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Eine Frau, gefangen zwischen verbotener Liebe und atemberaubender wilder Begierde.An der Seite des Starchirurgen Leander Carwell führt die junge Florentina ein Leben im Luxus der High Society Bostons. Dieser, sowie der introvertierten emotionslosen Art ihres Mannes, fühlt sie sich so wenig gewachsen, wie der tiefen Sehnsucht nach dem mächtigen Oligarchen Wassyl Gurow. Während einer Gala, bei der sie als schmückende Ehefrau anwesend sein muss, begegnet ihr ein attraktiver und geheimnisvoller Ukrainer. Nur wenige Augenblicke, und sie ist seinem erotischen Charme erlegen. Je mehr ihr Verstand protestiert, desto größer wird ihr Verlangen. Sein hungriger Blick, der kühl und anzüglich über ihren Körper wandert, die heiße Spur, die seine riesige Hand auf ihrer Haut hinterlässt, lassen ihr keine Chance.Wenig später wird Leander tot aus dem Fluss geborgen. Der Verdacht, seine Geschäfte mit den Gurow-Brüdern hätten ihn in den Tod getrieben, zerreißt Florentina das Herz.Wird ihre Liebe die dunklen Schatten, sowie die gnadenlosen Gesetze des Familien-Clans überstehen?Eine atemberaubende Liebesgeschichte, die kein Abenteuer auslässt. Von Berlin über Boston nach Barbuda - an von Sonne überflutete karibische Strände, bis in die wild romantischen Ost-Karpaten - eine unmögliche, aufregende Liebe, deren Leidenschaft keine Fragen stellt. Zurück lehnen, weinen und lachen - einfach genießen. Die beste Entscheidung für eine kalte Zeit.
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Seitenzahl: 423
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Florentina Liebe fragt nicht
Heike Gehlhaar
© 2022 Heike Gehlhaar
ISBN Softcover: 978-3-347-69002-8
ISBN Hardcover: 978-3-347-69003-5
ISBN E-Book: 978-3-347-69004-2
© Cover-und Umschlaggestaltung: Florin Sayer-Gabor – www.100covers4you.com
Bild von Pexels: melike benli
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Autorin
Durch einen Schicksalsschlag entdeckte Heike Gehlhaar die Lust am Schreiben. Um sich zu beschäftigen, schrieb sie ihren ersten Roman: ’Franziska - Eine Reise in die Zukunft’. Bereits ein Jahr später erschien: ’Warum ein Hase aus einer Trabant-Tür schaute. Die aufregendste Reise nach dem Orient-Express’. Im Januar 2022 kam der Mysterie-Thriller ’Niemand hört dich schreien’ auf den Markt. Schreiben ist für sie inzwischen eine Leidenschaft, die sich nicht aufhalten lässt. Mit ihrer Familie wohnt die Autorin im grünen Herzen Deutschlands. Besuchen Sie die Autorin und entdecken Sie ihre Welt.
www.heikegehlhaar.de und auf Instagram @autoringehlhaar
Jegliche Ähnlichkeiten mit realen Personen sind rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.
Florentina:
Ich mag Zärtlichkeiten, Romantik, rote Rosen, streichelnde Hände, sanfte Küsse auf meiner Haut… Es schien, als schrieb sie eine Pro und Kontra Liste hinter ihrer Stirn. Aber warum gefällt mir seine Leidenschaft?, zermarterte sie ihren Geist.
Leander:
»Hast du eigentlich eine Ahnung davon, wie atemberaubend du in diesem Kleid aussiehst? Wenn du es nicht sofort ausziehst, werde ich es dir vom Leib reißen, egal was es gekostet hat!«
Wassyl:
»Du bist wunderschön«, flüsterte er plötzlich. »Dass du verheiratet bist, weiß ich. Aber sollte dein Mann das jemals vergessen, werde ich ihn schneller ersetzen, als du dosvidanya zu ihm sagen kannst!«
Eylin:
»Florentina, du bist fünfundzwanzig Jahre alt, du musst endlich beginnen, dein Leben wiederzugewinnen. Aber eines sage ich dir: So wahr ich Eylin Kummer heiße, werde ich es verdammt nochmal zu verhindern wissen, dass du dich in eine neue Beziehung oder gar eine Ehe stürzt, bevor er nicht jegliches Geheimnis gelüftet hat!«
Weiße Wolken, jede von ihnen flauschig wie das Lieblingsschaf ihres Großvaters, türmten sich vor dem Flugzeugfenster. Ihr Blick verlor sich abwesend in den scheinbar weichen Wolkenschäfchen. Die Sonne blendete Florentinas rotgeweinte Augen. Vierundzwanzig Stunden - siebentausend Kilometer - und sie glaubte, sie hatte das größte Glück ihres Lebens für immer verloren.
Noch erinnerte sich ihre Haut lebhaft an seine Hände. Ein so sanftes und sinnliches Verwöhnen hatte sie Wassyls Pranken nie zugetraut. Der einzigartige Duft seines Shirts umspielte ihre Nase. Sie trug es wie einen unbezahlbaren Schatz noch immer über ihrem Herzen. Dieses Stück Stoff war das Einzige, was ihr von ihm geblieben war. Man müsste es ihr vom Leib reißen, wollte man sie von ihm trennen.
»Ladies and gentlemen…«
Nur noch fünfzehn Minuten bis zur Landung. Dann war sie zurück - der Traum vorbei! Ein letztes Mal sah sie aus dem Fenster und fragte sich, wie sie nun ohne ihn weiterleben sollte.
Kapitel 1
Berlin zwei Jahre zuvor…
»Florentina und Leander - das Traumpaar!«
Verschnörkelte lilafarbene Buchstaben schmückten jede Einladungskarte. Sie hatte die Farben ausgesucht. Leander gefielen sie nicht, doch weil er sie liebte, fügte er sich ihren Wünschen.
»Schon bald bist du Frau Doktor Florentina Carwell. Wie ich dich beneide!« Lisas Augen leuchteten vor Aufregung.
Als sie ihre Freundin fragte, ob sie ihre Brautjungfer werden wollte, hatte die vor Rührung geweint. Schon in der Schule konnte sie sich einer Sache mit ganzem Herzen hingeben. Deshalb mochte sie Lisa. Florentina wusste, dass sie ihre Aufgabe mehr als gut erfüllen würde. Sie war die geborene Brautjungfer. In ganz Berlin gab es keine Bessere. Bunte Katalogseiten flogen über ihre zittrigen Finger.
»Und Boston - die Flitterwochen…«
Florentina war noch nie in Neuengland gewesen. Die Architektur im Kolonialstil, weite Strände und Reihen schneeweißer Yachten an ausgeblichenen Bootsstegen - die Bilderflut, die durch Lisas Hand rauschte, entsprach durchaus jeder ihrer Vorstellungen.
»Eigentlich werden das keine Flitterwochen!«, betonte sie merkwürdig still. »Du weißt doch, dass Leander die Praxis seines Onkels übernehmen wird.«
Seufzend lehnte sie sich zurück. Ein wenig hatte Lisa schon recht. Dass sie bald die Frau eines erfolgreichen Chirurgen mit gutgehender Beauty-Praxis sein würde, fühlte sich für sie wie ein Märchen an. Ihre Mundwinkel bewegten sich zu einem verträumten Lächeln. Für einen kurzen Augenblick erinnerte sie sich an den Tag, als Leander an einem Tisch im Bahnhofsbistro gesessen hatte und sie mit einem Blick anstarrte, der ihr noch heute peinlich war. Inzwischen hatte sie sich daran gewöhnt.
Das ist mir egal, dachte sie. Sie glaubte daran, an der Seite dieses Mannes ihr altes Leben endlich hinter sich zu lassen.
Als ihr Vater starb, hatte sie gerade ihren sechsten Geburtstag gefeiert. Von da an war ihre Mutter nur noch mit sich selbst beschäftigt. Die letzten Jahre vor ihrem Tod hatten sie wieder ein wenig nähergebracht. Leider war es ihnen nicht gelungen, den Riss, verursacht durch die verlorene Zeit, zu kitten. Der einzige Mensch, der ihr damals geblieben war, war Eylin, ihre große Schwester. Sie war zehn Jahre älter und so lange Florentina denken konnte, ihre Vertraute, Freundin und manchmal auch Mutterersatz. Während sich Lisa immer mehr in die Hochzeitsvorbereitungen vertiefte, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf und ohne es zu bemerken, verlor sich ihr gläserner Blick in der Vergangenheit.
Ost-Berlin neunzehn Jahre zuvor…
»Eylin, Eylin…!« Aufgeregt stürmte die kleine Florentina mit den kaum zu bändigenden blonden Löckchen auf das große Mädchen mit dem ebenfalls blonden Stoppelhaar zu. Die hatte den Wirbelwind von weitem ausgemacht und war in die Hocke gegangen, um sie mit offenen Armen in Empfang nehmen zu können. Sie fest an sich drückend stand Eylin auf und drehte das vor Freude kreischende Kind mehrfach um ihre Achse. Dann stellte sie Florentina auf ihre Füße, behielt sie jedoch an der Hand. Bei diesem Kind wusste man nie, was es als nächstes tat.
»Eylin komm, ich will dir etwas zeigen!«, strampelte Florentina und zog ihre Schwester hinter sich her. Sie hopste den langen Flur der KITA entlang und ihr aufgeregter Blick suchte angestrengt die aneinandergereihte Bilderflut ab, die man mit Klebestreifen an die Wand geheftet hatte. Abrupt blieb sie stehen und mit leuchtenden blauen Augen präsentierte sie ihrer Schwester das am Morgen entstandene Kunstwerk. Verblüfft betrachtete Eylin das Bild. Ähnlich, wie sie das einzigartige Blau in Florentinas Blick faszinierte, so wurde sie nun eingenommen von den schlichten Farbtönen. Für eine Sechsjährige verfügte sie anscheinend ganz natürlich über ein Gefühl für zusammengehörende Farbnuancen.
Eine Blumenwiese - Florentina Kummer 6 Jahre
Der mit Bleistift unter dem Bild versehene Titel traf durchaus zu. Eingerahmt von den Zeichnungen der anderen Kinder unterschied sich ihr bereits jetzt schon zu erkennender Pinselstrich auf dem schlichten Papier enorm von dem der Gleichaltrigen. Lächelnd strich sie über die blonden Löckchen der Kleinen und gab ihr einen Kuss.
»Flori, Kleines. Eines Tages werden sich die Leute um deine Bilder reißen.« Erstaunt über ihre plötzlichen Gedanken, die sie laut ausgesprochen hatte, drehte sie sich verlegen um. Doch außer Florentina, die schon wieder mit anderen Dingen beschäftigt war, hatte sie niemand gehört.
Eylin verfolgte mit besorgten Blicken das ungestüme Wesen ihrer Schwester. Seufzend setzte sie sich zu ihr auf die flache Holzbank an der Wand unter die Kinderzeichnungen und half ihr in die Gummistiefel.
Gut, dass sie so ein sonniges Gemüt hat, dachte sie traurig, erhob sich und schob den Reißverschluss von Florentinas Jacke nach oben.
Dann wendete sie sich nickend einer Erzieherin zu und zog die Tür der KITA hinter sich ins Schloss. Mit der fröhlich plappernden Schwester an der Hand schweifte ihr Blick an den schlichten, grauen Betonklötzen der Wohnsiedlung entlang. Die Plattenbauten Ost-Berlins wirkten einfach nur trostlos und schienen ohne jegliche Zukunft dahinzuvegetieren. Man sagte zwar, der Westen der Stadt sei bunter, doch das stimmte auch nur bedingt.
Häuserfluten, trist und ohne ein Fleckchen Grün - so will man nicht wohnen!, dachte sie mit einem Schaudern.
Wie zauberhaft hatte dagegen die bunte Blumenwiese auf dem weißen Zeichenkarton gewirkt. Eylin begann, sich die Mauern mit Farben hell und bunt wie die eines Regenbogens vorzustellen. Aber das Bild, was sanft vor ihrem inneren Auge entstand, vermochte ihre Sorgen nicht zu vertreiben. Seufzend kehrte ihr Blick zu dem ungetrübten Lächeln auf dem rosigen Gesicht ihrer Schwester zurück.
Vier Monate waren sie nun schon mit ihrer Mutter allein. Zwar war das Verhältnis zu den Eltern nie wirklich liebevoll gewesen, dennoch hatte der plötzliche Tod des Vaters eine Lücke hinterlassen, die offenbar nicht zu schließen war. Seitdem verschanzte sich ihre Mutter hinter Trauer und Wut. Die Umwälzungen nach dem Mauerfall hatte die bis dahin ohnehin schwierige Beziehung ihrer Eltern zusätzlich belastet. Deshalb konnte Eylin ihre Mutter nicht verstehen, die es sich offenbar zur Aufgabe gemacht hatte, ganz in ihrer Trauer aufzugehen. Ein liebevolles Zuhause kannten die Mädchen nicht, doch jetzt schien der Begriff ’zu Hause’ dem gar nicht mehr gerecht zu werden.
Innerhalb weniger Wochen hatten sich Eylins Pläne zerschlagen, in den nächsten Jahren nach West-Berlin umzusiedeln. Ihre Chancen auf ein Studium waren überdurchschnittlich gut. Pädagogik war ihre Leidenschaft, egal in welcher Form - jede Studienrichtung wäre ihr recht gewesen. Aber seit ihr Vater auf der Straße einfach zusammengebrochen war und auf dem Weg ins Krankenhaus verstarb, musste sie sich von ihren Träumen verabschieden und etwas in der Nähe suchen. Schließlich konnte sie Florentina nicht allein zurücklassen. Die Hoffnung, dass ihre Mutter irgendwann die Kurve kriegen würde, hatte sie inzwischen aufgegeben. So entschied sie sich nun schweren Herzens, solange die kleine Schwester sie brauchte, mit dem Studium zu warten.
Ein beruflicher Umweg ist doch kein Weltuntergang, dachte sie mit Tränen im Gesicht. Florentina ist es wert!
Für sie war es eine unumstößliche Tatsache und einen Zweifel erlaubte sie sich nicht. Verstohlen wischte sie sich ihre Tränen mit dem Handrücken vom Gesicht und beobachtete den Blondschopf vor ihr, dessen grüne Gummistiefel durch die Regenpfützen stapften.
West-Berlin einige Jahre später…
»Florentina, streng dich gefälligst an! Du weißt, was auf dem Spiel steht«, ermahnte sie Eylin.
»Ja, du hast recht. Glaubst du denn, ich hätte vergessen, was du für mich aufgegeben hast? Entschuldige bitte!«
Zerknirscht und mit schlechtem Gewissen setzte sie sich zurück an den Schreibtisch und kämpfte sich durch die trockenen Seiten des Geschichtsreferates ihres Professors. Sehnsüchtig schwebten ihre Augen zurück zur Staffelei am Fenster und schnell verlor sie sich in Bildern. Ein imaginärer Pinsel tauchte in ein leuchtendes Grün und führte den ersten Strich über die Leinwand. Eigentlich hatte sie nie studieren wollen, nur malen und dabei völlig alternativ leben. Sie glaubte, dass das kein Problem für sie wäre. Aber diese Vorstellungen auszusprechen, das wagte sie nicht. Natürlich war ihr bewusst, dass Eylin nach dem Tod ihres Vaters, statt nach West-Berlin zu gehen und zu studieren, eine Stelle in ihrer KITA angenommen hatte und das nur, um in ihrer Nähe bleiben zu können. Jetzt war es Zeit, Eylin zu zeigen, sie hatte nicht umsonst auf ein eigenes Leben verzichtet.
Seit Florentina studierte, versuchte auch Eylin endlich ihre Träume zu verwirklichen. Über den zweiten Bildungsweg war es ihrer zähen Schwester gelungen, endlich einen Studienplatz für Spezialpädagogik zu ergattern. Dass sie hierfür mehr als geeignet war, stand für Florentina fest. Schließlich hatte sie viele Jahre Zeit gehabt, um am lebenden Objekt zu trainieren. Eylin opferte für sie die wohl aufregendste Zeit eines jeden Teenagers, um ihr Vater und Mutter zu ersetzen. Es lastete schwer auf ihrer Seele. Deshalb sah sie es jetzt als ihre Pflicht an, ihr Studium bestmöglich zu absolvieren. Dabei trug Florentina keine Schuld an der Tatsache, dass sich ihre Mutter bis zu ihrem Tod geweigert hatte, sich um ihre Töchter zu kümmern. Seufzend drehte sie sich wieder ihrem Text zu. Ein letzter verstohlener Blick flog in Richtung Leinwand.
»Irgendwann wird darauf eine Blumenwiese zu sehen sein…«, murmelte sie und begann zu lesen.
Der Weg bis zum Abschluss ihres Kunststudiums ähnelte immer öfter einem Marathon. Das Wenige, das ihnen vom Vater geblieben war, genügte gerade fürs erste Semester. Aber Berlin bot den Schwestern unzählige Möglichkeiten. Florentina entschied, Eylin in Zukunft nicht mehr auf der Tasche zu liegen, denn bei zwei Studierenden reichte das Geld hinten und vorne nicht.
Praktisch jeder Student, den ich kenne, kellnert, dachte sie unsicher und betrat mit der Anzeige in ihrer Hand das Bahnhofsbistro.
Im Inneren befanden sich rustikale Tische und Stühle, genau so, wie man sich nach einer Beschreibung in alten Romanen eine Kneipe ausgemalt hätte. Ein aufdringlicher Geruch nach abgestandenem Alkohol, Staub und Feuchtigkeit lag in der Luft. Eine Atmosphäre, die einer verruchten Spielbar glich - so etwas musste man mögen. Trotzdem nahm sie die Stelle an. Jeden Tag pendelte sie zwischen Universität und Bistro. Die Schichten waren hart und das Bistro voller lauter und hektischer Menschen. Franz Blumberg, der Besitzer, zahlte ihr vom ersten Tag an Zuschläge, von denen sie annahm, jeder Euro galt einer ihrer blonden Locken, die wellig über ihre Schultern fielen. Anfangs hatte sie sich von seinen Blicken verfolgt gefühlt. Aber weil er es bei verträumten Illusionen, die hinter seinen blauen Augen tanzten beließ, nahm sie es hin. Etwa zwei Monate später fielen ihr zum ersten Mal die ungewöhnlichen und sich wiederholenden Treffen von Künstlern, Designern und merkwürdigen Geschäftsleuten auf.
Wie kommt man auf die Idee, sich ausgerechnet hier in dieser Spelunke zu treffen?, fragte sie sich stets, wenn sich ihr Blick über den heißen Diskussionen Franz Blumbergs bizarrer Gästeschar verlor.
Sie konnte es nicht verstehen. Das Radisson lag mit seinem noblen Ambiente praktisch quer über die Straße und schien eher geeignet, Gesellschaften dieser Art anzuziehen. Doch irgendwann erkannte sie den Grund, warum sich diese Leute hier trafen. Wenn man wollte, konnte man sich in diesem Bistro vor den Augen der Welt verstecken. Nach einem halben Jahr dachte sie nicht mehr darüber nach. Im Gegenteil, sie begann die spezielle Kundschaft zu genießen. Eines Tages öffnete diese ihr plötzlich und unerwartet die Tür zur Berliner Kunstszene und ermöglichte ihr so die erste eigene Ausstellung.
Ein Geräusch schreckte sie auf. Lisas Ordner hatten sich verselbständigt und polternd auf dem Boden verteilt. Seufzend musste Florentina in die Gegenwart zurückkehren. Obwohl ihre Augen versuchten, der geschäftigen Brautjungfer nun aufmerksamer zu folgen, glitten ihre Gedanken schon wenige Augenblicke später erneut ab. Eben genau zu diesem ganz besonderen Tag, als sie die Tür der Galerie öffnete. Die war klein, speziell, aber dennoch gut besucht.
Staunend und mit Stolz im Blick begrüßte sie die handverlesenen Gäste. Eylin war wie immer an ihrer Seite. Mit einem vollen Tablett kämpfte sie sich durch die Leute und verteilte Champagnergläser. Aufmunternd zwinkerte sie ihrer Schwester zu, die vor Aufregung völlig neben sich stand. Dass Florentina bei Mirko Stammer - Inhaber der auf dem Universitätsgelände ansässigen Galerie - ausstellen durfte, glich einem Ritterschlag. Mirko war bekannt für Extravaganz, galt als unbestechlich und fern jeglicher Schmeichelei. Wenn einer wusste, was in der Kunstszene gerade angesagt war, dann er. Ab und zu hielt er an der Universität Vorträge über Farbenlehre. Er galt als Koryphäe auf diesem Gebiet. Trotzdem waren seine Veranstaltungen meist schlecht besucht.
So hatte es sie nicht verwundert, dass er sich ihrer Malerei widmen konnte. Dass er tatsächlich an ihren Bildern interessiert war, glaubte sie allerdings nicht. Vielmehr schienen ihre blonden Locken die Türen der Galerie für sie zu öffnen, wie so oft. Es ärgerte sie, wurde sie allein auf ihr Äußeres reduziert. Außerdem nannte Mirko Franz Blumberg einen guten Freund und dessen Bistro einen Ort, den er als seine Muse adelte.
Eylin war anderer Meinung. »Schätzchen, das ist doch vollkommen egal. Schließlich heiligt der Zweck die Mittel. Du musst nutzen, was dir die Natur bietet. Auch, wenn es blonde Locken sind. Die Chance, bei einem angesagten Galeristen ausstellen zu dürfen, ist nicht alltäglich. Du musst nur daran glauben und deine besondere Begabung gibt dir alle Zeit der Welt. Ich jedenfalls bin dein größter Fan.«
Ob nun Talent oder blondes Haar? Vielleicht ist es wirklich egal, was am Ende zum Erfolg führt, dachte sie und schaute nervös auf die Anwesenden.
Nach einer kurzen Ansprache des Inhabers Stammer prosteten alle der Künstlerin zu. Weil Florentina wie erstarrt wirkte, bat Eylin ums Wort.
»Werte Gäste, ich bitte kurz um Ihre Aufmerksamkeit. Wer mich noch nicht kennt, mein Name ist Eylin Kummer. Ich bin Florentinas Schwester und ihre größte Bewunderin.«
Jedes Gespräch verstummte und alle Augen richteten sich auf Eylin. Ihr schien es, im Gegenteil zu Florentina, nichts auszumachen. Sie wäre am liebsten davongelaufen.
Himmel, diese Gefühle sollte ich mir dringend abgewöhnen, wenn ich in Zukunft öfter hier sein will!, ärgerte sie sich über ihre plötzliche Panik.
»Bitte schauen Sie sich um und sollten Sie Gefallen an einem der Werke finden, stehen Herr Stammer und wir Ihnen gern zur Verfügung.«
Erneut wurden die Gläser gehoben und Eylin strahlte Florentina an. Als sich die Gäste den Bildern zuwandten, kam sie mit einem kleinen Päckchen, eingewickelt in Seidenpapier, überglücklich auf sie zu.
»Das ist für dich, herzlichen Glückwunsch!« Florentina schaute sprachlos in die strahlenden Augen ihrer Schwester. »Mach es auf! Los, auf was wartest du?«
So ungeduldig und aufgeregt hatte sie die sonst so beherrschte Eylin noch nie gesehen. Vorsichtig zog sie an den goldenen Schleifen und schob das Papier zur Seite. Mit Tränen in den Augen hielt sie einen schlichten Holzrahmen in der Hand. Unter dem Glas kam eine bunte Kinderzeichnung zum Vorschein. Ein getupftes Blütenmeer und darunter stand:
Eine Blumenwiese - Florentina Kummer 6 Jahre
»Ich weiß gar nicht…«, stotterte sie schniefend. »Woher hast du das?«
»Ich habe es damals von der Wand der KITA geholt und einfach mitgenommen. Hat glaube ich keiner bemerkt und vermutlich niemanden interessiert. Ich wusste damals schon, dass deine Blumenwiese eines Tages ein großer Erfolg wird«, schmunzelte sie, strich ihr liebevoll die Tränen von den Wangen und wendete sich erneut den Gästen zu.
Florentina wusste, weshalb sich Eylin so schnell wegdrehte. Ihr Stolz verbot ihr, Tränen der Rührung zu zeigen. Das konnte sie sehr gut verstehen. Bereits ihr ganzes Leben lang bewunderte sie Eylins Stärke. Es erfüllte sie mit Wärme, dass es in ihrem Leben einen Menschen gab, der sie so bedingungslos liebte. Das kribbelnde Gefühl auf ihrer Haut, das die wohlwollende Kritik der Betrachter ihrer Kunst hinterlassen hatte, war für sie nach so langer Zeit noch immer spürbar. Und es sollte nicht die letzte Galerie bleiben, die Florentina die Ehre erwies, ihre Bilder auszustellen.
»He, Florentina! Ich habe dich etwas gefragt!«
Erschrocken und peinlich berührt sah sie erneut auf und in das verdutzte Gesicht der Brautjungfer, die ihr vermutlich in den letzten Minuten jede Sekunde der bevorstehenden Hochzeit erklärt hatte. Lächelnd ließ sie Lisa noch einmal wiederholen, was sie zuvor verpasst hatte.
»Florentina, darf ich dich etwas fragen?« Lisas Gesicht sprühte vor Neugier. »Du hast mir nie erzählt, wo dir dieser Supermann über den Weg gelaufen ist.«
Lisas naive Neugier brachte sie zum Lachen. Bisher hatte sie noch mit niemandem, außer Eylin, ernsthaft über ihre Beziehung mit Leander gesprochen. Dennoch tat sie Lisa den Gefallen, lehnte sich zurück, schloss die Augen und begann zu erzählen. Bereits nach wenigen Sätzen überflutete sie ihr Gehirn mit Bildern des Tages, an dem ihr Märchen begann. Mit Hilfe ihrer Worte kehrte sie zurück in das Bahnhofsbistro - einer der merkwürdigsten Orte, den sie je kennengelernt hatte.
Inzwischen hatte sie ihr Kunststudium erfolgreich abgeschlossen. Eine Stelle war nicht in Sicht und deshalb hielt sie Franz Blumberg und seinem Bistro noch immer die Treue.
An einem grauen Herbsttag - ein Abend wie viele - kroch plötzlich ein seltsames Gefühl unter ihrem Haaransatz entlang. Erst bei ihrer zweiten Runde durchs Bistro erkannte sie den Grund hierfür. Ein großer Mann mit rotem Haar saß am Tisch Nummer vier, kerzengerade und unbeweglich wie eine Schaufensterpuppe. Der Platz, den er gewählt hatte, konnte einen Menschen vor der grauen Wand unsichtbar werden lassen. Sein Blick, der ihr in jede Richtung folgte, schien sich für alle Zeiten an ihrem Körper festsaugen zu wollen. Zunächst nahm sie ihn nur flüchtig wahr. Aber irgendwann spürte sie seine Augen bis unter ihre Haut. Dann ging er - ohne ein Wort - kein Lächeln und als er die Tür hinter sich zuwarf, erschrak sie. Noch Stunden später glaubte sie, seine Augen hinter sich im Spiegel erkennen zu können. Selbst unter der Dusche ließ sich dieses Gefühl nicht vertreiben. Sie versuchte, ihren Schwamm dazu zu überreden, diesen eingebrannten Blick abzuwaschen - jedoch ohne Erfolg.
Müsste mir das, was ich fühle nicht korrekterweise Angst machen? Fragend verfolgte sie die verträumten Blicke ihres Spiegelbildes und schlang mit geschickter Hand das Handtuch um die nassen Locken.
Nein, macht es nicht, legte sie trotzig fest. Und ich finde ihn aufregend!, gestand sie dem frechen Gesicht im Spiegel.
Von nun an wiederholte sich dieses Spiel an jedem weiteren Mittwoch - zwei Monate lang und immer war es das Gleiche. Florentina war nicht schüchtern und keinesfalls auf den Mund gefallen. Doch dieser Mann verstand es, ihr nur mit seinen Augen Romane zu erzählen und so gelang es ihm, sie ein ums andere Mal sprachlos zurückzulassen. Allmählich machte sie die Situation wütend. Trotzdem hütete sie sich, jemandem etwas von ihrer Aufregung zu erzählen. Nur ein Blick in die verträumten Augen ihres Chefs waren ihr Warnung genug. Wieder war es ein Mittwoch - sie stand an seinem Tisch mit dem bestellten Sandwich und Espresso - wie gewohnt. Rote Wangen und mit klopfendem Herzen - so laut, dass er es hätte hören müssen und dann geschah das, was sie nicht mehr für möglich gehalten hatte.
»Entschuldigen Sie…«, fragte er, »…haben Sie heute Abend noch etwas vor? Ich würde Sie gern zu einem Drink auf meinen Landsitz einladen!«
Was soll denn das? Sie zögerte und reihte jeden einzelnen Buchstaben hinter ihrer Stirn noch einmal aneinander. Kein Zweifel, jedes Wort seines Satzes war korrekt und stand exakt an der richtigen Stelle.
Erst sagt er monatelang nicht ein Wort und jetzt lädt er mich auf seinen Landsitz ein? Was will der Typ von mir?, fragte sie sich irritiert.
Jede Zelle ihres schreienden Gehirns war wenige Sekunden später fassungslos. Es bewegten sich ihre Lippen. Die Worte, die sie formulierten, ließen ihren Geist in Panik geraten.
»Eigentlich nichts Besonderes«, antwortete sie provozierend. »Wann holen Sie mich ab?«
Das freche Grinsen auf ihrem schmalen Gesicht veränderte sofort seine Ausstrahlung.
»Verstehen Sie mich bitte nicht falsch«, raunte er und kniff dabei seine Augen zusammen. »Ich beobachte Sie schon sehr lange. Sie wirkten auf mich nicht wie eine typische Kellnerin und Ihre freche Antwort bestätigt mir, dass ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe. Mein Angebot meinte ich ernst. Ich möchte gern mit Ihnen etwas trinken, hier oder wo immer Sie wollen.«
»Nun, Lisa«, beendete sie ihre Erzählung. »Dieser Abend liegt nun beinahe zwei Jahre zurück.«
Zufrieden mit Florentinas ausführlicher Beschreibung, die einen Hauch von Aschenputtel hatte, widmete sich Lisa erneut ihren Vorbereitungen. Beim Blick auf die verklärten Augen der Brautjungfer wurde sie nachdenklich. Leander verstand es noch immer, sie zu verblüffen. Dass er Geheimnisse hatte, wusste sie vom ersten Tag an. Bereits nach den ersten zwei Nächten in seinen Armen hatte sie sich keine Zweifel mehr erlaubt und jeglichen Argwohn leichtfertig bei Seite geschoben. Bis heute redete sie sich ein: Ein erfolgreicher Chirurg, der obendrein noch fünfzehn Jahre älter als seine zukünftige Frau war, musste ein Vorleben haben. Warum er ihr bis jetzt nur wenig aus seiner Vergangenheit erzählte, konnte sie nicht sagen. Ihr Umfeld hingegen beobachtete den stillen, meist arrogant wirkenden Mann an ihrer Seite noch immer mit sehr gemischten Gefühlen. Jeder hatte sie gewarnt und nicht nur einmal.
Was, wenn sie recht haben?, fragte sie sich grübelnd.
Nachdem er sich gestern lieblos abwendete und neben ihr wieder einmal erschöpft eingeschlafen war, hatte sie ihn erneut nachdenklich betrachtet.
Vielleicht habe ich einfach nur zu viel erwartet, redete sie sich schließlich ein.
Er strahlte ein geheimnisvolles Flair aus. Das genügte gewöhnlich, um ihr Blut in Wallung zu bringen. Für Leander schien diese Tatsache jedoch selbstverständlich. Was war falsch daran? Jetzt, kurz vor der Hochzeit, fühlte sie sich zunehmend unsicher. Hilflos schob sie seine wenigen Emotionen, die er zeigte, auf Stress und die Aufregung über den neuen Lebensabschnitt, der vor ihnen lag.
Ich bin glücklich. Leander ist das Beste, was mir in meinem Leben passieren konnte.
Der Warnung in ihrem Inneren begegnete sie, wann immer es ihrem Unterbewusstsein gelang zu ihr vorzudringen, mit Trotz.
Lisa hat recht. Alles wird gut. In wenigen Wochen bin ich Leanders Frau und alles andere wird sich finden.
Während der Versprechungen hinter ihrer Stirn, die man kaum als ernsthaft bezeichnen konnte, beobachtete sie lächelnd die Brautjungfer.
Kapitel 2
Boston - Massachusetts - USA
Seit vier Monaten lebte sie nun in Boston und an Leanders Seite. Der Alltag schlich sich viel zu schnell in ein Leben, das eigentlich von Glückseligkeit erfüllt sein sollte.
Mit einem Pott Kaffee in der Hand öffnete sie die Tür nach draußen und ließ ihren Blick über die Skyline von Boston schweifen. Die Aussicht vom Balkongeländer des zehnten Stocks war atemberaubend. Die Hochhäuser rundherum leuchteten in der Abenddämmerung wie unzählige, gelb-orange-farbene Punkte im Spiegel eines Sees. Ihr Westend-Apartment war unverschämt teuer und mit nichts zu vergleichen, was sie bisher in ihrem Leben an Wohngegenden zu Gesicht bekommen hatte. Lange gelbe Schatten liefen über die Wasseroberfläche des Flusses und das praktisch vor der Haustür. Eingebunden in eine weitreichende Parkanlage, war vom Lärm der turbulenten Stadt nichts zu hören.
Wenige Tage vor ihrer Abreise nach Boston war Leander bereits vor Ort gewesen und hatte ihr wunderschöne Bilder aus dem Townhome geschickt, aufgenommen von der Dachterrasse eines benachbarten Hochhauses. Bei Prosecco und Knabbergebäck hatte sie im Kreise ihrer Freundinnen gesessen und gekichert wie ein aufgeregter Teenager vor der ersten Disko. Mit einem Glas in der Hand prostete sie ihnen zu und hoffte, den Konflikt in ihrem Inneren verbergen zu können.
Ähnlich wie damals, in Gedanken versunken, führte sie nun seufzend den weißen Kaffeepott mit schwarzen Schäfchen an ihre Lippen. Leander fand das Geschenk ihrer Brautjungfer unmöglich und albern. Als sie die Tasse ausgepackt hatte und ihr Blick feucht wurde, verdrehte er nur die Augen und fragte: »Meinst du nicht, es wird Zeit erwachsen zu werden?«
Die Stille, die sich sofort unter den Hochzeitsgästen ausbreitete, war ihr furchtbar peinlich gewesen. Der vielsagende Blick ihrer großen Schwester hatte ihr da zum ersten Mal Angst gemacht vor dem großen Schritt in ein Leben, von dem es vielleicht kein Zurück gab. Eylin kümmerte sich schon so lange Zeit und sehr bedacht um sie, dass sie am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre. Als große Schwester war sie von Kindesbeinen an ihre Seelenverwandte und sie hatte ihr immer blind vertraut. Wenn sie ehrlich darüber nachdachte, äußerte sie Ratschläge oder Einwände niemals unüberlegt und stets nur aus gutem Grund. Trotz allem hatte sie nur dieses eine Mal an ihr ganz persönliches rosarotes Wunder glauben wollen.
Verstohlen sah sie im Augenwinkel das Entsetzen in Eylins Gesicht. Um den Fauxpas nicht noch größer werden zu lassen war sie aufgestanden und hatte vorzeitig die Hochzeitsfeier ihrer kleinen Schwester verlassen. Obwohl Florentina ihre Ansicht verstehen konnte, war sie so wütend gewesen. Sie empfand Eylins Reaktion als Eifersucht. Nachdem sie am Abend mit ihr telefonierte, hatte sie vollkommen außer sich ihr Smartphone an die Wand geworfen. Seit diesem verhängnisvollen Tag, der eigentlich der Schönste in ihrem Leben hätte sein sollen, herrschte zwischen ihnen Funkstille. Wie gern würde sie Eylin nach Boston holen. Sie stellte sich vor, wie beide mit großer Euphorie die Umzugskartons ausgepackt hätten. Aber allein der tadelnde Blick ihres Mannes, der dabei zu vermuten wäre, würde ihre Schwester bereits nach fünf Minuten vertreiben.
Ich bin unfair!, unterbrach sie kopfschüttelnd ihre mürrischen Gedanken.
Leander sorgte gut für sie, sodass es ihr an nichts fehlte. Und dennoch fühlte sie in ihrem Inneren eine Leere, die jeden Tag größer wurde.
Man kann sich mit diesem Mann einfach nicht streiten, überlegte sie.
So lange sie sich kannten, hatten sie sich noch niemals ernsthaft gestritten. Seine Distanziertheit legte er nie ab und forderte von ihr ein ähnliches Verhalten. Fröhliches Lachen, alberne Neckereien, Zärtlichkeiten - einfach nur weil man beieinander saß, waren für ihn Zeitverschwendung und er nannte es kindisch.
Je mehr sie mit ihren Gedanken in ihr jetziges Leben abschweifte, desto mehr verkümmerte der Rest von Fröhlichkeit. Als sie die schwere Glastür des Balkons hinter sich verschloss und in den weiträumigen Wohnraum trat, war ihr Gesicht nass von Tränen. Dass sie lautlos weinte, hatte sie nicht bemerkt. Es würde ohnehin niemand sehen. Tränen waren für Leander ein Zeichen für kindisches Benehmen. Deshalb bemühte sie sich, in seiner Gegenwart niemals in Tränen auszubrechen. Gleiches galt für Zorn- oder gar Wutausbrüche, so wie es bei allen jungen Paaren manchmal vorkam. So etwas hinterließ auf seinem Gesicht nur ein träges Lächeln und war somit völlig sinnlos. Wie eine Stoffpuppe und mit starrem Blick, hatte er heute Morgen am Küchentisch ihre Gefühle hingenommen.
»Frau Doktor Florentina Carwell - gut versorgt und schmückendes Anhängsel an der Seite eines hoch erfolgreichen Starchirurgen!«, hatte sie ihm voller Wut an den Kopf geworfen.
Warum hatte sie nicht auf die Warnungen ihres Umfeldes gehört und diese so bedenkenlos ignoriert? Zu groß waren wohl für sie die Anziehungskraft seiner geheimnisvollen Art und einer gesicherten Zukunft gewesen und damit ausreichende Gründe, um Leander bis ans Ende der Welt zu folgen.
Der geräumige weiß-getünchte Wohnraum des Lofts wirkte auf Florentina steril und ungemütlich, entsprach aber dem Geschmack ihres Mannes. Selbst zu Hause wollte er eine sterile Umgebung. So duldete er nichts Unnötiges in den Regalen über dem fünfundfünfzig Zoll großen Fernseher, der letztlich nur zum Status gehörte, weniger, weil man ihn nutzen wollte. Das galt für jedes Möbelstück des Apartments. Die Luxus-Glasstühle der Kochinsel verlangten sie anzuheben, wollte man sie bewegen, denn der Naturholzboden mit edelstem Lack versiegelt, würde keinen unbedachten Kratzer verzeihen. Vermutlich ebenso wenig wie Leander. Das zeigten ihr seine hochgezogenen Augenbrauen, wenn sie am Abend den Tisch verließen. Einzig mit dem Aufhängen ihrer eigenen Bilder und Collagen war er einverstanden. Zunächst glaubte sie, er mochte ihre Kunst und war stolz auf ihre hochgelobten Arbeiten.
Völlig abwesend lehnte sie an der grau-schwarz gesprenkelten Naturstein-Arbeitsplatte und betrachtete das Farbenspiel des Bildes ihrer letzten Berliner Vernissage an der tristen Wand. Leander hatte sie gebeten, es nicht zu verkaufen. Er hatte ihr erklärt, es sei sein Lieblingsbild. Dass andere Interessenten genau diese Arbeit ebenso mochten, hatte dabei möglicherweise eine größere Rolle gespielt, als er zugeben würde. Vielmehr war der Kampf um die ’Frühlingswiese’ für ihn eine Art Sport. Vielleicht hätte er ein Vermögen ausgegeben, um es zu gewinnen. Jetzt glaubte sie manchmal, er nahm das Bild gar nicht mehr wahr. Es genügte ihm, es zu besitzen - ebenso wie seine Frau.
Heute Morgen fasste sie endlich den Entschluss, seine Gleichgültigkeit nicht länger hinzunehmen. Schließlich hatte sie für ihn ihre Familie, Freunde, eben ihr komplettes Umfeld aufgegeben. Hier nun zu verkümmern ohne Anschluss oder Aufgabe und allein nur als hübsches Vorzeigeobjekt des bestbezahlten Schönheitschirurgen Bostons zu existieren, genügte ihr einfach nicht. Obwohl sie wusste, es war seine Art die Dinge anzugehen, wurde ihr Ärger darüber zusehends größer. Leander war ein Mann, der Emotionen nur dann zeigte, wenn er ein bestimmtes Ziel verfolgte. Das galt insbesondere für ihre Beziehung. Florentina bemerkte es sofort, wenn er sie ins Bett locken wollte. Bis zu dem Augenblick, da sie sich ihm hingab, bemühte er sich, ein zärtlicher Liebhaber zu sein. Sobald er jedoch zufrieden neben ihr niedersank, entzog er ihr seine Nähe. Nähe, die sie so sehr brauchte, sich sehnte und sich danach verzehrte. Er konnte die Bedürfnisse seiner Frau einfach nicht nachvollziehen.
»Was willst du?«, hatte er sie einmal ruhig und beinahe unbeteiligt gefragt. »So wie ich das bemerkt habe, bist du auf deine Kosten gekommen. Ich denke, das dürfte genügen. Florentina, wir sind keine jung verliebten Teenager. Es müsste dir inzwischen klar geworden sein, wie sehr ich Zeitverschwendung verabscheue. Die restlichen Stunden der Nacht zu schlafen, ist sehr viel effektiver und absolut notwendig. Morgen warten auf mich wichtige Aufgaben.«
Scheinbar widerwillig und mechanisch hatte er ihr dann übers Haar gestreichelt, ihr beiläufig die tränennassen Wangen getätschelt, ihr anschließend seinen Rücken zugedreht und nur wenige Augenblicke später hatte sie ihn leise schnarchen gehört. Egal, wie oft sie sich beklagte, an seiner unmöglichen Art hatte sich bis heute nichts verändert.
Sie suchte nach einem Taschentuch und setzte sich an den Küchentisch, wischte sich die Augen, schaute auf die Uhr und seufzte hilflos.
Frühestens in drei Stunden wird er kommen, dachte sie, so wie jeden Tag.
Selbst an den Wochenenden schrieb er an einer Dissertation oder Rückblenden auf besonders erfolgreiche Operationen. Ihm kam dabei niemals in den Sinn, Florentina könnte ihn vermissen. Er verstand nicht, dass sie Zeit mit ihrem Mann verbringen wollte, von dem sie glaubte, er würde sie lieben. Inzwischen bezweifelte sie, dass er das Gleiche empfand. War es ein Fehler zu vertrauen und ihm in ein anderes Leben zu folgen? Sie wusste es nicht. Dass sich daran etwas ändern musste, da war sie sich jedoch sicher.
Zunächst stand sie auf, schob den Desginger-Stuhl an den Tisch und stellte die Tasse - die inzwischen zum Wertvollsten wurde, was sie besaß - in die Spülmaschine. Mit wachsendem Ärger schob sie die Tür zu. Etwas zu heftig für dieses Luxusstück. Mit Sorge im Hinterkopf, aber fest entschlossen, verschwand sie in den Kissen der noblen Ledercoutschlandschaft und wartete auf Leander.
»Bitte, Florentina, das haben wir heute Morgen ausgiebig besprochen. Und ehrlich, es fehlt mir an der Zeit, um das gleiche Thema nochmals anzugehen!«
Er stand hinter ihr und seine Hand bewegte sich langsam in Richtung ihres Haaransatzes. Er wusste, wie sehr sie sich nach Berührungen von ihm sehnte und nutzte dieses Verlangen gnadenlos aus. Es war durchaus ein geeignetes Mittel um sicherzustellen, dass sie ihm in sein Bett folgte. Heute Abend blieb sie jedoch hart, gab ihm nicht nach und forderte von ihm eine Antwort.
»Gut, dann nicht, kein Problem. Ist in Ordnung, wenn du keine Lust hast. Dann gehe ich jetzt schlafen. Es war ein langer Tag. Bleib nicht so lange auf, Liebes!«
Er beugte sich zu ihr hinunter, küsste flüchtig ihr Haar und ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging.
»Leander, wo willst du hin?«, schrie sie ihm hinterher.
Die Intensität ihres plötzlichen Gefühlsausbruchs ließ ihn tatsächlich stehen bleiben. Mit runzelnder Stirn und zusammengekniffenen Augen drehte er sich ihr zu und schien zu warten.
»Du wirst mir jetzt zuhören.« Sie versuchte ein wenig ihre Stimme zu senken. »So geht das nicht weiter. Ich weiß, dass du viel zu tun hast. Aber ich bin auch noch da. Warum hast du überhaupt geheiratet, wenn du nur ein Vorzeigepüppchen brauchst?«
Er stand teilnahmslos mit dem Rücken an den Tisch gelehnt, während sein Blick starr auf ihr Gesicht gerichtet blieb. Seine Augen funkelten ungewohnt gereizt.
»Du willst mich nicht verstehen! Nur deine Frau zu sein genügt mir nicht. Ich brauche eine Aufgabe!« Mit jedem Wort, was sie zwischen ihren Lippen hervorpresste, wurde sie wieder lauter. »Ich ersticke allmählich in diesem goldenen Käfig!«
»So, du sehnst dich nach einer Aufgabe…«, sagte er gedehnt. Er ging auf sie zu, nahm ihre Hand und versuchte, sie in seine Arme zu ziehen. »Ich habe eine fabelhafte Idee. Lass uns doch dafür sorgen, dass du bald eine Aufgabe bekommst.«
Leander war von seinem Vorschlag mehr als überzeugt und wirkte etwas verstört, als sie sich von seiner Hand losriss.
»Was glaubst du, was wir hier tun? Du meinst ernsthaft ein Baby? Jetzt? Das würde mich ja endgültig in diesem Luxuskäfig einsperren. Das kommt überhaupt nicht infrage. Ich habe einen Abschluss in Kunstgeschichte - mit Bestnoten - und war in Berlin eine gefragte Künstlerin. Ich will arbeiten, Kontakte zu anderen haben…«
In Tränen aufgelöst versank sie verzweifelt in den Kissen der Sofalandschaft. Seine Reaktion zeigte ihr, dass er sie weder verstand, noch gewillt war, an ihrer Misere etwas zu ändern.
»In Ordnung, Florentina. Denk bitte über meinen Vorschlag nach. Vielleicht war der Zeitpunkt falsch gewählt. Aber ich meine, du wirst letztlich den Gedanken mögen, unser Kind aufzuziehen. Sag mir einfach Bescheid, wenn du zu einer Entscheidung gekommen bist. Okay?«
Er zuckte nur frustriert mit den Schultern, stöhnte und wünschte ihr eine gute Nacht. Ohne noch eine weitere Reaktion von ihr abzuwarten, drehte er sich um und wenig später verschwand er in Richtung Schlafzimmer.
Florentina starrte ihm fassungslos hinterher. Beinahe hätte sie etwas nach ihm geworfen. Sie wusste einfach nicht wohin mit ihrem Zorn. Die Tatsache, dass er sie wie ein Möbelstück behandelte und mit ihr sprach, als wäre sie ein kleines Kind, ließ ihre Wut allmählich einem hilflosen Schluchzen weichen. Zwei Stunden später saß sie noch immer auf dem Sofa. Ihre Arme umklammerten ein Kissen, dessen Nähe ihr zum einzigen Trost wurde, den sie in dieser Atmosphäre finden konnte. Der Fleck, den sie an der gegenüberliegenden Wand permanent anstarrte, schien vor ihren Augen zu wachsen.
Inzwischen überlegte sie, die Koffer zu packen und nach Hause zu fliegen. Ihr trüber Blick suchte nach dem Smartphone und in Gedanken wählte sie bereits Eylins Nummer. Wobei sie genau wusste, was sie sie fragen würde: »Habe ich es dir nicht vorher gesagt?«
Sie schämte sich für ihre Unfähigkeit, sich zu wehren. So, als übte er einen unsichtbaren Zwang aus, was natürlich völliger Blödsinn war. Nichts dergleichen hatte er jemals gesagt oder getan.
Wenn er mal was sagt, dachte sie frustriert und suchte ihr Taschentuch. Wie soll ich das Eylin erklären? Würde sie mich verstehen?
Plötzlich verschmolz ihr Mut mit dem imaginären Fleck an der gegenüberliegenden Wand. Resignierend versank sie noch tiefer in den Kissen.
Ist das bereits das Ende meiner Ehe? Hatten wir vielleicht von Beginn an keine Chance?, fragte sie sich verzweifelnd.
Irgendwann schlief sieh erschöpft ein und als sie am nächsten Morgen in die besorgten Augen ihres Mannes sah, der vor ihr kniete, lösten sich ihre Ängste auf wie Nebel an einem kühlen Frühlingstag.
Kapitel 3
Die Frühlingssonne streichelte Florentinas Wangen. Ihre Finger lagen warm und sicher in Leanders Hand. Als sie nach ihr tastete, hatte er sie ihr nicht entzogen. Stattdessen strichen seine eleganten und schmalen Finger sanft über ihre Handinnenflächen.
Noch vor vierundzwanzig Stunden hätte sie so etwas für vollkommen ausgeschlossen gehalten. Nachdem sie sich gestern Abend wie ein verängstigter und verstoßener Igel zusammengerollt in den Schlaf geweint hatte, waren es eben diese Finger, die sie am Morgen vorsichtig weckten. Sie hatte in Leanders besorgtes Gesicht geblickt und wusste zunächst nicht, wo sie sich befand. Ihre schmerzenden Augen suchten nach Orientierung und Erinnerung. Ein Blick auf das Kissen in ihren Armen hatte sie schmerzlich und in Sekundenschnelle zurückgebracht. Nur mühsam richtete sie sich auf. Offenbar lag sie Stunden in einer Position, die jeder Muskel ihres Körpers nun mit empfindlichem Schmerz kommentierte. Wortlos hatte sie sich von Leander hoch und in seine Arme ziehen lassen, als er ihr vorsichtig die wilden Haarsträhnen aus dem Gesicht strich.
»Du bist noch hier?«, hatte Florentina kaum hörbar geflüstert.
»Das ist schon in Ordnung. Mach dir darüber keine Sorgen. Ich habe in der Praxis angerufen und Yannina gebeten, alle Termine für heute abzusagen.«
»Aber Leander…?«
»Pst…«, hatte er sanft geraunt und ihr erneut übers Haar gestrei- chelt.
»Komm, ich habe Frühstück gemacht! Möchtest du einen Kaffee?«
Irritiert und verunsichert waren ihre Augen seinen Schritten bis an den Küchentisch gefolgt. Leander hatte tatsächlich alles vorbereitet, selbst der von ihm so sehr verabscheute Kaffeepott stand auf ihrem Platz. Misstrauisch hatte sie sich zu ihm gesetzt und ihm fragend in die matt-grün-leuchtenden Augen gesehen. Leanders Augen, die sonst niemals verrieten, was hinter seiner Stirn vorging, wirkten nun offen und freundlich.
Während er ihre Hand zart berührt hatte, sagte er: »Lass uns den Tag zusammen verbringen. Ich muss gestehen, dich auf dem Sofa vorzufinden, hat mich über einiges nachdenken lassen. Was möchtest du tun? Komm, sag mir worauf du Lust hast!«
Sein plötzlicher Sinneswandel hatte für Florentina etwas Unheimliches, sodass sie zunächst nicht wusste, wie sie darauf reagieren sollte. Doch dann fragte sie ihn, ob er ihr Boston zeigen würde. Nicht den pompösen Häuserschluchten und Villen in reichen Vororten, wie im Hochglanzkatalog ihrer Brautjungfer galt ihr Interesse. Sie hatte das wirkliche, lebendige Boston sehen wollen. Es zog sie dorthin, wo es Menschen gab wie sie, nach deren Kontakt sie sich sehnte und vielleicht bekam sie so die Chance, zumindest kurzzeitig in ein alltägliches Flair eintauchen zu können, um Leanders Glaspalast zu entfliehen. Er hatte lächelnd zugestimmt. Ein leichtes Zucken seines markanten Kinns ließ jedoch erkennen, wie unangenehm für ihn schon der Gedanke gewesen sein musste, sich in ein fremdes Menschengewühl zu stürzen. Langsam waren ihre Lebensgeister zurückgekehrt und sie glaubte daran, dass es ein Neuanfang für ihre Beziehung sein könnte. Immerhin hatte er nachgedacht und war ihr entgegengekommen.
Das muss zunächst genügen!, fand sie und griff stärker nach seiner Hand, sodass er sich erstaunt zu ihr drehte.
Mit einem verstehenden Lächeln schlenderte Florentina durch die wuselnde Menschenmenge. Bostons Frühling war unbeschreiblich schön. Die Vorstadt gepflegt und jedes Haus wurde eingerahmt von zierlichen Gärten. Die farbigen Punkte der sich mühsam unter dem Schnee hervorkämpfenden Blüten versprühten Hoffnung und gierten nach Wärme und Licht. Plötzlich fühlte sie sich jedem aufkeimenden Leben vor ihren Augen sehr nah und in ihrem Kopf entstanden bereits große und kleine Blüten auf weißem Karton. Jeder Bostoner, der ihnen mit vollem Bastkorb eilig entgegenkam, hatte ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Eine alte Frau schob einen Wagen vor sich her, der übervoll schien mit Gemüse, Obst und jungen Pflanzen. Manches von ihnen sah Florentina zum ersten Mal. Völlig verzaubert und wie ein staunendes Kind schaute sie ihr nach.
Leander verfolgte ihren Blick, zog sie langsam weiter, legte dabei vorsichtig seinen Arm um ihre Schulter und flüsterte ihr leise ins Ohr: »Es wird Zeit, dir etwas mehr von der Stadt zu zeigen. Lass uns auf den Wochenmarkt gehen. Ich bevorzuge zwar einen Lieferservice, aber wenn es dir Freude macht die Lebensmittel selbst auszusuchen, warum nicht. Und ich weiß natürlich, wie wichtig eine gesunde Ernährung ist.«
Dabei zwinkerte er ihr verstohlen zu. Sofort überkam sie ein ungutes Gefühl. Seine Worte bohrten sich wie ein Stich ins Herz. Sie setzten exakt dort an, wo sie am Abend beinahe das Ende ihrer Ehe beschlossen hatte. Trotz der Warnung in ihrem Hinterkopf schob sie den Gedanken vorerst beiseite und strahlte ihn dankbar an. Zufrieden und schon einiges selbstsicherer als am Morgen, drückte er ihre Schulter.
Von Weitem konnte sie den belebten Markt erkennen. Es ging hier zu wie in einem Ameisenhaufen. Das Gewusel zog sich über vorgewiesene Pfade und ohne Zweifel, nur in eine Richtung. Dabei wirkte das Durcheinander geplant und schien einem jahrzehntelangen Muster zu folgen. Alle wirkten zufrieden. Das sah sie in jedem Gesicht, was ihr freundlich entgegenkam. Mitten zwischen den Häuserfluchten, die in alter und stolzer Schönheit die Straßen säumten, quollen Stände hervor. Die Pracht der Farben und die Fülle angebotener Marktwaren waren überwältigend.
»Willkommen im Haymarket Boston!«, grinste Leander jungenhaft.
Offenbar amüsierte er sich über ihre kindliche Freude, die er nach wie vor missdeutete. Dass Florentina von Kindesbeinen an von leuchtenden und natürlichen Farben angezogen wurde, war ihm nicht bewusst. Freundlich nickend winkte ihr ein Händler zu, der durch sein asiatisches Äußere einen exotischen aber ebenso vertrauenswürdigen Eindruck vermittelte. Der Mann war nicht groß, etwas füllig und scheinbar Anfang vierzig. Seinen Stand mit unzähligen Waren hatte er vor sich aufgebaut. Er wirkte wie ein Bollwerk, hinter dem der Mann Mühe hatte hervorzuschauen. Seine Arme waren einfach zu kurz und gaben ihm kaum eine Chance, der brünetten Frau im blauen Wollmantel den Karton, gefüllt mit Salat, herüberzureichen. Fröhlich lachend streckte sie ihm ihre Arme entgegen.
Ganz plötzlich, so als hätte jemand einen Schalter umgelegt, überkam Florentina ein Gefühl von ungestümer Lebensfreude. Etwas Eigenartiges begann sich in ihr zu regen. In diesem kurzen Augenblick erwachte sie aus ihrer Starre, die sie sich selbst auferlegte. Offenbar war sie bisher in dem Glauben, nur auf diese Art Leander eine gute Ehefrau sein zu können. Noch hatte sie keine Ahnung, wie sie den Panzer, der sie seit ihrer Hochzeit einschnürte, sprengen sollte. Das es geschehen musste, stand außer Frage. Sie nahm sich vor, ihr Leben mit Leander komplett umzukrempeln. Dabei konnte sie nur hoffen in der Lage zu sein, es nicht zuzulassen, dass sie in die alte Lethargie zurückfiel. Gleichzeitig gab sie seine Hand frei. Sie sahen sich für Sekunden unschlüssig in die Augen.
Mit einem merkwürdigen Blick räusperte er sich und merklich abgekühlt fragte er: »Möchtest du etwas von hier mitnehmen oder wollen wir in der Altstadt etwas essen?«
Wohl wissend, dass er die Öffnung ihres Kokons bemerkt hatte, sagte sie beiläufig und ohne ihn direkt anzusehen: »Nein, das denke ich nicht. Wir werden uns hier etwas suchen. Außerdem wird es Zeit, dass wir miteinander reden. Vorher möchte ich mir die Stände ansehen, mit den Leuten ins Gespräch kommen und dabei völlig aufgehen in Bostons Zauber.«
Ohne sich weiter um Leander zu kümmern, wendete sie sich der Brünetten zu und fragte sie nach der Art des Gemüses, das sie gerade gekauft hatte. Trotz des ungewöhnlichen Wunsches antwortete sie freundlich. Sie erkannte, dass die Fremde mit ihrem starken Akzent keine Amerikanerin war. Obwohl es Florentina ohne Mühe gelang, sich mit ihr auszutauschen. Nach der angenehmen Plauderei griff sie in ihre Handtasche, zog einen kleinen farbig bedruckten Karton hervor und reichte ihn an Florentina weiter. Dass ihr jemand so freigiebig seine Telefonnummer und Adresse überließ, hätte sie nie für möglich gehalten. War es Zufall oder Vorsehung? Kaity Simmens arbeitete als Kunstlehrerin an einer hiesigen Highschool und das auch noch ganz in der Nähe. Die ehrliche Begeisterung einer Fremden zu spüren, die gern mehr von der Berliner Künstlerin wissen wollte, erfüllte sie mit Stolz. Wie einen karatschweren Diamanten schob sie Kaitys Visitenkarte in die Manteltasche und ihre Hand legte sich so um sie, als würden ihre Finger den schmalen Karton niemals wieder loslassen wollen.
Dass sich Leander beim Beobachten seiner Frau, der es gelang, schnell und ungezwungen Kontakte zu schließen unwohl fühlte, war nur zu offensichtlich. Wie ein trotziges Kind, das gelangweilt seinen Eltern folgen musste, trampelte er ungeduldig am Gemüsestand auf und ab. Florentina ließ sich davon nicht beirren. Nun gewann sie Abstand. Es blieb ihm keine Wahl. Er musste der Veränderung an der Frau, die ihm so freimütig nach Boston gefolgt war, hilflos zusehen. Die Zeit, als sie wie seine wertvolle Spülmaschine allabendlich auf den Hausherren gewartet hatte, war seit wenigen Minuten endgültig vorbei.
Endlich riss sie sich los, verabschiedete sich von Kaity und schlenderte selig lächelnd der Menschentraube folgend zum nächsten Stand. Kein Marktstand glich dem anderen. Mancher wirkte unsortiert, verfügte aber über ein riesiges Angebot. Der nächste folgte einer ausgeklügelten geometrischen Ordnung. Orangen, Zitronen und Paprika hatte der Verkäufer zu perfekten Pyramiden aufgestapelt. Es fehlte nur die Sphinx und das Tal der Könige wäre neu entstanden. Wieder andere bildeten einen Irrgarten. Die Kundschaft war angehalten, sich hier auf verschlungenen Wegen durch eine schier unüberschaubare Flut von Kisten zu schlängeln.
Florentina konnte einfach nicht genug bekommen. Erst, als sie sich sicher war, alles gesehen zu haben, drehte sie sich um. Sie war bereit den wunderbarsten Ort, an dem sie seit ihrer Ankunft in Boston verweilte, zu verlassen. Ganz klar, jeden Morgen würde sie von nun an hier vorbeischauen. Plötzlich entstanden in ihr tausend Pläne und im selben Moment spielte sie flüchtig mit der Idee, ihren Mann zurück in die Praxis zu schicken. Schnell verwarf sie diese wieder. Noch wollte sie ihrer kaum begonnenen gemeinsamen Zukunft eine Chance geben.
»Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut«, murmelte sie leise stöhnend und drehte sich zu ihm.
Eine halbe Stunde später verlor sich Florentinas Blick in dem rustikalen Ambiente eines der angesagtesten Cafés der Stadt. Leander hatte eine genaue Vorstellung von dem Ort, den er für angebracht hielt. Schnurstracks ging er an einigen vielversprechenden Straßencafés vorbei. Unbeirrt und zielstrebig schritt er zwischen den Häuserfluten hindurch.
»Geduld, Florentina!«, murmelte er verhalten grinsend, weil ihm ihr missbilligender Blick nicht verborgen blieb.
Der beeindruckte ihn kaum und veranlasste ihn keinesfalls, sich an einem der schönen Plätze, an denen sie bereits vorbeikamen, niederzulassen.
»Du hattest vollkommen recht damit, weiterzugehen und hierherzukommen. So etwas habe ich noch nie gesehen!«
Das Café’, das er gewählt hatte, verstand es, historisches mit modernem Flair zu vereinen. Bereits das Mobiliar vor der liebevoll restaurierten Fassade versprach das Gefühl, mit jedem Blick entlang der Wände im Inneren, in eine unvergleichliche Zeitreise einzutauchen. Von der Theke an veränderte sich die Einrichtung scheinbar mit jedem Meter. Die mit schlichtem Holz eingefassten Sitzgruppen zur Linken versprühten den Glanz der achtziger Jahre. Gefolgt von rustikalen Holztischen zur Rechten, die einen Auszug der neuesten Trends - hip und angesagt zeigte. Sie stand sprachlos mitten im Café und glaubte sich in einem Märchen - wieder einmal.
»Lass uns nach hinten gehen«, flüsterte Leander dicht an ihrem Ohr und zeigte zu einem gesonderten Teil des Cafés.
Mit dem Gefühl, jeden Zentimeter des schönen Ambientes für immer im Gedächtnis aufbewahren zu müssen, folgte sie ihm quer durch den Raum. Vorsichtig setzte sich Florentina in den scheinbar uralten Sessel. Das Bild, was sich vor ihr auftat, vermochte in jeder Kaffeewerbung zu bestehen. An der Wand ragte ein raumhoher gemauerter Kamin empor. Sein oberer Teil wirkte wie ein historischer Altar. Die mit einem geschwungenen Holzrahmen verzierten Spiegel, passten perfekt in die nachempfundene neuenglische Szenerie. Im Inneren des Kamins loderte ein wärmendes Feuer. Ebenfalls raumhohe, etwa zwei Meter breite Bücherborde rahmten ihn ein. Anders, als Florentina zunächst annahm, waren die darin ordentlich aneinandergereihten Bücher keine Attrappe. Im Gegenteil, die Auswahl englischer und amerikanischer Werke früherer sowohl zeitgenössischer Schriftsteller ließen sie staunen. Unter der Decke, direkt über dem flachen Mahagoni-Tischchen ihrer Sitzgruppe - die scheinbar aus einer Villa des späten neunzehnten Jahrhunderts stammte - hingen einzelne Strahler herunter.
»Gefällt es dir?«, fragte Leander.
Er wusste genau, dass er mit dem Café den Nerv seiner Frau getroffen hatte. Im Grunde ging er dabei kein Risiko ein. Schließlich vereinte es jeden erdenklichen Stil der letzten einhundert Jahre.
»Ja, es ist ganz bezaubernd. Du kennst offenbar die schönsten Orte der Stadt«, säuselte sie mit feuchten Augen.
Natürlich war das Café sehr gut besucht, wobei sie sich über ihre subjektive Annahme sehr wohl bewusst war. Immerhin befand sie sich zum ersten Mal in einem Café der Stadt. Florentina hätte Stunden in ihrem Sessel verbringen können, ohne auch nur einen Finger zu bewegen. Allein visuell aufzunehmen, was ihr die Umgebung anbot, genügte ihr vollkommen.
»Nun, was wolltest du mit mir besprechen?«
Leanders distanzierte Frage riss sie aus ihrer märchenhaften Verzückung. Florentina beobachtete seine zusammengekniffenen Augen und griff vorsichtig nach ihrer Tasse. Langsam lehnte sie sich zurück und sah ihn für Sekunden unschlüssig an.
»Leander, ich habe eine Entscheidung getroffen!«
Dieser Satz ließ seine Mimik unwillkürlich bröckeln. Verunsicherung umspielte seine schmalen Lippen und seine Mundwinkel zuckten leicht. Was immer er erwartet hatte, verursachte nun eine Vielzahl von Emotionen und alle gleichzeitig, von denen sie bisher glaubte, er wäre zu keiner Einzigen von ihnen fähig.
»Ab sofort werde ich meinen Alltag mit nützlichen und sinnvollen Dingen verbringen. Kein gelangweiltes Warten mehr auf meinen erfolgreichen Mann, eingesperrt in einem Luxus-Apartment weit ab vom quirligen Leben dieser bezaubernden Stadt.«