmarkt nicht weit. Um ehrlich zu sein, handelte es sich nur um fünfhundert Meter, und so endete der Umzug bereits nach drei Minuten.

Elmar wehte der Duft von gebrannten Mandeln und Glühwein entgegen. Er blickte auf und sah den beleuchteten Giebel des romanischen Rathauses, das die Ansammlung der Buden samt Weihnachtszelt überragte und dem Ganzen etwas Pittoreskes gab. Der Markt war recht übersichtlich und gemütlich, dennoch hielt er, was die Besucherzahlen anging, durchaus mit den Großen mit und war über die Grenzen hinaus bekannt. Die Neuburger konnten nämlich mit einem ganz besonderen Pfund wuchern, von dem Marketingstrategen anderer Städte nur träumten, nämlich mit der Gilde der Weihnachtsmänner. Und er, Elmar Wind, war ab jetzt dabei.

Sein Vater wäre stolz auf ihn, könnte er es noch miterleben. Insgeheim erfüllte Elmar seine Ernennung zum Weihnachtsmann zudem mit Genugtuung. Sollten seine Kollegen nur spotten, seine Weihnachtsleidenschaft hatte sich letztlich doch ausgezahlt.

»He! Willst du da wirklich mitmachen?«, riss ihn eine Stimme aus seinen wohligen Gedanken. Sie gehörte einer großen, kräftigen Frau, die ein weißes Bettlaken wie eine Toga um sich geschlungen hatte. Sie lehnte an einer der Marktbuden direkt gegenüber dem Weihnachtszelt.

»Komm lieber zu uns, Süßer. Hier ist wenigstens was los, wenn du weißt, was ich meine«, feixte ihre ebenso gewandete Kollegin und zwinkerte ihm neckisch zu.

Die Große knuffte sie in die Seite. »Du bringst den armen Weihnachtsmann ganz durcheinander, Fanny. Du weißt doch: Anstand und Würde ist des Weihnachtsmanns höchste Zier.«

Elmar war stehen geblieben. Die beiden Frauen steckten nicht nur in weißen Laken, sie trugen auch blonde Perücken und hatten sich goldene Flügel auf den Rücken geschnallt, was sie als Engel auswies, obwohl ihr rüpelhaftes Benehmen kaum dazu passte.

»Vielleicht können die gar nicht«, raunte die Große so laut, dass alle, die in der Nähe standen, es verstehen konnten.

Die Kleinere rümpfte die Nase. »Du musst dir nur ihre vertrockneten Ruten angucken…«

Beide brachen in grölendes Gelächter aus, und Elmar schnappte empört nach Luft, aber die übrigen Weihnachtsmänner schoben ihn weiter bis vor den Eingang des Weihnachtszeltes.

»Ist das dieser Christkindverein?«, fragte Elmar. »Stehen die etwa direkt neben dem Weihnachtszelt?«

Der Weihnachtsmann neben ihm, es war Martin Kranzler, ehemaliger Schulleiter am hiesigen Gymnasium, warf einen bekümmerten Blick zu den geflügelten Frauen hin. »Es ließ sich nicht verhindern.«

Bevor Elmar noch etwas darauf sagen konnte, wurde er in das Zelt hineinbugsiert und vergaß augenblicklich die Konkurrenz, die in unmittelbarer Nachbarschaft logierte.

Drinnen warteten schon das Bürgerfernsehen und die lokale Presse. Außerdem war das Zelt bis auf den letzten Platz gefüllt. Als die Weihnachtsmänner eintraten, stimmte das Blockflötenorchester der Grundschule gerade »Tochter Zion« an, das zum Ende hin ein wenig aus dem Ruder lief. Elmars Augen wurden dennoch feucht, und er konnte es immer noch nicht fassen, dass das alles hier nur ihm galt. Die Musik, das Publikum, die Presse. Und dann fiel ihm ein, dass ihm noch etwas bevorstand, nämlich die Aufnahmeprüfung, und die hatte es in sich.

Nervosität mischte sich in seine Euphorie.

Aber zunächst wurde des verstorbenen Weihnachtsmanns gedacht, an dessen Stelle Elmar jetzt rücken sollte. Theo Schulte war vor einer Woche im seligen Alter von zweiundneunzig Jahren sanft in seinem Sessel entschlafen, während der Seniorenchor der Altersresidenz »Landfrieden« sich an einer Version von »Little Drummer Boy« versucht hatte. Elmar fand, dass dies ein schöner Tod gewesen war.

Was die Aufnahme neuer Mitglieder betraf, gab es sehr strenge Regeln. Neben der notwendigen Voraussetzung, männlichen Geschlechts zu sein, musste man sich leidenschaftlich zum weihnachtlichen Brauchtum bekennen und dies auch nach außen hin verkörpern. Des Weiteren wurde eine tiefe und tragende Stimme verlangt und zu guter Letzt ein untadeliges Leben ohne Alkohol und Weibergeschichten. Letzteres war dem Umstand geschuldet, dass keine einzige ernst zu nehmende Quelle betrunkene oder gar verheiratete Weihnachtsmänner kannte. Hier drückte die Gilde aber gern ein oder zwei Augen zu, denn ein Leben im Zölibat und in völliger Abstinenz war nun doch zu viel des Guten.

Elmar erfüllte dennoch alle Kriterien: Sein Bart war geradezu biblisch, sein Bauch beachtlich und seine Stimme beeindruckend, denn die Natur hatte ihn mit einem imposanten Bass gesegnet. Außerdem interessierten ihn weder Frauen noch der Alkohol besonders. Nun gut, was die Frauen betraf, hatte er bisher schlichtweg Pech gehabt.

Eine Bühne nahm fast die Hälfte des Zeltes ein, der hintere Teil war wie im Theater mit schwarzem Stoff abgehängt. Auf der Bühne stand eine Art Thron. Hier würde in den kommenden Tagen der diensthabende Weihnachtsmann Platz nehmen, und das war jeden Tag ein anderer. Im Zuschauerraum standen Bierbänke. Für die Honoratioren gab es weiße Blockstühle.

Elmar wurde auf die Bühne geschoben. Er blinzelte ins Scheinwerferlicht und erkannte in der ersten Reihe den Bürgermeister nebst Gattin, diverse Stadträte und seine Dienststellenleiterin Julia Herrmann. Elmars Chefin trug mit Vorliebe Merkel-Anzüge, allerdings bevorzugte sie Grautöne. Diese Garderobe machte sie älter, was sie vielleicht auch damit bezweckte, denn mit Ende dreißig war sie einigen Kollegen die Karriereleiter zu schnell hinaufgeklettert. Einen Haufen gestandener Beamter in Schach zu halten, zumal als Frau, war eine Herausforderung. Daher tat sie alles, um knallhart zu wirken. Mit dem kantigen Gesicht, den streichholzkurzen Haaren und einer Stimme, die jedem Weihnachtsmann zur Ehre gereicht hätte, verunsicherte sie nicht nur Elmar immer wieder, aber im Grunde war sie in Ordnung. Neben ihr saß ein junger Mann, der nervös mit den Fingerknöcheln knackte, bis die Herrmann ihm einen strengen Blick zuwarf. Ihren Begleiter schätzte Elmar auf Ende zwanzig, höchstens Anfang dreißig. Er hatte ein blasses Gesicht, war generell eine farblose Erscheinung und wirkte äußerst nervös.

Ein Blitzlichtgewitter lenkte Elmar von seinen Beobachtungen ab. Die Presse machte Fotos, und der leitende Redakteur vom Bürgerfernsehen turnte mit wichtiger Miene vor der Bühne herum. Mit geschulterter Kamera strich er sich seine langen Haare immer wieder lässig mit den Fingern nach hinten. Elmar ließ den Blick durch das Zelt schweifen. In den hinteren Reihen tummelte sich das Volk, meist Familien mit Kindern, und ganz hinten an der Wand glänzte etwas Goldenes. Die Damen vom Christkindverein waren also auch gekommen, sicher, um Stunk zu machen, denn es war allgemein bekannt, dass sie und die Gilde sich spinnefeind waren. Die Christkinder warfen den Weihnachtsmännern vor, vollkommen veralteten Traditionen nachzuhängen, während die Gilde sich umgekehrt über das schändliche Benehmen der Christkinder empörte.

Elmar schreckte auf, als ihn Herbert Janssen ansprach, derzeit dienstältester Weihnachtsmann. »Bist du bereit? Jetzt geht es nämlich los.«

Elmar nickte und fragte sich, wie Janssen mit seiner Falsettstimme überhaupt in die Gilde gekommen war. So schlimm konnte es mit der Prüfung also nicht sein.

»Elmar Wind«, begann Janssen feierlich, »bist du bereit, als Weihnachtsmann in der Gilde deinen Dienst am weihnachtlichen Feste zu verrichten?«

Elmar reckte sich und antwortete mit fester Stimme: »Ja, das bin ich.«

»So werden wir prüfen, wie es der Brauch ist, ob du würdig bist, ein echter Weihnachtsmann zu sein.« Janssen wandte sich den anderen Weihnachtsmännern zu, die sich in einer Reihe hinter Elmar aufgestellt hatten. »Messt zunächst seinen Bauch, denn ein echter Gildeweihnachtsmann darf keine Zaunlatte sein.«

Einer der Weihnachtsmänner trat vor. In der Hand hielt er ein Zentimetermaß. Elmar hob die Arme und wurde gemessen.

»Ein Meter dreiundvierzig«, verkündete der Weihnachtsmann laut. Ein anerkennendes Raunen ging durch die Reihen.

»Nun zum Bart«, sagte Janssen.

Sein Kollege legte das Zentimetermaß an und maß vom Kinn bis zur Bartspitze. »Zweiunddreißig Zentimeter. Braun mit weißen Strähnen.«

Das Publikum begann zu klatschen, aber Janssen erhob wieder die Stimme. »Und jetzt zum schwersten Teil«, rief er. »Sing uns etwas vor.«

Elmar holte tief Luft, aber bevor er einen Ton von sich geben konnte, begannen die Christkinder zu singen: »In der Weihnachtsbäckerei gibt es manche Schweinerei…«

Das war auf ihn gemünzt, denn es war bekannt, dass Elmar Wind ein begnadeter Plätzchenbäcker war. Er nahm die Herausforderung an, indem er laut dagegen anschmetterte: »Sti-hille Nacht, heiii-lige Nacht! Alles schläft, einsam wacht!«

Der Gattin des Bürgermeisters, die direkt vor ihm saß, traten vor Rührung die Tränen in die Augen, einigen Kindern ebenfalls, allerdings aus einem anderen Grund. Sie hielten sich die Ohren zu. Elmar sang tapfer weiter, und schließlich verstummten die Christkinder, als er ihnen die zweite Strophe entgegenschleuderte. Bei der dritten verließen sie das Zelt. Elmar krakeelte das Lied zu Ende und wischte sich anschließend den Schweiß von der Stirn. Nun war es mucksmäuschenstill geworden.

»Ähm, ja«, unterbrach Janssen das Schweigen. »Das war… laut und schön«, sagte er und hüstelte. »Ich will mal sagen, für einen Weihnachtsmann durchaus angemessen.«

Was man von deiner Stimme nicht sagen kann, dachte Elmar.

Frenetischer Applaus brandete auf, aber Janssen hob die Hände, und es wurde wieder ruhig. »Und nun die letzte Frage«, sagte er laut, soweit ihm das möglich war, und blickte Elmar fest in die Augen. »Führst du einen tadellosen und ehrenhaften Lebenswandel?«

Elmar schlug sich voller Inbrunst gegen die Brust. »Ja, das tue ich, so wahr ich ein echter Weihnachtsmann bin.«

Janssen legte ihm die Hand auf die Schulter. »Ich verkünde hiermit, dass du, Elmar Wind, vom heutigen Tage an bis zu deinem Lebensende in die Gilde der Weihnachtsmänner aufgenommen bist.«

Elmar schloss glücklich die Augen. Wieder brach der Applaus los, und unter großem Jubel wurden ihm die Insignien der Gilde verliehen: der rote Mantel, schwere Lederstiefel, eine eigene Mütze, Gürtel, Sack und Rute. Die übrigen Gildemitglieder umringten ihn und halfen ihm, seine neue Uniform anzuziehen. Als das erledigt war, traten sie zurück.

Stolz drehte Elmar sich auf der Bühne einmal um sich selbst. Es war ein erhabener Moment, als er sich so dem Publikum zeigte. Er gab wahrhaftig einen stattlichen Weihnachtsmann ab. Die übrigen dreiundzwanzig Gildemitglieder stellten sich hinter ihm auf und stimmten gemeinsam die Hymne an, die Hoffmann von Fallersleben 1835 eigens zum Ruhme des Weihnachtsmanns geschrieben hatte: »Morgen kommt der Weihnachtsmann«. Elmar versagte vor Rührung die Stimme, aber das spielte jetzt keine Rolle. Das, was er sich seit seinen Kindertagen ersehnt hatte, war endlich in Erfüllung gegangen.

Seine Chefin schüttelte ihm bei der nachfolgenden Feier am Büfett die Hand. »Glückwunsch, Herr Wind. Welche Polizei kann schon von sich behaupten, einen echten Weihnachtsmann in ihren Reihen zu haben?« Sie lächelte schmallippig. »Darf ich übrigens vorstellen? Das ist Fredo Petter. Er ist ab heute im Team.« Sie schob das blasse Kerlchen, das neben ihr gesessen hatte, vor Elmar. Fehlte nur noch, dass sie sagte: »Nun schüttel dem Weihnachtsmann schön die Hand.« Stattdessen stopfte sie sich eine mit Schinken umwickelte Dattel in den Mund.

Elmar musterte den jungen Mann, der ihm eher widerwillig die Hand reichte. Petter überragte ihn um mindestens eine Kopflänge, seine Gestalt war hager wie sein Gesicht, das mit den hellgrauen Augen und dem blassen Mund ebenso unscheinbar wirkte wie der gesamte Kerl, trotz seiner Größe. Er schien immer noch sehr nervös zu sein, deshalb versuchte Elmar es mit einem väterlichen Lächeln. »Elmar Wind. Polizeimeister und Kontaktbereichsbeamter in der Neuburger Fußgängerzone. Kommen Sie doch mal vorbei, ich habe jetzt im Advent immer frisches Gebäck dabei.«

Petter zog seine Hand zurück und antwortete mit schwacher Stimme: »Mordkommission.«

Elmar klappte der Mund auf. »Donnerwetter!« Jetzt durften schon halbe Kinder bei Mord und Totschlag mitmachen, während er in Klardorfs Schaufenster versauerte. Konsterniert wandte er sich dem Büfett zu, wo Janssen sich gerade einen ganzen geräucherten Aal vom Fischteller schnappte.

Nach einer Stunde hatte sich das Publikum inklusive Honoratioren verzogen, und auf dem Büfett lagen nur noch ein paar traurige Reste.

Elmar hatte so viele Hände geschüttelt, dass ihm mittlerweile jeder einzelne Finger wehtat. Er setzte sich abseits auf den Bühnenrand und betrachtete den mächtigen Thron, auf dem er auch bald sitzen würde, um den Neuburgern im Advent etwas Gutes zu tun. Er ging schon im Kopf die Plätzchenrezepte durch.

»Na? Wie fühlt man sich als frischgebackener Weihnachtsmann?« Jemand schlug ihm auf die Schulter.

Elmar schreckte aus seinen Gedanken auf. Klaus Eilers, Tierarzt von Neuburg und ebenfalls seit einigen Jahren ein Gildemitglied, setzte sich neben ihn. Er trug zwei dampfende Becher Glühwein in den Händen. »Auch einen?«

Elmar schüttelte den Kopf. »Bin im Dienst.«

Eilers lachte. »Welchen meinst du? Als Polizist oder Weihnachtsmann?« Er drückte ihm einen der Becher in die Hand. »Trink. Das wärmt auf. Jetzt kommt nämlich noch die Auslosung, und das kann dauern.«

Elmar ließ seinen Becher sinken und runzelte verständnislos die Stirn. »Welche Auslosung denn?«

»Der Dienstplan«, erklärte der Tierarzt aufgeregt. »Du musst doch wissen, an welchem Tag du auf dem Thron dort Platz nehmen darfst.«

»Die Tage werden ausgelost?«, fragte Elmar perplex.

»Was dachtest du denn? Der Beutel mit den Terminzetteln wird schon rumgereicht.«

Elmar folgte mit dem Blick dem ausgestreckten Zeigefinger des Tierarztes. Ein rotes Säckchen ging zwischen den Gildemitgliedern von Hand zu Hand. Jeder langte hinein und zog einen Zettel. Einige legten ihren jedoch wieder zurück und fischten einen neuen heraus.

»Jeder darf einmal den Zettel zurücklegen und einen neuen ziehen. Der neue Weihnachtsmann bekommt den Sack traditionell aber als Letzter«, erklärte Eilers. »Nur den 24.Dezember will keiner haben.«

»Warum?«, fragte Elmar überrascht. »Also, ich wäre froh. Das ist doch der Tag der Tage. Heiligabend.«

Der Tierarzt schlug ihm auf die Schulter. »Na, dann kannst du dich ja freuen und schon mal darauf einstellen, dass du Heiligabend das Fest für die einsamen Herzen organisierst. Alleinstehende Omas, Obdachlose…«

»Und was ist mit dem Rest der Gilde?«

»Wir machen die anderen Termine. Muss auch sein.«

Irritiert starrte Elmar ihn an, aber bevor er etwas erwidern konnte, hatte Eilers sich das Säckchen schon gegriffen und blickte hinein. »Oh. Nicht mehr viel Auswahl«, sagte er und fischte einen Zettel heraus, las das Datum und tauschte es ein. Lächelnd reichte er das Säckchen an Elmar weiter. »Mach dir nichts draus.«

Elmar blickte in den Beutel. Es lag nur noch ein Zettel darin. Er nahm ihn heraus. Die Zahl24 stand darauf.

Eilers klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern. »Eine ehrenvolle Aufgabe. Du kommst auf jeden Fall damit in den Anzeiger. Die Neuburger werden dich lieben.« Er erhob sich. »Na dann, viel Glück. Ich muss jetzt in meine Praxis zurück. Wir sehen uns später.«

»Später?«

»Wir, oder besser gesagt, diejenigen, die Zeit haben, holen den diensthabenden Weihnachtsmann um achtzehn Uhr am Zelt ab. Das machen wir übrigens jeden Abend. Anschließend wird gefeiert.« Er zwinkerte vielsagend. »Man gönnt sich ja sonst nichts.«

»Was macht ihr denn dann?«

»Na ja, wir tun, was anständige Weihnachtsmänner nach Feierabend eben so machen: Tabledance-Bar, Peepshow, Glücksspiel. Als Polizist kannst du uns da sicher den einen oder anderen scharfen Tipp geben.«

Elmar starrte ihn mit offenem Mund an. Das war sicher ein Scherz, und er wollte nicht gleich zu Beginn wie ein Blödmann dastehen. Deshalb begann er zu lachen und schlug Eilers kumpelhaft auf den Arm. »Na, ihr scheint mir ja ein lustiger Haufen zu sein.«

»Stimmt. Irgendwelche Ideen für heute Abend?«

Elmar musste nicht lange überlegen. »Da hätte ich wirklich einen Vorschlag. Ich will ein neues Plätzchenrezept ausprobieren. Wenn ihr Lust habt, kommt doch vorbei, wir stechen zusammen Sterne aus, und ich koche uns dazu einen leckeren Gewürztee.«

Einen Moment lang schien Eilers dieser Vorschlag ein wenig zu irritieren, aber dann grinste er breit. »Du bist mir vielleicht ein Scherzkeks, Elmar. Wir werden viel Spaß miteinander haben.«

Den Schrei, der von irgendwoher aus dem Zelt kam, nahm Elmar zunächst nicht wahr, bis um ihn herum alles verstummte. Wieder schrie jemand, und es klang nicht nach einem Scherz. Diesmal reagierte Elmar sofort. Er schob Eilers beiseite und eilte über die Bühne in Richtung des Tumults. Der Vorhang im hinteren Bühnenteil war ein Stück beiseitegezogen, und mehrere Weihnachtsmänner beugten sich über etwas, das dort auf dem Boden lag.

Elmar spurtete hin, stolperte über seinen eigenen Mantel und stürzte in das Knäuel der Weihnachtsmänner hinein. Er fand sich in einem Gewirr aus Armen und Beinen wieder, und es dauerte eine Weile, bis sich der Knoten entwirrt hatte. Einer der Weihnachtsmänner blieb jedoch in seinem roten Mantel seltsam verrenkt am Boden liegen. Elmar kniete sich neben den Mann und zog ihn zum Sitzen hoch. Der Kerl machte sich schwer. Als er in das Gesicht des Mannes blickte, ließ er ihn vor Schreck wieder fallen.

»Janssen!«, keuchte Elmar und wäre am liebsten von ihm weggekrabbelt, aber er riss sich zusammen. Es war kein schöner Anblick. Die Augen des Gildevorsitzenden waren weit aufgerissen, seine Gesichtsfarbe war bläulich angelaufen, und aus seinem Mund glotzte ihn der Kopf eines Aals mit glasigen Augen an.

»Das musste ja mal schiefgehen«, keuchte Eilers, der hinter Elmar stand.

Der rappelte sich hoch und sah ihn verwirrt an. »Was denn? Was musste schiefgehen?«

»Er liebte Aal und hat diese Fische geradezu inhaliert. Erst gehäutet und entgrätet und dann mit dem Schwanz voran runtergeschluckt. Widerliche Angewohnheit.«

»Aber das geht doch gar nicht.«

Eilers lachte freudlos. »Bei Janssen schon.«

»Sollte ihm nicht mal jemand den Fisch aus dem Hals ziehen? Vielleicht lebt der Mann ja noch.«

»Das musst du doch wissen! Du bist die Polizei.«

»Dem muss keiner mehr etwas aus dem Hals ziehen. Der ist hin«, sagte ein dritter Weihnachtsmann.

Elmar kannte ihn. Dr.Ulf Fangmann war Urologe am städtischen Klinikum, Elmar war bei ihm bereits wegen seiner Prostata in Behandlung gewesen. Er starrte den Arzt an, unfähig, ein Wort zu sagen, aber Fangmann kam ihm zuvor.

»Sollten wir nicht besser die Polizei rufen? Das ist schon ein merkwürdiger Erstickungstod, wenn ihr mich fragt.« Er warf Eilers einen seltsamen Blick zu.

Elmar schluckte den Kloß in seinem Hals hinunter. »Ich bin doch schon da«, sagte er heiser, und dann kam ihm der Gedanke, dass er die Angelegenheit in die Hand nehmen musste. »Hier wird nichts mehr angerührt, verstanden?«, rief er laut. »Vor allem nicht am Büfett!«

Aus den Augenwinkeln sah er, dass Albert Tietjohanns, Pastor in Rente und ebenfalls langjähriges Gildemitglied, enttäuscht den Teller sinken ließ, auf dem er die Reste des Büfetts angehäuft hatte. Elmar griff sich an die Hüfte auf der Suche nach seinem Handy, aber das hatte er im Büro liegen lassen. »Kann mal jemand die110 anrufen?«, fragte er.

Fangmann zückte sein Smartphone und begann zu telefonieren.

»Hat einer von euch gesehen, was hier passiert ist?«, fragte Elmar in die Runde. »Ist irgendjemandem etwas aufgefallen?«

Alle schüttelten den Kopf.

Bunte Plätzchen

Zutaten:

500 g Mehl

120 g Butter

100 g Zucker

2Eier

1Päckchen Vanillinzucker

1Päckchen Backpulver

Ausstecher

Zubereitung:

1. Alle Zutaten zu einem geschmeidigen Teig verkneten. Falls er bröckelt, ein wenig Milch zugeben; sollte er zu flüssig sein, etwas Mehl hinzufügen.

2. Den Backofen auf 180Grad (Ober-/Unterhitze) vorheizen. Das Backblech mit Backpapier auslegen. Etwas Mehl auf die Arbeitsfläche streuen und den Teig darauf ausrollen.

3. Formen ausstechen und auf das Blech legen. Die Plätzchen circa 12 bis 15Minuten backen. Nach Belieben mit Guss, Kuvertüre, Nüssen oder Puderzucker verzieren.

2.Dezember

Elmar merkte erst jetzt, dass er die ganze Zeit regungslos im kalten Nieselregen vor der Tür seines Büros gestanden hatte. Verstohlen sah er sich um, doch niemand achtete auf ihn. Schnell sperrte er auf, trat ein und hängte seine Mütze neben das rote Gewand, das er gestern Abend hierhergebracht hatte. Sehnsüchtig strich er über den schweren Lodenstoff des Weihnachtsmannmantels. Hoffentlich würde er ihn trotz des traurigen Todesfalls diesen Winter noch oft tragen, denn das Weihnachtszelt war kurzfristig wegen der polizeilichen Untersuchung geschlossen worden. Dann schleppte er sich zu seinem Schreibtischstuhl und ließ sich hineinplumpsen. Sogar Rudi blickte heute trübe. Elmar vermied es, hinter sich zu greifen, um ihn singen zu lassen. Nur die Weihnachtsbeleuchtung schaltete er ein, den Elektrokamin natürlich auch, denn ihm war kalt. Der Lautsprecher über seinem Kopf knackte, und der Kinderchor von gestern begann von vorne.

»Leistet euch mal eine neueCD«, schrie Elmar die Decke an und pfefferte seine Arbeitstasche neben den Schreibtisch. Sie kippte um, und die Dose mit den Plätzchen, die er am Vorabend trotz allem gebacken hatte, fiel heraus. Der Deckel rollte in eine Ecke, und die Plätzchen ergossen sich über das abgetretene Linoleum. Er kniete sich hin und sammelte sie wieder ein. Heute hatte er bunte Plätzchen dabei, gebacken nach einem simplen Rezept, das sogar Fünfjährige hinbekamen. Zu mehr hatte es nach dem Vorfall gestern nicht gereicht. Gerade wollte er sich unter dem Schreibtisch ein Plätzchen in den Mund schieben, da stürmte jemand herein.

»So geht das nicht«, schrie der Besucher energisch und schlug mit der Faust hart auf den Tisch.

Elmar schoss hoch und stieß mit dem Kopf gegen die Schreibtischkante. »Ich muss doch sehr bitten«, keuchte er und fasste sich an die schmerzende Stelle, die sofort anschwoll.

»Bitten?« Der Eindringling verschränkte die Arme vor der Brust und blickte Elmar wutschnaubend an. »Ich fordere von dir in deiner Eigenschaft als Gildemitglied, dass du zu deiner Dienststellenleiterin gehst. Diese… Herrmann! Bring sie dazu, dass wir das Weihnachtszelt wieder aufmachen dürfen. Du bist schließlich die Polizei.«

Elmar bückte sich noch einmal, um die Keksdose aufzuheben. Verwirrt registrierte er, dass der Besucher von der Gilde gesprochen und wir gesagt hatte. Er kniff die Augen zusammen und musterte ihn. Dann fiel es ihm wieder ein. Vor ihm stand Joseph Frommel, ebenfalls Mitglied der Gilde.

»Entschuldigen Sie, Herr Frommel«, stammelte er, »ohne roten Mantel und Mütze hätte ich Sie fast nicht erkannt.«

»Du.«

»Was?«

»Wir Weihnachtsmänner duzen uns, und du gehörst ja nun auch dazu.« Frommel seufzte fast ein wenig bedauernd und zog einen Flachmann aus der Innentasche seiner Jacke, schraubte den Deckel auf und trank. Als er Elmars Blick bemerkte, steckte er ihn wieder weg. »Medizin. Ich hab’s mit dem Magen.«

»Ah.« Erst jetzt fiel Elmar auf, dass außer dem Mantel noch etwas anderes an ihm fehlte. »Hast du dich rasiert?«, fragte er konsterniert.

»Natürlich habe ich mich rasiert. Das tue ich jeden Tag.«

»Aber du bist ein Weihnachtsmann!«

»Na und?«

»Wir tragen Bart. So steht es in den Statuten.«

Frommel machte eine wegwerfende Geste und zog sich zuerst den Besucherstuhl heran, dann die Keksdose. »Du nimmst das alles viel zu ernst, Elmar«, sagte er und rührte mit dem Zeigefinger in den Plätzchen herum.

Elmar nahm ihm die Dose weg. »Und ich finde, du nimmst das nicht ernst genug. Ich bin ja erst einen Tag dabei, aber die Gilde, das ist uralte Tradition. Da kann man sich doch nicht einfach einen falschen Bart ankleben.«

»Warum nicht? Wir leben nicht mehr im Mittelalter. Außerdem bin ich Marketingbeauftragter und kann nicht das ganze Jahr über wie ein Waldschrat herumlaufen.«

Elmar runzelte die Stirn. Er kannte noch nicht alle Gildemitglieder. Einige hatte er gestern das erste Mal gesehen, zumindest aus der Nähe, und dazu gehörte auch dieser Frommel. »Ich finde das trotzdem nicht gut«, sagte Elmar streng.

»Ich auch nicht.«

»Was?«

»Das Zelt muss schnellstens wieder geöffnet werden. Du musst mit Julia Herrmann reden, Elmar. So geht das nicht.« Frommel langte in die Dose und stopfte sich zwei Plätzchen auf einmal in den Mund. »Weißt du, was das heißt? Ein geschlossenes Weihnachtszelt ist eine Katastrophe fürs Weihnachtsgeschäft.«

Elmar starrte Frommel völlig verständnislos an. »Aber ich bin nur Kontaktbereichsbeamter.«

»Na und? Sag ihr, sie soll an die enttäuschten Kinder denken, das zieht immer.«

»Nicht bei der.«

»Warum hab ich mir das schon gedacht?« Er angelte sich ein weiteres Plätzchen. »Dann schlag ihr vor, du könntest als V-Weihnachtsmann ermitteln.«

Elmar lachte auf. »Die wird mir was husten. Außerdem muss jemand herausfinden, wer oder was Janssens Tod verursacht hat.«

Auf Frommels Gesicht breitete sich Erstaunen aus. »Na, ich denke, das war ein Aal, oder?«

»Schon. Aber es wird noch geprüft, ob jemand nachgeholfen hat.«

»Eine Mordermittlung?« Frommel lächelte. »Wer wäre besser dafür geeignet als du?«

Elmar musste zugeben, dass er sich geschmeichelt fühlte, aber was nutzte ihm das? Mord fiel nicht in sein Ressort. »Ich bin kein Kommissar, Joseph. Die Ermittlungen führt dieser Neue. Fredo Petter oder wie der heißt. Die Herrmann hat ihn höchstpersönlich mit dem Fall betraut.«

Frommel schnaubte verächtlich. »Der? Ist der schon trocken hinter den Ohren?«

Elmar musste ihm insgeheim recht geben. Dieser Bengel hatte fast neben die Leiche gekotzt, aber ihn, Elmar Wind, hielt die Herrmann gerade mal für kompetent genug, ein Absperrband um den Tatort zu ziehen. »Ich fürchte, ich kann da nicht viel ausrichten«, sagte Elmar. »Die Polizeiorganisation ist nun mal so, dass bei einem ungeklärten Todesfall wie diesem die Mordkommission ermittelt.«

Frommel beugte sich vor. »Elmar. Mal ganz unter uns«, raunte er. »Glaubst du wirklich, jemand hat Janssen mutwillig das Maul gestopft?« Er lachte auf. »Wegen seiner grauenhaften Singstimme?«

Elmar hob bekümmert die Schultern.

Es entstand eine längere Pause, in der nur Frommels Kaugeräusche zu hören waren. Schließlich schluckte er laut und sagte: »Schöner Mist.«

Elmar nickte, und Frommel griff zu Elmars Entsetzen noch einmal zu. Die Dose war schon halb leer.

»Lecker«, lobte er anerkennend. »Von welchem Bäcker sind die?«

»Von mir.«

»Echt?« Wieder sprach Frommel mit vollem Mund, es schien eine schlechte Angewohnheit von ihm zu sein. »Ich kenne jemanden im Wirtschaftsministerium. Meinst du, der könnte in deiner Chefetage Eindruck machen, damit die Herrmann diese schwachsinnigen Ermittlungen schnell einstellt?«

Bevor Elmar auch nur den Kopf schütteln konnte, flog die Tür ein zweites Mal auf, und zwei Weihnachtsmänner in vollem Ornat betraten das Büro. Elmar erkannte Albert Tietjohanns und den Urologen Dr.Fangmann.

»Wo bleibt ihr denn?«, fragte Fangmann.

»Das Zelt wurde wieder geöffnet. Halleluja!«, fügte Tietjohanns hinzu.

Elmar erhob sich aus seinem Bürostuhl. »Und wer hat das bestimmt?«

»Julia Herrmann persönlich«, antwortete Fangmann und grinste breit. »Ich habe ein Wörtchen mit dem Polizeipräsidenten gesprochen. Der ist gerade bei mir auf Station.«

»Volker Brunn? Was hat er denn?«, fragte Elmar besorgt.

Fangmann betrachtete seine Fingernägel. »Er hat eine neue Lebensabschnittspartnerin. Sie ist sehr anspruchsvoll und euer Oberboss nicht mehr der Jüngste, wenn du verstehst, was ich meine.«

»Und wieso kommt man damit in die Urologie?«, fragte Elmar unbedarft.

Frommel grinste. »Unser neuer Kollege hier hält sich an die Statuten. Er lebt wie ein Mönch und versteht nur Bahnhof. Ist doch so, oder?«

»Ein sittsames Leben ist durchaus lobenswert«, mischte Tietjohanns sich ein.

»Wie viele Kinder hast du noch mal?«, fragte Fangmann.

»Ich bin evangelisch!«

»Eben.«

Elmar starrte seine Kollegen verwirrt an, dann setzte er sich wieder. Ihm schwirrte der Kopf.

»Die Herrmann lässt dir übrigens ausrichten, dass du die Augen offen halten sollst«, sagte Fangmann.

»Und was ist mit Petter?«

»Der ermittelt brav weiter, und währenddessen passt du auf uns auf. Zieh deinen Mantel an, häng ein Schild an die Tür, dass du im Weihnachtszelt zu erreichen bist, und komm endlich. Heute werden die Senioren von der Residenz ›Landfrieden‹ herangekarrt. Kollege Frommel hat sie zu einem Konzert eingeladen.«

»Was denn für ein Konzert?«

»Unser traditionelles Weihnachtsmannkonzert. Wir brauchen deinen Bass.«

Obwohl es noch nicht einmal Mittag war, umlagerten die Leute mit gefüllten Bechern und Papptellern die Stehtische auf dem Weihnachtsmarkt. Einige Buden waren noch geschlossen, dazu gehörte auch die vom Christkindverein, wie Elmar erleichtert feststellte.

»Habt ihr die geflügelten Damen eigentlich auch mal überprüft?«, fragte ihn Frommel. »Vielleicht angeln die gern?«